Werden in Europa wieder Mauern gebaut?

Werden in Europa wieder Mauern gebaut?

25 Jahre nach dem Berliner Mauerfall, scheint es, als ob in Europa abermals Mauern errichtet werden. Dieses Mal handelt es sich um nationalstaatliche Mauern, die drohen, Europa zu spalten. Ein Interview mit Sabine von Oppeln von der Freien Universität Berlin und René Jokisch von dem deutschen Bundestag.

Von Susan Bergner

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Renationalisierung. 25 Jahre nach dem Berliner Mauerfall, scheint es, als ob in Europa abermals Mauern errichtet werden. Dieses Mal handelt es sich um nationalstaatliche Mauern, die drohen, Europa zu spalten. Der Begriff der Renationalisierung, also der Rückbesinnung auf nationalstaatliche Gefilde, wurde schon seit der Eurokrise immer prominenter und erlebte nach den Europawahlen 2014 sein Comeback. Sabine von Oppeln, stellvertretende Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration der Freien Universität Berlin, und René Jokisch, Mitarbeiter im Bundestag in der Fraktion „Die Linke“, diskutieren, ob ein Trend zur Renationalisierung in Europa zu erkennen ist.

Das Ergebnis der Europawahlen im Mai 2014 löste einen Schockmoment in ganz Europa aus, da es zu einer Erstarkung von extremistischen Parteien kam. Sind die Europawahlen ein Ausdruck der Unzufriedenheit in der Bevölkerung und zeigt dies eine Rückbesinnung auf die Nationalstaaten?

Jokisch: Ja und Nein. Ein Ausdruck der Unzufriedenheit ist ziemlich deutlich zu erkennen. Es ist für viele schwer, Konservative oder Sozialdemokraten auf europäischer Ebene zu wählen und damit Hoffnung zu verbinden. Ob dieser Umstand jedoch immer auf eine Renationalisierung im Denken der Menschen hindeutet, sehe ich skeptischer. Es ist jedoch das Problem zu sehen, dass die europäische Politik die nationale Ebene in den vorherigen Jahren verstärkt hat und nicht nur über deutsche versus französische Interessen geredet wurde, sondern nationale Politiken als solche verkauft und gemacht wurden. Dies hat auf die Bevölkerung zurückgewirkt. Die Angebote, dass nationale Interessen sich über andere Interessen durchsetzen sollen, gab es und diese wurden von vielen angenommen.

Sabine von Oppeln

Sabine von Oppeln/Foto: Antonia Schulze

Von Oppeln: Ich denke, dass es in erster Linie eine große Frustration über die europäische Politik gibt, die sich in den europäischen Gesellschaften breit macht. Die EU ist nicht immer schuld, aber sie wird oft zum Sündenbock. Grade im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich die soziale Situation enorm zugespitzt und die Hoffnungen, die viele Bürger auf Europa gesetzt haben, dass nämlich dadurch das Wachstum und der Wohlstand gefördert werden, haben sich in dieser Form nicht erfüllt. Darüber hinaus gibt es eine Verunsicherung weiter Bevölkerungsteile angesichts von Globalisierung und Europäisierung. Viele sehen es so, dass Europa nicht unbedingt Schutz vor der Globalisierung bietet. Unter den Anhängern des Front National beispielsweise findet man viele Menschen, die soziale Abstiegsängste haben. Diese Frustration verschafft sich dann Luft in den rechtsextremen Strömungen, die dann bei der Europawahl das Rennen gemacht haben. Man kann es auch als Denkzettel für die agierenden Regierungen sehen.

Ist das Wahlergebnis auch eine Chance?

Von Oppeln: Die Chance, die darin liegt, ist, dass es eine Alarmglocke für die agierende Politik ist, um diese Spaltung zwischen der Bevölkerung und den politischen Eliten etwas zu bekämpfen und Forderungen, die in der Bevölkerung bestehen, ernst zu nehmen. Was tun wir denn nun wirklich außer schön reden gegen die Jugendarbeitslosigkeit? Es haben viele junge Leute rechtsextreme Parteien gewählt. Herr Juncker versucht es jetzt ein bisschen mit seiner Wachstumspolitik.  Den Projekten wollen wir mal voller Spannung zuschauen und gucken, was dabei herauskommt. Ob dadurch wirklich transnationale Netzwerke ausgebaut und Arbeitsplätze geschaffen werden, die ein Stück weit auch wieder das Vertrauen in die europäische Politik stärken, bleibt abzuwarten.

Jokisch: Hoffnung fällt mir Tatsache eher schwer zu sehen, weil der Schock über das Wachstum von nationalistischen und antieuropäischen Parteien innerhalb einzelner Länder ziemlich groß war. Doch für mich als Linken gibt es mit Spanien und Griechenland zwei Beispiele, auf die man hinschauen kann und sich bei Spanien z.B. wundern kann, wie schnell es möglich war, eine Partei wie Podemos aufzubauen. Die Partei macht eine Institutionenkritik und schafft es, den Menschen Hoffnung auf eine andere Politik zu geben.

Die Daten des Eurobarometers zeigen, dass sich eine klare Mehrheit in Europa als EU-Bürger fühlt. Kaum jemand spricht sich gegen die EU als solche aus.

Von Oppeln: Die Kritik an der europäischen Politik ist nicht gleichzusetzen mit der Kritik an der EU. Wenn Sie eine Analyse der Referenden, die es in Frankreich gegeben hat, durchführen, dann sehen sie, dass die Bevölkerung nicht unbedingt gegen die EU ist, sondern ihre Kritik gegen bestimmte Politiken der EU hat. Das betrifft die Frage der Einwanderungspolitik, der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die eben die Frustration hervorrufen, aber zum Glück noch nicht in eine frontale Ablehnung der EU mündet.

Jokisch: Da möchte ich einhaken. Ich glaube, dass es dazu noch eine andere Unterebene gibt. Denn es gibt durchaus Teile der europäischen Institutionen, die in die Kritik geraten sind. Ich denke, es ist etwas anderes, ob man die europäische Politik oder bestimmte Institutionen, welche die EU mitbestimmen, kritisiert. In diesem Feld wird es aber schwierig. Durch die Kritik an Institutionen wird es für viele Menschen auch einfacher, die EU komplett abzulehnen, bzw. liegt der Schritt dorthin näher.

Die Rhetorik von Politikern sind oft Vorboten für Prozesse der Renationalisierung. Gibt es eine nationalistische Rhetorik in Europa?

Von Oppeln: Ein Herr Cameron führt unter dem Druck seiner europakritischen Partei einen zunehmend nationalen Diskurs. In Frankreich kann man fast das Gegenteil feststellen. In Frankreich ist es so, dass der ehemalige Premierminister Monsieur Ayrault viel stärker auf ein eigenes nationales Modell in Frankreich Wert gelegt hat. Diese Regierung wurde aber abgelöst und der neue Premierminister lehnt sich stärker an die deutschen Diskurse an. Hier ist es eher eine Anpassung an die europäische Umwelt und auch an Deutschland. Ich wäre da sehr vorsichtig. Partiell kann man das sicher sehen -teilweise auch als Reaktion auf eurokritische oder europafeindliche Parteien im eigenen Land.

Rene Jokisch

Reneé Jokisch/ Foto: Antonia Schulze

Jokisch: Es war Kauder, der gesagt hatte, es wird wieder Deutsch gesprochen in Europa. Das kam an. Das finde ich hart. Ich finde aber auch interessant, wie die deutschen Interessen immerzu vor dem Bundestag artikuliert werden. Ich möchte an ein weiteres Beispiel für eine nationale Rhetorik erinnern. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zeigt seit langen eine sehr starke nationalistisch geprägte Rhetorik. Das ist nochmal ein ganz eigener Diskursraum.

Es gibt also vereinzelt eine Tendenz zur Renationalisierung in Europa. Besteht die Gefahr, dass andere Staaten dem Trend folgen?

Von Oppeln: Das hängt auch immer von den inneren Entwicklungen in den Staaten ab. Natürlich steht auch eine französische Regierung unter dem Druck der Rhetorik von Marine Le Pen. Insofern kann man sagen, dass Gefahren gegeben sind. Dennoch würde ich nicht so weit gehen, zu sagen, dass es eine generelle Renationalisierung der Politik oder der Diskurse in Europa gibt.

Jokisch: Ich würde es ebenfalls so sehen, dass es in Gesamteuropa einen solchen Trend, auch im Hinblick auf das Aufkommen der AFD in Deutschland, nur mit Einschränkungen gibt. Am Beispiel Griechenland sieht man, dass die Hauptposition nicht auf der Annahme beruht, dass griechische Interessen gegen die anderen Interessen vertreten werden. Vielmehr besteht die Idee, dass man das europäische Problem nicht mit einer griechischen Lösung beantworten kann, sondern es eine europäische Lösung braucht.

Der sogenannte „Grexit“, der griechische Ausstieg aus der EU, ist demnach nur Hysterie?

Von Oppeln: Der wird von zwei Seiten diskutiert. Es ist nicht so, dass es nur die Griechen sind, die darüber nachdenken. In der Ökonomie gibt es vielleicht eine gewisse Logik eines solchen Grexits. Politisch wäre es nicht sehr angesagt, würde ich denken. Aber das Thema ist noch nicht abgeschlossen. Das wird nicht nur von den Griechen diskutiert, sondern ganz prominent auch von den Mitgliedern der deutschen Bundesregierung. Jetzt ist man ein Stück weit zurückgerudert und man muss abwarten, was daraus wird.

Jokisch: Das ist tatsächlich spannend für die griechische Debatte, in der es einen relativ starken anti-Deutschland Mentalitätswechsel gab. Trotzdem ist die Mehrheit nicht dafür, den Euro abzugeben. Der EU-Austritt ist dann nochmal weiter entfernt. Aber für Frau Merkel wie auch für die griechische Position geht es darum, vor den Verhandlungen ein wenig Druckpotenzial aufzubauen. Ich glaube, dass es von beiden Seiten nicht ernsthaft eine Option sein kann, obwohl es auch in der griechischen Gesellschaft Teile gibt, die den Austritt ernsthaft fordern. Doch diese Forderung ist hoffentlich auch in Zukunft nicht mehrheitsfähig.

Wie wahrscheinlich ist eine Machtübernahme der Front National (FN) in Frankreich 2017?

Von Oppeln: Jetzt wird in Frankreich grade alles durcheinander gewirbelt. Da weiß man nicht so genau, was da die Ergebnisse sein werden. Aber bis zu dem 7. Januar war das nicht ausgeschlossen und es kann durchaus sein, dass durch diese dramatischen Ereignisse in Frankreich jetzt der FN eine Stärkung erfährt. Die Verunsicherung der französischen Bevölkerung kann in die eine und in die andere Richtung schlagen. Aber insgesamt muss man feststellen, dass der FN bei den Europawahlen zur stärksten politischen Kraft in Frankreich geworden ist. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass der FN als solcher eine große Anziehungskraft ausübt, sondern dass die anderen Parteien sehr stark in die Krise geraten sind.  Die Stärke des FN ist auch ein Ausdruck der Krise der französischen Republik. Wenn das so weiter geht, ist es durchaus denkbar, dass der FN zumindest in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen kommt.

Das französische Wahlsystem basiert auf eine absolute Mehrheitswahl, d.h. es gibt eine erste Runde, in der die Kandidatin mit der absoluten Mehrheit sofort weiterkommt. Wenn dies nicht eintritt, kommt es zur zweiten Runde, die auf Bündniskoalitionen beruht. Die FN ist jedoch eine bündnisunfähige Partei. Das kann eine Machtübernahme der FN verhindern.

Von Oppeln: Das könnte helfen vorausgesetzt, dass die Leute wählen gehen. Es kann aber auch sein, dass die französische Bevölkerung so frustriert ist, dass nur die zur Wahl gehen, die im Ernstfall dem FN ihre Stimme geben. Wie stark integriert die französische Bevölkerung bis zu diesen Präsidentschaftswahlen ist, um eine solche Situation zu meistern und sich geschlossen gegen den FN zu stellen, wird sich zeigen.  Oder es wird grade aus Frust und Angst die bittere Pille genommen und Marine Le Pen gewählt wird. Also ich schließe das nicht aus, ich schließe vor allem nicht aus, dass sie in die zweite Runde kommt, ob sie die dann besteht ist sehr fraglich, aber auch nicht ganz auszuschließen.

Jokisch: Aber wenn ich mich nicht irre, hatten wir schon mal den Fall, dass der FN in der zweiten Runde war.

Von Oppeln: Ja, Chirac und Le Pen.

Jokisch: Und da erschien eine ganz große Koalition, in der es eine Dynamik gab. Jetzt ist es so, dass Sarkozy schon mal da war und  sich nicht durchsetzen konnte. Danach wurde Hollande gewählt, der die ganze EU umkrempeln sollte. Doch nachher musste der französische Bürger feststellen, dass sein stolzer Präsident nicht so viel ändern konnte, denn die große Linie wurde beibehalten. Das ist auch eine politische Frustration, die sich da Bahnen bricht. Wenn sich Hollande und Sarkozy gegen Le Pen stellen ist es nicht klar, ob das hilft. Also da mache ich mir wirklich Sorgen.

Es hängt also ganz ausschlaggebend von den Dynamiken bis zur nächsten Wahl 2017 ab. In Europa gibt es teilweise Renationalisierungsprozesse, die durch Integrationskonflikte und die EU-Krise verschärft werden. Was muss getan werden, um einen möglichen Renationalisierungstrend aufzuhalten?

Von Oppeln: Die EU ist ein Mehrebenensystem, damit findet die Politik auf der EU-Ebene wie auch auf der nationalen Ebene statt. Diese Ebenen müssen ineinandergreifen und gemeinsam agieren. Da muss von Fall zu Fall, von Themenbereich zu Themenbereich unterschieden werden. Ein erster Punkt ist die soziale Dimension. Es gibt soziale Schwächen in der EU, die mit der Wirtschaftskrise eng verknüpft sind. Ich glaube, wir befinden uns grade auf einer Gradwanderung, bei der wir tendenziell einen Kurswechsel bräuchten und zu erwarten haben. Ich wage zu bezweifeln, dass sich diese angebotsorientierte Politik, wie sie bisher gefahren wurde, weiterhin durchsetzen lässt. Es müsste eher ein Stück Wachstumspolitik hinzugefügt werden. Das nächste Thema ist eine wirklich aktive Integrationspolitik, um die Anziehungskraft dieser fremdenfeindlichen Strömungen zu beschränken. Nicht zuletzt auch die Frage der Sicherheitspolitik, doch ich kann nur hoffen, dass die europäischen Regierungen nicht alles auf Sicherheit konzentrieren. Die größte Sicherheit erlangen die europäischen Gesellschaften durch eine gelungene Integrationspolitik.

Jokisch: Ich kann da weitestgehend zustimmen. Grade bei der sozialen Dimension ist das Problem, dass man diese nicht EU weit durchsetzen kann, wenn es dafür keine Legitimation und Bereitschaft gibt. Das ist eine der Schwierigkeiten. Die EU politisch auf eine ganz andere Basis zu stellen, klingt weit weg, ist aber der entscheidende Faktor, wenn man die Menschen aus den nationalen Strukturen heraus mehr in Beziehung zueinander setzen möchte. Das ist eine schwere Aufgabe für einen nationalen Politiker. A liegt es nicht unbedingt in seinem Interesse und B ist es eine kontrafaktische These, in die man Arbeit investieren muss, ohne zu wissen, was dabei rauskommt. Ich bin der Meinung, dass es sonst für die EU keine wirkliche politische Zukunft gibt.

Sabine von Oppeln ist stellvertretende Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration der Freien Universität Berlin. Im Bereich der Lehre konzentriert sie sich auf die Bereiche Geschichte und Theorie der Europäischen Integration, europäische Sozialpolitik, deutsch-französische Beziehungen und Komparatistik im deutsch-französischen Kontext.

René Jokisch ist Diplom-Politikwissenschaftler und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag in der Fraktion der Linken tätig. Er arbeitete als akkreditierter parlamentarischer Assistent im  Europäischen Parlament.

Titelbild: „EU“ von Luigi Rosa [CC BY-SA 2.0]


Susan Bergner kommt aus Berlin und studiert im 5. Semester Publizistik und Kommunikationswissenschaft im Hauptfach und im Nebenfach Politikwissenschaft.
Sie absolvierte ein fünfmonatiges Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit für ein Filmfestival in Paris.