Liquid Democracy im Web 2.0

Liquid Democracy im Web 2.0

Im alten Griechenland war direkte Demokratie an der Tagesordnung. In modernen Flächenstaaten wie Deutschland scheint dieses Verfahren aufgrund zu hoher Komplexität nicht umsetzbar. Die Piratenpartei in Deutschland hat sich als Ziel gesetzt, das Internet zu nutzen, um den Menschen mit Hilfe eines digitalen Marktplatzes wieder eine Stimme zu verleihen. „Liquid Feedback“ nennt sich das Programm, das die Politik revolutionieren soll.

Von Jan Hubert

Ben de Biel, Pressesprecher der Piratenpartei (Foto: privat)

Zwölf Uhr im Mai, Berlin-Mitte, es herrscht reger Betrieb in der Wohnung von Ben de Biel, seines Zeichens Pressesprecher der Piratenpartei. Er hat Besuch von einem anderen Parteimitglied. Sie diskutieren über Ideen und Pläne. Auffallend häufig fällt der Satz: „Das müssen wir dann kommunizieren.“ Neue Projekte, um die Wählerschaft zu überzeugen, stehen zur Debatte, und de Biel tippt alles fleißig mit. Ausgerechnet heute ist der Chef der Piraten in Berlin, Hartmut Semken, zurückgetreten, und den Pressesprecher erwartet ein Tag voller Presseanfragen. Er wirkt leicht nervös und raucht eine Zigarette nach der anderen. Nachdem der Besucher gegangen ist, nimmt er sich trotzdem die Zeit, über den Einfluss des Internets auf die Demokratie, sowie neue Medien und das Werkzeug der Piraten „Liquid Feedback“ zu sprechen. Besonders bei letzterem gerät er ins Schwärmen, und man möchte ihm einfach glauben, dass „Liquid Feedback“ einmal die Welt verändern wird.

„Flüssige Demokratie“

Um das Prinzip des von der Piratenpartei genutzten Programms zu verstehen, muss man zuerst die Funktionsweise von „Liquid Democracy” verstehen. Hierbei handelt es sich um eine Form der direkten Demokratie. Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie können die Menschen in Echtzeit über Sachfragen abstimmen. Das „flüssige“ an dieser Methode ist, dass jeder, der sich bei einer Sachfrage unsicher ist und das Gefühl hat, nicht genug über das Thema zu wissen, seine Stimme einem „Experten“ geben kann. Dieser hat möglicherweise mehr Ahnung von der Sachlage. Ist dies nicht der Fall, kann er seine Stimme ebenfalls weitergeben, und somit entsteht ein Fluss, bei dem die Stimmen letztendlich beim Entscheider landen. Ein Experte kann hierbei viele Stimmen auf sich vereinigen, wenn ihm denn vertraut wird.

Direkte Demokratie im digitalen Zeitalter

„Dieses Prinzip der Abstimmung nutzen wir zur Zeit nur parteiintern. Als Mitglied bekommt man einen Internet-Account und kann direkt im Netz an den Abstimmungen teilnehmen oder eigene Vorschläge machen“, erklärt de Biel bereitwillig. Es besteht zusätzlich die Möglichkeit, eigene Vorschläge einzubringen. Diese werden dann von den Nutzern diskutiert. Die können sie kritisieren, aber nur wenn man einen Verbesserungsvorschlag macht. Bekommt eine Initiative genügend Stimmen, so beginnt die nächste Phase. Der Antrag wird durch die Administratoren eingefroren und nach Prüfung zur Abstimmung freigegeben.

Das ganze System erinnert stark an eine Methode, direkte Demokratie in einem digitalen Zeitalter durch das Internet in Deutschland Wirklichkeit werden zu lassen. So bezieht de Biel auch klar Stellung: „Ja, die Piratenpartei möchte direkte Demokratie, aber sie ist vor allem gegen das System von Deligierten, die als Volksvertreter agieren. Wir möchten den Menschen, die mitentscheiden wollen, die Möglichkeit geben, dies zu tun.“ Zwar wird „Liquid Feedback“ zur Zeit lediglich parteiintern genutzt, allerdings möchte de Biel, „dass irgendwann alle Bürger dieses Prinzip der Abstimmung nutzen können“. Hierfür würden allerdings Klarnamen nötig werden, um Manipulation vorzubeugen.

„Im Grunde halte ich es natürlich für eine sinnvolle Sache“, findet auch Martin Emmer, Professor für Mediennutzung an der Freien Universität Berlin. „Meiner Ansicht nach gibt es auch kaum Gründe, Menschen durch Verfahrensfragen von Debatten auszuschließen.“ Emmer erforscht unter anderem die Wirkung von sozialen Medien, wie den Nachrichtendienst Twitter oder das soziale Netzwerk Facebook, auf Politik und Gesellschaft.

Ist „Liquid Feedback“ massentauglich?

Neben viel Zustimmung für die Idee der Piraten gab es auch Kritik an der virtuellen Entscheidungsfindung. Mitglieder der Piratenpartei haben sich beschwert, dass man ihre Entscheidungen nachvollziehen konnte. Eine Kritik, die der Pressesprecher nicht verstehen kann. „Wenn ich mich als Mitglied der Piratenpartei dazu entschließe, meine Meinung kundzutun und mich an einer Abstimmung beteilige, dann sollte ich doch verdammt noch mal dazu stehen, auch wenn sich die Ansichten über ein Thema mit der Zeit ändern können.“

Die direkte Demokratie, die auch die Piraten wollen, hat eine lange Tradition. Schon in Griechenland versammelten sich die wahlberechtigten Männer in den Städten, den sogenannten „polis“, auf Marktplätzen und trafen Entscheidungen. Auch in der Schweiz wird eine Form der direkten Demokratie praktiziert, die sogenannte halbdirekte Demokratie. In einem großen Flächenstaat wie Deutschland gilt diese Form des Entscheidungsprozesses aufgrund der hohen Komplexität von Themen und der fehlenden Expertise einzelner Bürger als nicht zu verwirklichen. Das Internet soll hier Abhilfe leisten, zusammen mit dem Prinzip der „Liquid Democracy“.

Was aber geschieht mit den Menschen, die zu alt sind, um sich den Umgang mit der neuen Technik vertraut zu machen, oder nichts mit ihr zu tun haben wollen. Ein Kritikpunkt, den auch Emmer sieht: „Was die Piratenpartei hier entwickelt, ist vorraussetzungsvoll, und man kann nicht erwarten, dass Tante Else hier aktiv wird. Die Gefahr besteht, dass vor allem Eliten, die sich mit den Themen und der Technik auskennen, das System kapern und für sich nutzen.“ Zudem hält Emmer es für „eine Illusion, dass wir eine Gesellschaft werden, in der jeder immer über jedes politische Problem sprechen kann“. „Für diese Menschen müssen wir ein postalisches System entwickeln“, schlägt de Biel vor. Fügt aber nach einer kleinen Pause halblaut hinzu, dass „Liquid Feedback“ noch am Anfang stehe und weiterentwickelt werden müsse. Nachfolgende Generationen könnten dann die Technik nutzen, die die Piraten bereits heute verwenden.

Fest steht, dass die Piratenpartei neue Wege geht. Ihr System hat das Potenzial, die Demokratie zu bereichern. Es zeigt eine Alternative zur Demokratie mit Volksvertretern. Direkte Demokratie in Deutschland könnte möglich sein. Vielleicht gelten in 50 Jahren Menschen wie Ben de Biel als Pioniere, ganz im Geiste von Willy Brandt, wenn in Deutschland ein bisschen „mehr Demokratie gewagt“ wird.

Ein Beitrag aus dem Praxisseminar Online aus dem Sommersemester 2012
2017-07-06T12:18:17+02:00 Kategorien: Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , , |