Ein Bissen Tradition

Ein Bissen Tradition

Sie müssen in Wasser gekocht und anschließend gebacken werden: Bagels, wie sie Laurel Kratochiva liebt. Doch als die junge Amerikanerin in Berlin ankam und diesen von Juden erfundenen Kringel essen wollte, fand sie nur lapprige Brötchenmasse, als Bagel geformt. Nun will sie mit ihrer eigenen Bäckerei die traditionelle Variante in die deutsche Hauptstadt bringen. Und sie ist nicht die einzige, die in dieser Stadt wieder althergebrachte jüdische Rezepte herausgekramt hat.

Von Ben Kochmann

Bagels werden völlig unterschätzt in Berlin. Das findet jedenfalls Laurel Kratochiva: „Ein Bagel wird in Berlin wie normales Brot angesehen“. Sie sitzt mit einem frisch getoasteten, selbst gemachten Bagel mit Frischkäse vor ihrem Laden in Prenzlauer Berg. Auf dem Frischkäse türmen sich Lachs und Kapern. „Bagels sind nicht wie jedes andere Brot. Sie sind etwas Besonderes.“

Kratochiva wuchs in Boston, Massachusetts, auf. Als Kind aß sie häufig frische Bagels, erst in Wasser gekocht und danach gebacken, damit sie die richtige Kruste hatten. Mit der Berliner Bagel-Szene war sie dagegen unzufrieden. Die Bagels hier seien nur Brötchen in Gestalt eines Bagels. Sie entschied, selber einen Bagel-Laden zu eröffnen.

Das Ergebnis, das Café Fine Bagels, können hungrige Kunden seit dem 1. Juni in der Raumerstraße in der Buchhandlung Shakespeare and Sons kosten. Manche sind Amerikaner, die diese Art von Bagels kennen. Andere sind Deutsche, die nicht mit der traditionellen jüdischen Bagel-Kultur vertraut sind. „Manche Kunden denken, dass der Bagel wie ein normales Sandwich-Brot ist und wollen es mit Mayonnaise und Schinken essen“, erzählt Kratochiva. „ Trotzdem bin ich streng. Ich lasse mir von niemandem erzählen, dass das, was ich mache, falsch ist.“

Die Geschichte des ersten Bagels ist umstritten, aber die meisten Kulinarhistoriker glauben, dass der Bagel von preußischen Juden im 19. Jahrhundert erfunden wurde. So schreibt Maria Balinska in „Die überraschende Geschichte eines bescheidenen Essens“, dass Juden damals kein Brot im Ofen backen durften. Deswegen war der erste Bagel aus Weizen und wurde in Wasser gekocht.

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Laurel Kratochiva (Foto: B. Kochman)

Obwohl es vor dem Zweiten Weltkrieg 50.000 jüdische Gewerbe in Berlin gab, war die Bagel-Kultur damals wahrscheinlich nicht ausgeprägt, schreibt der Historiker Christopher Kreutzmüller in der amerikanisch- jüdischen Zeitschrift Tablet. In Wirklichkeit wurde der Bagel von jüdischen Einwanderern in Amerika und Kanada perfektioniert. Kratochiva kocht es nach amerikanisch-jüdischer Tradition, erst in Wasser, danach im Ofen. Das Ergebnis ist lecker: außen knackig, innen fest.

Kratochiva hat anfangs darüber nachgedacht, ihren Laden Jüdische Bäckerei zu nennen, entschied sich aber dagegen. Im Zusammenhang mit der jüdischen Geschichte Deutschlands sei dies eine zu große Bürde für ihren kleinen Laden, sie macht nur 100 Bagels am Tag. Sie ist stolz auf ihre jüdischen Wurzeln, hat aber keine Lust, Fine Bagels nur als jüdisch zu definieren. „Vielleicht könnte dies zunächst für Aufmerksamkeit sorgen, aber ich möchte Fine Bagels nicht nur auf Basis einer Faszination am Jüdischen gründen“, sagt sie.

Fine Bagels ist nicht traditionell koscheres jüdisches Essen. Kratochiva repräsentiert ein relativ säkulares Judentum. Sie will einfach richtige Bagels machen. Die Tatsache, dass Bagels jüdisch sind, ist wichtig, aber nicht das Wichtigste.

Eine ähnliche Einstellung hat Oskar Melzer, DJ, Club-Gründer und deutscher Jude mit israelischen Eltern, der kürzlich in Berlin mit seinem Partner Paul Mogg einen Pastrami-Laden eröffnet hat. Er bietet echte Pastrami an,  Rinderbrust, die einen Monat lang gepökelt wird und dann geräuchert, gedämpft und geschnitten. Sein Laden befindet sich in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße in Mitte. Berlins erste jüdische Mädchenschule wurde 1835 gebaut und zog 1930 in die Auguststraße um. Das Gebäude, in dem Mogg & Melzer ihren Pastrami-Laden haben, wurde vom jüdischen Architekten Alexander Beer gestaltet. Beer wurde während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten umgebracht. Viele Schülerinnen der Schule erlitten dasselbe Schicksal.

Melzer selbst wuchs traditionell jüdisch auf und versteht die besondere Geschichte des Gebäudes. Trotzdem hält er seinen Laden für nicht besonders jüdisch. „Ich hatte immer die Idee einen Pastrami-Laden zu machen, aber nicht weil es jüdisch ist“, sagt er. „Ich wollte es machen, weil es in Berlin kein Pastrami gab und ich Pastrami liebe.“

Genau wie der Bagel wurde auch Pastrami von jüdischen Einwanderern mitgebracht. Melzer hat sich von zwei jüdischen Feinkostläden inspirieren lassen: Katz’s, das 1888 in New York gegründet wurde, und Schwarz’s, das seine ersten Sandwiches in Montreal im Jahr 1928 anbot. Melzer versucht nicht, diese Feinkostläden zu kopieren, sondern seinen eigenen Stil zu finden. Es gibt saftige, pinkfarbene Pastrami, hoch gestapelt auf Roggenbrot und mit Senf dazu. Die Kunden sitzen auf einem lila Sofa in einem eleganten Raum, abstrakte Gemälde hängen an den Wänden.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten ungefähr 160.000 Juden in Berlin, ein Drittel des deutschen Judentums, laut Angaben der Jüdischen Gemeinde Berlin. Heute sei unklar, wie viele Juden genau in Berlin wohnen, aber ihre Zahl nehme zu, sagte Melzer.

Aus einem Fenster von Mogg & Melzers ist die Israelitische Synagogen-Gemeinde zu sehen. Es ist Freitagabend, fast Schabbat, die Zeit, zu der viele traditionelle Juden in die Synagoge gehen, um den Ruhetag zu beginnen. Bewaffnete Polizisten stehen vor dem Tor.

Melzer selbst geht selten in die Synagoge. An diesen Freitagabend legt er in einer Kneipe in der Friedrichstraße auf. Er bezeichnet sich nicht als religiösen Menschen, hofft aber, dass sein Laden Teil des jüdischen Lebens in Berlin wird. „Ein ganz kleiner Teil“, sagt er. „Es ist nur ein Anfang, den ich machen kann.“


P1030591Ben Kochman erkundet die Welt mit seinem Magen. Denn er versucht, den Kern einer Kultur durch Essen zu beleuchten. Im Frühling 2013 absolvierte er die Tufts University in Boston, Massachusetts. Er studierte dort Englisch und Deutsch und schrieb nebenher zahlreiche journalistische Texte. Seine Artikel sind schon in The Brooklyn Paper, Patch, The Boston Globe und The Tufts Daily erscheinen geworden. Ben absolvierte sein Praktikum bei der linksliberalen Wochenzeitung Der Freitag.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ  internXchange ǀ Sommer 2013