Eine kleine starke christliche Gemeinde

Eine kleine starke christliche Gemeinde

Im Jahr 1979 war die Martin-Luther-Kirche in Berlin-Neukölln mit 22 000 Mitgliedern die größte evangelische Kirchengemeinde Europas. Heute hat sie nur noch 6 000. Obwohl sich die Mitgliederzahl dieser Kirche stark verringert hat, ist das Christentum noch sehr präsent in Berlin, allerdings in anderen Formen.

Von Alison Haywood

„Ich glaube, dass das gesellschaftliche Bewusstsein stark geprägt ist vom Christentum und seinen Traditionen, von seinen Werten, seinen Festen und Feiern“, sagt Dieter Spanknebel, Pfarrer der Martin-Luther Kirche, an seinem letzten Arbeitstag. Er hat 24 Jahre lang in der Martin-Luther Kirche gepredigt. „Auch wenn die Menschen das selbst gar nicht als christlich wahrnehmen, ist das gesellschaftliche Bewusstsein durch und durch vom Christentum geprägt.“

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Martin-Luther-Kiche Neukölln (Foto: A. Haywood)

Feiertage seien ein gutes Beispiel dafür, wie ein Volk von einer Religion stark beeinflusst werden kann, ohne sich als religiös zu bezeichnen, meint Spanknebel. Viele Deutschen feiern Weihnachten, ohne daran zu denken, dass sie eigentlich die Geburt des Christkinds feiern. Sie nehmen einfach daran teil, weil es ein großer Teil ihrer Kultur ist. Das gilt auch für das Osterfest.

Heute ist die Kirche wie eine christliche Insel inmitten eines multikulturellen Berlin-Neukölln. Bei einem typischen Gottesdienst sieht man etwa 20 deutschsprachige Menschen. Sie sind unterschiedlichen Alters und die meisten haben weiße Haut, im Gegensatz zu den jungen, bunten Einwohnern Nord-Neuköllns draußen.

Die Leute, die noch Teil der Martin-Luther Gemeinde sind, nehmen besonders aktiv am kirchlichen Leben teil. Es gehen mehr Menschen zum Gottesdienst als vor 34 Jahren, und viele arbeiten ehrenamtlich. „250 Mitglieder haben einen Generalschlüssel für die Kirche“, berichtet Spanknebel. Diese Gemeinde sei aber eine Ausnahme und spiegele nicht die Tendenzen in ganz Deutschland wider: In den meisten Kirchen schwinde das christliche Leben zusammen mit der Mitgliederzahl.

Ein Grund, warum Menschen aus der Kirche austreten, ist die Kirchensteuer. „Wenn ein Mann oder eine Frau am Ende des Monats den Lohn ausgezahlt bekommt, und auf der Abrechnung die Kirchensteuer sieht, dann will er oder sie lieber austreten und von dem Geld eine schöne Reise machen“, sagt Spanknebel. „Das kann man auch verstehen, aber für uns in der Kirche ist das ein ziemliches Problem“.

Für andere Menschen wiederum ist die Kirchensteuer unproblematisch, aber sie bleiben trotzdem außerhalb der Gemeinde, weil sie keinen Zugang oder keine Bindung zur Kirche entwickelt haben. Es gibt auch eine neue Tendenz in Deutschland, dass Eltern ihre Kinder nicht taufen lassen, sondern warten, bis das Kind selber entscheiden kann. „Das ist eine verantwortungsvolle Einstellung zu dieser Frage, aber es führt eben in der Konsequenz dazu, dass viele junge Leute gar nicht getauft werden“, sagt Spanknebel.

Andere sind absichtlich aus der Kirche getreten, weil sie mit der Kirche nicht einverstanden waren. In den 1980er Jahren sind 300-400 Menschen in Berlin aus der Kirche ausgetreten, weil sie verärgert waren über die vermeintlich christliche Nächstenliebe, die die Kirche gegenüber Verbrechern gezeigt hat. Dass Bischof Kurt Scharf 1974 die Terroristin Ulrike Meinhof besuchte, war zum Beispiel für viele Menschen ein Grund, aus der Kirche auszutreten.

Dieter Spanknebel empfindet aber die geschrumpfte Mitgliederzahl nicht als ein Scheitern seiner Arbeit, sondern er sieht es als seine Aufgabe an, mit den Agnostikern, Atheisten, Humanisten und Säkularen zusammenzuleben und ihnen zu helfen. „Ich bin jemand, der sehr dafür ist, nicht zu klagen und zu trauern und darüber zu weinen, dass so viele Menschen immer säkularer werden. Sondern ich sage, das sind immer noch Menschen, und das sind Kinder Gottes, und wir sollen für sie da sein“, sagt er.

Pfarrer Dieter Spanknebel geht davon aus, dass die Gemeinde in Zukunft noch kleiner wird, hofft aber, dass dies nicht das Christentum und den christlichen Glauben betrifft. „Der ist so lebendig, so fruchtbar, so kreativ und so engagiert, dass er ganz stark in die Gesellschaft hineinwirkt“, sagt er.


P1030602Alison Haywood studiert Journalismus und Germanistik an der Pacific Lutheran University in Tacoma, im Bundesstaat Washington. Sie ist in einer Kleinstadt mit 11 000 Einwohnern und noch mehr Rindern aufgewachsen. Eigentlich mag sie Großstädte nicht, aber Berlin ist für sie eine Ausnahme, weil es so viele Parks gibt. Sie arbeitete bereits als Nachrichtenredakteurin für ihre Uni-Zeitung und will irgendwann in einer Presseagentur tätig sein. In ihrer Freizeit spielt sie gern Gitarre, reist viel oder verläuft sich in fremden Städten. Sie machte beim Tagesspiegel in der Online-Redaktion ihr Praktikum.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ internXchange ǀ Sommer 2013