Beten für ein Tor

Beten für ein Tor

Die Parallelen zwischen Kirche und Fußball sind schnell gefunden: Die regelmäßigen Spiele als wöchentliche Gottesdienste; die Mannschaftsfans und -gegner als Gemeindemitglieder versus Andersgläubige; die Vereinshymne als Choralgesang. In einer Stadt wie Berlin, in der immer mehr Menschen an immer weniger Göttliches glauben, ist Fußball mehr als ein Sport: Es ist eine Ersatzreligion. Doch die Kirche beäugt ihren weltlichen Konkurrenten mit Skepsis.

Von Sean Churchill

Egal, wohin man in Berlin geht, überall sind blau-weiße Graffiti für den Fußballverein Hertha BSC zu sehen: auf dem Bus, in der Kneipe und sogar auf Toiletten. Es ist eine beständige Ermahnung an die kollektive Leidenschaft, die alle Fußballfans für ihre Mannschaft haben.

Während der Saison besuchen jede Woche mehr als 40 000 Fans ihre Kultstätte, das Olympiastadion. Sie tragen blau-weiß-gestreifte Trikots, mit denen sie sich zum Glauben an ihre Mannschaft bekennen. Die Zuschauer singen die Vereinshymne, die sich wie ein Choral anhört, und beten die Spieler wie Götter an. Den Fans im Stadion geben diese Rituale aus dem Fußball Struktur im Leben und helfen ihnen dabei, ihre Welt zu deuten.

Der selbsterklärte Herthaner André Bretzke hat schon mehr als 50 Spiele in seinem Leben gesehen, auch wenn er erst 29 Jahre alt ist. Er deutet die Berliner Fan-Seele so: „Hertha Fans unterscheiden sich von anderen Fans schon mal in der Hinsicht dass sie die 1. und 2. Bundesliga gut kennen und dass sie öfters auf- und abgestiegen sind als so manch anderer Traditionsverein. Die Leidenschaft als Fan ist wohl immer dabei, wenn man seine Mannschaft spielen sieht.“ Eine Leidenschaft, die selbst dann noch andauert, wenn die Mannschaft hoffnungslos schlecht spielt, und die dann sogar die Fangemeinde noch fester aneinanderzubinden scheint.

André beschreibt den typischen Tag vor einem Hertha-Heimspiel: „Kurz vor Beginn des Spiels geben die meisten Leute ihren Tipp ab, wobei sich natürlich jeder sicher ist, dass Hertha gewinnen wird, selbst wenn gegen Bayern München oder Borussia Dortmund gespielt wird.“ Dieses gemeinsame und sogar blinde Vertrauen in ihre Mannschaft zeigt genau, wie wichtig und allmächtig der Verein im Leben der Fans ist.

Hertha

Hertha-Graffiti (Foto: S. Churchill)

Es scheint also viele Gläubige in Berlin zu geben, aber ein großer Teil von ihnen glaubt vor allem an Fußball. In einer Stadt wie Berlin, wo es so viele Debatten über Religion gibt, argumentieren manche Leute, dass Fußball eine wichtige Rolle als Ersatzglaubenssystem spielen könnte.

Franklin Foer, US-amerikanischer Journalist und Redakteur des Politikmagazins The New World, der das Buch How Soccer Explains the World schrieb, sagt dazu: „Fußball ist nicht dasselbe wie Bach oder Buddhismus. Sondern es ist häufig stärker als eine religiöse Empfindung, und durch seine Fülle an Traditionen bindet es genauso wie zu einer Kirchengemeinde zu gehören.“ Der Fußball und die Religion bieten ihren Anhängern Identität, Lebensinhalt und verschiedene Arten von Lebensdeutung.

In der Saison 2011/12 hatte Hertha BSC mit durchschnittlich 53 448 Fans pro Spiel die sechshöchste Zahl an Zuschauern in der ersten Bundesliga. In der ganzen Saison kamen fast eine Million Zuschauer zum Olympiastadion. Diese Statistiken verdeutlichen, dass die Berliner eine starke Bindung zum Fußball haben.

Die Berliner Gottesdienste sind bei Weitem nicht so gut besucht. Denn 60 Prozent der Hauptstädter sind konfessionslos, der Säkularismus in Deutschland ist weit fortgeschritten. In Berlin und Brandenburg gingen die Kirchenbesuche von 7,1 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1997 auf nur noch 3,2 Prozent im Jahr 2006 zurück. Das jetzt schon zur Hauptstadt des Atheismus erkorene Berlin wird immer areligiöser, und es stellt sich die Frage: An was oder wen können die Bürger glauben?

In einem Videoblog für die Evangelische Kirche im Norddeutschen Rundfunk sagt der Braunschweiger Landesbischof Friedrich Weber: „Fußball ist keine Religion. Denn in der Religion geht es um die letzten Dinge. Um das, was uns im Leben und Sterben Halt und Trost gibt.“ Dagegen ginge es im Sport nur um vorletzte Dinge wie Spannung und Unterhaltung, so Weber.

Egal, wie man über Religion denkt, klar ist, dass Fußball in Berlin eine entscheidende Rolle im Leben Vieler spielt. Und da stört es auch nicht, wenn eine Mannschaft wie Hertha BSC schlecht ist.


P1030603Sean Churchill hat im April 2013 sein Studium an der University of Michigan in Kommunikationswissenschaft und Deutsch beendet. Er ist ein Sportfanatiker für alle Sportarten von Golf bis Fußball und arbeitet seit zwei Jahren in der Kommunikationsabteilung für Sport an der Universität. Sean hat ein endloses Lächeln und ein immer fröhliches Wesen, mit dem er „seinen unterdurchschnittlichen Intellekt ausgleicht“, wie er sagt. Für die Zukunft hofft Sean, dass er um die Welt reisen kann und währenddessen einen Job bekommt. Er hat in der Sportredaktion des Tagesspiegels hospitiert.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ  internXchange ǀ Sommer 2013

2017-07-06T12:18:16+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, IJK, internXchange, Lesen|Tags: , , , , , , |