Maier/Wildberger: In 8 Sekunden um die Welt

14. Entwicklungstendenzen und Ausblick

Das Internet entwickelt sich mit rasanter Geschwindigkeit. Dies betrifft nicht nur die Zahl der daran angeschlossenen Computer, der übertragenen Anzahl von Bytes u. dgl., sondern auch die Services. In den wenigen Monaten, die wir an diesem Buch geschrieben haben, ist uns öfter als einmal ein neues Internet-Service oder zumindest eine neue Variante eines bekannten Services untergekommen. Und wahrscheinlich ist in der Zeit zwischen Abschluß des Manuskripts und Erscheinen des Buches noch das eine oder andere dazu gekommen.

Wohin geht diese Entwicklung? Was wird sie mit sich bringen? Betrachtet man die Ereignisse der letzten Jahre, so zeigen sich recht deutlich einige Entwicklungstendenzen:

Mit diesen Entwicklungen hat sich der Wert des Internet als Ressource für wissenschaftliches Arbeiten deutlich erhöht. Heute ist wesentlich mehr Information wesentlich leichter erreichbar als noch vor wenigen Jahren. Dies betrifft sowohl die technische als auch die inhaltliche Zugänglichkeit. Bedenkt man, daß -- unabhängig von Internet und Netzwerkkommunikation -- heute ein Großteil der wissenschaftlichen Information, die in Büchern und Zeitschriftenartikeln veröffentlicht wird, ursprünglich elektronisch erfaßt wird, so stehen die Chancen gut, daß in Zukunft immer mehr Information (auch) über Netzwerk-Services verfügbar gemacht werden wird. Einige Verlage haben bereits damit begonnen, Bücher parallel in gedruckter und in elektronischer Form zu veröffentlichen.

Die Veränderungen, die sich hier anbahnen, könnten sich mit jenen messen, die die Erfindung des Buchdrucks (82) mit sich gebracht hat. Obwohl Johannes Gutenberg nur einige altbekannte Dinge kombinierte -- die Punzen der Goldschmiede, eine etwas umgebaute Leinenpresse, Tinte und Papier -- löste seine Erfindung dennoch eine Revolution aus wie kaum eine andere. Sie stürzte Autoritäten, ermöglichte die Reformation, drängte viele einst mächtige Klöster in die Bedeutungslosigkeit und machte deren Mönche arbeitslos. Vor allem aber revolutionierte die Druckerpresse die Art und Weise, wie Wissen angesammelt wurde. Nicht mehr die mündliche Überlieferung und die im Laufe eines Lebens gesammelte Erfahrung waren entscheidend, sondern der Zugang zu den Sammlungen gedruckter Information. Gutenbergs Drukerpresse machte die in Büchern gebundene Information zuverlässiger und ermöglichte es, Wissen in großem Umfang anzusammeln. Damit konnte eine Generation auf den Erkenntnisen und Erfahrungen der vorangegangenen weiter aufbauen; eine wesentliche Voraussetzung für die technischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der folgenden Jahrhunderte.

Die Erfindung und Ausbreitung von Computernetzen wie dem Internet könnte ähnlich grundlegende Veränderungen auslösen, insbesondere in den Wissenschaften, die ja besonders stark auf Gutenbergs Erfindung aufbauen. Viele der uns vertrauten wissenschaftlichen Institutionen sind tief in der von Gutenberg geschaffenen Welt verwurzelt: Bibliotheken, der Zwang zum Publizieren, die Autorität des gedruckten Wortes und die daraus abgeleitete der wissenschaftlichen Verlage und der Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften, Autorenschaft, Copyright. Sie alle werden sich an die von der elektronischen Kommunikation verursachten Änderungen anpassen müssen, oder sie laufen Gefahr, von der Welle der Neuerungen hinweggespült zu werden. Vielleicht werden uns schon bald Druckereien ebenso archaisch erscheinen wie die Säle voll schreibender Mönchen des Mittelalters.

Die gravierendsten Hindernisse auf dem Weg dorthin sind heute nicht mehr so sehr technischer Natur. Die Technologie ist vorhanden, weitgehend ausgereift und bei auch nur annähernd anhaltendem Wachstum wird der Zugang zu einem Computernetzwerk bald ebenso ubiquitär sein wie jener zum Telefonnetz. Hindernisse liegen heute vor allem im organisatorischen Bereich und in der Umsetzung. Insbesondere wird die elektronische Kommunikation durch den Mangel eines allgemein akzeptierten Standards behindert. Während jedermann ein Buch aus dem Regal nehmen und es lesen kann, egal von wem es geschrieben und gedruckt wurde, können elektronische Dokumente in den verschiedensten Formaten erstellt worden sein. Sie sind oft nur mit den entsprechenden Programmen zu lesen. Einziger gemeinsamer Nenner ist der ASCII-Zeichensatz, bei deutschsprachigen Texten können selbst damit Probleme auftreten. Das wesentlich ausgefeiltere Postscript-Format führt einerseits zu relativ langen Dateien, andererseits kann auch der Originaltext daraus nur schwer wieder extrahiert werden. Wenn ein Dokument weiter bearbeitet werden soll, ein entscheidender Nachteil.

Die meisten Schwierigkeiten kommen daher, daß Textverarbeitungsprogramme verschiedene Markierungen in den Text einfügen, die zu einer bestimmten Art der Darstellung des gedruckten Dokuments führen. Diese Darstellungsstandards, wie Fettdruck, Kursivschrift, Einrückungen, etc., reflektieren Konventionen, die sich im Lauf der Zeit für geschriebenen oder gedruckten Text entwickelt haben. Sie sind der traditionellen Technologie angepaßt, für elektronische Texte aber nicht unbedingt am besten geeignet. Dies erinnert an die ersten Drucker, die den Schriftstil und die Abkürzungen der handgeschriebenen Bücher übernahmen, bevor sie eigene, der Technologie adäquatere Konventionen entwickelten. Auch für elektronische Texte wird sich über kurz oder lang ein eigener Standard durchsetzen.

Ein wesentlicher Faktor, der Gutenberg's Erfindung zum Durchbruch verhalf, waren die damit verbundenen ökonomischen Vorteile: Im Florenz des späten 15. Jahrhunderts kostete die handschriftliche Vervielfältigung eines Textes einen Florin pro Seite, die Druckereien verlangten drei Florin. Anstelle eines einzigen Exemplars erhielt der Auftraggeber um diesen Preis allerdings über Tausend Exemplare. Die gleichen ökonomischen Faktoren könnten nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, Gutenberg's Erfindung an den Rand drücken. In Kapitel 10 haben wir erwähnt, daß mit dem Projekt Gutenberg erreicht werden soll, klassische Texte um einen Cent pro Exemplar bereitstellen zu können; ein Preis, mit dem kein Verlag, was Produktions- und Vertriebskosten betrifft, auch nur annähernd mithalten kann.

Im wissenschaftlichen Bereich ist der ökonomische Druck wahrscheinlich noch markanter. Die meisten wissenschaftlichen Texte werden von Universitätsangehörigen -- oft im Zusammenhang mit öffentlich finanzierten Forschungsprojekten -- verfaßt. Sie verkaufen ihre Rechte an dem Text einer Zeitschrift oder einem wissenschaftlichen Verlag, die den Text vervielfältigen und vermarkten. Hauptabnehmer der wissenschaftlichen Verlage sind wiederum die Universitäten, die damit über ihre Bibliotheken Produkte um teures Geld zurückkaufen, die in ihrem eigenen Bereich entstanden sind. Bei der Entwicklung der Preise für wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften(83) stellen sich aber immer mehr Verantwortliche an den Universitäten die Frage, wie sinnvoll diese Vorgangsweise eigentlich ist.

Wozu der Umweg über die Verlage? Warum stellen die Forscher ihre Publikationen nicht direkt den Bibliotheken zur Verfügung? Ist ein Text einmal auf einem an das Netzwerk angeschlossenen Computer gespeichert, so kann er allen Netzwerkbenutzern zugänglich gemacht werden. Gegenüber den traditionellen Publikationskanälen sind die Produktions- und Vertriebskosten minimal. Der Vertrieb stellt das geringste Problem dar: eine Nachricht an die entsprechende Newsgroup, und schon weiß die gesamte vernetzte Welt von der tollen neuen Publikation. Im Endeffekt kann jedermann seinen eigenen Verlag betreiben. Er kopiert einfach die entsprechende Datei in einen öffentlich zugänglichen Speicherbereich, schon ist der Text "veröffentlicht".

Aber werden alle diese elektronischen Publikationen auch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert und gelesen werden? Wenn jeder Wissenschafter seinen eigenen elektronischen Verlag betreiben kann, ist über kurz oder lang mit einer noch größeren Flut von Publikationen zu rechnen. Wer bringt Ordnung in dieses Chaos? Wer trennt die Spreu vom Weizen? Bisher wurde diese Aufgabe von den Redaktionskomitees der wissenschaftlichen Zeitschriften und den Lektoraten der Verlage erledigt. Die Universitäten haben vielfach in ihren Beförderungs- und Evaluierungsmechanismen auf diese Selektionsfunktion der Zeitschriften und Verlage vertraut. Strenge Selektion fördert die Reputation sowohl der Zeitschrift bzw. des Verlags als auch jener Wissenschafter, die dort publizieren. Ähnliche Mechanismen werden wohl auch in den elektronischen Publikationskanälen eingesetzt werden müssen, um die Qualität des publizierten Materials sicherzustellen (84). Für die etablierten Verlage ergeben sich hier Möglichkeiten, ihre angestammte Rolle auch im elektronischen Medium einzunehmen und sogar auszubauen. Durch die niedrigeren Produktions- und Vertriebskosten des elektronischen Mediums können mehr Ressourcen für die Qualitätssicherung aufgewendet werden. Außerdem kann für die Qualitätssicherung mehr Zeit aufgewendet werden, weil das elektronische Publikationsmedium nicht an Erscheinungstermine gebunden ist und Artikel auch einzeln veröffentlicht werden können. Bei elektronischen Publikationen entfällt damit weitgehend die Zeitspanne zwischen Fertigstellung eines Manuskripts und seiner Veröffentlichung.

Während bei gedruckten Publikationen im Revisionsprozeß übersehene Fehler sich durch eine ganze Auflage ziehen, können elektronische Publikationen viel leichter korrigiert und auch aktuell gehalten werden. Neuauflagen sind jederzeit möglich, es muß nicht erst einmal ein Bestand an Büchern verkauft werden. Bei der rasanten Entwicklung mancher Wissenschaftsdisziplinen ist dies ein wichtiger Aspekt. Derartige Publikationen bleiben in Fluß, der Autor gibt sie eigentlich nie richtig aus der Hand und kann sie jederzeit verändern. Autor und Leser können über das Netzwerk in einen Dialog eintreten und so gemeinsam das Werk verbessern. Bei einigen, Netzwerk-Services beschreibenden Dokumenten ist dies heute schon üblich. Wo aber verläuft dann die Grenze zwischen Autor und Leser? Wann ist so ein Text publiziert? Wie lassen sich derartige Publikationen zählen? Die elektronische Art des Publizierens kollidiert mit den traditionellen Evaluierungskriterien in den Wissenschaften. Sollte sich elektronisches Publizieren in größerem Umfang durchsetzen, so werden die Universitäten gezwungen sein, ihre Bewertungskriterien zu überdenken.

Elektronische Texte können aber nicht nur gelesen, sondern auch leicht bearbeitet, verändert und in andere Texte integriert werden. In welchem Umfang ist dies akzeptabel? Wie läßt sich das mit dem Urheberrecht in Einklang bringen, das auf der Technologie Gutenbergs aufbaut? Bislang war klar, wann ein Text publiziert ist und wer sein Autor ist. Im elektronischen Medium, insbesondere wenn es darum geht, Information möglichst aktuell zu halten, verschwimmen diese Grenzen. "Demonstrating authorship is more difficult, if not impossible, with dynamic digital electronic media. The Information is online, and thus in a permanent state of flux. Who should be rewarded, and for what particular contributions?" (Hilts, 1992, S. 37). Derartige Fragen werden in den "Library Sciences" bereits heftig diskutiert (siehe etwa Gilbert, Lyman, 1989; Byrd, 1990; Levin, 1992).

Es wäre allerdings ein Fehler, elektronische Texte einfach nur als elektronische Versionen traditioneller gedruckter Texte zu verstehen. Das elektronische Medium bietet Möglichkeiten, die über die mit Gutenberg's Technologie verbundenen hinausgehen. Ein gutes Beispiel dafür sind die von World Wide Web implementierten Hypertext-Verbindungen. Durch sie wird ein Text in ein Geflecht von Informationen eingebunden, das, im Idealfall, den gesamten wissenschaftlichen Hintergrund dazu erschließt. Aus dem Blickwinkel von WWW betrachtet erscheint die heute übliche Art des Zitierens anderer wissenschaftlicher Arbeiten als eine recht mangelhafte, durch die traditionelle Technologie bedingte Krücke. Auch im Bereich "Multimedia" eröffnet das elektronische Medium Möglichkeiten, die der traditionellen Technologie verschlossen sind.

Einer der wichtigsten Aspekte elektronischen Publizierens ergibt sich daraus, daß elektronische Bücher und Artikel nicht nur von Menschen, sondern auch von Programmen gelesen werden können. Ihr Inhalt läßt sich damit leichter durchsuchen. Wer hat schon etwas über die Auswirkungen von Computernetzwerken auf wissenschaftliche Kommunikation geschrieben? Welche Geschäftsmöglichkeiten eröffnen sich in den osteuropäischen Volkswirtschaften? Welche Literatur beschäftigt sich mit dem Hotelling Problem? Sind die Bücher und Artikel elektronisch lesbar, dann können entsprechende Programme derartige Fragen beantworten. Es ist nicht mehr notwendig, sich auf Titel, Beschlagwortung und Index zu verlassen. Mit WAIS können derartige Abfragen an das gesamte Netzwerk gerichtet werden. Dem Benutzer erschließt sich damit eine Informationsquelle beträchtlichen Umfangs.

Mit seiner Druckerpresse revolutionierte Johannes Gutenberg nicht nur die Art, wie Information vervielfacht und verbreitet wurde, sondern er veränderte auch die Welt. Martin Luther nagelte seine 95 Thesen an die Kirchentür in Wittenberg in Reaktion auf den massenhaften Verkauf von (gedruckten) Ablässen. Sein Ziel einer zivilisierten Diskussion innerhalb der kirchlichen Kreise wurde jäh zerstört, als seine Thesen in gedruckter Form erschienen. Innerhalb von zwei Wochen las man sie überall in Deutschland, innerhalb eines Monats in ganz Europa. Die Reformation begann als ein massiver Propagandakrieg.

Die ersten Druckereien folgten den Bedürfnissen ihrer Kunden und brachten in großer Zahl Anleitungen für verschiedene handwerkliche Tätigkeiten auf den Markt. Damit etablierten sie sich nicht nur unter den ersten kapitalistischen Unternehmungen, sondern unterminierten auch die Position der mittelalterlichen Handwerkszünfte. Andere Bücher und Zeitungen informierten über fremde Länder, neue Moden und Ideen und sprengten damit das kleinräumige Weltbild des Mittelalters. Alles in allem trug die Druckerpresse wesentlich dazu bei, eine neue Zeit einzuläuten.

Gutenberg's Technologie ist allerdings durch hohe Fixkosten charakterisiert. Erst ab einer bestimmten Mindestauflage steht es sich dafür, einen Text zu setzen, zu montieren, Korrektur zu lesen und schließlich zu drucken. Trotz technologischer Veränderungen ist dies im wesentlichen auch heute noch der Fall. Auch der Vertrieb der Druckwerke ist kostspielig und erfordert eine ständige Betreuung des Marktes. Kommunikation über Zeitungen, Zeitschriften und Bücher ist daher recht einseitig. Eine kleine Gruppe von Journalisten, Wissenschaftern, Autoren, Schriftstellern produziert die entsprechenden Druckwerke und kann damit ihre Ideen, Ziele, Vorstellungen artikulieren, während die große Masse der Menschen sie passiv konsumiert. Rückmeldungen, Reaktionen oder gar ein Diskussionsprozeß sind nicht oder nur sehr beschränkt möglich. Verlage, Druckereien, Zeitungsredaktionen (85) sind Schaltstellen für das Entstehen einer öffentlichen Meinung. Wen wundert es, daß sie von Interessensgruppen und politischen Parteien oft heiß umkämpft sind?

Elektronische Kommunikation unterscheidet sich grundlegend davon. Sie unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen Anbieter und Konsument von Information. Elektronische Kommunikation ist meist zweiseitig. Wer immer Nachrichten in NetNews oder in einer Diskussionsgruppe lesen kann, kann auch Informationen über dieses Medium aussenden. Die Zahl der potentiellen Empfänger ist riesig, das Publikum weltweit. Es gibt kein anderes Kommunikationsmedium mit einem auch nur ähnlichen Preis-Leistungs-Verhältnis und ähnlich niedrigen Zugangsbarrieren. Bei NetNews und Diskussionsgruppen ist der einzelne Benutzer nicht nur zum passiven "Zuhören" verdammt, sondern er kann auch aktiv am "Programm" mitgestalten.

Während die Druckerpresse neuen gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit gab, sich zu artikulieren, eröffnen elektronische Kommunikation und Computernetzwerke diese Möglichkeit jedem einzelnen. Die möglichen politischen Implikationen sind gewaltig. Welcher Art sie sein könnten, hat die französische Regierung anläßlich der Schülerproteste 1987 erfahren. Die wegen Reformplänen der Regierung aufgebrachten Schüler verwendeten Minitel, das französische Pendant von Bildschirmtext, um landesweit ihre Protestbewegung zu organisieren. Informationen über Polizeiübergriffe und Verhandlungsergebnisse verbreiteten sich in Windeseile und unabhängig von den etablierten Massenmedien über ganz Frankreich, sodaß sich die Regierung einer massiven Protestbewegung gegenüber sah, der sie schließlich nachgeben mußte. Ironischerweise war es gerade der französische Staat gewesen, der in den Jahren zuvor Minitel mit massiver Unterstützung zum Durchbruch verholfen hatte. Motiv dabei waren aber Kostenersparnisse der Post beim Drucken von Telefonbüchern gewesen.

Heute verbindet das Internet alle wichtigen Universitäten der westlichen Welt. Informationsaustausch zwischen ihnen ist eine Angelegenheit weniger Tastendrucke. Was wäre wohl aus der Studentenbewegung der späten Sechziger Jahre geworden, hätte sie dieses Informationsinstrument schon zur Verfügung gehabt? Wahrscheinlich hätte sie sich wesentlich schneller ausgebreitet als dies tatsächlich der Fall war und die Chefideologen der Bewegung hätten ihre Analysen und Agitationsschriften elektronisch wesentlich schneller und in größerem Maßstab an den Mann gebracht. Natürlich sind derartige Überlegungen eigentlich müßig und reine Spekulation. Aber wer immer mit der nächsten Studentenbewegung zu tun haben wird, wird mit diesem Faktor rechnen müssen.

Die traditionellen Massenmedien lassen sich, wenn notwendig, streng kontrollieren. Bei elektronischer Kommunikation über Computernetzwerke ist dies wegen der dahinterstehenden Technologie viel schwieriger. Nicht nur ist die Zahl der Informationsquellen viel größer, weil jeder Informationsempfänger auch ein potentieller Sender ist. Ein Computernetzwerk wie das Internet ist auch gegen den Ausfall einzelner Verbindungen weitgehend immun. Steht eine Verbindung nicht zur Verfügung -- egal ob wegen eines technischen Gebrechens oder aus politischen Gründen --, so leiten die einzelnen Knoten des Netzwerks die Nachrichten automatisch auf andere Verbindungen um. Einige Nachrichten werden wahrscheinlich ihr Ziel nicht mehr erreichen, zum Großteil bleibt das Netzwerk und die darüber laufende Kommunikation allerdings intakt. Ein Computernetzwerk ist daher viel schwerer auszuschalten als Zeitungen, Radio und Fernsehen. Diese Erfahrung mußten auch die Putschisten in der Sowjetunion machen. Während der kritischen Tage im August 1991 waren Computernetze das einzige internationale Informationsmedium, das durchgehend funktionierte. Wann immer eine Netzwerkverbindung unterbrochen wurde, standen schon andere Links bereit, die den Informationsfluß übernehmen konnten.

Auch die Verbündeten im Golfkrieg stießen auf ähnliche Probleme: Sie hatten wesentlich größere Schwierigkeiten als erwartet, die militärische Kommunikation des Irak auszuschalten. Dieser verwendete nämlich IP-Router, die beim Ausfall einzelner Verbindungen und Knoten schnell einen alternativen Weg durch das Netzwerk finden konnten (Krol, 1992, S. 33).

Wohin werden uns all diese Möglichkeiten führen? Diese Frage kann derzeit wahrscheinlich niemand ernsthaft beantworten. Die wichtigsten Einsatzmöglichkeiten des Netzwerks können wir uns wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen, so wie die Konstrukteure der ersten Computer (86) sicher nicht an Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Desktop Publishing gedacht haben. Das Netz wird sich weiterentwickeln und mit ihm die Netzwerkanwendungen und die Wünsche der Benutzer. Eines scheint aber klar zu sein: Dem Einfluß von Computernetzwerken wie dem Internet und den von ihnen ausgelösten Veränderungen werden wir uns, insbesondere in der Wissenschaft, nur schwer entziehen können. Schon bald werden wir die Auswirkungen auch in Bereichen spüren, die wir derzeit noch weit von elektronischer Kommunikation entfernt wähnen. Be prepared!


(82) Unsere Ausführungen über den Buchdruck und seine Auswirkungen basieren auf Burke (1985, S. 109-123).

(83) Ein wesentlicher Grund für die Preisentwicklung liegt in der fortschreitenden Fragmentierung der Wissenschaft, die eine größere Zahl von Publikationen mit kleineren Auflagen, kürzeren Laufzeiten und komplizierteren Vertriebskanälen mit sich bringt.

(84) Viele elektronische Journale unterziehen eingesandte Artikel den in wissenschaftlichen Zeitschriften üblichen Bewertungsverfahren (siehe Kapitel 5).

(85) Das gleiche gilt auch für Radio und Fernsehen. Sie sind in dieser Hinsicht den "Printmedien" wesentlich näher als der elektronischen Kommunikation über Computernetzwerke.

(86) Damals gab es Schätzungen, die meinten, daß weltweit etwa eine Handvoll Computer benötigt wird.