Ulrich Brinkmann
Dieses Kapitel ist die Einführung in die Arbeit. Im ersten Teil wird der Hintergrund für die Arbeit beleuchtet, der Referenzrahmen ist also die Magisterarbeit. Die Problemstellung, die aus den Vorarbeiten in der Magisterarbeit resultiert, wird im zweiten Teil entwickelt werden, der damit eigenständig nur sich selbst referiert. Der dritte Teil stellt die theoretische Basis vor für die Behandlung der Problemstellung vor und referenziert damit das zweite, folgende Kapitel der Arbeit. Der vierte Teil dieses Kapitels erläutert die Umsetzung der theoretischen Anliegen in die Abfolge der analytischen Kapitel - projiziert also den Rest der Arbeit.
Betrachtet man anglistisch-amerikanistische Publikationen der letzten
Zeit, so gewinnt man fast den Eindruck, daß das Reisen demnächst ein
Modethema wird. Der Tourismus als moderne Form des Reisens taucht
dabei auch häufig auf, jedoch dann immer unter der Perspektive der
Beschäftigung mit dem Reisebericht und dessen kulturkonstituierender
Wirkung. Hinter der Perspektive des Autors und der Repräsentation
des Tourismus verschwindet allerdings die eigene Wirkungsdimension
touristisch relevanter Texte. Damit wird auch die Chance vergeben,
das Feld ästhetischer Erfahrung, das sich zwischen Literatur und Tourismus
auftut, als Schlüssel für die Analyse des Tourismus zu nutzen.
Meine Beschäftigung mit dem Tourismus rührt dagegen aus einer kulturhistorischen
Problematik her. Mir ging es weniger um die Definition von Kultur,
zu der der Reisebericht mithilft, als vielmehr um die kulturellen
Muster, die das Reisen der Wahrnehmung auferlegt. Die Ausgangsfragestellung
ergibt sich dabei aus einem inzwischen verschütteten Projekt, das
die Wirkung der Eisenbahn (Technik) auf die Wahrnehmung in künstlerischen
Werken nachzuvollziehen trachtete. Die Lokalisierung der Oberflächlichkeit
als neuer Qualität der Wahrnehmung, wie sie Schivelbusch (in Anlehnung
an Sternberger) als ,,panoramatischen Blick`` bezeichnet hat, machte
jedoch Schwierigkeiten. Nicht nur die mangelnde Evidenz einer solchen Veränderung in der
Literatur, sondern auch prinzipielle Überlegungen bewogen mich zu
einer Aufgabe des Projekts.
Die prinzipiellen Überlegungen betrafen die Konstruktion eines direkten
Verhältnisses von Wahrnehmung und den physiologischen Bedingungen
der Wahrnehmung, sowie die Annahme, daß Wahrnehmungen direkt in künstlerischen
Ausdruck einfließen. Sowohl die Wahrnehmung selbst als auch deren
Ausdruck erfolgt immer nur über die Vermittlung durch kulturelle ,,Schemata``. Die kulturellen Schemata, die den Blick aus dem Eisenbahnfenster
leiten (sofern der Blick des Passagiers nicht mit der Lektüre von
Romanen oder Reiseführern beschäftigt ist), sind die des Tourismus.
Diese Erkenntnis wäre noch kein Grund zur Aufgabe des ursprünglichen
Projekts gewesen, wenn nicht einerseits kaum Literatur zum Tourismus
unter dieser Perspektive existiert hätte und andererseits in der Beschäftigung
mit dem Tourismus sich die technischen Bedingungen der Wahrnehmung
nicht als so wenig entscheidend herausgestellt hätten. Was im Verlaufe
der Magisterarbeit über den ,,Tourismus als Gegenstand der American
Studies `` hervortrat, war dagegen das Problem, wie man kulturelle
Erfahrung überhaupt zu rekonstruieren habe.
Im Nachhinein erschien der Versuch, die Oberflächlichkeit der Wahrnehmung als neue Qualität an die technische Evolution zu binden, als eine Möglichkeit, in einem ästhetischen Diskurs eine bestimmte fortschrittliche (materialistische) Position zu bestimmen. Die literarischen Ausdrücke, die Schivelbusch zum Beleg der veränderten Wahrnehmung aufführt, gewinnen ihre Relevanz aus der Gegenüberstellung zur diskursiven Ästhetik eines Ruskin, für den ,,Wahrnehmung`` vor allem eine Wertfrage ist. Schivelbusch bezieht Position gegen Ruskin, seine Argumentation erscheint dabei lediglich als Umwertung innerhalb desselben ästhetischen Diskurses. Daß das kein Kampf gegen historische Windmühlen ist, daß also die Forderung des ästhetischen Diskurses nach eine Positionierung auf einer kulturellen Werteskala mit dem 19. Jahrhundert nicht ausgelaufen ist, zeigte sich im Verlauf der Beschäftigung mit dem Tourismus. Denn dieser ist, wie meine Analyse von Boorstins Theorie des Tourismus zeigen sollte, ein gefundenes Objekt für die Abgrenzung eines humanistischen Wertekanons von dessen Gegenüber, den rein ökonomischen Werten und der damit verbundenen Kultur der Masse.
Diese kleine Geschichte des Forschungsgegenstandes sollte nun meinen Zugriff auf den Tourismus in seinen Kontext stellen. Als kulturhistorisches Phänomen entzieht sich der Tourismus den empirischen Bestimmungen, in denen sich die immens umfangreiche wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Literatur versucht. Zwar wäre es eine interessante Arbeit, dieser empirischen Literatur den systematischen blinden Fleck in ihrer Schwierigkeit nachzuweisen, wie sie die Motivation des Touristen nicht anders als über platt-psychologische Vorannahmen zu rekonstruieren imstande ist. Der systematische Punkt wäre dabei das Problem ökonomischer Theorien, den Wert der Ware, ihre Attraktivität, mit den empirisch-naturwissenschaftlichen Ansprüchen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu vereinbaren. Dieses Problem wird die genannten Wissenschaftszweige noch lange beschäftigen. Darüber hinaus gehen dagegen ,,nicht-empirische`` soziologische Ansätze wie die von Bourdieu, die den Zusammenhang zwischen ,,Kultur`` und ,,Ökonomie`` auf der Grundlage marxistischer und strukturalistischer Paradigmen neu konzeptualisieren.
Diese Opposition von Kultur und Ökonomie ist in jedem Fall die Grundlage
für eine lange kulturhistorische Auseinandersetzung mit dem Tourismus,
für die ich paradigmatisch Daniel J. Boorstins Kapitel ,,From Traveler
to Tourist: The Lost Art of Travel`` in seinem The Image, Or, What
Happened to the American Dream untersucht hatte. Die Leitdifferenz ,,Pseudo`` vs. ,,authentisch``, die
den Tourismus dem Reisen, das Medienbild den wirklichen Gegenständen,
stereotype Trivialliteratur einer individuellen Autorenliteratur gegenüberstellt,
leitet sich aus dem humanistischen Wertekanon her, wie ihn Boorstin
als von der kommerziellen Massenkultur bedroht darstellt und in seiner
Analyse gleichzeitig wieder neu bekräftigen möchte.
Die kanonischen Reisenden sind dabei der Kontinente entdeckende Seefahrer,
der forschende Wissenschaftler und der Abenteurer. Der epische Charakter
dieses Kanons von Reisenden ist offenbar von Nostalgie nach einer
längst verlorenen Ganzheit der Kultur und Authentizität der Erfahrung
durchtränkt. Ist beim Entdecker und Wissenschaftler die Bedeutung
für die Gesamtkultur deutlich in der institutionellen Verankerung
zu sehen, ist beim Abenteuer das Paradigma eher schon das der (in
diesem Falle ultimativen) individuellen authentischen Erfahrung. Diese
ist letztlich der Verbindungspunkt zur Reiseliteratur der letzten
200 Jahre, die nicht müde wurde, den sensiblen Reisenden vom in Massen
auftretenden Touristen zu unterscheiden. Es gibt von dieser Konstruktion des Touristen als schlechtem Reisenden
auch mehrere theoretische Versionen, die ich in der Magisterarbeit
schon behandelt habe und auf die hier nicht weiter eingegangen wird.
Der Ansatzpunkt von Boorstins Kritik am Tourismus ist, daß die Kommerzialisierung und Vermassung des Reisens eine authentische Erfahrung verhindert. Das Kriterium, ob eine Erfahrung authentisch ist oder pseudo, fällt für Boorstin in den Bereich der persönlichen Verantwortung des Individuums. Dieses hat es in der Hand, sich angemessen zu bilden, um den Unterschied zwischen authentisch und ,,pseudo`` beurteilen zu können.
Die Erfahrung des Authentischen ist einerseits an die Fähigkeit gebunden, Illusion und Täuschung von der Wirklichkeit unterscheiden zu können. Die Erfahrung des Authentischen ist damit als Erfahrung kaum der Betrachtung wert, denn wichtig ist die Unterscheidung von Wahrheit und Illusion - also eine diskursive Prozedur. Es ist für Boorstin also weniger interessant, wie eine touristische Sehenswürdigkeit erfahren wird, als daß sie als authentisch zertifiziert wird (ähnlich der Zertifizierung eines Kunstwerkes als authentisch diesem oder jenem Meister zuordenbar, deren Ergebnis ungleich viel wichtiger ist als der Weg, auf dem der (seinerseits zertifizierte und dafür gut bezahlte) Spezialist dahin gekommen ist).
Andererseits ist das Authentische niemals erfahrbar, denn es ist ein idealer Punkt, der nur noch als von den Zeitumständen kontaminiert vorstellbar ist. Daher die Beschwörung einer unwiederbringlichen Vergangenheit des Reisehelden. So sehr Boorstins Unterscheidungen eine Entscheidung für den Wert der Hochkultur herbeizuführen beabsichtigen, die Logik des Arguments beruht auf einer romantischen Vorstellung des individuellen Sublimen, das als Erfahrung alle Konzeptualisierungen übersteigt.
Auf den Moment der Distinktion bezieht sich MacCannell, wenn er Boorstins
Tourismuskritik als ,,rhetoric of moral superiority`` bezeichnet und sie eher als Teil des Phänomens denn als einen analytischen
Zugriff betrachtet.
The touristic critique of tourism is based on a desire to go beyond the other 'mere' tourists to a more profound appreciation of society and culture, and it is by no means limited to intellectual statements. All tourists desire this deeper involvement with society and culture to some degree; it is a basic component of their motivation to travel.![]()
Auf der anderen Seite geht MacCannell daran, die Struktur der Authentizität semiotisch aufzudröseln - also das Nichtkonzeptualisierbare als Wirken einer Zeichenstruktur darzustellen. Die hypostasierte Erfahrung wird so aus ihrer Idealstellung herausgehoben und als Struktur betrachtet. Das impliziert natürlich die Untersuchung der gesellschaftlichen Funktion des Tourismus.
MacCannells erste Stufe seines Alternativprogramms zu Boorstin findet
im Kapitel ,,Staged Authenticity``, das schon vorab 1973 als Artikel
publiziert worden war, als Untersuchung der Strukturierung touristischer Authentizität statt.
Sie ist da der Effekt der Überschreitung der Grenze von einer front -Region
zu einer back -Region. Die einzelnen touristischen Fälle und
Inszenierungen einer solchen touristischen Überschreitung erhalten
ihre Bedeutung aus der gesellschaftlichen Unterscheidung eines öffentlichen
und eines der Öffentlichkeit nicht zugänglichen (nicht unbedingt privaten)
Raumes. Eine gelungene touristische Erfahrung läge also dann vor,
wenn eine signifikante Grenze überschritten wird. An Beispielen wie
Führungen durch Fabriken und öffentliche Gebäude macht MacCannell
deutlich, daß es sich um ein Kontinuum zwischen den beiden idealen
Polen einer äußersten Front und einer innersten Back -Region
handelt.
Im weiteren Verlauf der Untersuchung generalisiert MacCannell die Authentifizierung als zentrale Operation jeglicher touristischer Erfahrung. Er definiert sie als Identifizierung von marker , d.h. der Information über das Objekt und der Erwartungen, die diese Information geweckt hat, mit dem Objekt selbst, dem sight , in der touristischen Situation. Die Erkundung von back-regions wird dabei zu nur einem möglichen Gehalt oder Modus der touristischen Erfahrung; die Heterogenität der Sehenswürdigkeiten, die von historischen Monumenten zu modernen Arbeitsplätzen reicht, macht eine eindeutige semantische und axiologische Zuordnung unmöglich. Es geht also nicht nur entweder um historische Monumente, oder Naturdenkmäler oder Kulturlandschaften oder neueste Technologie oder das Großstadtabenteuer, sondern um alles gleichermaßen.
Im Gegensatz zu Boorstin, der den Tourismus als abschreckendes Element
im Aufbau einer kulturellen Wertehierarchie nutzte, interessiert sich
MacCannell damit für die gesellschaftliche Funktion des Tourismus.
Seine Funktion ist die Repräsentation der Gesellschaft in der Struktur
der Sehenswürdigkeiten, die der Tourist als authentisch erfährt. Repräsentiert
wird dabei die Heterogenität der modernen Gesellschaft selbst, deren
unterscheidendes Merkmal die Unterscheidung, die Differenz ist. Die
Form der ,,Präsentation`` der Sehenswürdigkeiten wird zu ihrem Gehalt.
Der Vorrang der Struktur der marker-sight- Identifikation und
die Form der Kollektion der Objekte als ihr Gehalt lassen die touristische
Erfahrung als weniger individuell erscheinen als das in MacCannells
Beispielen oft zum Ausdruck kommt. Er hebt in der Theoretisierung
besonders den kollektiven Charakter des Tourismus hervor, den er an
einer Stelle als ,,ritual performed to the differentiations of
society `` bezeichnet. Dieser Begriff des Rituals verweist schon auf das Problematische
des Unterfangens der Rekonstruktion touristischer Authentifizierung:
einerseits möchte sie MacCannell als Zeichenstruktur demystifizieren,
andererseits braucht er aber aufgrund seiner gesellschaftstheoretischen
Vorgaben einen mythischen Kern für die Funktionalisierung.
Wie schon angedeutet, gewinnt MacCannell in der Analyse der Erfahrung des Tourismus (erst als Authentifizierung innerhalb einer front-back-Relation, dann als Authentifizierung in einem Marker-Sight-Verhältnis) einen Zugriff auf die gesellschaftliche Funktion des Tourismus. Dieser Zugriff ist allerdings bestimmt von den Einschränkungen, die sich aus seinem Kulturbegriff ableiten lassen.
Für MacCannell hat Kultur eine die Gesellschaft integrierende Funktion.
Nach Emile Durkheim hält die symbolische Organisation, im Gegensatz
zur ökonomisch-materiellen, die Gesellschaft zusammen und ermöglicht
ein soziales Leben. Wie bei vielen anthropologischen Gesellschaftskonzeptualisierungen
ist das ein organischer Entwurf. Trotzdem versucht MacCannell, innerhalb
des anthropologischen Paradigmas, der Spezifik des Tourismus als moderner
Kulturerscheinung gerecht zu werden. Der Vorteil eines anthropologischen
Zugriffs ist ja, daß ,,Kultur`` im Gegensatz zu empirisch-soziologischen
Ansätzen zentral gemacht werden kann. Der Nachteil ist, daß er homogenisierend
wirkt. MacCannells Versuch, über den Marxschen Fetischbegriff eine
Verbindung zu einer kritisch-historischen Gesellschaftstheorie herzustellen,
gelingt wegen dessen Marginalität in Marx' Denken nur unzureichend.
Die Differenz zwischen der Wirkungsweise des Fetisch als Gegenstand
der Objektfixierung und der eine communitas herstellenden
Funktion des Rituals bleibt unberücksichtigt - ihre Gemeinsamkeit,
für das Individuum einen Kontrollverlust anzuzeigen, steht zu sehr
im Vordergrund.
Das anthropologische Kulturmodell sieht eine Homologie vor zwischen
der symbolischen Struktur und der Gesellschaftsstruktur. Auf dem symbolischen Niveau wird gewissermaßen vorexerziert, welche
Muster die gesellschaftliche Organisation tragen. Symbole verbinden
das Individuum mit der Gesellschaft, stellen Verbindlichkeiten her.
MacCannells Modellierung der ,,cultural experience`` als bestehend aus
einem model , dessen influence sich in der Rezeption
als Muster für Rollenverhalten niederschlägt, überträgt dieses Verhältnis
lediglich auf die Moderne. Die Modernisierung besteht in der komplementären
Beziehung, die ,,Kultur`` zur ,,Arbeit`` eingeht. Kulturelle Symbole sind
dadurch bestimmt, daß ,,this ritual removal of culture from workaday
activities has produced the central crisis of industrial society.``
MacCannell zitiert Sapir:
The great cultural fallacy of industrialism, as developed up to the present time, is that in harnessing machines to our uses it has not known how to avoid the harnessing the majority of mankind to its machines. The telephone girl who lends her capacities, during the greater part of the living day, to the manipulation of a technical routine that has an eventually high efficiency value but that answers to no spiritual needs of her own is an appaling sacrifice to civilization.
Die spezifisch moderne Variante sieht also eine Trennung zwischen symbolischem und materiell-technischem Bereich in der Gesellschaft. Das eigentlich Gesellschaftliche für das Bewußtsein des Einzelnen verlagert sich in die Kultur bzw. die ,,kulturelle Erfahrung``.
Das Kennzeichen dieser kulturellen Erfahrung bei MacCannell ist gerade
die Entindividualisierung: deshalb ein Begriff wie 'Ritual'. Ob man
dies als ,,Pflicht`` oder als ,,communitas ``
bezeichnet oder gar als mit ekstatischen Zuständen in Verbindung
bringen will, immer handelt es sich um die Entgrenzung des Individuums,
die Gesellschaftlichkeit in der Übetretung konstituiert. Obwohl MacCannell
von gesellschaftlicher Differenzierung spricht, ist es genau die Differenzierung
des ökonomisch-materiellen Bereichs, die im symbolisch-kulturellen
transzendiert wird und als Repräsentation wiederkehrt. In der kulturellen
Erfahrung ist die Differenz zwischen den (entfremdeten) Individuen
aufgehoben und damit auch die zwischen dem Individuum und sich selbst.
Es würde zu weit führen, die Details von MacCannells Theorie im einzelnen und in ihrer Widersprüchlichkeit hier vorzuführen. Für die weitere Diskussion werden die Individualität, die kulturelle Erfahrung als ästhetische Erfahrung und die Funktion und Wirkungsweise gesellschaftlich erzeugter Bedeutung als zentrale Punkte des weiteren Vorgehens wichtig. Daher wird sich die Kritik an MacCannell im weiteren auf diese Bereiche konzentrieren.
Es zeigt sich, daß MacCannell genau den Aspekt von Individualität
braucht, den Boorstin so kritisiert hat. Der individuelle Kontrollverlust
ist für MacCannell der Moment der gesellschaftlichen Sinnproduktion. Dabei tendiert das Individuum dazu, hinter seiner ,,Erfahrung`` zu
verschwinden, oder besser noch, hinter der Struktur der Objekte seiner
Erfahrung. Denn die touristische Erfahrung der modernen Differenz
als Differenz hat als Erfahrung nur die Funktion, dem Individuum
ein Bild der Gesellschaft zu vermitteln, als eine kognitive Form.
Mit dem Verschwinden des Individuums in der Struktur gerät auch die
Erfahrung aus dem Blick, die das Individuum als Individuum machen
kann.
In MacCannells semiotischer Formulierung touristischer Erfahrung reproduziert sich das Problem: die Identifikation von sight und marker durch den Touristen ist eine ja-nein-Operation, gewissermaßen ein Einrasten, bei der die Motivation, die Vorgeschichte der spezifischen Erwartung trotz der Allgegenwärtigkeit des Wortes attraction unter den Tisch fällt.
Anders formuliert: allein die Tatsache, daß der Tourist über seine
individuelle Grenze hinausgeht, reicht noch nicht zur Funktionsbestimmung
der touristischen Erfahrung. Nimmt man als Extrembeispiel für die
kulturelle Erfahrung die rituelle Ekstase (wie in bestimmten Tänzen),
so ist Ekstase unter modernen/postmodernen Bedingungen etwas anderes
als unter ,,traditionellen``. ,,Für uns`` ist Ekstase (à la Techno-Dance)
eine Erfahrung, die als Erfahrung attraktiv ist. Die dabei stattfindende Grenzüberschreitung ist eine der
individuellen Grenzen der Person, der Kontrollverlust bestärkt das
Bewußtsein von den vorhandenen Grenzen (und schiebt sie meinetwegen
auch etwas hinaus). In den Ekstasen traditioneller Gesellschaften,
so steht zu vermuten, ist es nicht das Individuum, dessen Grenzen
im Überschreiten verspürt werden, sondern es werden buchstäblich
andere Sphären der Welt erfahrbar.
Das Wort ,,buchstäblich`` nun mag darauf hindeuten, daß es sich hier um eine hypothetische Heuristik handelt. Sie soll klar machen, daß Individualität keineswegs eine natürliche Kategorie ist und daß diese Kategorie in ihrer Verbindlichkeit ein kulturelles Konstrukt ist. Dieses muß selbst mitanalysiert werden, sobald man kulturelle Erfahrung untersucht. Unter dieser Perspektive muß das Problem des Tourismus neu aufgerollt werden. Der Funktion touristischer Erfahrung kann man sich nur unter Berücksichtigung der Individualität als kultureller ,,Form`` nähern.
Das impliziert, bei der kulturellen Erfahrung das wieder hervorzuholen,
was durch den ,,homologen Kurzschluß`` verschütt gegangen ist. Individualität
als Form der Erfahrung legt nahe, die touristische Erfahrung als im
weitesten Sinne ästhetische zu fassen. Die Authentifizierung des touristischen
Gegenstandes, der Sehenswürdigkeit, ist eine der sinnlichen Wahrnehmung.
Das ist ästhetisch im weitesten Sinn, denn obwohl die Wurzel des Wortes
,,ästhetisch`` genau auf die sinnliche Wahrnehmung abzielt, ist das
Wort doch mittlerweile mit spezifischen Bedeutungen beladen, die beim
Tourismus nicht zwingend zur Anwendung kommen. Wenn man vom Tourismus,
wie ihn MacCannell betrachtet, ausgeht, so machen ,,Kunst`` und ,,das
Schöne`` nur einen kleinen Teil des Spektrums der Sehenswürdigkeiten
aus. Selbst wenn man den Tourismus historisch betrachtet und feststellt,
daß er früher im Vergleich zu heute doch etwas mehr mit dem ,,Ästhetischen``
zu tun hatte, zielte Tourismus auf eine umfassendere Bildung, die auch die historische
und politische Bedeutung der Monumente berücksichtigte. Wenn man Tourismus
allerdings nicht mehr isoliert betrachtet, wenn man zum Beispiel die
Entwicklung der Reiseliteratur berücksichtigt, so kann man die zunehmende
ästhetische Bedeutung der Reise feststellen.
Verfolgt man die Entwicklung der Literatur, so ist auf der Ebene
der repräsentativen Gegenstände durchaus eine Integration nicht-ästhetischer,
alltäglicher Gegenstände in die ästhetische Erfahrung zu sehen. Realistische
Literatur (d.h., nicht nur die Literatur des Realismus) inszeniert
die Erfahrung der Realität als ästhetische. Die back-stage -Sehenswürdigkeiten,
die MacCannell so paradigmatisch für die Organisation der modernen
Gesellschaft setzt und aus dem Paris-Baedecker von 1900 extrahiert
(,,The Work Displays``: Oberster Gerichtshof, Börse, Münzerei, Nationaldruckerei,
Gobelinmanufaktur, Tabakfabrik, Leichenhaus, Schlachthaus) finden
sich auch in populären Romanen als Schauplätze.
Es fragt sich, ob sich diese Sehenswürdigkeiten einem generischen
Interesse an repräsentativen ,,sozialen Orten`` verdanken, oder ob sie
nicht buchstäblich einfach als Schauplätze bekannt und interessant
sind. Vielleicht ist das auch die falsche (Henne-Ei-) Frage, besser
ist vielleicht überhaupt zu fragen: was ist das Verhältnis von Literatur
zu Tourismus?
Es wird hier ein Verhältnis zwischen Literatur und Tourismus problematisch, das MacCannell wegen seiner Reduktion der ,,Information`` auf ihre der Authentifizierung des Gegenstandes bloß supplementäre Funktion entgangen ist. Auf eine gewisse Blindheit bei MacCannell deuten auch die Fälle an, in denen er das Wort ,,ästhetisch`` überhaupt verwendet. Der Hinweis im Baedecker auf ästhetische Elemente in den Work Displays (hier in der Nationaldruckerei) wird als Verschleierung der Anwesenheit von arbeitenden Menschen gedeutet. Der ideologiekritische Zusammenhang dieses Kapitels wird ihm wohl diese Unterstellung eines falschen Bewußtseins suggeriert haben. Davon bleibt allerdings der Begriff der kulturellen Erfahrung relativ unberührt. An den Stellen, an denen MacCannell die semiotische Struktur touristischer Authentifizierung untersucht, interessiert ihn ein Effekt, dessen Erfahrung ich als ästhetische bezeichnen würde. Soweit MacCannells Analyse als gegenseitig aufeinander bezogene Komponenten der touristischen Erfahrung marker und sight herausarbeitet, berücksichtigt das im Gegensatz zu Boorstin immerhin die Wichtigkeit der Erfahrung des Akteurs im Prozeß.
Die Individualität der Erfahrung fordert jedoch eine genauere Analyse der Mechanismen, die zur Motivation des Touristen führen. Wie sieht die Produktion einer ästhetischen Erwartungshaltung aus? Das ist letztlich die Frage nach der Funktion des Tourismus, die von MacCannel ja als Herstellung eines ,,place for unattached individuals in modern society`` bezeichnet wird, in dem einem solchen Individuum ermöglicht wird ,,to construct totalities from his disparate experiences``. Diese Funktionalisierung basiert, wie wir schon festgestellt haben, auf einer ungenügenden Differenzierung des Begriffs ,,Kultur``. Eine Neukonzeptualisierung müßte zuallererst untersuchen, wie in dem, was MacCannell ,,marker`` nennt, ein Verlangen produziert wird, an den entsprechenden Ort zu fahren und die Sehenswürdigkeit zu authentifizieren.
Der Modell der ,,cultural experience`` in seinen drei Komponenten Modell, Einfluß und vermittelndem Medium, kommt bei MacCannell einer solchen Fragestellung noch am nächsten.
Das Modell ist gewissermaßen ein abstrakter, idealer Typ, der im Medium konkretisiert wird und durch dessen Vermittlung seinen Einfluß ausübt. Wie dieser ideale Typ nun zu seinem Einfluß kommt, ist bei MacCannell als selbstevident nicht weiter erklärt: Typisches Verhalten bezieht sich automatisch, d.h. in der soziologischen Homologie, auf den Idealtypus. Das entspricht der Herleitung des Konzepts des model von Erving Goffman, der damit in einer umgekehrten Interessenlage die Erweiterung des individualpsychologischen Rahmens betreibt: diese möchte damit - vom Endbefund her - das Typische des Verhaltens in seiner sozialen Determiniertheit erklären. Die spezifische Funktion kultureller Repräsentationen, vor der Auswirkung auf das Verhalten erst einmal eine ästhetische Erfahrung zu bewirken, wird bei MacCannell in der Übernahme nicht zureichend berücksichtigt.
Allerdings stellt MacCannell auch fest, daß das vermittelnde Medium eine ,,moral structure`` hat,
such that it takes the stance of being neutral or disinterested. Models for individual 'personality,' fashion and behavior are conveyed in motion pictures, or example, but if there is any suspicion that mannerism, affectations, clothing or other artifacts were put before the audience for the purpose of initiating a commercially exploitable fad, the fad will fail. [...] What ever the facts in the case, the medium must appear to be disinterested if it is to be influential, so that any influence that flows from the model can appear to be both spontaneous and based on genuine feelings.
MacCannell ahnt, daß das Medium über eine gewisse Eigengesetzlichkeit verfügt. Die Funktion als model darf gerade nicht vordergründig sein, sonst ist die Effektivität dahin. Die ,,moralische Neutralität`` hat dieselbe Funktion für den ,,Einfluß`` wie der ästhetische Schein für die Ideologie und die Ritualität für das Gesellschaftliche kultureller Bedeutung: sie verschafft dem Irrationalen oder Unbewußten seinen Ort der Wirksamkeit. Was jeweils fehlt, ist ein Modell des Erfahrungsprozesses auf individuellem Niveau.
Die Neutralisierung der Normativität des ,,Du sollst`` kann auch als
die Verhüllung der normativen Idealität des Modells in einer
ästhetischen Erlebnishaftigkeit beschrieben werden. Weil diese Erlebnishaftigkeit
nur supplementär funktionalisiert ist, bleibt das ,,wie`` dieser Erfahrung,
also die konkrete Funktionsweise, bei MacCannell ausgespart. Andererseits
ist sie so wichtig, daß MacCannell an einer Stelle von der Information
über das touristische Objekt die Leistung fordert, dasselbe erst interessant
zu machen. Auch für MacCannell ist die Wirkung ästhetischer ,,Objekte`` die zentrale
Schnittstelle für die Erklärung von Kultur - und ihres stand-in ,
des Tourismus.
MacCannells Konzeptualisierung des Tourismus ist also insofern hilfreich, als sie die ästhetische Erfahrung zentral macht für die Relevanz der Kultur (das kann natürlich auch ein Effekt der Wahl des Themas Tourismus sein). Sie weist aber gerade an dieser zentralen Stelle blinde Flecken auf, die aus dem spezifischen Gesellschaftsmodell und der Funktion, die Kultur in diesem Gesellschaftsmodell einnimmt, resultieren. Daß sie überhaupt ein Gesellschaftsmodell in Anschlag bringt, das der Analyse der Spezifik moderner Kultur eine Schnittstelle zu verschaffen sucht, muß man MacCannells ,,new theory of the leisure class`` zugute halten.
Will man hinter diesen Horizont nicht zurückfallen, so wird die weitere Analyse des Tourismus in zweierlei Hinsicht eine kritische Neuformulierung von MacCannells Ergebnissen erfordern:
Die narrativen Strukturen und die semantischen Effekte sind natürlich in ihrer gegenseitigen Konstituierung zu betrachten.
Mein Vorgehen in der Beantwortung dieser beiden Punkte wird die Durchführung des letzteren sein, und zwar in der konkreten Analyse literarischer Texte auf dem Hintergrund der theoretischen Fragestellung. Die kulturelle Funktion des Tourismus kann letztlich nur beschrieben werden im Vergleich mit der Funktion von Texten, die für seine Konstitution grundlegend sind. Daß diese Perspektive neue Dimensionen für Funktion der Texte eröffnet, ist zu erwarten.
Von daher ist eine kritische Befragung der Theorien literarischer Wirkung ein dritter Punkt, der hier zur Bearbeitung ansteht. Dies wird sich im Rahmen der Vorgaben abspielen, die die Analyse der Texte leiten sollen.
Es fragt sich nun, welcher kulturtheoretische Hintergrund für die oben skizzierte Fragestellung geeignet ist. Die Antwort darauf ist nicht einfach. Zum einen ist die historische Bedingtheit der den Tourismus und die Literatur verbindende Kultur näher zu bestimmen. Zum anderen sind Modelle gefragt, die das Phänomen Tourismus und Literatur selbst in dieser historischen Bedingtheit der Analyse zugänglich machen.
Die strukturalen Kurzschlüsse MacCannells werden deutlich, wenn man Forschungen berücksichtigt, die den Tourismus historisch aus der früheren Reisepraxis der Pilgerfahrt ableiten. Der Funktionswandel, den das Ziel der Reise durchmacht, läßt sich ohne die Einbettung in die Prozesse der Säkularisierung, der Verbreitung der Schrift und der Individualisierung gar nicht verständlich machen. Daraus ergibt sich eine spezifischere Einordnung in die historische Phase, in der das Reisen zum Tourismus wird.
Allerdings wäre die historische Rekonstruktion der Pilgerfahrt auf
der Basis eines funktionalen Gesellschaftsmodells selbst schon eine
Arbeit wert. Die bisherigen kulturanthropologischen Konzeptualisierungen
bauen eher auf universalanthropologischen Paradigmen auf, die der
hier angestrebten Historisierung eher zuwiderlaufen. Immerhin läßt sich sagen, daß es sich schon bei der christlichen
Pilgerfahrt um eine Authentifizierung handelt, die ein Verhältnis
von Text und Sehenswürdigkeit etabliert. Wie Mary Campbell in ihrem
The Witness and the Other World: Exotic European Travel Writing,
400-1600 beschreibt, reflektieren die frühen Berichte von Pilgerreisen
nach dem Heiligen Land (ab dem fünften Jahrhundert n.Chr.) kaum die
externen Gegebenheiten und ergehen sich vielmehr in der litaneihaften
Bestätigung erwarteter Formeln; Gebet und Bericht haben dieselbe Form.
Die Schrift als Zeugnis hat dabei noch nicht die Aufgabe, eine individuelle
Erfahrung auszudrücken. Die Bestätigung der Wahrheit der Heiligen
Schrift im Besuch des Heiligen Landes ist zwar eine Authentifizierung,
die ein persönliches Zeugnis in der Schrift befördert,
dessen Form aber eben nicht als Ausdruck von Individualität institutionaliert
ist.
Darüberhinaus ist die schriftliche Zeugenschaft kaum als wesentlicher Bestandteil der Pilgerfahrt anzusehen, schon allein weil es viel mehr Pilger gab als Leser. Der Bezug zum Text ergibt sich allerdings andersherum: Der Wert der Reliquien, als deren Schrein die Wallfahrtstätten für die Pilger attraktiv waren, ergibt sich aus ihrem Verhältnis zu den Geschichten der Bibel, deren Wirklichkeit/Wahrheit sie repräsentierten. Sichtbarkeit, ja Berührbarkeit, macht die Präsenz des Relikts zum Anlaß für das Erlebnis der Anwesenheit Gottes auf dieser Welt. Was noch genauer untersucht werden müßte, wäre der Zusammenhang zwischen der spezifischen Narrativität des biblischen Textes und der Authentifizierung durch persönliche Inaugenscheinnahme. Vermutlich ließe sich hier das Christentum als historische Zeit etablierende Religion fassen. Aber ebenso wie weitergehende Vergleiche mit ähnlichen Strukturen im Islam würde das den gesetzten Rahmen erst recht sprengen. Deutlich wird jedoch hier schon der Kern einer Konstellation, die als Ausdifferenzierung der Individualität in der Renaissance und in der Reformation zu einer neuen historischen Epoche führte, die noch immer nicht zu Ende gegangen ist. Individualisierung, Säkularisierung und die ,,Verschriftlichung`` sind die Wegmarken, die den Wandel von der Pilgerfahrt zum Tourismus anzeigen.
Das Verhältnis von Text zu Sehenswürdigkeit legt nun nicht nur eine
bestimmte Genealogie nahe (von der Pilgerfahrt zum Tourismus), sondern
erlaubt auch, diesen Strang der Reisepraxis von einem anderen historischen
Strang zu trennen. Die Epochenschwelle zur Neuzeit wird ja häufig
mit den Entdeckungsreisen nach Asien und Amerika angesetzt, die portugiesische,
spanische und holländische Seefahrer aus ökonomischen und politischen
Interessen unternommen hatten. Aus der sich abzeichnenden Dichotomie
zwei anthropologische Konstanten zu bestimmen, birgt die Verführung
zu entdifferenzierender Mythisierung des Symbolischen, wie das in
anthropologischen Definitionen des Tourismus als sakralem oder rituellem
Bereich gegenüber dem alltäglichen materialistischen sozialen Leben
zum Ausdruck kommt. Dagegen wird hier avisiert, die kolonialisierenden Reiseformen genauer
zu den textbezogenen ins Verhältnis zu setzen. Die Differenz ist zu
wichtig, als daß man sie zugunsten des einen oder anderen auflösen
könnte. Daß sich heute Tourismus wegen der Kommerzialisierung von
Kultur in einer Kulturindustrie als Kolonialismus auswirken kann,
verweist eher auf die Notwendigkeit einer genauen Funktionsbestimmung
denn auf die ,,entlarvende`` Identifizierung von Tourismus mit Kommerz.
Wie sehr kulturelles Reisen dem Kolonialisierungsapparat auch (indirekt)
gedient und zugearbeitet haben mag, die Differenz zwischen Wissenschaftler,
Bildungsreisenden und Touristen auf der einen und militärischen und
Handelsunternehmungen auf der anderen ist strukturell. Die Textbezogenheit
der ersteren macht sie natürlich für die letzteren nicht unnütz, im
Gegenteil, wie sich das wissenschaftliche Wissen immer mehr auf empirische
Gegenstände zurichtet, wird es auch instrumentalisierbar.
Aber das verweist ja nur auf die besondere Stellung der Textualität
in der neuzeitlichen Gesellschaft. Und läßt sich auch als motivierte
Ausdifferenzierung des Reisens immer mehr in die Richtung eines individuellen
ästhetischen Erlebens formulieren.
Als Grundlage für die historische Funktionsbestimmung des Tourismus
bietet sich Luhmanns systemtheoretische Revision der historischen
Entwicklung neuzeitlicher Gesellschaften an. Im selben Paradigma ist
auch schon eine Untersuchung über die Auswirkungen der Drucktechnik
durchgeführt worden, die in denselben Horizont paßt.
Eine solche differenzierende, systemtheoretische Perspektive ist deshalb
notwendig, weil sich die oben dargestellte Unterscheidung zwischen
einem textbasierten und einem politische und ökonomische Interessen
verfolgenden Reisen schnell wieder in der anthropologischen Falle
finden würde, die einen sakralen von einem profanen gesellschaftlichen
Bereich trennt und den Tourismus ersterem zuordnen würde. Natürlich
ist es legitim, Tourismus (und Freizeit) als dem Alltag entgegengesetzt
zu betrachten, aber die historischen Bedingungen müssen mitberücksichtigt
werden, wenn die genaue Funktion dieser nichtalltäglichen Erfahrung
zureichend bestimmt werden soll.
Auf diesem Hintergrund wird es darum gehen, die Entwicklung von Literatur und ihrer Genres im neuzeitlichen Sinne mit der Praxis des Reisens zusammenzubringen. Dies ist der historische Horizont unseres Verständnisses von der ,,Kultur,`` in die Tourismus und Literatur funktional eingebettet sind. Der Vorteil eine Historisierung nach Luhmann gegenüber MacCannell besteht in der möglichen Problematisierung des zentralen Begriffs ,,Individuum``.
Luhmanns systemtheoretische Revision der Institutionen ist nun sehr nützlich, wenn es um die taxonomischen Aspekte der Rekonstruktion geht. Es lassen sich darüber weitgehende Differenzierungen vornehmen und im Rahmen von Systemkonstellationen auch komplexe Veränderungen nachzeichnen. Jedoch bleibt das auf die gewählten Phänome vorerst immer eine Außenperspektive. So sehr sich auf diesem Hintergrund der Tourismus im Verhältnis zur Literatur als kulturelle Form der Individualität verarbeiten läßt, so wenig wird dadurch deutlich, wie sich die inneren Beziehungen dieser kulturellen Felder in der ästhetischen Erfahrung darstellen. Wie wird der Leser zum Touristen? Die systemtheoretische Perspektive macht deutlich, daß es sich bei Leser und Tourist um Formen der Individualität handelt, ja sogar, daß es um eine ästhetische Erfahrung geht, deren Funktion interessant ist. Wie allerdings genau der Leser zum Touristen wird, kann auf diesem Hintergrund nur eine genaue Analyse der ästhetischen ,,Objekte`` klären. MacCannell hatte das ja auch schon versucht mit seiner Semiotik des Tourismus, seine Analyse der ,,kulturellen Erfahrung`` war aber gerade in dieser Hinsicht der Übertragung vom marker zum sight zu unspezifisch.
Auf zwei Ebenen müssen daher Modelle gesucht werden:
Am ehesten lassen sich die beiden Ebenen durch psychoanalytisch inspirierte Modelle verbinden, nicht zuletzt, weil sich dabei die individuelle psychische Ökonomie als von gesellschaftlichen Symbolismen bestimmt definieren läßt und gleichzeitig doch Referenzpunkt bleibt.
Von den Versuchen seitens des Strukturalismus, Kultur über ein linguistisches
Paradigma zu definieren, blieb auch die Psychoanalyse nicht verschont.
Lacans linguistische Wende in der Psychoanalyse wurde zu einem Referenzpunkt
in vielen poststrukturalistischen Kulturentwürfen. Es sollen hier
allerdings weniger die Entwürfe interessieren, für die die Homologie
von psychoanalytischen Figuren mit Sprachstrukturen den Endhorizont
bildet, deren Ziel also ist, beispielsweise Metapher und Metonymie
mit Verdichtung und Verdrängung zu identifizieren und damit Kultur
erklärt zu haben. Interessant sind dagegen die Versuche, die sich
vom linguistischen Paradigma wieder wegbewegen hin zu einer allgemeineren
Kulturtheorie. Das haben auch MacCannell und MacCannell versucht in
einer Erweiterung des semiotischen Paradigmas auf eine Verbindung
von Marx und Freud hin. Dieser Versuch bleibt wegen der allegorischen Überhöhung der Semiotik
als master method und des schwammigen Begriffes von
,,Kultur`` problematisch. Dagegen nimmt beispielsweise Cornelius Castoriadis'
Verbindung von Psychoanalyse und historischem Materialismus die kulturelle
Funktion des Imaginären für die Entstehung aller gesellschaftlichen
Institutionen ernst.
Wie überhaupt der Begriff des Imaginären zu fruchtbaren Ansätzen für die Bestimmung der Funktion von Kultur geführt hat. Während Iser sich Castoriadis' Ansatz zur Entwicklung eines Funktionsmodells von Fiktion aneignete, rekurriert Gabriele Schwab auf das intermediäre Feld Winnicotts, in der sich imaginäre Primärprozesse ständig neu in die Strukturen der symbolischen Sekundärebene einspielen. Eine weitere, noch mehr an die kulturellen Objekte sich annähernde psychoanalytische Konzeptualisierung ist die der partialtriebhaften Lustbefriedigung (Narzißmus, Sadismus/Masochismus), wie sie von Deleuze/Guattari entwickelt und von Bersani in die Literaturanalyse eingebracht wurde.
Castoriadis Begrifflichkeit des Imaginären erhebt dieses als kaum lokalisierbares ,,Magma`` fast schon zum metaphysischen Prinzip, das ganz allgemein als Quelle von Schöpfung auf epistemologischem und ontologischem Niveau gleichermaßen wirkt. Es ist vielseitig anschließbar, weil noch nicht spezifisch. Jegliche gesellschaftliche Institution kann als Konkretisierung imaginärer Schöpfungskraft begriffen und auch wieder verändert werden. In Bezug auf das ökonomische System rechfertigt Castoriadis Theorie revolutionäre Praxis, denn sie hebt die kulturelle Erzeugtheit der vermeintlich natürlichen Kategorien industrieller Rationalität hervor. In Bezug auf kulturelle Institutionen ist Castoriadis nicht so spezifisch. Aber W. Iser hat gezeigt, daß im Prinzip der Institutionsbegriff für die kulturellen ,,Formen des Imaginären`` fruchtbar ist. Im Prinzip möchte ich also den Tourismus ebenfalls als eine solche Form des Imaginären betrachten. Allerdings hilft dabei Isers Modell des Fiktiven kaum weiter als in dieser Form der Heuristik. Ironischerweise verdeckt Isers epistemologische Funktionalisierung von Literatur-Fiktion-Narrativität das Spezifische der Literatur (und -genres) im Verhältnis zum Spezifischen der Fiktionalität im Verhältnis zum Spezifischen der narrativen Form. Genau diese Spezifika werden im Verhältnis von Literatur/Texten zum Tourismus aber problematisch, und daher sind auf der einen Seite alternative Methodiken erforderlich, die im nächsten Unterabschnitt zur Sprache kommen und die auch als Leitkategorien die Arbeit gliedern werden.
Andererseits bleibt jenseits des schöpferischen Ausspielens des Vermögens der Imagination auch noch die Übertragungsleistung der kulturellen Form der Literatur auf die kulturelle Form des Tourismus zu erklären. Neben den Leitkategorien Genre, Fiktionalität, narrative Form könnten da auch psychoanalytische Konzepte eine klärende Rolle spielen. Winnicotts Konzeptualisierung der Objektbesetzung (genetisch aus dem Kinderspiel) als konstitutiv für die Ichbildung würde die Wirkungsweise und Attraktivität literarischer Weltbildung erklären - sowie die möglicherweise komplementäre Funktion des Touristischen Erlebens der ,,Realität``. Alternativ dazu, weniger auf der Stabilisierung eines Ich beruhend, könnte die Umbesetzung von lustbringenden Objekten im Rahmen einer partialtriebhaften Ökonomie eine Erklärung für die Transferierung bieten: so etwas versucht Bersani. Silvermans Versuch, das Szenische selbst psychoanalytisch herzuleiten, als Nachwirken des Traumas der Beobachtung der ,,Urszene``, halte ich für eher problematisch.
Welcher der theoretischen Ansätze zur Übertragung letztlich am geeignetsten ist, stellt sich erst im Verlauf der Analyse des Werks von Henry James heraus. Wieso gerade das Werk von Henry James? Bevor diese Frage beantwortet wird, sei hier noch einmal auf den Horizont der Analysekategorien eingegangen, unter dem die Literatur hinsichtlich ihrer Übertragungsfähigkeit auf den Tourismus untersucht wird.
Die Arbeit wird die Frage: ,,Wie wird der Leser zum Touristen?`` in der Analyse von Romantexten entwickeln, wobei der Fokus auf dem Werk von Henry James liegen soll. Die Untersuchung wird sich vor allem darum drehen, welchen Status der ,,andere Ort`` im Roman bekommt. Dieser Status ist nun in mehreren Hinsichten interessant:
Darüberhinaus läßt sich dieser Modus intertextuell mit beschreibenden Genres wie dem Reisebericht in Verbindung bringen, die die Möglichkeiten seiner Nutzung für die Etablierung einer Wahrnehmungssubjektivität potenzieren.
Diese hier eher abstrakt vorgetragenen Dimensionen des Verhältnisses von Ort zu Text leiten letztlich die Ordnung der Analyse des Textkorpus. Die nähere Erläuterung desselben wird auch die Analysekategorien deutlicher machen.
He had taken the train a few days after this from a station - as well as to a station - selected almost at random; such days, whatever should happen, were numbered, and he had gone forth under the impulse - artless enough, no doubt - to give the whole of one of them to that French ruralism, with its cool special green, into which he had hitherto looked only through the little oblong window of the picture frame. It had been as yet for the most part but a land of fancy for him - the background of fiction, the medium of art, the nursery of letters; practically as distant as Greece, but practically also well-nigh as consecrated.
Henry James beschreibt hier, wie der touristische Impuls sich auf eine Leseerfahrung zurückbezieht. In der bewußten Beliebigkeit des gewählten Zuges und des Zielortes, also durch die Ausschaltung aller Absicht konstituiert sich hier die Fremde. Sie soll die Begegnung in der Realität mit dem ,,land of fancy`` ermöglichen: dem Land in der Vorstellung des einstmals Leser gewesenen Reisenden. In meiner Dissertation will ich versuchen, der Metamorphose des Lesers in den Touristen auf die Spur zu kommen, und zwar in der genaueren Betrachtung des ,,Landes der Vorstellung``.
In James' hier zitiertem Roman endet der Aufenthalt im idyllischen Land der Vorstellung mit der Erkenntnis, daß nichts so ist, wie es sich der Protagonist Strether vorgestellt hat. Das Element, das die von Strether mittlerweise ,,besetzte`` Landschaft zur Vollendung ästhetisch-touristischer Sehnsüchte macht, nämlich das auf dem Fluß näherrudernde Liebespaar, bringt für den auf Überwachungsmission geschickten Strether bei näherem Hinsehen eine ent-täuschende Erkenntnis. Die moralische Integrität seines Schützlings Chad, der da nämlich mit der raffiniert-europäischen Mme Vionnet im Boot sitzt, entspricht gar nicht den Standards seiner Auftraggeber - es ist also genau das eingetreten, was er verhindern sollte. So bricht die Realität seiner ruhigen sozialen Existenz als Illusion zusammen, während die Illusion der idealen Landschaft gerade ihre Erfüllung in der Realität gefunden hatte.
Die Art und Weise, wie Henry James hier mit der ästhetischen Bedeutung touristisch interessanter Landschaft umgeht, unterscheidet sich wesentlich von beispielsweise Hawthornes römischen und toskanischen Schauplätzen in The Marble Faun , deren mythisch-melodramatische Symbolik auf der Ebene des Sinns des Romans und nicht auf der der Narration integriert ist. Die Leseerfahrung wird bei James durch die für ihn typische Dramatisierung der Landschaft als erfahrene in ein metonymisches Verhältnis zur touristischen Erfahrung gesetzt. Die Entschlüsselung der Jamesschen dramatischen Verfahrensweise kann das Verhältnis von touristischer und Leseerfahrung in eine fruchtbare Problemstellung bringen.
Die Problemlage wird in drei analytische Hauptkapitel aufgelöst, in denen die Parameter der literarischen Erfahrung bezüglich des Ortes herausgearbeitet werden. Diese münden dann in einem vierten Kapitel in die Erörterung der systematischen Zusammenhänge zwischen Leser- und touristischer Erfahrung.
Die strukturale Differenz von Plot und Beschreibung wird theoretisch
erörtert. Ihr Ineinanderwirken wird auf die Grundlage des point of view
gestellt.
In einem zweiten Schritt wird die Ortsdarstellung im Roman in Termini
der Genremixtur (Bachtin) gefaßt. Zusätzlich zum erzählerischen Diskurs kann der Roman auch
einen Diskurs integrieren, der seine literarischen Qualitäten in der
Beschreibung von Wahrnehmungen behandelt: expressive Genres wie die
Lyrik oder die Reisebeschreibung.
Hier liegt die Behandlung der Reisebeschreibung als Genre
nahe und eine Plazierung von James' Reiseliteratur in der Geschichte
der anglo-amerikanischen. Im Vergleich zu Twains Innocents Abroad
stellt sich die spezifische Integration der Reisebeschreibung von
James heraus. Er übernimmt nicht wie Twain das narrative Muster des
episodischen Reiseablaufs, sondern die spezifische Erzählerposition
des Reiseessayisten, der eine individuelle Wahrnehmung als erlebendes
Subjekt darstellt. Die besondere Art der Fokalisierung in James' Romanen
erklärt sich daraus.
Wichtig für die Systematik der Arbeit ist die Herausarbeitung der Grundlage für die Jamessche Verwendung des Ortes im Genre des Reiseberichts: eine expressive Individualität, deren Eindrücke authentifizierbar sind.
Diese Kapitel entspricht am ehesten einer inhaltlichen Deutung der
Bedeutung des Ortes bei Henry James, wie sie auch schon in der Einleitung
zu diesem Abschnitt angedeutet wurde. Durch einen Vergleich mit Hawthornes
The Marble Faun soll James' spezifische Behandlung des touristischen Ortes herausgearbeitet
werden. Dabei wird zuerst eine ähnliche symbolische Bedeutungszuschreibung
des Ortes in einem frühen Roman von Henry James, Roderick Hudson ,
dessen Haupthandlungsort ebenfalls Rom ist, festgestellt, um dann
in einem späten Roman, The Ambassadors , die latent schon im
Frühwerk von James vorhandene metonymische Bedeutungsschaffung des
Ortes zu beschreiben. Die Bedeutung des Ortes ist bei James Teil des
narrativen Strukturelements, das insofern auch gegenüber Hawthorne
verändert ist, als interpretatorische Probleme des Protagonisten den
Motor der Erzählung darstellen. Das Sinnpotential des Ortes wird in
seinen Effekten auf den Protagonisten gezeigt und steht nicht symbolisch
für die Situation.
Insofern rückt die Bedeutung des Ortes als eine Erfahrung unmittelbar in den Bewußtseinshorizont des Lesers. Dieses Kapitel versucht also, in der besonderen Behandlung, die der Ort bei James erfährt, die psycho-ökonomische Dimension der Leseerfahrung herauszuarbeiten. Hier wäre eine Anschlußmöglichkeit an eine psychoanalytische Theorie der Objektbesetzung werden.
In einem close reading des Romans Confidence (aus
James' früher Phase) soll die Rolle des Ortes für die narrative Entwicklung
des Liebesplots - der in diesem Roman einem typischen Muster folgt
- verfolgt werden. Dieses Kapitel wird die Erkenntnisse aus den beiden
vorangegangenen zusammenfassen und weiterentwickeln. Sie werden in
einen Zusammenhang mit der kulturellen Semantik von Liebe und Individualität,
wie sie Luhmann entworfen hat, gestellt.
Dabei wird sich herausstellen, daß zwischen der von James inszenierten
Logik des anderen Ortes und der kulturellen Semantik der Liebe strukturelle
Affinitäten bestehen. Die Anwesenheit am anderen Ort bedeutet im Wegfallen
bisheriger sozialer Grenzen und Bindungen die radikale Individuierung,
die eine Neuorientierung erlaubt. Die romantische Liebe überschreitet
wiederum die Grenze zwischen einem Individuums und dem anderen, aber
auf der Basis der Individualität. Zwei Individuen werden so zu einem,
und bilden eine Mikro-Sozietät. Der touristische Ort der sozialen
Entgrenzung vergrößert nun die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen,
nämlich der Liebe als das Treffen von sich spiegelbildlich entsprechenden
Individuen: ihrer sozialen Bindungen entledigt und als Individualitäten
in die Wahrnehmung derselben schon als romantisch kodierten Umgebung
vertieft, haben sie plötzlich ganz viel gemeinsam. Nicht nur in Confidence
finden zwei Touristen zueinander.
Eine Zelebrierung dieser Mikro-Sozietät der sich romantisch Liebenden im Zustand des Verheiratetseins ist der honeymoon , sachlich-deutsch: die Hochzeitsreise. Das Überschreiten der Grenzen der die Verbindung sanktionierenden Gesellschaft und die Ausübung individueller Wahrnehmungsfähigkeiten dem touristischen Objekt gegenüber bezeugen das Einssein beider Individualitäten negativ und positiv.
Dieses Kapitel wird zusammenfassend die systematischen Zusammenhänge zur Erklärung der Metamorphose des Lesers zum Touristen erweitern. Es wird versucht werden, eine Theorie des Zusammenhangs von fiktivem und realem Ort, von Leseerfahrung und touristischer Erfahrung im Zusammenwirken mit der gesellschaftlichen Institution der Individualität und dem Phänomen der Authentifizierung zu formulieren.
Tourismus und Literatur:
Eine kulturwissenschaftliche Problembeschreibung
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The translation was initiated by Ulrich Brinkmann on Tue Jul 8 00:40:23 MET DST 1997