Copyright © Stephan Käppler
Rezension; In: TAZ, 31.10.1990, Seite
 

Sterne baden den Weltraum
 

Die Dramen, sämtliche Gedichte und Prosa von August Stramm in einem
Band
 

Er schrieb Gedichte über Bordelle und Beischlaf, über aufblitzende Eifersucht
und schwermütiges Sehnen, über die alles zerfetzende Kraft des Krieges und
den zerstückelnden Tod an der Front. Dabei wurde er in der Form immer
abstrakter, ließ seine Protagonisten oft nur noch mit unbestimmten Schreien
und hervorgestoßenem Stammeln miteinander kommunizieren. Das machte ihn
berühmt. Heute ist er vergessen.

Nur vereinzelt erinnerte man sich in der Nachkriegszeit an den Lyriker August
Stramm. Der vielleicht bedeutendste expressionistische Dramatiker Stramm
blieb hingegen weithin unbekannt. Einige wußten nur um die Diskrepanz
zwischen Leben und Werk: zum einen war da der spießbürgerliche dichtende
Postinspektor und reitende Kompanieführer, zum anderen aber auch der seine
Zeit führende expressionistische Schriftsteller um Herwarth Walden und dessen
Zeitschrift 'Sturm`.

Jetzt sind nach fast drei Jahrzehnten Stramms acht Dramen, die 80 Gedichte
und 6 Prosatexte wieder in einem preisgünstigen Sammelband erhältlich. Neben
den in der Edition Sirene verlegten Briefe von der Front an das Ehepaar
Herwarth und Nell Walden und das frühe epigonale Historiendrama "Bauern"
liegt nun wieder eine fast vollständige Gesamtausgabe vor.

Vermutlich auch auf Anregung seiner Frau, der Schriftstellerin Else Krafft,
wurde Stramm seit Anfang des Jahrhunderts vielseitig künstlerisch tätig: es
entstanden an Cezanne erinnernde Landschaftsgemälde und ein stilistisch eng
an Hauptmann angelehntes naturalistisches Historiendrama Die
Bauern mit Dialektdialogen. Den Stoff für dieses umfangreiche, aber
epigonale Schauspiel gab die Erzählung Michael Kohlhaas von
Heinrich von Kleist, und für die äußere Form standen Schillers
Räuber und Goethes Götz von Berlichingen Pate. Der
erhoffte 'Volksschillerpreis`, für den sich Stramm bewarb, blieb aus.

Erst zehn Jahre später wird Herwarth Walden auf Stramm's Dramen
Rudimentär und Die Haidebraut aufmerksam. Schnell
entwickelt sich eine enge Freundschaft, und regelmäßig erscheinen jetzt
Beiträge von Stramm im Sturm. In dieser Zeit entstehen auch die
zwei Prosatexte Der Letzte und Warten, in denen Stramm
lange vor Joyce den inneren Monolog als Stilmittel für die Literatur
fruchtbar macht. Viele Gedichte, die das Massensterben in den Schützengräben
verarbeiten, schickt er ab Herbst 1914 direkt von der Front. 1915 fällt der
Bataillonskommandeur durch einen Kopfschuß in den Rokitnosümpfen bei
Brest-Litowsk.

Stramms Gedichte zeichnen sich durchweg durch ihre komprimierte Form aus. Oft
bestehen Gedichte nur noch aus einer Aneinanderreihung von sich teilweise
wiederholenden Substantiven und Verben. Auch entstehen aus Adjektiven Verben,
so wird aus "atemlos" "atemloste", aus Substantiven werden Adjetkive wie
"knosper" oder Verben: "wachten", "nachten", "raumen", "dirnen". Oder es
ergeben sich ganz neue Wortschöpfungen wie "zergehren", "stiebig" und das
ausführlich inhaltlich begründete "schamzerpört" in dem Gedicht
Freudenhaus. Das lyrische Pathos der Subjektivität, das sich in
den häufig wiederholten Akklamationen wie "Ich", "Wir", "Uns", niederschlägt,
und die hilflose Beschwörung von Gemeinsamkeit im Anruf eines fiktiven
Gegenübers findet sich auch in den weithin unbekannten Dramen. Hatte es schon
der Lyriker schwer, nach dem kulturellen Kahlschlag des deutschen Faschismus
nach 1945 wieder Leser zu finden, gilt das insbesondere für den Dramatiker.
So entdeckte zwar in den 50er Jahren Karl Krolow den Dichter Stramm erneut
und versuchte ihn - erfolglos - einem größeren Publikum wieder bekannt zu
machen, aber den Dramatiker wollte er wegen "Untiefen" und "Wirbeln" nicht
gelten lassen. In den 60er Jahren kommentierten deutsche Professoren selbst
die Geschichte aufgrund ihrer erotischen Eindringlichkeit nur mit einem
"Gelächter". Erst in den letzten Jahren nimmt vereinzelt das Interesse zu, so
daß 1985 in London über 60 Jahre nach Entstehung das Drama Sancta
Susanna eine Uraufführung erfahren konnte.

Nicht zuletzt liegt die Bedeutung Stramms in seiner nachhaltigen und zum Teil
schulbildenden Wirkung auf andere. Seinerzeit war der Freund Oskar Kokoschkas
eine in Künstlerkreisen gefeierte Berühmtheit. Franz Marc und Alfred Döblin
schrieben leidenschaftliche Nachrufe. Kurt Schwitters berief sich auf Stramm,
Paul Hindemith vertonte Dramen, Max Reinhard inszenierte Anfang der 20er in
den Berliner Kammerspielen das Schauspiel Kräfte, das den jungen
Arnold Bronnen zu dessen Drama Vatermord inspiriert haben dürfte.
Eine unmittelbare Wirkung auf Arno Schmidt ist vielfach nachweisbar, die
konkrete Poesie eines Ernst Jandl und Gerhard Rühm ist ohne Stramm nicht
denkbar.

Leider sind bei der die vorliegenden Sammlung einige Mängel zu beklagen, die
zu korrigieren sind: Else Krafft ist im Mai 1877 in Breslau geboren und nicht
zehn Jahre später. Zudem sind manche Dialoge irrtümlich als Regieanweisungen
ausgewiesen. Das ist beim Lesen ein umso größeres Hindernis, als abweichend
vom Original auch die Personennamen nicht gesperrt und die Bühnenanweisungen
nicht in Klammern stehen. Über die verlegerischen Schwächen dieser Ausgabe
läßt sich jedoch aufgrund der Materialfülle der Texte Stramms leicht
hinwegsehen. Bleibt zu hoffen, daß die Neuausgabe der expressionistischen
Dramen von August Stramm dem müden, sich in steten Wiederholungen gefallendem
deutschen Theaterbetrieb einige Stöße zu versetzen vermag.

Stephan Käppler

August Stramm: Die Dichtungen, Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa,
hrsg. von Jeremy Adler. Piper-Verlag, München 1990, 409 Seiten, 19,80 DM

zurück zu Veröffentlichungen           zurück zur homepage