Sterne baden den Weltraum
Die Dramen, sämtliche Gedichte und Prosa von August Stramm in
einem
Band
Er schrieb Gedichte über Bordelle und Beischlaf, über aufblitzende
Eifersucht
und schwermütiges Sehnen, über die alles zerfetzende Kraft
des Krieges und
den zerstückelnden Tod an der Front. Dabei wurde er in der Form
immer
abstrakter, ließ seine Protagonisten oft nur noch mit unbestimmten
Schreien
und hervorgestoßenem Stammeln miteinander kommunizieren. Das
machte ihn
berühmt. Heute ist er vergessen.
Nur vereinzelt erinnerte man sich in der Nachkriegszeit an den Lyriker
August
Stramm. Der vielleicht bedeutendste expressionistische Dramatiker Stramm
blieb hingegen weithin unbekannt. Einige wußten nur um die Diskrepanz
zwischen Leben und Werk: zum einen war da der spießbürgerliche
dichtende
Postinspektor und reitende Kompanieführer, zum anderen aber auch
der seine
Zeit führende expressionistische Schriftsteller um Herwarth Walden
und dessen
Zeitschrift 'Sturm`.
Jetzt sind nach fast drei Jahrzehnten Stramms acht Dramen, die 80 Gedichte
und 6 Prosatexte wieder in einem preisgünstigen Sammelband erhältlich.
Neben
den in der Edition Sirene verlegten Briefe von der Front an das Ehepaar
Herwarth und Nell Walden und das frühe epigonale Historiendrama
"Bauern"
liegt nun wieder eine fast vollständige Gesamtausgabe vor.
Vermutlich auch auf Anregung seiner Frau, der Schriftstellerin Else
Krafft,
wurde Stramm seit Anfang des Jahrhunderts vielseitig künstlerisch
tätig: es
entstanden an Cezanne erinnernde Landschaftsgemälde und ein stilistisch
eng
an Hauptmann angelehntes naturalistisches Historiendrama Die
Bauern mit Dialektdialogen. Den Stoff für dieses umfangreiche,
aber
epigonale Schauspiel gab die Erzählung Michael Kohlhaas von
Heinrich von Kleist, und für die äußere Form standen
Schillers
Räuber und Goethes Götz von Berlichingen Pate. Der
erhoffte 'Volksschillerpreis`, für den sich Stramm bewarb, blieb
aus.
Erst zehn Jahre später wird Herwarth Walden auf Stramm's Dramen
Rudimentär und Die Haidebraut aufmerksam. Schnell
entwickelt sich eine enge Freundschaft, und regelmäßig erscheinen
jetzt
Beiträge von Stramm im Sturm. In dieser Zeit entstehen auch die
zwei Prosatexte Der Letzte und Warten, in denen Stramm
lange vor Joyce den inneren Monolog als Stilmittel für die Literatur
fruchtbar macht. Viele Gedichte, die das Massensterben in den Schützengräben
verarbeiten, schickt er ab Herbst 1914 direkt von der Front. 1915 fällt
der
Bataillonskommandeur durch einen Kopfschuß in den Rokitnosümpfen
bei
Brest-Litowsk.
Stramms Gedichte zeichnen sich durchweg durch ihre komprimierte Form
aus. Oft
bestehen Gedichte nur noch aus einer Aneinanderreihung von sich teilweise
wiederholenden Substantiven und Verben. Auch entstehen aus Adjektiven
Verben,
so wird aus "atemlos" "atemloste", aus Substantiven werden Adjetkive
wie
"knosper" oder Verben: "wachten", "nachten", "raumen", "dirnen". Oder
es
ergeben sich ganz neue Wortschöpfungen wie "zergehren", "stiebig"
und das
ausführlich inhaltlich begründete "schamzerpört" in
dem Gedicht
Freudenhaus. Das lyrische Pathos der Subjektivität, das sich in
den häufig wiederholten Akklamationen wie "Ich", "Wir", "Uns",
niederschlägt,
und die hilflose Beschwörung von Gemeinsamkeit im Anruf eines
fiktiven
Gegenübers findet sich auch in den weithin unbekannten Dramen.
Hatte es schon
der Lyriker schwer, nach dem kulturellen Kahlschlag des deutschen Faschismus
nach 1945 wieder Leser zu finden, gilt das insbesondere für den
Dramatiker.
So entdeckte zwar in den 50er Jahren Karl Krolow den Dichter Stramm
erneut
und versuchte ihn - erfolglos - einem größeren Publikum
wieder bekannt zu
machen, aber den Dramatiker wollte er wegen "Untiefen" und "Wirbeln"
nicht
gelten lassen. In den 60er Jahren kommentierten deutsche Professoren
selbst
die Geschichte aufgrund ihrer erotischen Eindringlichkeit nur mit einem
"Gelächter". Erst in den letzten Jahren nimmt vereinzelt das Interesse
zu, so
daß 1985 in London über 60 Jahre nach Entstehung das Drama
Sancta
Susanna eine Uraufführung erfahren konnte.
Nicht zuletzt liegt die Bedeutung Stramms in seiner nachhaltigen und
zum Teil
schulbildenden Wirkung auf andere. Seinerzeit war der Freund Oskar
Kokoschkas
eine in Künstlerkreisen gefeierte Berühmtheit. Franz Marc
und Alfred Döblin
schrieben leidenschaftliche Nachrufe. Kurt Schwitters berief sich auf
Stramm,
Paul Hindemith vertonte Dramen, Max Reinhard inszenierte Anfang der
20er in
den Berliner Kammerspielen das Schauspiel Kräfte, das den jungen
Arnold Bronnen zu dessen Drama Vatermord inspiriert haben dürfte.
Eine unmittelbare Wirkung auf Arno Schmidt ist vielfach nachweisbar,
die
konkrete Poesie eines Ernst Jandl und Gerhard Rühm ist ohne Stramm
nicht
denkbar.
Leider sind bei der die vorliegenden Sammlung einige Mängel zu
beklagen, die
zu korrigieren sind: Else Krafft ist im Mai 1877 in Breslau geboren
und nicht
zehn Jahre später. Zudem sind manche Dialoge irrtümlich als
Regieanweisungen
ausgewiesen. Das ist beim Lesen ein umso größeres Hindernis,
als abweichend
vom Original auch die Personennamen nicht gesperrt und die Bühnenanweisungen
nicht in Klammern stehen. Über die verlegerischen Schwächen
dieser Ausgabe
läßt sich jedoch aufgrund der Materialfülle der Texte
Stramms leicht
hinwegsehen. Bleibt zu hoffen, daß die Neuausgabe der expressionistischen
Dramen von August Stramm dem müden, sich in steten Wiederholungen
gefallendem
deutschen Theaterbetrieb einige Stöße zu versetzen vermag.
Stephan Käppler
August Stramm: Die Dichtungen, Sämtliche Gedichte, Dramen,
Prosa,
hrsg. von Jeremy Adler. Piper-Verlag, München 1990, 409 Seiten,
19,80 DM