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TAZ vom 30.06.89 Seite 15
 

Sozialreform oder Revolution?
 

In ihrem Buch "Die Gorbatschow-Strategie; Wirtschafts- und
Sozialpolitik in der UdSSR" erörtert die sowjetische Ökonomin und
Meinungsforscherin Tatjana Saslawskaja die Frage der sozialen
Gerechtigkeit in der "zweiten sozialistischen Revolution"

Die historische Bedeutung der sowjetischen Perestroika liegt ganz
offensichtlich nicht allein in der neuen Friedenspolitik Gorbatschows, in
Abrüstung und Entspannung vielmehr ganz entscheidend auch in der Entstehung
eines neuen sozialistischen Modells. Die Frage ist, weshalb und inwiefern
diese Reformen in ihrer Zielrichtung eine neue Qualität des Sozialismus
darstellen, warum und ob dieser Übergang von einer poststalinistischen
Stagnationsära unter Breschnew zu einer modernen entwickelten demokratischen
und sozialistischen Gesellschaft als revolutionär gelten muß.

Daran anschließend drängt sich die Frage auf, welche Gestalt und konkrete
Form in der ökonomischen Sphäre, also der Basis der Gesellschaft, diese
strukturellen Veränderungen denn nun anzunehmen hat, wie das Reformwerk um
nicht Stückwerk zu bleiben - praktisch und real umzusetzen ist.

Auf diese Frage versucht die sowjetische Wirtschaftssoziologin Tatjana
Saslawskaja in ihrem höchstaktuellen Buch Die Gorbatschow-Strategie.
Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR eine Antwort. Saslawskaja
untermauert dabei nicht nur schlüssig ihre These von der sowjetischen
Umgestaltung als "zweiter sozialistischer Revolution" (23), sondern sie
spricht auch die vielfältigen Hindernisse und Widersprüche an, nennt Gewinner
und Verlierer, Unterstützer und Feinde der Perestroika als Kurskorrektur auf
den richtigen Weg zum Sozialismus.

Ihre Logik gewinnen die Aufzeichnungen dieser Befürworterin radikaler
Reformen von ihrem Ausgangspunkt: der Analyse der gegenwärtigen
wirtschaftlichen Situation in der Sowjetunion. Diese kann nicht anders
beschrieben werden als ökonomische Misere, wie akurat nachgewiesen wird.

Die Weltmachtstellung und militärische Stärke der SU wurde ja immer erkauft
auf Kosten des Lebensstandards und der Lebensqualität der Bevölkerung. Gerade
deshalb erhält die Perestroika ihre offensichtliche Notwendigkeit aus der
Diskrepanz der wirtschaftlichen Erträge und der realen
Entwicklungsmöglichkeiten.

Die darausfolgenden Zwänge, jahrelange Perspektivlosigkeit und der Druck der
Alltagssorgen hatte Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen:
Gleichgültigkeit, Schlamperei und die Initiativlosigkeit waren die Folge.
"Als Soziopsychologisches Ergebnis trat zwischen den Menschen und den
gesellschaftlichen Zielsetzungen und Wertvorstellungen eine massive
Entfremdung auf, und Gleichgültigkeit gegenüber dem sozialistischen Eigentum
breitete sich aus. Es häuften sich Fälle von kleineren Diebstählen: in den
Konditoreien wurden Kakao, Kognak und Butter, auf den Baustellen Farben,
Ölfirnis, Tapeten, Armaturen weggepackt." (68)

Die Grundfrage, die der Perestroika zugrunde liegt, lautet für Tatjana
Saslawskaja deshalb: Wie kann diese Misere überwunden und der Lebensstandard
der Bevölkerung erhöht werden? Dabei wird schnell offensichtlich, daß die
Gründe für ökonomische Fehlentwicklungen nicht allein in der
Disziplinlosigkeit, mangelndem Verantwortungsbewußtsein oder Neigung zur
Trunksucht bei Einzelpersönlichkeiten zu suchen sind. Das Dilemma ist
vielmehr strukturell.

Insofern es auch strukturell angegangen werden muß. Über die Zielsetzung, um
die es dabei geht, ist sich Saslawskaja im klaren: "...einerseits eine
Anhebung der Effizienz im Produktionsbereich und die bessere Befriedigung der
Verbraucherbedürfnisse, andererseits die Demokratisierung der Wirtschaft und
einen Pluralismus der Organisationsformen." (125)

Das heißt:

-weitgehende Eigenständigkeit der Betriebe mit Selbstfinanzierung und
Einführung der Produktion nach dem ökonomisch eigentlich selbstverständlichen
Kostendeckungsprinzip.

-Gleichzeitige Reduktion des Staatseinflusses auf die Festsetzung von
langfristigen "Normativen" und auf die Vergabe von Staatsaufträgen.

-Selbstverwaltung und Wirtschaftsdemokratie durch Demokratisierung der
Produktionsleitung.

-Einführung einer indikativen Rahmenplanung und schrittweise Entwicklung
eines sozialistischen Marktes.

Warum diese Maßnahmen ein "Mehr" an Sozialismus bedeuten, wird von der
sowjetischen Ökonomin auf den ersten 40 Seiten erörtert. Anhand eines
Kriterienkatalogs wird die Übereinstimmung der Perestroika mit den Zielen
einer sozialistischen Gesellschaft nachgewiesen: Unter anderem die
Abschaffung der Ausbeutung, die politische Macht der Werktätigen, der
Wohlstand der Bevölkerung und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel
als Vorbedingung des Sozialismus. Es darf ja nicht vergessen werden, daß auch
die bisher spärlich zugelassenen selbständigen Kooperativen nicht als
Privateigentümer, sondern auf genossenschaftlicher Grundlage produzieren.

"Die Hauptfunktion der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist es, der
Demokratie in der gesellschaft eine wirtschaftliche Basis zu geben. Diese
Funktion kann sie jedoch in der Praxis nur dann erfüllen, wenn die ganze
Kette der Eigentumsbeziehungen - Besitz, Verfügungsgewalt und Nutzung -
demokratisch organisiert wird und die Produktionskollektive selbstverwaltet
und in den ökonomischen Beziehungen untereinander gleichberechtigt sind."
(92) Tatjana Saslawskaja geht dabei davon aus, daß der Grad an Demokratie
desto höher ist, je vielfältiger die Bandbreite der ökonomischen
Austauschprinzipien ist und je pluralistischer Besitz und Nutzung der
Produktionsmittel organisiert sind.

Auffällig bleibt, daß trotz weitgehender Übereinstimmung mit keinem Wort auf
die Parallelen zu den Reformen des "Prager Frühlings" eingegangen wird. Offen
bleibt für den westlichen Leser, ob diese Zurückhaltung immer noch eine
bewußte Vorsichtsmaßnahme darstellt oder ob sich die sowjetischen Reformer
nicht klar bewußt sind, in welcher Tradition eines humanistischen Sozialismus
sie eigentlich stehen.

Etwas enttäuschend ist auch die mangelnde Bezugnahme auf die marxistischen
Klassiker. Da hätte man sich von einer gerade auf diesem Gebiet umfassend
geschulten sowjetischen Ökonomin mehr erwartet. Andererseits ist aufgrund der
wenigen Namensnennungen und Verweise das Fehlen eines Registers nicht allzu
schmerzlich.

Wer heute über Perestroika und modernen Sozialsmus mitreden will, wer einer
theoretischen Grundlage bedarf und eines zeitgemäßen Begriffsvokabulars nicht
zuletzt für eine stichhaltige Kapitalismuskritik, der muß dieses Buch lesen.
Billige Gegenüberstellungen und bloße Schwarzweißmalereien, die als unseliges
Erbe der 70er Jahre auch heute noch in scheinbar sozialistischen Köpfen
spuken, greifen heute längst nicht mehr.

Stephan Käppler

Tatjana Saslawaskaja: "Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und
Sozialpolitik in der UdSSR", Orac-Verlag 1989, 320 Seiten, 44 DM

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