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TAZ vom 30.06.1989 Seite 15
 

Warum Gorbacev ein Leninist ist
 

Der Historiker Reiman stellt die Frage, inwieweit die UdSSR zu den
Zielen der Russischen Revolution 1917 zurückkehrt
 

Mit Michal Reimans Buch Lenin, Stalin, Gorbacev liegt die erste und
nach meiner Kenntnis bislang einzige Darstellung vor, die Gorbacev - wie
Reiman den Parteisekretär in Anlehnung an die russische Schreibweise nennt -
im Gesamtrahmen der sowjetischen Geschichte sieht, also Kontinuitäten und
Widersprüche aufzuspüren sucht zwischen den verschiedenen, mit den Namen der
jeweiligen Parteiführer verbundenen Epochen.

Besonderen Reiz und intellektuelle Spannkraft bezieht dieses Buch unter
anderem daraus, daß ein Schwerpunkt auf der Darstellung der Neuen
Ökonomischen Politik (NÖP) und auf Bucharin liegt. Sowohl NÖP als auch
Bucharin sind ein wichtiger Bezugspunkt für die Gorbacevschen Reformen und
haben in jüngster Vergangenheit in der Sowjetunion eine beachtliche
Aufwertung erfahren.

Michal Reiman ist in der Tschechoslowakei geboren und studierte in den 50er
Jahren in Moskau. Als Mitarbeiter verschiedener Kommissionen war er aktiv an
der Vorbereitung und Durchsetzung des "Prager Frühlings" beteiligt. Nach dem
Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 wurde er seiner
Stellen enthoben und hatte Publikationsverbot.

Die in sich geschlossenen Kapitel sind teilweise bereits in anderer Form und
Fassung im Ausland - Frankreich, Italien, Jugoslawien - oder in
deutschsprachigen Zeitschriften erschienen. Ergänzt wird das Buch durch ein
Verzeichnis der Mitglieder der Parteitage nach der Revolution. Daran lassen
sich der rasche Aufstieg und die Machtkonzentration Stalins in
eindrucksvoller Weise ablesen.

Eine zum Mißverständnis neigende Vereinfachung besteht in der Bewertung der
Oktoberrevolution als einer "plebejischen Revolution". Sicher ist dieser
Begriff gerade aufgrund seiner Verallgemeinerung präziser als offizielle und
dogmatische Darstellungen, die von einer "Revolution des Proletariats"
sprechen, das 1917 mit circa vier Millionen Industriearbeitern nur einen
äußerst geringen Anteil an der damaligen Bevölkerung stellte.

Zum anderen kann die Russische Revolution aber auch nicht allein auf die
entschlossene Handlungsweise einer kleine, gut organisierten Kaderpartei
zurückgeführt werden. Vielmehr war sie das Resultat eines langandauernden
revolutionären Prozesses, der 1905 begann und in den 20ern nach Lenins Tod
und mit dem Beginn des Stalinismus einen Abschluß fand. Der Kampf der
verschiedenen Gruppierungen unterschiedlichen Charakters von teils offen
sozialrevolutionären und militanten, über sozialistisch und demokratisch bis
hin zu bürgerlich-republikanisch orientierten Strömungen fand sein Ende, als
die am offensivsten agierende Partei, die bolschewistische, daraus siegreich
hervorging.

Reimans Buch kann und will natürlich aufgrund der enormen Zeitspanne des
Themas die zahlreichen Einzeldarstellungen zu den jeweiligen Spezialaspekten
der Geschichte der UdSSR nicht ersetzen. Aber gerade in der Kürze der Kapitel
und des Gesamtumfangs liegt ein unermeßlicher Vorteil des Buches. Es liest
sich als Überblickdarstellung für Sachkundige ebenso spannend wie für mit der
Thematik noch wenig Vertraute. Dem einen bietet es eine gute Einführug und
Anregung, dem anderen Ergänzung und eine Sicht auf den Zusammenhang der
Dinge.

Stephan Käppler

Michal Reiman: "Lenin, Stalin, Gorbacev. Kontinuität und Brüche in der
sowjetischen Geschichte", Junius-Verlag 1987, 188 S., 27 DM

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