Marxismus und Demokratie
Mit dem jugoslawischen Praxisphilosophen Svetozar Stojanovic sprach
Stephan Käppler über Marxismus heute und die Bedeutung
der
Demokratisierung in Osteuropa für die sozialistische Theorie
Svetozar Stojanovic war in den sechziger Jahren mit Predrag Vranicki,
Mihailo Markovic und anderen humanistischen Marxisten einer der
Hauptorganisatoren der Sommerschule auf der südjugoslawischen
Insel Korcula.
Teilnehmer dieser Sommerschule waren unter anderen Ernst Bloch, Herbert
Marcuse, Erich Fromm, Ernest Mandel, Leszek Kolakowski, Agnes Heller
und
Jürgen Habermas. Die in Belgrad erscheinende, internationale Zeitschrift
'Praxis`, die die Beiträge der Sommerschule dokumentierte, wurde
1974
verboten. Svetozar Stojanovic, der als Gastprofessor in West -Berlin
und den
USA lehrt, ist seit 1984 Herausgeber der Zeitschrift 'Praxis International`.
Stephan Käppler: Herr Stojanovic, Sie sind seit den sechziger
Jahren als ein
marxistischer Sozialphilosoph hervorgetreten, der sich nicht mit
dogmatischen
und offiziellen Interpretationen des Marxismus zufriedengeben wollte.
Dabei
kam Ihnen zugute, daß eine Kritik am Phänomen Stalinismus
und an dessen
theoretischen Voraussetzungen in Jugoslawien als blockfreies Land,
sehr viel
früher, offener und radikaler möglich war als in den Länden
des Warschauer
Pakts. Im Verbund mit anderen Philosophen wie Mihailo Markovic und
Gajo
Petrovic haben Sie sich als marxistische Humanisten verstanden und
als solche
unter Berufung auf die Frühschriften von Marx die ethische
Dimension des
Marxschen Gedankenguts wiederzuentdecken beziehungsweise eine marxistische
fundierte Ethik zu entwickeln versucht. Wie sieht dieses Projekt
heute aus?
Svetozar Stojanovic: In einer modernen Konzeption des "demokratischen
Sozialismus", wie wir sie heute brauchen, spielt die
demokratisch-sozialistische Ethik eine zentrale Rolle. Es geht heute
hauptsächlich um menschliche Werte und menschliche Wahl- und
Entscheidungsmöglichkeiten, sich für einen demokratisch-ökologischen
Sozialismus zu engagieren, weil es nicht wie früher in einer dogmatischen
Interpretation des Marxismus um eine Determiniertheit des historischen
Prozesses gehen kann. Früher war unsere Hauptaufgabe, zu zeigen,
daß
stalinistisch unbd poststalinistisch geprägte Gesellschaften nicht
im
mindesten eine Verwirklichung des Marxismus darstellen, sondern in
Wirklichkeit einen entarteten Marxismus und die Ideologie einer neuen
herrschenden Klasse bedeuten. Heutzutage besteht unsere Hauptaufgabe
darin,
zwei Dinge aufzuzeigen.
Erstens: Wie ist es möglich, das System des kommunistischen Etatismus,
das
bedeutet des "real existierenden Kommunismus", zu reformieren, zu
liberalisieren und zu demokratisieren?
Zweitens - und das ist meine normative Position -: Was kann und muß
heute ein
realisierbarer, lebensfähiger und funktionsfähiger "demokratischer
Sozialismus" bedeuten? Hier geht es also um eine neue Konzeption des
"demokratischen Sozialismus".
Inzwischen hat die Frage, inwieweit diese Ergänzungen und sozialistischen
Weiterentwicklungen eine innermarxistische Kritik bedeuten, für
Sie an
Bedeutung verloren.
Wir haben ehemals mit der Losung: "Zurück zum echten Marx" begonnen.
Wir
haben jedoch rasch festgestellt, daß es keinen absolut homogenen
Marx gibt,
daß Marx ein sehr komplexer, sogar widerspruchsvoller Denker
war. Deshalb
sind wir zu dem Schluß gekommen, daß man aus dem Marxschen
Opus selektieren
und sein Gedankengut revidieren muß. übrig geblieben ist
ein fragmentierter
Marxismus.
Wenn man so eine Unternehmung unternimmt, dann hat man einen Übergang
von
einem revisionistisch-kritischen Marxismus zum Postmarxismus vollzogen.
Da
muß ich jedoch sofort hinzufügen: "Postmarxismus" bedeutet
keinesfalls eine
Argumentation ohne marxistische Elemente, geschweige denn "Antimarxismus".
Postmarxistisch im Sinne, daß eine Verwandtschaft zum Marxismus
nicht
geleugnet wird, sondern im Sinne einer Weiterentwicklung des Marxismus.
Das bedeutet, daß zum Beispiel die Marxsche Theorie vom Absterben
des Staats
heute meines Erachtens irrelevant für eine Theorie des
demokratisch-ökologischen Sozialismus ist. Aber die radikal humanistischen
Ideen von Marx wie die Aufhebung der Entfremdung, der Verdinglichung,
seine
Idee von Praxis, seine Formulierung, daß die Freiheit jedes einzelnen
die
Vorbedingung für die Freiheit aller ist usw., können weiterhin
sehr nützlich
sein.
In Ihrem neuen, bisher leider nur auf Englisch erschienenen Buch
"Perestroika
- From Marxism and Bolschewism to Gorbatschow" stellen Sie auch
die Frage, ob
in den kapitalistischen Staaten die Bourgeoisie als Klasse herrscht
oder nur
dominiert.
Als Marxist habe ich von Anfang an eine große Schwierigkeit gehabt.
Ich habe
bemerkt, daß die bürgerliche Demokratie nicht allein eine
formelle, sondern
auch eine reale Demokratie ist. Als Marxist mußte ich das irgendwie
zusammenbringen mit der Idee von der Bourgeoisie als herrschender Klasse.
Wenn die Kapitalisten wirklich den Staat monopolisieren, dann ist Demokratie
eine rein formelle Sache. Deshalb mußte ich irgendwie versuchen,
diese zwei
Aspekte in Einklang zu bringen. Deshalb habe ich vor einigen Jahren
in dem
von Ossip K. Flechtheim herausgegebenen Buch Marx heute
vorgeschlagen, eine Differenzierung zwischen den Begriffen "herrschende"
und
"dominierende" Klasse vorzunehmen.
Es geht ganz einfach darum, daß ich unter dem Oberbegriff dominierende
oder
dominante Klasse zwischen zwei Extremfällen unterscheide. Der
eine Fall ist
eine herrschende Klasse im strikten Sinne, also eine Klasse, die den
Staat
strukturell monopolisiert und dadurch auch eine Monopolkontrolle über
die
Produktionsmittel erlangt hat und ausübt. Das hat meines Erachtens
für die
etatistische Klasse im kommunistischen Etatismus heute Geltung.
Ein anderer Extremfall ist die kapitalistische Klasse, die den Staat
nicht
monopolisiert hat und den Staat nicht direkt regiert. Das ist also
eine
Klasse, die den Staat und die Gesellschaft irgendwie dominieren kann,
ohne
den Staat vollkommen monopolisieren zu müssen. Auch hier handelt
es sich um
eine eindeutig ökonomische Klasse, da die kapitalistische Klasse
ihren Enfluß
aus der Monopolkontrolle über die Produktionsmittel ausübt.
Man muß dann in
diesem Fall konkret die Wege erforschen, auf welche Weise die kapitalistische
Klasse auf den Staat Einfluß nimmt.
Bleibt neben der Theorie der Klassengesellschaft als wesentliches
Verdienst
von Marx nicht auch seine materialistische Geschichtsbetrachtung?
Seine Betonung der ökonomischen Basis ist noch immer sehr wichtig.
Ich
glaube, daß das nicht immer zutrifft, wenn es um Kapitalismus
geht, weil
Kapitalismus eine Totalität mit einer ökonomischen Dominante
ist.
Ende der siebziger Jahre konnte ein Buch von Ihnen nicht in Jugoslawien
erscheinen, daß dann in Deutschland 1978 unter dem Titel "Geschichte
und
Parteibewußtsein" bei Hanser erschienen ist.
Das wurde zuerst auf deutsch veröffentlicht und dann auf Englisch.
In
Jugoslawien konnte es erst 1988, das heißt zehn Jahre später,
erscheinen.
Diese Zensurmaßnahme lag wohl darin begründet, daß
Sie in einigen Kapiteln
die Möglichkeit einer sozialistischen Demokratisierung in Jugoslawien
und
anderen osteuropäischen Ländern auf theoretischer wie
praktischer Ebene
erörterten. Inzwischen werden einige Schritte in diese Richtung
unternommen.
Erfüllt Sie das mit Genugtuung?
Natürlich, das ist menschlich. Aber auf der anderen Seite hat Jugoslawien
auf
diese Weise 20 Jahre verloren. Anstatt in Richtung radikaler
sozialistisch-demokratischer Reformen zu gehen, ging Jugoslawien zurück,
das
bedeutet in Richtung Redogmatisierung, Rezentralisierung, einer Verstärkung
des Personenkults um Tito und seiner persönlichen Macht. Dadurch
haben wir 20
Jahre verloren, und zwar nicht politisch, sondern auch ökonomisch.
Gibt es von der oppositionellen Studentenbwegung Ende der Sechziger
gewisse
Parallelen zu der heutigen Jugendbewegung in Slowenien um die Zeitschrift
'Mladina` und das, was hier unter 'Neuer slowenischer Kunst` um
die
Musikgruppe Laibach heftig diskutiert wird?
Es gibt zumindest eine Parallele. Diese Parallele ist die Bestrebung
nach
mehr Demokratie. Diese jungen Leute wollen Demokratie und eine anarchistisch
gefaßte Freiheit. Das ist mir natürlich sympathisch. Das
bedeutet
andererseits nicht, daß ich mit den Idealen dieser Jugendbewegung
in diesem
Punkt übereinstimmen muß. Aber dieses anarchistische Aufbegehren,
daß keine
Grenzen oder Hindernisse des künstlerischen Schaffens kennt oder
akzeptieren
will, ist mir bei jungen Leuten sehr sympathisch. Es geht heute besonders
in
Slowenien - um eine Generation, die eine neue Sensibilität hat
und ein neues
Lebensgefühl. Das ist jedoch keine explizit linksorientierte Generation,
sondern eine teils künstlerisch-anarchistische, teils pluralistisch
-demokratisch orientierte Generation.
Inzwischen hat sich im politischen Klima in Jugoslawien eine ganze Menge
geändert, die Mitglieder der 'Praxis' -Gruppe sind mittlerweile
rehabilitiert
und arbeiten wieder an der Universität. Es wurde sogar eine Parteiinitiative
gestartet, die Sommerschule "Korcula" wiederzubeleben.
Wir arbeiten zwar in einem Forschungsinstitut an der Universität,
aber wir
sind formal noch nicht in den Lehrbetrieb eingegliedert. Das liegt
darin
begründet, daß das Gesetz des serbischen Parlaments, das
1975 unsere
Suspendierung von der Universität verfügte, bis heute weiterbesteht.
In
diesem Sinne sind wir gesetzlich bis heute nicht rehabilitiert.
Über die Korcula-Sommerschule habe ich mich vor ein paar Tagen
in einem Brief
an das Zentralorgan des BDKJ, die Tageszeitung 'Borba` geäußert.
Dort habe
ich den Standpunkt vertreten, daß wir die Korcula-Sommerschule
natürlich
wieder organisieren müssen. Vor 30 Jahren haben wir in der Korcula
-Sommerschule mit der Fragestellung begonnen: Wie sind die Perspektiven
des
Sozialismus heute. Unser Thema in der ersten Sitzung der neuen
Korcula-Sommerschule sollte meines Erachtens sein: Wie soll ein
realisierbarer und funktionsfähiger demokratisch-ökologischer
Sozialismus
heute aussehen. In diesem Punkt sollten wir zur ursprünglichen
Fragestellung
zurückkehren.
Aber heute kann es nicht um irgendeinen Sozialismus gehen, sondern um
einen
realsierbaren und funktionsfähigen Sozialimus. Also steht nicht
das Modell
eines utopischen Sozialsmus mit der marxistisch-leninistischen Aufteilung
in
eine niedere und höhere Phase des Kommunismus auf der Tagseordnung,
sondern
es geht um eine Gesellschaftsformation, in der eine Mischform von
verschiedenen Eigentumsformen eine sozialistische Demokratie mit
Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Das ist eine Sache.
Die zweite Sache: In einer eventuellen neuen Korcula -Sommerschule müßte
die
ökologische und feministische Problematik eine viel größere
Rolle spielen als
früher. Die politische Position der Sommerschule sollte sozialistisch,
aber
auch demokratisch-ökologisch sein. Eine rein humanistisch-marxistische
Position wäre heute nicht mehr ausreichend. Um dem Bedürfnis
der
institutionellen Konkretisierung der demokratisch-ökologischen
Theorie
Rechnung zu tragen, müßte der konkreteren Sozialwissenschaft
und der Ökonomie
ein sehr viel höherer Stellenwert als früher eingeräumt
werden. Man müßte
also zusehen, daß die Philosophen und Soziologen nicht unter
sich bleiben,
sondern auch Ökonomen, Historiker, Anthropologen, Ökologen
und Feministinnen
eingeladen werden.
Wie müßte man heute Sozialismus definieren?
Im demokratischen Sozialismus muß die Marktwirtschaft im Rahmen
einer
makroökonomischen Globalsteuerung und Globalplanung operieren.
Obwohl es
verschiedene Mischformen von Eigentum geben muß, müssen
doch die
strategischen Produktionsmittel in gesellschaftlichen Händen sein.
Sozialisierung der Produktionsmittel meint nicht notwendigerweise
Versaatlichung, vielmehr gesellschaftliche Kontrolle. Es muß
also ein
gesellschaftliches Eigentum an strategischen Produktionsmitteln vorhanden
sein. Wie die Bezeichnung "strategisch" dann definiert wird, ist historisch
und konkret von der jeweiligen Zeit abhängig.
Ich sehe überhaupt nicht, warum die parlamentarische Form in ihrer
derzeitigen Form, wo nur zwei Kammern vorgesehen sind, auf ewig erhalten
bleiben muß. Warum soll es nicht neue Kammern in einer
demokratisch-sozialistischen Gesellschaft geben, zum Beispiel zusätzlich
noch
eine Kammer der Selbstverwaltung. In diesem Zusammenhang sehe ich auch
ganz
eng die Idee der Selbstverwaltung, Mitbestimmung, der Arbeiterkontrolle,
Produzenten- und Konsumentenkontrolle usw. Natürlich muß
diesem eben
skizzierten Minimalbild eines demokratisch-ökologischen Sozialismus
auch die
Idee von einem Mindesteinkommen hinzugefügt werden. Die Menschen
haben ganz
einfach als Menschen ein Recht darauf, menschenwürdig zu leben,
ungeachtet
ihrer Fähigkeit zu arbeiten und ungeachtet auch, ob sie überhaupt
arbeiten
wollen. Wie hoch dieses Mindesteinkommen dann ist, hängt von den
konkreten
Bedingungen und Möglichkeiten der einzelnen Länder und der
jeweiligen
Gesellschaften ab.
Um dieses Programm konkret auszuarbeiten, bedarf es einer kollektiven
Bemühung, und um so mehr brauchen wir heute ein Welt-Forschungszentrum
wie
die Korcula-Sommerschule.
Heuer ist der 200.Jahrestag des Beginns der Französichen Revolution.
Bedeuten
nicht die heutigen Reformbemühungen in Osteuropa ein "Nachholen"
der
"Bürgerlichen Revolution"?
Ohne Gewaltenteilung und ohne verfassungsmäßig verankerte
Freiheits- und
Menschenrechte kann es überhaupt keinen Demokratischen Sozialismus
geben. Das
ist eine Minimalvorbedingung. Also müssen heute in Osteuropa diese
großen
bürgerlich-demokratischen Errungenschaften nachgeholt werden,
um dann die
realpolitischen Vorbedingungen für einen demokratischen Sozialismus
zu
schaffen. Darin sehe ich die große Bedeutung der Französischen
Revolution.
Der Kampf um Demokratisierung im kapitalistischen Westen hat lange gedauert,
bis das allgemeine Wahlrecht oder Versammlungsfreiheit und das Recht,
sich in
Gewerkschaften und Parteien zusammenzuschließen, erkämpft
wurde. Das sind
große Errungenschaften und das Ergebnis mühseliger und entbehrungsreicher
Kämpfe. Der Hauptfehler von vielen dogmatischen Marxisten war
es, zu
behaupten, daß das bloße Klassenerrungenschaften waren,
nur zum Vorteil
einer, nämlich der kapitalistischen Klasse und nicht allgemein
menschliche
Errungenschaften.