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Wolfgang Ratzel

GIBT ES EINE FIXE MENGE VON ARBEIT ?

Sobald der Begriff "Arbeit" ins Spiel kommt, wirkt mit einer geradezu unheimlichen Gewalt dessen Gleichsetzung mit dem Begriff "Erwerbsarbeit". Die Arbeitswissenschaften praktizieren diese unbedingte Gleichsetzung ebenso wie der Alltagsdiskurs: Eine Arbeit außerhalb von Erwerbsarbeit findet nicht statt.
Nicht nur die AnhängerInnen und Profiteure kapitalistischer Erwerbsarbeit betreiben diese Gleichsetzung. Auch auf der Seite der KritikerInnen feiert sie Urständ. Rifkin befördert diese Gleichsetzung in seinem Bestseller "Das Ende der Arbeit" ebenso wie das "Manifest der Glücklichen Arbeitslosen": Eingefordert wird von letzteren die Entlohnung der Nicht-Arbeit; unterstellt wird, es gäbe nur zwei Arten von Arbeit: Sklaven- und Lohnarbeit.
Es ist der feministischen Frauenbewegung zu verdanken, daß mit der Hausarbeitsdebatte diese grausame Gleichsetzung Arbeit=Erwerbsarbeit aufgebrochen wurde. Abseits des mainstreams hat sich heute eine andere Sicht auf Arbeit ausgebildet, die Erwerbsarbeit als eine historisch gewachsene (und damit auch vergängliche) Form von Arbeit sieht; eine Form unter vielen Formen; eine Form, der es allerdings gelang, in totalitärer Weise alle anderen Formen von Arbeit zu verwischen, unsichtbar zu machen udn damit symbolisch zu vernichten.
Diese Form der Arbeit, die sich als das Allgemeine setzt, ist die von Männern geleistete Arbeit. Die verdunkelten, abgeblendeten Formen von Arbeit sind die Arbeiten der Frauen. Die Kritik der Arbeit kann somit nur im Kontext mit der Geschichte des Geschlechterkampfs diskutiert werden.
Die Ausschließlichkeit und Intensität, mit der Arbeit und Erwerbsarbeit gleichgesetzt werden, ist ein untrügliches "Thermometer", das anzeigt, wo und mit welcher Durchschlagskraft die patriarchalisch-kapitalistische Lebens- und Wirtschaftsweise funktioniert. Wo diese Gleichsetzung in Frage gestellt wird, steigt das Thermometer; das System bekommt "Fieber". Die umsichgreifende Kritik der Arbeit ist ein Symptom, an dem sich die Krisenhaftigkeit des Systems zeigt.

Die Eingangsfrage "Gibt es eine fixe Menge von Arbeit?" beantworte ich mit einem klaren "NEIN". Die Diagnose vom "Ende der Arbeit" ist falsch.
Was in den Metropolen durch viele Schwankungen hindurch unwiderruflich sinkt, ist das Volumen von bezahlter Erwerbsarbeit. Es sinkt ebenso im primären, landwirtschaftlichen Sektor wie im sekundären Industriesektor und im tertiären Dienstleistungssektor. Im quartären Wissensektor wird sich das Volumen der Erwerbsarbeit vermehren, aber auch nicht annähernd das absinkende Volumen in den anderen drei Sektoren auffangen können.
Wenn nun insgesamt das Volumen bezahlter Erwerbsarbeit absinkt, dann heißt das nicht, daß die Zahl der Arbeitsplätze sinken muß. Die derzeitige Entwicklung tendiert zur Aufteilung des sinkenden Volumens von Erwerbsarbeit auf mehr Köpfe. Das geschieht vor allem im Niedriglohnbereich. Aber gerade hier wirkt eine Gegentendenz: Die "bad jobs" sind so schlecht bezahlt, daß eine Person mehrere jobs machen muß.
Im Hochlohnbereich ereignet sich die umgekehrte Entwicklung: Infolge Überstunden und abgesichert durch Betriebsvereinbarungen verlängern sich die Arbeitszeiten. Das Volumen der Hochlohn-Jobs konzentriert sich auf immer weniger Köpfe.

Was ansteigt, ist das Volumen unbezahlter gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Einerseits breitet sich der unbezahlte Bereich über Praktika und Voluntariate mitten im Erwerbsarbeitsbereich aus, andererseits verlängert sich die Erziehungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsphase der Menschen.

Was ansteigt, ist das Volumen nichtgeleisteter gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Der Rückzug des Staates auf sein "Kerngeschäft" (Verwaltung, Armee, Polizei, Gefängnisse) führt zu einer zunehmenden Verwahrlosung des öffentlichen und sozialen Raums. Das Modell der kapitalistischen Industrialisierung führt zu einer massiven Zerstörung des Umweltraums.
Hier fallen "Aufräumarbeiten" an, die jede Vorstellungskraft übersteigen.

Jenseits jeder Kritikwillig- und ~fähigkeit stellt sich für die hochbezahlte, neoliberale mainstream-Wissenschaft das Problem in seiner banalsten Form:
Was können Regierungen tun, um mehr Jobs zu schaffen?
Die immergleichen Ratschläge hören sich beispielsweise so an:
1. Die Zentralbanken sollen die Zinsen senken, um die Nachfrage zu erhöhen. Sparen soll sich nicht lohnen; Kredite sollen billiger werden. Der Konsum verbilligt sich ebenso wie die Investitionen.
2. Die Regierungen sollen die Verkaufs- und Einkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft deregulieren.

Die Forderung nach Deregulierung soll darauf hinauslaufen, die Ware Arbeitskraft von allen "Lohnnebenkosten" zu befreien. Ebenso wie ein Kühlschrank, soll sie weder kranken-, unfall- noch rentenversichert sein. Genausowenig wie der Käufer einer Waschmaschine anteilige Kosten für deren Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung bezahlen muß, soll auch der Käufer der Arbeitskraft von solchen Belastungen verschont bleiben. Wenn die Arbeitskraft meint, sich absichern zu sollen, so hindert sie niemand daran, dies über private Versicherungen zu tun.
Der Preis dieser "nackten" Ware Arbeitskraft soll sich frei auf dem globalisierten Arbeitsmarkt bilden können. Wenn genügend Menschen bereit sind, in der Textilbranche für einen global-möglichen Stundenlohn von vielleicht DM 3,- zu arbeiten, so wird sich ein Unternehmer überlegen, ob er seine arbeitsintensiven Produktionszweige in die dritte und vierte Welt auslagert. Die ArbeiterIn des Nordens kann auf solchem Niedrigstlohnniveau direkt mit den ArbeiterInnen des Südens konkurrieren.
An den regulierten, tariflich geschützten Löhnen und Mindestlöhnen (inclusive der gesetzlich geschützten Arbeitsbedingungen!) scheitert aber vor allem dort die Schaffungs neuer Jobs, wo personenbezogene Dienstleistungen verrichtet werden könnten.
Dem Erfindungsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Jede Tätigkeit, die ein Mensch ausführt, kann theoretisch auch als Job ausgeführt werden. Alle zweckgerichteten Ausdrucksformen des Menschen können in bezahlte Jobs verwandelt werden.
Die 'innere Schranke' dieser Expansion wird sehr wohl gesehen: "Die Nachfrage [nach Waren, nach der Ware Arbeitskraft, W.R.] ist nämlich prinzipiell unendlich und nur daran gebunden, daß die Nachfragenden auch Einkommen haben." Dieses Einkommen erzeuge sich in einem von der steigenden Produktivität ausgelösten Prozeß sozusagen von selbst. Denn erhöhte Produktivität verbillige die Waren und schaffe dadurch eine erhöhte Nachfrage, die sich dann in Neueinstellungen niederschlage.
Die wirkliche Entwicklung spricht eine andere Sprache: Die Ausdehnung der Produktion erfolgt immer über Rationalisierung und Automatisierung, so daß Arbeitskraft immer ersetzt wird. Allerdings wird sie unter Bedingungen weltweiter Expansion lange Zeit verdeckt ersetzt. Irgendwann erreicht die internationale Konkurrenz und der Grad der Automatisierung einen Punkt, an dem die Freisetzung von Arbeitskraft absolut und auf Dauer erfolgt, also sichtbar wird in Millionenmassen von Erwerbsarbeitslosen. Relative und absolute Freisetzung von Arbeitskraft bedeutet immer eine Reduzierung des Gesamteinkommens der Bevölkerung. Produktivitätserhöhungen durch Automation richten die innere Schranke auf, die eine unbegrenzte Ausdehnung von Erwerbsarbeit verhindert.
Soweit die neoliberale Option und deren innere Schranke.

Die neoliberale Option enthält durchaus das Recht auf ein Existenzminimum. Allerdings ist dieses Recht dem obersten Grundsatz: "Wer nicht (erwerbs-)arbeitet, der soll auch nicht essen!" strikt untergeordnet.
Insofern steht das Recht auf ein Existenzminimum nur Menschen zu die nicht (erwerbs-)arbeiten können. Anerkannte Gründe sind Kindheit, Alter, Krankheit oder schwere geistige oder körperliche Behinderung.
Und einige Theoretiker gehen in ihrer Auslegung des 'obersten Prinzips' sogar so weit, (erwerbs-)arbeitsfähige Menschen dann vor dem Verhungern retten zu wollen, wenn ihre Einkommen aus "bad jobs" nachweislich nicht zum Überleben reichen.
Ist der Arbeitswille solcherart nachgewiesen, dann möge das Modell der negativen Einkommensteuer zum Zuge kommen. Dieses Modell besagt, daß unterhalb eines geringen Existenzminimums die Steuerpflichtigen nicht nur von der "positiven" Einkommensteuer befreit sind, sondern Steuergelder vom Finanzamt erhält. Diese "negative" Steuer soll die Differenz zwischen Einkommen und Existenzminimum ausgleichen und wird vom Staat in der Hoffnung bezahlt, daß die Bad-JobberInnen irgendwann in die Lage kommen, "positive" Steuern zu zahlen. Vergrößern die JobberInnen ihre Einkommen, so laufen die "Zuschüsse" nicht abrupt, sondern -um zu höherem Einkommen anzureizen- stufenweise aus und verwandeln sich an einer bestimmten Einkommensgrenze in eine Verpflichtung, Steuern zu zahlen.
Wie gesagt, das ist die humane Variante des Neoliberalismus.

Beide, die inhumane und "humane" Variante, beruhen auf einer irrationalen Annahme: dem Glauben, daß (Erwerbs-)Arbeit zu auskömmlichem Wohlstand oder sogar Reichtum führt. Davon leitet sich das triviale, aber wirkmächtige Bild vom Tellerwäscher ab, der zum Millionär avanciert, wenn er nur zielstrebig genug Millionär werden will.(Anm Glückschm) Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache: TellerwäscherInnen bleiben häufiger denn je TellerwäscherInnen. Arbeit in der Peripherie der Erwerbsarbeit garantiert eher lebenslange Armut als den Aufstieg in die middle class.
Unabdingbar mit der neoliberalen Option verkettet, aber stets unausgesprochen, bleiben aber auch folgende Normen:
Der Mensch hat k e i n e n Anspruch auf ein Leben ohne Armut.
Der Mensch hat k e i n e n Anspruch, das zu arbeiten, was er wirklich arbeiten will und kann.
Wer nicht die Erwerbsarbeit annimmt, die am Markt angeboten wird, hat k e i n Lebensrecht.
Das wäre an sich schon grausam genug, wird aber übersteigert durch das noch verschwiegenere Verdikt:
Wer seine Arbeitskraft anbietet und findet keinen Käufer, hat
k e i n Lebensrecht.
In letzter Konsequenz läuft die Logik der neoliberalen Option auf den Ökonomizid hinaus.

Doch rutscht manchmal diese Unmenschen-Logik doch zwischen die Zeilen. So im Kommentar der Weltbank zum Bevölkerungsrückgang infolge AIDS.
Die Weltbank kommentiert den Verlust von unvorstellbaren 400 Millionen Menschen, die infolge AIDS-Tod entweder sterben oder nicht geboren werden. Zeitraum des Verlusts: Die nächsten 50 Jahre. Ort des Verlusts: Die armen Länder des Südens mit rückläufigem Wirtschaftswachstum, vor allem in Afrika.
Und das klingt so:

"Rückgänge im Bevölkerungswachstum wegen AIDS werden dazu tendieren, Rückgänge im Wirtschaftswachstum auszugleichen, so daß die Nettoauswirkung auf das Pro-Kopf-Einkommen allgemein klein sein wird."
Die Ursache des Verlusts ist austauschbar. Statt AIDS kann eine beliebige Krankheit, Seuche oder Katastrophe stehen - oder der ökonomische Tod. Das klänge dann so: "Rückgänge im Bevölkerungswachstum wegen dauerhaftem Überangebot von Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt werden dazu tendieren, Rückgänge im Wirtschaftswachstum auszugleichen, so daß die Nettoauswirkung auf das Pro-Kopf-Einkommen allgemein klein sein wird."

Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß die Kapitalisten durch gerechte Verteilung von Einkommen und Arbeit allgemeinen Wohlstand ermöglichten.

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