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Erwiderungen + Kritik zum unteren Text von Otmar Issing
Die FAZ vom 20.11.1993 schrieb:
Von Otmar Issing (Der Autor war damals Chefvolkswirt und Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank)
In der Frankfurter Chronik zur Judenverfolgung im Mittelalter heißt es: "Propter usuras vexabantur" - Wegen des Wuchers wurden sie gequält. Wucher, das war das Synonym für die Geldleihe gegen Zins, ein Geschäft, das den Christen nach dem kanonischen Zinsverbot untersagt war.
Verbietet die Obrigkeit eine wirtschaftliche Aktivität, für die es in einer Gesellschaft jedoch Bedarf gibt und ohne die, wie beim Kredit, nur eine beschränkte Existenz und kaum Spielraum zur Entwicklung gegeben ist, dann werden die Menschen Mittel und Wege finden, das Verbot zu umgehen. Eine naheliegende Möglichkeit besteht darin, dieses Geschäft Außenseitern zu überlassen. Genau dies geschah im Mittelalter. So wurde der "Geldhandel" ab etwa der Mitte des zwölften Jahrhunderts der Hauptberuf der Juden, zumal man sie im Laufe der Zeit immer mehr aus anderen Gewerben herausgedrängt hatte.
Damit war eine Minderheit wirtschaftlich ausgegrenzt und auf eine Tätigkeit verwiesen, die durch weitere politische Eingriffe, wie extreme Steuern und Schuldenerlasse, belastet wurde. Das dadurch erhöhte Risiko der Kreditvergabe spiegelte sich in teilweise horrenden Zinsen wider, ein Ergebnis, das den Gläubiger speziell bei den Schuldnern, aber auch in der Bevölkerung ganz allgemein nicht gerade beliebter machte. Wenngleich hier sicher nicht die einzige Ursache liegt, so muß man doch dem Haß auf die "Wucherer" eine wesentliche Rolle bei der Auslösung der schrecklichen Pogrome dieser Zeit beimessen.
Das Zinsnehmen stand lange Zeit auf einer Stufe mit den Kapitalverbrechen, der Wucherer wurde in die Gesellschaft von Brandstiftern, Räubern, Blutschändern und Huren eingereiht. Hinter dieser moralischen Verdammung steht zum einen die damalige Haltung der Kirche zum Zins und Zinsnehmen. Diese Aversion blieb aber keineswegs auf das Christentum beschränkt. So enthält etwa die Thora ein ausdrückliches Verbot des Darlehnszinses, freilich nur für Darlehen unter den Israeliten, und die Schwierigkeiten der Akzeptanz des Phänomens Zins im Islam reichen bekanntlich bis in unsere Zeit.
In der Scholastik diente zum anderen neben der Bibel die Autorität des Aristoteles für die Stigmatisierung des Zinses. Nach der Lehre "des" Philosophen in seiner "Politik" war das Gewerbe des "Wucherers mit vollstem Recht eigentlich verhaßt, weil es aus dem Gelde selbst Gewinn zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden ist". Der Zins stammt "als Geld vom Gelde. Daher widerstreitet auch diese Erwerbsweise unter allen am meisten dem Naturrecht". Nach Edgar Salin sind von da an die Geldleihe und der Geldhandel überhaupt mit dem schwersten Fluch belegt, den die Philosophie und später auch die Theologie zu schleudern vermögen. Sie sind wider die Natur.
Das aristotelische Verdikt wird heute schwerlich noch jemanden beeindrucken, und mit einer Doktrin aus dem gemeinhin als "finster" apostrophierten Mittelalter wird sich ansonsten kaum ein Bürger unserer so aufgeklärten Zeit identifizieren. Ob aber nun die Meinungen der Vergangenheit das Bewußtsein der heute Lebenden stärker beeinflussen, als dies für möglich gehalten wird, oder ob dies nicht zutrifft, so bleiben doch berechtigte Zweifel, ob der Zins - um mit dem bekannten österreichischen Kapitaltheoretiker Eugen von Böhm-Bawerk zu sprechen - jemals seinen "moralischen Schatten" vollständig losgeworden ist. In der innerlichen Ablehnung, der die moralische Ächtung leicht folgt, liegt wohl auch die Wurzel dafür, daß die Sehnsucht nach der zinslosen Wirtschaft zum Beispiel am Rande von Kirchentagen immer wieder ihre Anhänger versammelt.
Wohin eine Gesellschaft kommt, wenn sie den Prozeß, die marktgerechte Höhe des Zinses zu bestimmen, beschränkt oder wenn sie gar die Notwendigkeit des Zinses schlechtweg ignoriert, läßt sich an zahlreichen Fallbeispielen demonstrieren. So liegt hier eine wesentliche Ursache für die Mängel und schließlich das Scheitern der Planwirtschaften sowjetischen Typs. Nach der Marxschen Lehre stellt das Privateigentum an Produktionsmitteln die Quelle der Ausbeutung des Arbeiters dar, im Zins als Bestandteil des Mehrwertes wird diesem ein Teil seines Arbeitsertrages vorenthalten.
Getreu dieser Auffassung haben die Nationen, die dieser theoretisch längst vorher widerlegten These gefolgt sind, nicht nur die Produktionsmittel sozialisiert, sondern zunächst auch den Zins quasi per Dekret abgeschafft. Schon bald wurden freilich die Defekte dieses Versuchs der Wirtschaftslenkung ohne Zins so offenkundig, daß nach in bis ans Groteske grenzenden Bemühungen, den Begriff selbst zu vermeiden, das Phänomen als solches aber in der Planung zu berücksichtigen, schließlich ganz offen die Notwendigkeit des Rechnens mit dem Zins von der Realität gegen das Dogma erzwungen wurde.
Ohne die Institution des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Lenkung durch den Markt waren freilich auch diese Anstrengungen zum Scheitern verurteilt.
Kommt es von ungefähr, daß auch die andere totalitäre Weltanschauung, die in diesem Jahrhundert ihre furchtbare Spur hinterlassen hat, zum Zins grundsätzlich eine ähnlich feindliche Einstellung vertreten hat? Die "Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes" war Bestandteil des Parteiprogrammes der NSDAP von 1920, das bis 1930 galt. Für Gottfried Feder, den Urheber dieses Programmpunktes, ist die "goldene Internationale" aus dem "durch und durch unsittlichen Leihzinsgedanken geboren". "Der Leihzins ist die teuflische Erfindung des Großleihkapitals, der Leihzins ermöglicht allein das träge Drohnenleben einer Minderzahl von Geldmächtigen auf Kosten der schaffenden Völker und ihrer Arbeitskraft, er hat zu den tiefen unüberbrückbaren Gegensätzen, zum Klassenhaß geführt, aus dem der Bürgerkrieg und Bruderkrieg geboren ist ... Die Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes bedeutet die einzig mögliche und endgültige Befreiung der schaffenden Arbeit von den geheimen überstaatlichen Geldmächten".
Die Dimensionen sind größer geworden, knüpfen aber nicht Inhalt und Sprache aus diesem Jahrhundert nahtlos an das Mittelalter an?
Die moralische Verdammung des Zinses ist keine Antwort auf die Frage, warum es den Zins gibt. Solange freilich die wichtigste und auffälligste Form des Kredites im Konsumdarlehen - oft für existentielle Notsituationen - bestand, war es fast unvermeidlich, daß Zins und Wucher gleichgesetzt und als Verbrechen eingestuft wurden. Den Kreditbedürftigen war damit freilich nicht geholfen. Eine solche Entschuldigung mag man für einen Aristoteles und das Mittelalter ins Felde führen, dieses Jahrhundert kann den Freispruch nicht beanspruchen.
Die adäquate Erfassung des Phänomens und die Erklärung seiner Ursache sind die Voraussetzung dafür, daß der Zins von seinem Stigma befreit werden kann. Was also ist der Zins, warum gibt es ihn, was sind seine Funktionen?
Eine erste Antwort lautet: Der Zins ist der Preis für Kredit; Zins und Kredit stellen also zwei Seiten einer Medaille dar. In der modernen Wirtschaft wird Kredit fast nur noch in Geldform gewährt - die auf Zeit geliehene Kaufkraft eröffnet den Zugang zum Erwerb von Gütern aller Art. Wird der Kredit fällig, ist nicht nur der ursprüngliche Betrag zurückzuzahlen, sondern auch ein"Aufgeld", eben der Zins.
Der Kredit verleiht dem Kreditnehmer Verfügungsmacht am Markt, auf die der Kreditgeber für die Zeitspanne des Kreditkontrakts verzichtet. Kredit verkörpert insofern einen Tausch von Gütern in der Zeit - er stellt ein intertemporales Phänomen dar. Erst die Kreditaufnahme versetzt viele Unternehmen in die Lage, Investitionen in der gewünschten Höhe zu realisieren, also Kapitalgüter (beispielsweise Maschinen oder Gebäude) zu kaufen und im Produktionsprozeß einzusetzen. Dem Haushalt ermöglicht der (Konsumenten-)Kredit, über die durch das laufende Einkommen und gegebenenfalls den Rückgriff auf Vermögen gesetzte Beschränkung hinaus Güter zu kaufen. Der Zins ist somit der Preis für zeitlich vorgezogenes Verfügungsrecht über Güter beziehungsweise die entsprechende Nutzung von Kapital.
Die den in der Investition eingesetzten Betrag übertreffende Wertschöpfung erlaubt es dem Kreditnehmer, mehr als die Amortisation zurückzuzahlen - das heißt eben, einen Zins zu erwirtschaften. Hier liegt die Antwort auf die Frage, die Aristoteles nicht lösen konnte: Der nicht investierte Geldbetrag bleibt "unfruchtbar" - erst über die Investition in Realkapital wird es möglich, einen die ursprüngliche Summe übersteigenden Wert zu erzielen; was dem Unternehmen darüber hinaus nach Abzug aller Aufwendungen verbleibt, ist der Gewinn. Als Ausdruck der Netto-Produktivität des Kapital ist der Zins eine Erscheinung der realen Wirtschaftssphäre; der Kreditgeber nutzt nicht eine Notsituation des Kreditnehmers aus, sondern erhält als Gegenleistung für den vorübergehenden Verzicht auf Kaufkraft den Zins, der wiederum im realen Produktionsprozeß erwirtschaftet wird. In der Definition von Gustav Cassel ist der Zins der Preis für das Warten oder für die Nutzung von Kapital.
Der Sparer verzichtet (vorübergehend) auf Konsum, die in den verschiedenen Anlageformen bereitgestellten Mittel werden von den Institutionen des Finanzsektors - Banken, Investmentgesellschaften, Versicherungen - in Kredite an Unternehmen transformiert, aus "Kredit wird Kapital". Der Zins als Marktpreis fungiert daher auch als Gradmesser für die Knappheit des Kapitals.
Gleichzeitig stellt der Zins das Verbindungsglied zwischen zukünftigem Einkommen und gegenwärtigem Vermögen dar. In diesem Sinne gibt der Zins an, was eine zukünftig zu erwartende Zahlung heute wert ist. Je höher der Zins, desto stärker muß man den Wert einer künftigen Zahlung abdiskontieren, desto niedriger ist auch der Gegenwartswert des Vermögens, aus dem bestimmte zukünftige Zahlungen zu erwarten sind.
Der Zins fungiert jedoch nicht nur als Brücke zwischen künftigem Einkommen und dem Kapital, dem Gegenwartswert der künftigen Einkommensströme, er stellt ganz allgemein die ökonomische Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen heute und morgen her. Auf diese Weise wirkt der Zins in alle Lebensbereiche hinein, in denen es um Entscheidungen mit Zukunftsbezug geht. Erst der Zins ermöglicht eine generell vergleichende Bewertung von Ereignissen, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden. Über diesen Zusammenhang beeinflußt der Zins zukunftsgerichtete Handlungen und damit insoweit das Erscheinungsbild der Welt von morgen. Hier liegt im Kern die umfassende intertemporale Bedeutung dieses Preises.
Auch in der naturalen Tauschwirtschaft kommen Kredit und Zins vor, beide Phänomene sind also nicht an das Vorhandensein von Geld gebunden. So war etwa der Pachtzins für den Acker häufig in Form eines Teils der Ernte zu erbringen; "Zehnthöfe" zeugen noch heute an vielen Orten von der Einträglichkeit dieser Leistungen. Im übrigen gibt es in den modernen Geldwirtschaften eine ganze Reihe von Zahlungsvorgängen mit mehr oder minder ausgeprägtem Zinscharakter. Dies gilt für die Miete - gelegentlich trifft man noch auf den Ausdruck "Mietzins" -, die grundsätzlich eine Mischung aus Zinsanteil für das investierte (und im Mietobjekt quasi verliehene) Kapital und Entgelt für die Abnutzung beziehungsweise Abschreibung der Wohnung verkörpert.
Dividenden und Aktienkursgewinne lassen sich auffassen als Verzinsung des Eigenkapitals zusätzlich einer stark schwankenden Risikokomponente. Rein ökonomisch betrachtet ist die Ausbildung einer Person als Investition ins sogenannte Humankapital zu betrachten, von dem im Erwerbsleben Erträge erhofft werden. Das entsprechend höhere Arbeitsentgelt enthält in dieser Sicht also auch ein Element für die Verzinsung des eingesetzten Kapitals; bleibt diese aus, hat sich - rein ökonomisch gesehen - die Ausbildung nicht gelohnt.
Obgleich es "den" Zins nicht gibt, ist im Sprachgebrauch des täglichen Lebens und selbst im Fachjargon laufend schlechtweg die Rede vom Zins, der einmal als (zu) hoch, dann wieder als (zu) niedrig eingestuft wird. Wie so oft führt auch hier die nachlässige Ausdrucksweise leicht zu inhaltlichen Mißverständnissen, so wenn es etwa heißt, die Bundesbank habe "die" Zinsen gesenkt. Diese Ausdrucksweise erweckt fast zwangsläufig nicht nur den Eindruck, die Notenbank könne tatsächlich das Zinsniveau, also die Höhe der Zinsen in der Wirtschaft ganz generell senken, sondern sie vermittelt der Öffentlickeit darüber hinaus die Vorstellung, die Zinshöhe liege im Ermessen des Zentralbankrates, der quasi nach Gutdünken der Wirtschaft per Beschluß hohe oder niedrige Zinsen verordnen könne. Von da bis zur Suggestion, die Bundesbank verweigere der Volkswirtschaft die Wohltat niedriger Zinsen, ist es dann nur ein kleiner Schritt.
Für die Geldmarktzinsen, insbesondere den Tagesgeldsatz, trifft die enge Verknüpfung mit den Notenbankzinsen grundsätzlich zu. Allgemein gilt jedoch, daß sich die Verbindung mit den Notenbankzinsen um so mehr lockert, je länger die Bindungsdauer der Kreditbeziehungen ist.
Für den Anleger, der vor der Entscheidung steht, etwa eine soeben angekündigte neue Anleihe des Bundes mit festem Nominalzins für die Dauer von zehn Jahren, dem Zeitpunkt der Fälligkeit, zu kaufen, spielt vor allem die Einschätzung der Entwicklung der Kaufkraft des Geldes, seine Inflationserwartung eine Rolle. Mit der Globalisierung der Finanzmärkte haben ferner Wechselkurserwartungen eine immer größere Bedeutung erlangt. Wer etwa zwischen einer Anlage in D-Mark- oder Dollarwerten schwankt, hat die von ihm erwartete Entwicklung des D-Mark/Dollar-Wechselkurses zu berücksichtigen. Neben anderen Kriterien geht in diese Erwartung vor allem die Entwicklung der relativen Kaufkraft der beiden Währungen, also des Unterschiedes in der Inflation ein.
Schon nach derart einfachen Überlegungen kann die empirische Beobachtung nicht mehr überraschen, daß in längerer Perspektive die Länder mit stabilem Geldwert niedrige und die mit starker Geldentwertung hohe Zinsen aufweisen. Am Extrem der Hyperinflation wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. Als etwa die Reichsbank Mitte September 1923 den Diskontsatz auf 90 Prozent (pro Jahr) erhöhte, belief sich die monatliche Inflationsrate bereits auf mehr als 2400 Prozent. Als Realzins berechnet, das heißt nach Abzug der Geldentwertung (umgerechnet auf Monatsbasis), erreichte der Diskontsatz einen negativen Wert von (minus) 95,89 Prozent. Der rein nominell scheinbar hohe Diskontsatz war folglich eine Aufforderung zur Kreditaufnahme bei der Notenbank und damit zur Vermehrung des Geldumlaufs. Diese Erfahrung hoher negativer Notenbank-Realzinsen wird im übrigen in vielen anderen Fällen bestätigt, man nehme nur die Situation in Rußland im vergangenen Jahr.
Private Anleger sind unter solchen Umständen nicht mehr bereit, auf Nominalwerte lautende Kredite zu geben, die Geldwirtschaft in nationaler Währung bricht zusammen und wird durch Wertsicherungen aller Art und durch die Verwendung stabiler fremder Währungen abgelöst.
Mit dem Rückfall in die Steinzeit naturalwirtschaftlicher Beziehungen verschwindet freilich der Zins nicht, er wechselt nur die Erscheinungsform. Die Kreditvergabe in Geldform verbirgt den Kern des Zinses als Erscheinung der realen Wirtschaft. Die klassischen Nationalökonomen sprachen vom Geld als einem "Schleier", hinter dem die wirtschaftlich eigentlich relevanten realen Beziehungen verdeckt werden. Der Zins als relativer Preis, als Verbindungsglied zwischen Gegenwart und Zukunft stammt aus der Welt der realen Wirtschaft. Seine Höhe wird durch das Verhältnis von Sparen und Investieren bestimmt. Hohe Sparleistung führt zu sinkenden Zinsen und eröffnet die Möglichkeit kapitalintensiverer Produktion, steigender Arbeitsproduktivität und höheren künftigen Lebensstandards.
Der Versuch, den Zins durch staatliche Anordnung künstlich unter das im Markt bestimmte Niveau zu senken, reduziert zum einen den Anreiz der Sparer und verleitet zum anderen zur Illusion eines nicht vorhandenen Kapitalreichtums, als deren Folge an einer Stelle der Volkswirtschaft eine hohe Kapitalintensität erreicht wird, während an anderer Stelle wegen Kapitalmangels auf primitive Produktionsformen zurückgegriffen werden muß.
Nur die marktgerechte Verzinsung macht den Kapitaleinsatz in allen seinen sachlichen Variationen und der unterschiedlichen zeitlichen Bindung vergleichbar, nur unter diesen Bedingungen wandert das Kapital der Tendenz nach zum besten Wirt. Nur im Marktprozeß läßt sich auch die Höhe der jeweils angemessenen Risikoprämie herausfinden.
Theoretische Ansätze, die Argumente für vermeintlich eklatantes Marktversagen in diesem Bereich ableiten und in Forderungen nach staatlichen Eingriffen ummünzen, treffen sich mit ethischen Vorbehalten gegenüber dem Zinsphänomen, die zu allen Zeiten das Denken selbst von Menschen zu beeinträchtigen scheinen, denen man ansonsten Scharfsinn gewiß nicht absprechen wird. Als für diese Beobachtung in gewisser Weise typisch mag man auf John Maynard Keynes verweisen mit seiner Prognose vom sanften Tod des Rentners, vom Ende "der sich steigernden Unterdrückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten". In diesem letzten Kapitel seiner "Allgemeinen Theorie", das er bezeichnenderweise "Schlußbetrachtungen über die Sozialphilosophie, zu der die Allgemeine Theorie führen könnte", überschreibt, bezieht sich Keynes in diesem Zusammenhang gar auf den "zu Unrecht übersehenen Propheten Silvio Gesell", an dessen Gedanken er die "moralische Höhe" des Autors hervorhebt. Nur eine Teilerkenntnis habe Gesell zur vollständigen Erfassung des Problems gefehlt, nämlich die Vorstellung der Vorliebe für die Liquidität.
Keynes hat sich im übrigen dezidiert für Kontrollen der internationalen Kapitalbewegungen ausgesprochen, um die Zinshöhe nach nationalen Vorstellungen regulieren zu können. Forderungen dieser Art haben immer wieder einmal Konjunktur, und sie sind insbesondere bei denen populär, die klare Vorstellungen über die Zukunft ihres Landes oder etwa der Europäischen Gemeinschaft haben, deren Verwirklichung sie nicht durch die anonymen Mächte des Kapitals gefährdet sehen wollen. Das Vorhaben, Kapitalmarkt und Zins quasi durch einen Zaun vor unerwünschten Einflüssen abschotten zu wollen, scheitert indes nicht an fehlendem Willen oder gar besserer Einsicht, sondern schlicht an der offenkundigen Unmöglichkeit, ein so liquides und mobiles Element wie das Kapital nach dem Kriterium übergeordneter politischer Priorität kontrollieren zu können.
Wer aber meint, die pure Zinsfeindschaft sei als mittelalterliches Phänomen längst überwunden, der möge sich die Bibliotheken füllende Literatur zur Problematik der Dritten Welt ansehen, in der ökonomische Erkenntnis in einer Flut falsch verstandener Ethik und Moral ertränkt wird. Die anhaltende Armut vieler Entwicklungsländer gilt dort vielfach geradezu als Beleg für ein perverses Marktsystem, in dem das Kapital eben nicht an die Stellen höchster Dringlichkeit gelenkt werde, sondern gerade dort akkumuliere, wo es ohnehin reichlich vorhanden sei.
In völliger Übereinstimmung mit der Theorie liefert die Wirtschaftsgeschichte Beispiele in Hülle und Fülle dafür, wie selbst extremes Risiko durch die Erwartung hinreichender Rendite überwunden werden kann. Unsichere politische Verhältnisse, unklare Eigentumsverhältnisse und andere Gefährdungen errichten freilich hohe Hindernisse für den Investor. Die Ökonomie gibt eine klare Antwort auf die Frage, wie das Problem zu lösen ist: Unter der Bedingung eines glaubwürdigen Abbaus der überwiegend politisch verursachten Risiken und der Bestimmung des Zinses am Markt wird auch das Kapital in die gewünschten Verwendungen fließen.
Der Versuch, das Kapital ohne den Anreiz angemessener Renditeerwartungen nach Vorstellungen der Gerechtigkeit oder welcher moralischer Kategorien auch immer gegen das Risikogefälle steuern zu wollen, beraubt die Entwicklungsländer letztlich jeder Anbindung an die reiche Quelle der weltwirtschaftlichen Ersparnis und verweist sie auf das im Vergleich dazu dürftige Rinnsal öffentlicher Entwicklungshilfe.
Die Absicht, den Zins in seiner Rolle zu begrenzen oder gar auszuschalten, verlangt einen hohen Preis, die Motive, die dafür geltend gemacht werden, müssen sich daher dem Test der zu erwartenden beziehungsweise tatsächlich eintretenden Ergebnisse stellen. Dies gilt im Großen, der Weltwirtschaft, wie im Kleinen, bei Regulierungen auf einzelnen nationaler Märkten. So schützt etwa ein unter dem Markt liegender Höchstzins gerade nicht diejenigen, deretwegen solche Bestimmungen erlassen werden. Verbietet man etwa den Banken, jeweils angemessene Risikoprämien zu berechnen, so verschließt dies tendenziell Personen ohne nennenswertes Vermögen den Zugang zum Bankkredit und liefert sie im Notfall grauen und schwarzen Märkten aus.
Wer also Beschränkungen der Zinshöhe zum Schutz von wirtschaftlich Schwachen fordert - in den Vereinigten Staaten wird das Thema Diskriminierung von ethnischen Minderheiten durch die Banken immer wieder diskutiert -, muß auch die Frage nach den Folgen des staatlichen Eingriffs beantworten. Unter dem provokativen Titel "Zur Verteidigung des Wuchers" hat Jeremy Bentham, der unter den Vorurteilen gegenüber dem Zinsnehmen beziehungsweise Wucher unter anderem auch den Horror vor allem Jüdischen nennt, dem Argument, man müsse den Einfältigen vor dem Wucherer schützen, die Antwort entgegengehalten: Keine Einfalt könne in diesem Fall ein Individuum so sehr des richtigen Urteils unfähig machen wie der Gesetzgeber.
Unsere Zeit hat gewiß andere Maßstäbe für den Schutz der Schwachen entwickelt, als sie Bentham vorschwebten. Um so wichtiger wird jedoch die Aufgabe, dieses Bestreben in adäquate Politik umzusetzen.