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Hier müssen nun aber zu diesen Aufwendun-
gen für die Kulturschöpfungen des gotischen Kir-
chenbaues, die natürlich genau so wie heute von
den Ausgaben fur die Lebenshaltung erübrigt
und abgezweigt werden mußten, auch die Auf-
wendungen für das Gemeinwesen der Stadt hin-
zugerechnet werden. Dabei sehen wir aber, daß
sich die Rathäuser, die Stadtmauern, Brücken,
Straßen, Plätze und Brunnen mit fortschreiten-
der Entwicklung der Stadt durchaus neben ihren
Gotteshäusern zeigen konnten. Und die wirt-
schaftlich starke und gesunde Bürgerschaft hat
beide Lasten, die Ausgaben für Christenheit und
Stadtgemeinschaft, spielend getragen. -
Mit dem Rathaus hat der erwachende Bür-
gerstolz nicht nur das Zentrum seiner Gemein-
schafts-Angelegenheiten, sondern zugleich auch
die Stätte seiner Repräsentation entwickelt. Hier
hat der neue Stand des Bürgers seine Kraft kon-
zentriert, um sich der alten Mächte des Adels
und der auf weltliche Macht bedachten Kirchen-
fürsten zu erwehren. Neue Geschlechter waren
den alten Mächten über den Kopf gewachsen.
Einst hatten Bischöfe und Grundherren, die
Pfalzgrafen des Kaisers und die Herren der Bur-
gen ihre Mauern geöffnet, um die kleine Be-
triebsamkeit von Gewerbe, Handwerk und Han-
del heranzuziehen, denn der Markt brachte Ge-
winn, und wer sich am Ort des Marktes seßhaft
machte, zahlte dem Grundherrn den "Wort-
Zins" (s. Adolf Damaschke: "Gesch. d. National-
ökonomie" S. 52 ff); und so stieg die Grund-
rente des Stadtbodens mit jedem Zuzug.
Im Laufe der Zeit war indessen die Bürger-
schaft erstarkt, Kaufherren und Zunftmeister
waren sich ihrer Bedeutung für das Gedeihen des
Gemeinwesens bewußt geworden, und so war es
häufig unvermeidlich, daß die Interessen der
Bürgerschaft mit denen der kirchlichen oder adli-
gen Grundherren in Widerstreit gerieten. Oft
stellten sich dann die Bürger unter den Schutz
des Kaisers und des Reiches, was den Macht-
kämpfen des Kaisertums mit Kirche und Adel
den Ausschlag zugunsten des Kaisers gab. Dann
unterstanden die "freien Reichsstädte" keinem
Landesherrn mehr, sondern nur noch der Ober-
hoheit des Kaisers.
Was die Nutznießung des Stadtgrundes an-
belangt, war damit freilich nichts Wesentliches
geändert. Es war aber schon bedeutungsvoll ge-
nug, was der Bürger an politischer Geltung ge-
wonnen hatte. Die Führungsschicht des Bürger-
tums war vornehmlich aus dem Kreise der er-
folgreichen Kaufherren hervorgegangen wie
auch aus den Geschlechtern, die Grundbesitz im
Bereich der Stadt besaßen oder erworben hatten.
Nicht selten sind reichgewordene Handelsherren
nicht nur durch Kauf, sondern auch durch Fami-
lienverbindungen mit den Geschlechtern der
Grundbesitzer selbst zu Grundbesitz gekommen.
Diese Schicht, durch das eigene Schicksal am
stärksten mit der Stadt verbunden, bildete das
Patriziat der ratsfähigen Geschlechter.
Gegen den Stand der Handwerkerschaft, ge-
gen die Zünfte, bestand eine genaue Abgrenzung,
was allerdings nicht verhindern konnte, daß
auch die Zünfte im Laufe der Entwicklung in
den Rat drangen und die Geschicke des Gemein-
wesens mitbestimmten. Das Leben der Stadt er-
forderte den Aufstieg neuer Kräfte und das Ab-
stoßen der Versagenden. So konnte wirtschaft-
licher Mißerfolg eines Ratsherrn schon Grund
genug sein, auch seine Entfernung aus dem Rat
zu bewirken.
Um die Bedeutung und Vielfalt der Aufga-
ben, die dem Rat einer mittelalterlichen Stadt,
etwa einer freien Reichsstadt, gestellt wurden,
richtig würdigen zu können, muß man neben der
Berücksichtigung der Tatsache, daß diese neue
Form eines Gemeinwesens für die Träger ihrer
Aufgaben überhaupt noch ohne Vorbild war,
auch die allgemeinen Verhältnisse in Rechnung
stellen, insbesondere in bezug auf Sicherheit und
Krieg und Frieden. Diese Welt des Mittelalters
war keineswegs als Ganzes von azurblauem Frie-
den überstrahlt, und was geleistet werden mußte,
um das zu vollbringen, was wir nach Jahrhun-
derten noch bewundern, das mußte unter weit-
aus schwierigeren Bedingungen geleistet werden,
als wir sie uns heute vorstellen können.
Es fing an mit den Problemen der Rechts-
sicherheit. Hatte sich der Bürger zunächst in den
Schutz der Stadtmauern, in den Schutz der er-
weiterten Burg eines Grundherrn begeben, so
hatte er damit noch keine Gewähr dafür, daß
nicht ein Stärkerer mit seinen Reisigen den eige-
nen Grundherrn überfallen und die Stadt brand-
schatzen konnte. Die Stadt mußte zur eigenen
Verteidigung gewappnet sein; und diese Not-
wendigkeit wurde begreiflicherweise doppelt
wichtig, wenn sich die Stadt zur Unabhängig-
keit von ihrem einstmaligen Grundherrn ent-
wickelt hatte. So mußte der Rat auf Befestigung
und Wehrdienst bedacht sein. Für uns ist es heute
ein idyllischer Anblick, wenn wir die efeube-
wachsenen Stadtmauern sehen und die Tortürme,
aus mächtigen Brocken von Natursteinen viele
Meter dick aufgebaut, und die überdachten
Wehrgänge für den Rundgang der Wehrman-
nen; aber als das alles gebaut wurde, kostete es
Mühe und Schweiß und mußte aufgebracht wer-
den aus dem Leistungsvermögen auf sich selbst
gestellter Gemeinschaften, die doch zahlenmäßig
oft noch sehr klein waren. Im 15. Jahrhundert
zählte - um in diesem Zusammenhang nochmals
daran zu erinnern -, die Stadt Mainz mit Frauen
und Kindern 6000, Frankfurt 9000 Einwohner.
Und Augsburg und Nürnberg hatten nicht mehr
als 18 000 und 20 000 Einwohner.
In manchen Städten wurden die festen Kosten
der Stadtverteidigung auf den Grundbesitz um-
gelegt. So verfügte Worms im Jahre 1459, daß
jeder Bodeneigentümer "Wachtgeld" zu entrich-
ten hatte. Mainz ließ sich seine Stadtmauern gegen
Zusicherung der Zollfreiheit von den umliegen-
den Ortschaften bauen, und zwar so, daß jede
Gemeinde für ein bestimmtes Stück der Stadt-
mauer aufzukommen hatte, auf dem ihr Name
mit der Anzahl der Mauerzinnen vermerkt war.
Aber den Unterhalt und die Bewaffnung der
Wehrleute hatte jede Stadtgemeinschaft als nicht
abwälzbaren Aufwand dauernd zu tragen.
Das Erblühen von Handwerk, Handel und
Gewerbe bedurfte des Friedens. Zusammenarbeit
und gegenseitige Förderung ist nur auf dieser
Grundlage möglich. Das fängt mit dem "Haus-
friede" an, das ist der Sinn des "Burgfriedens",
und so genossen die Bürger des Mittelalters we-
nigstens in den Mauern ihrer Stadt den "Stadt-
frieden". - Um den "Landfrieden" freilich war
es noch übel bestellt. -
Wir müssen bedenken, daß noch im 13. Jahr-
hundert ein frisch-fröhlicher Überfall auf den
Nachbarn oder den reisenden Kaufmann oder
die nahe Stadt für eine ehrbare Tätigkeit ange-
sehen wurde. Rauben und Plündern während
der Fehde und unter dem Gesetz des Faustrechts
hinterließ keinen moralischen Makel auf dem
Schild des Angreifers. Die Anwendung von Waf-
fengewalt im Kampf ums Dasein und die Ge-
fahr für die Arbeitsamen, bei einem solchen
Strauß mit Rittern und Reisigen Gut und Leben
zu verlieren, gehörte einfach zu den Gegeben-
heiten der mittelalterlichen Welt und zu den all-
täglichen Fährnissen. Auch hieran dürfte wieder
zu ermessen sein, um wieviel schwieriger es un-
ter solchen Umständen gewesen sein muß, etwas
Großes und Bleibendes zu schaffen.
Aber schließlich erforderte die Entwicklung
von Handel und Gewerbe eine friedliche Ord-
nung, und wenn schon die Kirche sich nicht durch-
setzen konnte - die bereits in einem Konzil die
Wochentage und später auch den Raum festge-
setzt hatte, innerhalb dessen keine Gewalttat
begangen werden durfte -, so half die erste Reichs-
satzung über den Landfrieden, die Kaiser Fried-
rich im Jahre 1152 erließ, doch schon, bessere
Zustände zu schaffen. Doch das wesentliche Ver-
dienst an der Überwindung des mittelalterlichen
Faustrechts und an dem Sieg einer verläßlichen
Gemeinschaftsordnung gebührt dem Bürgertum
der Städte und den Städtebünden. Manche Adels-
geschlechter haben jahrzehntelang mit den
Städten in Fehde gestanden, zuerst nur mit ein-
zelnen, denen sie sich gewachsen fühlten -, bis
ihnen das Aufgebot der verbündeten Städte ent-
gegentrat.
Zur Sicherung der Gemeinschaftsordnung be-
durfte es außer der Wehrhaftigkeit auch der
städtischen Selbstverwaltung, ja sogar einer ei-
genen Gerichtsbarkeit. Die mittelalterliche Stadt
war somit fast so etwas wie eine kleine Welt, die
sich um sich selber drehte. Recht und Sitte, Ge-
bräuche und Lebensformen waren zum Teil ein-
fach nur von der höheren, verbindenden religiö-
sen Idee, teils freilich auch von Rechtsnormen
geprägt, die als Reichsrecht schließlich doch
schon eine fast allgemeine Gültigkeit erlangt
hatten. Im übrigen bildete sich das Recht aus
der Entwicklung des alt-germanischen Gewohn-
heitsrechtes, dem Karl der Große schon bei sei-
ner Gesetzgebung selbst genügend Spielraum ein-
geräumt hatte, indem er den Alemannen das ale-
mannische, den Franken das fränkische, den
Sachsen das sächsische und jedem Stamm sein
stammeseigentümliches Recht weitgehend belas-
sen hatte. Aus dieser geschichtlichen Situation
heraus wurden Rechtsnormen noch im hohen
Mittelalter gewissermaßen in einer Konkurrenz
des Geistes und der salomonischen Weisheit ent-
wickelt. Die Rechtsbücher "Sachsenspiegel" und
"Schwabenspiegel" waren nur Sammlungen von
Rechtsnormen und Verfahrensgrundsätzen. Man
nahm sich für das eigene Stadtrecht heraus, was
man für gut erachtete. Und eine Stadt mit vor-
trefflichem Recht erfreute sich großen Ansehens.
So war Lübecker Recht schon früh im ganzen
Ostseeraum angenommen und gültig.
Diese kleinen Hinweise auf die Umstände
und Besonderheiten der Zeitverhältnisse mögen
ein wenig verdeutlichen, daß es im Mittelalter
etwas anderes war, dem Rat einer Stadt anzuge-
hören, als es heute ist. Von diesem Gesichtspunkt
her stellt sich die Leistung der in unser Blick-
feld gezogenen Zeit nur noch imposanter dar.
Bei aller Anerkennung persönlicher Größe, gei-
stiger und seelischer Auftriebskräfte von einzel-
nen Menschen bleibt schließlich doch, daß das
Ganze neben dem überquellenden Aufwand für
die Werke der Kultur eine unglaubliche Produk-
tivität der Arbeit des Stadtbürgers darstellt, um
so verwunderlicher, als die modernen Hilfsmit-
tel - die Verkehrsmittel, Dampfmaschinen und
Motoren - noch vollkommen unbekannte Dinge
waren.
Wie anders wollte man sich aber das Ergebnis
erklären, als eben nur so, daß diese Zeit, ohne
bewußt rationalistisch zu denken, ihre Produk-
tivität voll und ganz ohne den Leerlauf über-
flüssiger sozialer Organisation und ohne die Be-
lastung mit zehrender Arbeitslosigkeit anzuset-
zen vermochte? - Die Wirtschaftsblüte dieser
Jahrhunderte, die das ganze Gestrüpp moderner
Probleme noch nicht kannte, war so selbstver-
ständlich wie ein Naturvorgang.
Wiederum können wir auch auf zeitgeschicht-
liche Zeugnisse für diese mittelalterliche Wirt-
schaftsblüte zurückgreifen. Am treffendsten und
schönsten hat vielleicht der schon an anderer
Stelle zitierte gelehrte Kardinal Silvio de Picco-
lomini anno 1457 sein Lob der Stadt Nürnberg
in die Worte gefaßt: "Wenn man aus Nieder-
franken kommt und diese herrliche Stadt aus der
Ferne erblickt, zeigt sie sich in wahrhaft maje-
stätischem Glanze, der sich beim Eintritt in ihre
Tore durch die Schönheit ihrer Straßen und die
Sauberkeit ihrer Häuser bewahrheitet. Die Kir-
chen zu St. Sebald und St. Lorenz sind ehrwür-
dig und prachtvoll, die kaiserliche Burg blickt
fest und stolz herab und die Bürgerhäuser er-
scheinen wie für Fürsten erbaut."
Gewiß gehört Nürnberg zu den hervorragend-
sten Städten, es hatte als eine der ersten deutschen
Städte schon gepflasterte Straßen. Sein Rathaus
war anno 1332 in gotischem Stil begonnen; von
seinen Brunnen zeigt der berühmte "Schöne
Brunnen" mit seiner im gotischen Stil aufsteigen-
den vergoldeten Steinpyramide, von einem
hohen geschmiedeten Gitter umgeben, in welches
ein sagenumwobener Ring eingearbeitet war,
den reichen Kunstsinn der Stadt. Die Bürger-
und Patrizierhäuser waren meistens in der Höhe
des Erdgeschosses in Stein gebaut, worüber dann
noch zwei oder drei reizvoll gestaltete Fach-
werkgeschosse mit schönen Erkern - den Nürn-
berger "Chörlein" - lagen.
Es versteht sich von selbst, daß die Rathäuser
in allen diesen Gemeinwesen der mittelalter-
lichen Stadt am eindringlichsten von der Kraft
und dem Aufstieg des Bürgertums zeugten, wie-
derum im ganzen Bereich des in Rede stehenden
Kulturzustandes. In bevorzugter Lage, häufig
am Marktplatz gegenüber dem Dom, erhebt sich
der repräsentative, würdige Bau, der dem Ge-
meinwesen dient. Da laufen alle Fäden von Ver-
waltung, Wehrbereitschaft, Rechtswesen und der
gesamten öffentlichen Ordnung zusammen. Ge-
räumige und kunstvoll ausgestattete Säle geben
den würdigen Raum für wichtige Rechtshand-
lungen wie auch für den Empfang vornehmer
Gäste.
Da war in Frankfurt der Römer, das alte
Rathaus auf dem Römerberg mit seinem Kaiser-
saal, in welchem nach den Krönungen das Mahl
eingenommen wurde; da war der Hansa-Saal
des Kölner Rathauses, der um 1367 historischer
Schauplatz der ersten großen deutschen Tagung
der Hanse war; in Münster in Westfalen war
das gotische Rathaus drei Jahrhunderte nach
der Erbauung in weiter Runde noch immer die
einzig geeignete Stätte, an welcher der Abschluß
des westfälischen Friedens vollzogen werden
konnte. In Lübeck zeugen neben einem Kranz
gotischer Kirchen auch Rathaus, Holstentor und
das schon im 13. Jahrhundert vollendete Heilig-
Geist-Hospital - alles Werke norddeutscher
Backsteingotik - von der Leistungskraft des Ge-
meinwesens. Lübecks Bedeutung ging freilich
weit über die Grenzen der Stadt hinaus, und so
hatte Kaiser Karl IV. anno 1375, als er in der
Stadt weilte und die Mitglieder des Rates mit
dem nach damaligem Brauch nur dem Adel ein-
geräumten Titel "Herren" angeredet hatte - was
diese mit stolzer Bescheidenheit zurückwiesen -
mit fester Selbstverständlichkeit darauf beharrt,
denn Lübeck sei eine von den 5 Städten - Rom,
Venedig, Pisa, Florenz, Lübeck-, denen das
Recht erteilt sei, im Rat zu sitzen als Herren. -
Oft finden wir an den repräsentativen Bauten
dieser Zeit auch die Außenfront mit herrlichen
Fresken bemalt. Die Fresco-Malerei war eine
anspruchsvolle künstlerische Technik, die im
14. Jahrhundert in Italien aufkam und nicht
nur in Kirchenbauten, sondern auch an Rat-
häusern, Patrizierpalästen, Klöstern, Spitälern,
Kaufhallen und anderen öffentlichen Bauwer-
ken zur Anwendung kam; ein Ausdruck gedie-
genen Wohlstandes und hohen Kunstsinnes der
Stadtbürger.
Wundervoll, von Reichtum und Gemeinsinn
zeugend, ist auch das Rathaus von Lüneburg, das
mit seiner Gerichtslaube einen Saal von vollen-
deter Harmonie besitzt. Dieser Saal hat manches
feierliche Ereignis in der reichen Stadt und auch
manche ernste Entscheidung der städtischen Ge-
richtsbarkeit mit angesehen; und mehr als vier
Jahrhunderte lang wurden in diesem Saal die
Schätze und Prunkstürke des Rates, 36 Meister-
werke der Goldschmiedekunst, aufbewahrt, von
denen die letzten erst im Jahre 1886 an den
Preußischen Staat verkauft werden mußten. -
Wir können nun auch noch nach Braunschweig
schauen, oder nach Wesel, nach Bremen, wo der
steinerne Roland als Wächter des Marktes vor
dem gotischen Rathaus steht, oder nach den
Niederlanden und Belgien, in jenen Jahrhun-
derten noch zusammengehörend, wo wir in Lö-
wen, in Brügge, Gent, Ypern, in Brüssel und
vielen anderen Orten die gleichen Spuren blü-
henden Gemeinschaftslebens finden; in Nord-
frankreich allerdings sind öffentliche Bauten die-
ser Art, obwohl die Gotik dort ihren Anfang
nahm und im Kirchenbau Unvergleichliches ge-
schaffen hat, selten anzutreffen. Doch in Eng-
land, wo in London die Westminsterabtei, das
Rathaus, die Crosby-Hall, der Tempel und zahl-
reiche Zunfthäuser in dieser Zeit entstanden
sind, finden wir ähnliches wie in Deutschland
an vielen Orten; in Salisbury stammt das Capi-
telhaus aus dem 13. Jahrhundert, in Cambridge
Kings College aus dem 15. Jahrhundert und so
wäre noch vieles zu nennen.
In einer Welt, in der aus echter Begeisterung
und mit stolzer Freude so Hervorragendes für
den Gottesdienst und für das Wohl des Gemein-
wesens geleistet wurde, kann es nicht anders
sein, als daß die gleiche Luft auch durch die
Bürgerhäuser weht. Kultur fängt ja nicht irgend-
wo ganz oben an. Nach einem Wort von Peter
Rosegger ist das Haus "recht eigentlich die
Brunnstube aller Kultur". Und so sagt man mit
Recht, daß sich der Kulturzustand einer Zeit
oder eines Volkes deutlich darin zeigt, wie diese
Zeit und dieses Volk haust und wohnt.
Wir stehen vielleicht etwas in Gefahr, der
Träumerei verdächtigt zu werden, wenn wir an-
gesichts des bekannten Wohnkomforts der Neu-
zeit - mit dem wir es bis zur Aufenthaltsmöglich-
keit im Beton-Bunker gebracht haben - doch
manchmal der schlichten Behaglichkeit eines alten
Fachwerkhauses den Vorzug geben würden. Es ist
das aber nicht einfach nur eine Frage des Zeit-
geschmarks. Das Wohlbefinden des Menschen
hängt nämlich nicht vom Brote allein ab, es ist
überdies eine Sache, die nicht mit dem Intellekt,
sondern mit dem Gefühl gewertet wird. Und auf
die Dauer behält das Gefühl immer noch recht.
Das Bürgerhaus des Mittelalters ist in Mate-
rial und Gestaltung einem unkomplizierten na-
türlichen Bedürfnis gerecht geworden, einem Be-
dürfnis, das sich auch im modernen Menschen
noch meldet. Darin liegt der Grund dafür, daß
wir die alten Häuser im Fränkischen und in
Schwaben, am Rhein und im Elsaß, in Bayern
und in Norddeutschland auch heute noch mit
einer leisen Wehmut im Herzen betrachten, nicht
aus reinem Romantizismus, sondern eben aus
dem Gefühl heraus, daß Haus und Wohnung
damals würdige und wesensechte Bestandteile
im reichen Teppich des allgemeinen Kulturzu-
standes darstellten und ein volles und gesundes
Leben darin wirkte.