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Ein Kapitel aus:
Karl Walker: Das Geld in der Geschichte
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 1959

UNVERGÄNGLICHE KULTURSCHÖPFUNGEN

Nach einem guten und verläßlichen Grund-
satz beurteilt man den Wert einer Epoche an
ihren Kulturschöpfungen, vornehmlich an ihrer
Architektur. Daran läßt sich ein untrügliches
Urteil bilden; da gibt es keine Täuschung. Von
den innersten Dingen der geistigen Haltung
über den Leistungsgrad handwerklicher und
künstlerischer Fertigkeiten bis zum wirtschaft-
lichen und volkswirtschaftlichen Aufbringungs-
vermögen ist alles Wissenswerte aus den Bau-
denkmälern einer Zeit zu erkennen.

Nun gibt es zwar geschichtsphilosophische Be-
trachtungen, wonach bedeutende Kulturschöp-
fungen nur auf dem Fundament von Sklaverei
und Ausbeutung möglich seien, was man gerne
an den Kulturen des Altertums an Tempel- und
Pyramiden-Bauten beweist. Wir werden indes-
sen bald sehen, daß die Kultur des gotischen
Mittelalters diese Auffassung Lügen straft. Man
kann mit der Zusammenballung von Sklaven-
arbeit unbestritten Überdimensionales schaffen;
aber die Zeit der Gotik hat ihre Schöpfungen in
Freiheit, ohne Zwang, aus dem Reichtum über-
schäumender Leistungsfähigkeit und unerschöpf-
lichen Opferwillens der Menschen zustandege-
bracht. Und dieser Opferwille war keinesfalls
die Kehrseite von Darben und Hungern um
eines idealen gottgefälligen Werkes willen, son-
dern er kam - jahrhundertelang - aus der Quelle
echten Überflusses. -

So selbstverständlich es sein mag, daß die Ge-
staltungen der Kultur an geistige Vorbedingun-
gen geknüpft sind, so selbstverständlich ist es
auch, daß die wirtschaftlichen Vorbedingungen
das Fundament darstellen, ohne das die herr-
lichsten Ideen niemals Form gewinnen, sondern
nur kläglich im luftleeren Raum verkümmern
können. Dennoch werden die Ideen stets das
Wesentliche sein, denn der Stoff wird vom Geist
geformt.

Für die Kulturschöpfungen der in Rede ste-
henden Jahrhunderte ist wesentlich bestimmend,
daß sie im Boden des Christentums wurzelten.
Das ganze Mittelalter war ausgefüllt von der
Ausbreitung der christlichen Lehre und es ist
wohl kaum zuviel gesagt, wenn wir heute fest-
stellen, daß die Epoche der Gotik vielleicht die
höchste Entfaltung und schönste Blüte des Chri-
stentums darstellte, die jemals erreicht worden
ist, die aber im Bewußtsein der nachfolgenden
Zeit unterging, durch das, was ihr unmittelbar
folgte. Entartung, Verfall, Erstarrung und
Machtwille, Aufstand von Reformen bis zum
endlichen Ausbruch offener Religionskriege ha-
ben geschichtlich den stärkeren Eindruck hinter-
lassen. Nur wenn wir über diese Schuttberge
hinwegsehen und festzustellen vermögen, was
an Lauterkeit, Echtheit und gestaltender Kraft
dahinter lag und einstmals wirksam war, wer-
den wir begreifen, welche überragende Bedeu-
tung dem Christentum zukommt, - ganz unab-
hängig davon, wie sich Religion im allgemeinen
und Christentum im besonderen vor dem Forum
unseres hochmütigen wissenschaftlich-materiali-
stisch wägenden und messenden Verstandes recht-
fertigen lassen.

Die gewaltige geschichtsbildende Wirkung
ging einfach von der Tatsache aus, daß der
Glaube an eine Gotteskindschaft der Menschen
für die soziale Entwicklung von unabsehbarer
Tragweite war. Die Lehre des Christentums fiel
zuerst in die Herzen der Armen, der Entrechte-
ten, der Sklaven und Hörigen und gab ihnen
das Gefühl der bis dahin vorenthaltenen Men-
schenwürde. Hierauf basieren Menschenrechte
und persönliche Freiheit, Achtung des Nächsten,
Sitte und Ordnung, je mehr sich diese Grundan-
schauung in den Menschen festigte. Sobald aber
der Mensch sich in Freiheit bewegen, in Sitte und
Ordnung schaffen und gestalten kann, was in
seinen Fähigkeiten liegt, wird ein unabsehbares
Feld von Möglichkeiten erschlossen. So hat, von
dieser Seite her gesehen, der Siegeslauf des Chri-
stentums seine geschichtliche Bedeutung für die
Entwicklung der Welt bekommen. In der Denk-
weise und Ausdrucksweise der Politik bedeutete
das Christentum die größte und erfolgreichste
Revolution! - Man denke doch nur: die Lehre,
die den Armen und Entrechteten gepredigt wor-
den war und die diesen Menschen ewige unver-
äußerliche Rechte zubilligte, hat auch die mäch-
tigen und natürlichen Feinde solcher Ideen und
Vorstellungen, die Reichen und Mächtigen in die
Knie gezwungen und sich von Jahrhundert zu
Jahrhundert mehr durchgesetzt. Darin liegt der
entscheidende und doch unblutige Sieg - als die
christliche Kirche schließlich Schwert und Feuer
zu Hilfe nahm, um sich weiter durchzusetzen
und die eigene Macht zu mehren, war dies ja
ihre Sünde wider den Geist Christi und der Be-
ginn ihres Zerfalls. -

Immerhin bleibt aber doch, daß die Lehre des
Christentums die größte soziale Bewegung der
abendländischen Welt auslöste. Es gibt keine
andere Revolutionsidee, die dasselbe vermocht
hätte. Die größte soziale Heilslehre der moder-
nen Welt, der Marxismus, hat schließlich inner-
halb eines einzigen halben Menschenalters aus
sich selbst heraus die neuen Unterdrücker ent-
stehen lassen, nachdem die früheren nicht be-
kehrt, sondern nur einfach liquidiert worden
waren.

Derartige Betrachtungen mögen hier vielleicht
nur am Rande von Bedeutung sein. Dennoch
sollten sie nicht ganz übersehen werden, weil die
großartige Kulturblüte der Gotik - wenn sie
auch stofflich-materiell aus dem realen Leistungs-
vermögen einer dreihundertjährigen Wirtschafts-
blüte hervorging - nur aus dem Christentum
heraus verstanden werden kann. Hier müssen
die Maßstäbe rationalistischen Denkens versa-
gen; und im übrigen haben schließlich alle Völ-
ker zu allen Zeiten ihre herrlichsten Bauten dem
Kult gewidmet.

Die Entwicklung der Gotik fällt also unzwei-
felhaft in die Periode der dreihundertjährigen
mittelalterlichen Hochkonjunktur, die wir uns
ohne Brakteaten-Zirkulation und ohne "Reno-
vatio monetarum" gar nicht vorstellen können.
In Übereinstimmung damit sind gotische Bauten
im gesamten Bereich dieser erstaunlichen Wirt-
schaftsblüte anzutreffen und in Übereinstim-
mung damit sind auch viele Bauwerke dieser
Epoche, die nicht bis zum Ende des 15. Jahr-
hunderts fertig geworden waren, nie mehr im
ursprünglichen Entwurf vollendet worden. Fer-
ner ist es in kunstgeschichtlicher Betrachtung auf-
fallend und bestätigt ebenfalls den genannten
Zusammenhang, daß es von keiner Stil-Epoche
eine so erstaunliche Fülle von Baudenkmälern
gibt wie von dieser Zeit der Gotik. Kein Zwei-
fel, diese drei Jahrhunderte des ausgehenden Mit-
telalters haben den größten Aufwand für kultu-
relle Leistungen erbracht, den die Menschheit je-
mals für solche Werke einsetzte; ein schöner Be-
weis dafür, daß wirtschaftliches Wohlergehen
nicht immer nur zum flachen Lebensgenuß und
geistiger Verarmung, sondern auch zu echten
Höhen führen kann. Die Gotik hatte aber auch,
was ihre Auftraggeber und Ideenträger betrifft,
in Bürgertum, Adel und Geistlichkeit die breite-
ste Basis, die wir uns denken können, während
die nachfolgenden Stilepochen der Renaissance,
des Barock und gar des Rokoko auf fortschrei-
tend dünner werdende Oberschichten der Macht
und des zusammengeballten Reichtums angewie-
sen waren.

Die ersten Beispiele gotischer Baukunst finden
wir in Nordfrankreich. Notre-Dame, Paris; die
Kathedralen von Reims, von Chartres, von Ami-
ens, von Rouen, Le Mans, Abbeville und ande-
ren Orten sind hier zu nennen. Von Frankreich
aus verbreitete sich der neue Baustil über ganz
Nord- und Mittel-Europa, auch über England,
wo Canterbury, Oxford, Gloucester und andere
Städte wundervolle Zeugnisse dieser Baukunst
aufweisen.

Ihre eigentliche Entfaltung und tiefste Wir-
kung - bis in den Profanbau hinein - hat die
Gotik aber doch in Deutschland gefunden. Dar-
um war auch die Bezeichnung "gotisch" ur-
sprünglich als Schimpf geprägt; mit dieser Kenn-
zeichnung wollten die Italiener als die Erben
älterer römisch-griechischer Kultur den neuen
Stil als das Werk der Goten, der Barbaren, ver-
ächtlich machen.

Noch Goethe glaubte auf Grund dieser zu
seiner Zeit noch weit verbreiteten Urteile im
Straßburger Münster ein "mißgeformtes kraus-
borstiges Ungeheuer" vorzufinden und war von
der Wirklichkeit des Bauwerkes aufs äußerste
überrascht; sein 1771 geschriebener Aufsatz "Von
deutscher Baukunst" gibt hiervon Kunde. (s.
Hans Jantzen: Kunst der Gotik, Rowohlt Ham-
burg, S. 157/58)

Der Sinn des Begriffes "Gotik" hat sich also
später gewandelt, doch blieb das eigentliche
Grundgefühl der Gotik, diese wahrhafte In-
brunst des Aufwärtsstrebens, dem Süden fremd.
Dem deutschen Empfinden dagegen war dieses
Grundgefühl etwas geistig Verwandtes, unbe-
schadet seiner Herkunft aus Frankreich. Im üb-
rigen waren um diese Zeiten die Unterschiede
im Naturell der Menschen diesseits und jenseits
des Rheins noch kein Faktor von Bedeutung,-
lag doch die Teilung des karolingischen Reiches,
durch welche "Westfranken" zu Frankreich wur-
de, erst 300 Jahre zurück. Und so war der neue
Stil dem Deutschen nichts Artfremdes, ja, er
wurde sehr rasch erfaßt und zu einem durchaus
eigenen Ausdruck seiner besten Seelenkräfte ent-
wickelt, das Empfinden ergreifend, revolutionie-
rend, Mauern brechend, innig und wahrhaft, da-
bei doch überschäumend und kühn, - "barba-
risch" - "gotisch".

Wie die Urchristen einstmals ihre Gottes-
dienste in den Gewölben der Katakomben ab-
hielten, so haben auch die Christen der späteren
Zeit, als sie ihre Religion frei ausüben durften,
jahrhundertelang ihre Gotteshäuser als erdver-
haftete Kultstätten über die Gemeinde gewölbt.
Gott mußte immer noch zur Erde niedersteigen,
wo ihm der Mensch im geschlossenen Raum sei-
ner Kirche Ehre darbrachte. Doch außerhalb der
Kirche stand der Mensch im Diesseits, in einer
Welt, die noch von anderen Kräften und Mäch-
ten bewegt wurde, so daß keinesfalls der helle
Tag seines ganzen Daseins dem Christentum ge-
hörte. Diesem Zustand der Zeit entsprach in der
Kunst des Kirchenbaues noch bis zum 12. Jahr-
hundert der romanische Stil. Und wenn wir uns
erinnern, daß der romanische achteckige Kup-
pelbau der Palastkapelle in der Kaiser-Residenz
Aachen zu den ersten Bauwerken Karls des Gro-
ßen gehörte, so haben wir gerade hier die be-
deutendste Gestalt unserer deutschen Geschichte
vor uns, die noch in beiden Welten lebte; ein-
mal in der Welt der christlichen Kirche, in der
mit Duldsamkeit und Nächstenliebe auch Har-
monie ins Diesseits getragen werden sollte; dann
aber wieder in der Welt des germanischen Für-
sten, der um politischer Ziele willen von grau-
samer Härte gegen Widersacher und Anders-
denkende sein konnte.

Mit dem vollen geistigen Sieg des Christen-
tums erst kam ein Neues. Jetzt hatte die Lehre
des Christentums die Menschen von innen her
ergriffen, ihre Sehnsucht zum Himmel und ihr
ganzes Leben in diesen rauschhaften Sog zur
Höhe hineingezogen. Gottesdienst, Kirchenbau,
Wallfahrten und Ordensdienst fanden hinge-
bende Bereitschaft. Es ist oft gesagt worden, daß
dies alles nur aus Weltverachtung und Diesseits-
feindlichkeit - von den Priestern gepredigt - zu-
standegekommen sei. In Wirklichkeit ist aber
niemals Religiosität und Gläubigkeit in so selbst-
verständlich-natürlicher Weise mit kraftstrot-
zender Diesseitigkeit und heiterem Lebensgenuß
verbunden gewesen wie in dieser Zeit! - Soweit
das Christentum Besserung, Erhebung und
Freude im Diesseits gewähren und dulden konnte,
ist es in diesen Jahrhunderten wirklich gesche-
hen.

Die Menschen der Gotik wollten ihre Gottes-
häuser nahe bei sich haben. Nur schmale Gassen
sind es mitunter, die den Dom vom Gedränge
der Bürgerhäuser trennen; und wenn noch ein
Platz davor blieb, so war es der Marktplatz.
Der Bau selbst wird mit heiligem Eifer betrie-
ben. Generationen werden nicht müde, mitzu-
wirken, beizusteuern, Arbeit und Geld zu op-
fern. Die Städte überbieten sich in der Groß-
artigkeit ihres Aufwandes; die Kathedrale ist
der sichtbare Ausdruck für die Größe und den
Ruhm der Stadt. Reiche Bürger, Patrizier, Kauf-
herren, Gilden und Zünfte leisten Karrendienste
und machen Stiftungen. Kostenfragen sind von
völlig untergeordneter Bedeutung, ist doch der
ganze Bau nichts anderes als Gottesdienst. Dem
modernen, rationalistisch-kaufmännischen Den-
ken mögen die Hunderte von Türmchen, die die
Wimperge zieren und die Strebepfeiler und die
kleinen steinernen Blattbüschel die "Krabben",
die überall herausblühen, oder gar die Figuren
von Mensch und Tier, die an Fassaden, auf Dä-
chern und Gesimsen zu sehen sind, als tollste
Verschwendung erscheinen. Denn in der Tat
wurden, wie Max Deri in seinem Werk "Die
Stilarten" schreibt, "Tausende der Schmuckfor-
men der gotischen Dome niemals von einem an-
deren Auge als dem des Bildners erblickt - und
wurden dennoch gebildet." -

Zu verstehen ist das nur aus der Innigkeit
und Intensität des religiösen Gefühls, das, wie
der Verfasser sagt, - "so sehr allein dem Him-
mel zugewendet war, daß man für ihn und nur
für ihn die Form erstellte" (s.a.a.O. S.103/104).

In dieser Gläubigkeit wurde auch jede Arbeit
handwerksgerecht ehrlich und gewissenhaft aus-
geführt. Können wir den Abstand von der Den-
kungsart jener Zeit bis zur heutigen nüchternen,
entseelten Arbeitsweise noch ermessen, wenn wir
mit Verwunderung wahrnehmen, wie der Krab-
benschmuck der Wimperge in der Richtung von
Osten nach Westen das Erblühen einer Rose von
der Knospe bis zur vollentfalteten Blüte dar-
stellt? - so zu sehen an der Katharinenkirche zu
Oppenheim.

Doch das Wesentliche der Gotik bestand ja
nicht eigentlich in diesem verschwenderischen
Reichtum von Skulpturen und Filigranwerk; das
Wesentliche bestand vielmehr in den konstruk-
tiven Lösungen des neuen Bauprinzips.

Der Baukörper bestand nicht mehr aus wuch-
tenden Mauermassen, die mit ihrer Kraft das
Gefüge tragen. Die Gotik hat vielmehr den Bau
zerlegt, einerseits in seine statisch tätigen, tra-
genden und andererseits raumbildenden oder
abschließenden Elemente. So wurde der Bau wie
ein organisch gewachsenes Gebilde, das wie ein
Blatt zwischen der feingliedrigen Konstruktion
seiner festen Rippen Haut und Fleisch trägt.
Riesige Flächen brauchten nicht mehr tragende
Mauern zu sein, sondern bedurften nur noch
eines optischen Abschlusses zur Bildung und
Schließung des Raumes. Hier setzten die Bau-
meister der Gotik das Filigranwerk ihrer herr-
lichen Fenster ein und das farbige Mosaik der
Verglasung bildete einen durchsichtig leuchten-
den gläsernen Teppich, der die profane Außen-
welt, die Atmosphäre der nahen Gassen und des
geschäftigen Marktes nicht in das Heiligtum ein-
dringen ließ.

Mit welcher Anteilnahme am Werk die Bür-
gerschaft der mittelalterlichen Stadt bei der
Sache war, geht besonders daraus hervor, daß
die Fenster der Dombauten von reichen Bürgern,
Patriziern, Gilden und Zünften als Ganzes ge-
stiftet wurden, nicht etwa nur hier und dort ein-
mal, sondern geradezu als Regel im ganzen wei-
ten Raum der Christenheit. Da sehen wir im
Freiburger Münster das Fenster der Schneider-
zunft und weit oben im erst besiedelten Osten
stiftet die sicher nicht zu den reichsten gehörende
Gilde der Sack-, Kohlen- und Kornträger zu
Danzig um das Jahr 1450 zum Bau der Marien-
kirche 200 Mark bar (= 48 000 Silber-Denare)
und außerdem ein gemaltes Kirchenfenster (s.
Adolf Damaschke: "Geschichte der National-
ökonomie" S. 51).

Und in Straßburg, wo die Bürger in blutigem
Streit um die Stadtfreiheit sich an den Kaiser
und das Reich gehalten und den Bischof besiegt
hatten, widmeten sie die Reihe der Fenster am
Münsterbau ungewöhnlicherweise nicht der Dar-
stellung von Heiligen der Kirche, sondern den
Bildnissen der 28 deutschen Könige, die man bis
zum Jahre 1275 zählte (s. George Dehio: "Das
Straßburger Münster" S.11).

Neben den Fenstern gehört auch die "Rose"
zu den eindrucksvollsten Gestaltungen am Kir-
chenbau der Gotik. Wie ein steinernes Spitzen-
gewebe von riesigen Maßen in die Fläche der
durchbrochenen Mauern gespannt und verglast,
gewährt sie noch dem scheidenden Licht der sin-
kenden Sonne den Einfall in den Dom.

Wenn sich Kultur in der Vergeistigung des
Stoffes zeigt, in der Kunst, allezeit vorhandene
Materie zu beseelen, Gestaltungen zu bilden, die
etwas Tieferes im Menschen anrühren und etwas
in ihm zum Klingen bringen, das ihn über den
Alltag hinaushebt, ihn wieder aufrichtet und
ihm das Gefühl gibt, als Mensch doch mehr zu
sein als ein sprachbegabtes Tier, dann ist es echte
Kultur. Daran war das hohe Mittelalter reicher
als wir - auch wenn mitunter noch Borstentiere
über die Straße der mittelalterlichen Stadt lie-
fen und Asphaltstraßen, Neonlicht, Staubsauger
und Radio unbekannte Begriffe waren.

Bevor wir aber nun noch einige Einzelheiten
zur Illustration der überquellenden Opferwil-
ligkeit und zugleich zum Beweis eines nie wie-
der erreichten wirtschaftlichen Leistungsvermö-
gens betrachten, sei noch ein kleiner Hinweis
auf die offensichtlich verlorengegangene Fähig-
keit, Materielles und Seelisches, Irdisches und
Göttliches zusammenzubringen, eingefügt.

Niemand, der einen Dom betritt, kann sich
des Gefühls erwehren, das ihn in diesem Bau
in seine Gewalt zieht, sein Herz emporreißt,
die Brust weitet und etwas Unbekanntes in ihm
anrührt. Es ist die Harmonie des Raumes, die
ihre Gewalt ausstrahlt. Harmonie ist aber, wo
immer sie in Erscheinung tritt, in Ton und Maß
und Zahl und Farbe der große Einklang mit
dem Kosmos, mit Gottes Schöpfung - oder wel-
che Namen der Mensch dafür noch finden mag.
Des Menschen Herz ist dafür empfänglich und
selbst wenn sein Verstand nicht weiß, woher es
kommt, wird sein Empfinden doch von einer
unbekannten Kraft angerührt und erfaßt; er
spürt die Harmonie mit innerer, beglückender
Bewegung, oder mit anderen Worten: er spürt
die Nähe Gottes - sei es im Dom, in der Stille
des Hochwaldes oder beim Anhören von Musik.

So aber zu bauen, daß des Menschen Herz mit
naturgesetzlicher Gewißheit von der strahlen-
den Kraft dieser göttlichen Harmonie erfaßt
wird, das war das Geheimnis der mittelalter-
lichen Bauhütten und das war auch die große
Kunst aller wahren Baumeister der Geschichte. -

Das Wissen um diese Geheimnisse ist in der
Entwicklung des rationalistischen Denkens all-
mählich verschüttet worden - die Gültigkeit von
Maßverhältnissen am Empfinden zu prüfen,
scheint mit der Ratio schlechterdings unverein-
bar zu sein -. So hat man denn in der modernen
Zeit häufig nur noch nachgeahmt, was die alten
Meister schufen; und wo einer stolz aus eigenem
Geist experimentierend etwas Neues schaffen
wollte, konnte es dann zu Raumgestaltungen
kommen, in denen man sich unwillkürlich um-
sieht, wo denn die Gleisanlagen sein mögen, auf
denen der Expreß einfahren wird, - denn das
Ganze wirkt so seelenlos wie eine Bahnhofs-
halle.

Charakteristisch für die Zeit des gotischen
Mittelalters ist wohl dies - und damit kommen
wir zu einem schon berührten Punkt zurück -,
daß das alltägliche Leben tiefer mit Religiosität
verwoben oder das Christentum tiefer in die
Bürgerlichkeit eingedrungen war. Die große
Zahl kirchlicher Feiertage mag ebenfalls dazu
beigetragen haben, das ganze Leben in eine At-
mosphäre von heiterem Lebensgenuß und reli-
giöser Innigkeit zu tauchen. So schreibt auch
Sacheverell Sitwell in seiner "Studie des mittel-
alterlichen Lebens": "Niemals in der Geschichte
war vor- oder nachher. . . etwas Derartiges wie
jenes Zeitalter. Es zeigte einen echten und leben-
digen Wetteifer in einem noch nie dagewesenen
Maße. Das Leben war zur Poesie geworden; es
hatte sich in ein wirkliches Paradies verwandelt,
worin es sich lohnte, sowohl seine Gefahren zu
wagen als auch sich seiner Vergnügen zu erfreu-
en" (s. Dr. H. R. Fack: "Das Geld der Gotik").

Ebenso schreibt Professor Rene Thevenin, ein
französischer Forscher, von dieser Zeit, sie sei
"eine der größten Perioden der Kunst und des
Glaubens in der Geschichte der Menschheit, be-
gleitet vom Bau wunderbarer Kathedralen, die
mit den größten Meisterwerken aller Zeiten und
Länder rivalisieren." Und auch dieser Autor
sagt: "Diese herrliche Entwicklung führte die
Menschen zu Höhen, wie sie nicht oft in der Ge-
schichte erreicht wurden!" (s. Dr. H. R. Fack:
"Das Geld der Gotik").

Schließlich aber wären das alles vor dem arm-
seligen Denken unserer kleinmütigen Zeit nur
Worte - wenn nicht die heute noch in den Him-
mel ragenden steinernen Zeugen einstiger Lei-
stungskraft und Kulturhöhe die im hellen Tages-
licht stehenden Beweise darstellen würden.

Jede dieser Kathedralen ist in ihrer Art etwas
Einmaliges. Da ist der gewaltige Münsterbau
von Ulm, nach dem Kölner Dom die größte go-
tische Kirche Deutschlands, die mit ihrem Turm
von 161 Meter Höhe das höchste Steinbauwerk
des christlichen Abendlandes wurde; da ist das
Filigranwerk des Turmhelmes vom Freiburger
Münster, dessen Konturen von der Ferne gese-
hen wie ein feines Spitzenmuster im Dunst des
seidigen Himmels verschwimmen; da ist - ganz
andersartig wieder - der Straßburger Münster-
turm, der von einem siebenfachen Kranz kleiner
Türmchen um den Kern der Spitze herum gebil-
det wird, jedes mit einer Wendeltreppe im Inne-
ren, so angeordnet, daß der Besucher in der herr-
lichen Höhe über dem Giebelmeer der Stadt von
einem zum anderen Türmchen übertreten und in
einer Spirale zur Spitze emporsteigen kann; das
Meisterwerk der Straßburger Bauhütte, durch
das sie 1459 zum Oberhaupt der deutschen Bau-
hütten erkoren wurde.

In Frankfurt ragt der Dom wie eine mächtige
steinerne Eruption in den Himmel, nach oben
immer stärker aufgelöst und schließlich über
einer achteckigen Kuppel eine spitze Laterne
tragend. Seit der Wahl Barbarossas (1152) war
es Gewohnheitsrecht, daß die deutschen Königs-
wahlen in diesem Dom stattfanden.

Da ist der Stephansdom in Wien mit seiner
unwahrscheinlich schlanken Turmspitze, wie aus
einer gewaltigen Strahlkraft in die Höhe getrie-
ben; der wuchtige Dom von Regensburg, zu sei-
ner Zeit die größte Kirche Deutschlands; der
Dom von Naumburg a. d. Saale, von Magde-
burg, von Meißen; da sind die Münsterbauten
von Bern, Zürich, Basel, Konstanz, Überlingen
und ganz oben in Westfalen, in Norddeutsch-
land, die Werke der Backsteingotik, Soest, Mün-
ster, Lübeck, Stralsund, Wismar, Rostock, Stet-
tin, Greifswald, Danzig, Königsberg.

Da sind in Belgien und in den Niederlanden
die Kathedralen von Antwerpen, von Lüttich,
Brüssel, Löwen, Ypern, Leyden und anderen
Orten. Wir müßten einen Katalog anhängen,
wenn wir alle auch nur aufzählen wollten.

Wie beiläufig schon erwähnt, blieb manches
großartig kühne Werk unvollendet. In Straß-
burg hatte man sich zum Ausgang des 14. Jahr-
hunderts zwar bereits darauf konzentriert, nur
einen Turm zu bauen, wer aber will sagen, ob
nicht der Entschluß zum zweiten Turm bereits
von finanziellen Erwägungen zurückgedrängt
wurde? - Wie das Straßburger Münster grüßt
auch die Kathedrale von Antwerpen nur mit
einem Turm ins Land.

Köln hat seinen Dom einstmals als das größte
Bauobjekt der Gotik geplant und begonnen. Der
Wetteifer war so groß, daß fast jeder Bau bei
seinem Beginn als der größte, höchste und
schönste Dom geplant war. Aber auch Köln
wurde nicht vollendet und konnte, ebenso wie
Ulm, erst im 19. Jahrhundert nach den alten
Plänen fertiggestellt werden. Auch der Wiener
Stephansdom wurde erst später vollendet.

Welche Kraft und Leistungsfähigkeit müssen
sich die Menschen der Gotik zugetraut haben,
um sich an solche Projekte zu wagen! - Wie müs-
sen wir uns die Kathedrale von Reims vorstel-
len, wenn sie vollendet wäre? - Aber die Zeit
war abgelaufen, die Kraft versiegte, als die Wirt-
schaftsblüte aus damals unbegreiflichen Gründen
ihr Ende fand. Die Menschen wurden von Not
und Sorgen gepackt, die einen wurden kleinlich
und geizig, die anderen arm und hilflos. Da flos-
sen keine Stiftungen mehr für die Gotteshäuser,
das Wachstum hörte auf, wie vom Frost getötet.

An vielen gotischen Kathedralen blieben die
Türme unvollendet. Manche erhielten nur ein
Notdach, wurden später in anderer Weise wei-
tergebaut oder jedenfalls abgeschlossen. So er-
hielten auch die beiden Türme der spätgotischen
Frauenkirche in München die "welschen Hau-
ben" der kupfergedeckten Kuppeln, die nun zu
einem fernhin erkennbaren Wahrzeichen Mün-
chens geworden sind, erst im Anfang des 16. Jahr-
hunderts. Da war die Wirtschaftsblüte der Go-
tik vorbei. Öde und leer waren die Werkplätze
der Steinmetze, der Bildhauer und Maurer, der
Glaser und Holzschnitzer und vieler anderer
Handwerker und Künstler; nicht nur die Bau-
kunst, auch die Plastik, Malerei, die Goldschmie-
dekunst und viele andere Gewerbezweige waren
mit dem Versiegen der Geldzirkulation - mit
dessen neuerlicher Ursache wir uns noch befas-
sen müssen - in den Dornröschenschlaf der Krise
versunken.


Dieser Text wurde ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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