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Ein Kapitel aus:
Karl Walker: Das Geld in der Geschichte
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 1959

MITTELALTERLICHE WIRTSCHAFTSBLÜTE

Obwohl die Wirtschaft des hohen Mittelalters
neben Viehzucht und Ackerbau nur die hand-
werkliche Erzeugung von Gütern kannte, kann
man mit Fug und Recht von einer über Jahr-
hunderte anhaltenden Wirtschaftsblüte sprechen,
neben der sich die Konjunkturen der Neuzeit -
was ihre Dauer und Verläßlichkeit anbelangt -
doch ziemlich kläglich ausnehmen.

In diese Zeit fiel die Entstehung der deutschen
Stadt, des deutschen Bürgertums, der Hand-
werkszünfte und Kaufmannsgenossenschaften.
Hatten die Klöster handwerkliche Künste und
Fertigkeiten gelehrt, so kam es nun darauf an,
sie nutzbar zu machen; hatte der Kaiser, der
Bischof, der Landesherr Geld ausgegeben, dem
Handel und Wandel zu dienen, so mußte man
sich regen, zum Markte ziehen, um zu sehen,
was man erwerben konnte.

Städte entstanden um die Sitze von geistlichen
und weltlichen Grundherren, wie Burgen im
ebenen Land, mit schützenden Mauern umzogen.
Und der Landesherr gab dem Flecken das Markt-
recht. Der Mann, der im Schutze der Stadtmauer
lebte, fühlte sich wie ein Bewohner der Burg als
"Bürger". Der Markt zog Fremde heran und
Bewohner des Landes, die ihre Produkte zum
Verkauf brachten und städtische Gewerbeer-
zeugnisse einhandelten. So hatte der Bürger, der
ein Handwerk ausübte, bald seinen laufenden
Absatz und konnte sich sagen: "Handwerk hat
einen goldenen Boden." - Kein Wunder, daß der
Zustrom vom Lande zur Stadt ständig zunahm
und dort Haus an Haus sich drängte, bis die
Mauer gesprengt und die Stadt erweitert wer-
den mußte.

Die Stadt bot neben wirtschaftlichen Vortei-
len auch noch die persönliche Freiheit, während
der Bewohner des Landes als Unfreier seinem
Grundherrn außer zu Zehnt-Abgaben auch noch
zu Dienstleistungen verpflichtet war. Ein Jahr
in der Stadt zu leben, machte ihn nach dem
Recht der Stadt zu einem freien Bürger, gleich-
gültig, woher er kam und was er vorher gewe-
sen war. Aber persönliche Freiheit der schaffen-
den Menschen gehört ja mit zur Entfaltung
wirtschaftlicher Blüte. Lebendige Tatkraft, Schaf-
fen und Wagen, Erfinden und Verbessern ist
immer nur möglich, wenn sich alle Kräfte regen
können, durch sinnvolle Auswirkungen geför-
dert und bestätigt. Darin liegt alles, was zur
Wirtschaftsblüte gehört, denn Arbeitswille, Er-
findungsgabe, Tüchtigkeit, Hunger und Liebe
sind allezeit da.

Dieser sinnvolle Ablauf für die gesamte pro-
duktive Tätigkeit aller Stände lag also in dieser
Epoche des Mittelalters in einer zunehmenden
Nachfrage nach allen Erzeugnissen des Gewerbe-
fleißes; und diese zunehmende Nachfrage wurde
verkörpert von klingenden Münzen, die nir-
gends zum Rasten kamen, in keinem heimlichen
Hort verschwanden, sondern heute beim Schuh-
macher, morgen beim Gewandschneider und
übermorgen beim Pfannenschmied Absatz schaff-
ten.

Hier, in der werdenden und wachsenden Stadt
offenbarte sich am klarsten und eindrucksvoll-
sten, daß Arbeitsteilung und Leistungsaustausch
einem jeden die Gewähr der Geborgenheit zu
geben vermögen. Lebenssicherheit vermittelt
Freude am Schaffen und emsiger Fleiß durch-
pulst das Leben der Gemeinschaft. Aus hand-
werklichen Fertigkeiten entwickeln sich Künste;
aus schlichten und einfachen Erzeugnissen und
Geräten des täglichen Gebrauchs wurden all-
mählich gediegene Produkte und Handelswaren,
die ihren Weg ins Land hinaus und nach ande-
ren Städten fanden. -

Die wichtigsten Tage des Güterumsatzes wa-
ren die Tage des Marktes. Oft wurde der Markt
auch im Anschluß an kirchliche Feiern abgehal-
ten, da zu diesem Anlaß ohnehin viel Volk in
die Stadt strömte. Zur Messe zu gehen, war
gleichbedeutend mit einer Fahrt zum Markte;
so wurden bedeutende Märkte im Laufe der Zeit
zu "Messen", auf denen neben heimischen Er-
zeugnissen auch seltene Waren aus fernen Län-
dern und Städten feilgeboten wurden. -

Machtvoll regte sich das Leben in Augsburg,
Nürnberg, Wien, Regensburg, in den Städten an
den natürlichen Handelsstraßen der Flußläufe
und Gebirgstäler; Frankfurt - in der bevorzug-
ten Rhein-Main-Lage - bekam den Ruf eines
"Oberhauptes aller Messen der Welt", denn so-
viel Sterne der Himmel zähle, so vielerlei Han-
delszweige und Warenarten biete der Frankfur-
ter Markt. Aber mögen auch einzelne Städte
einen besonders glänzenden Aufstieg genommen
haben, so waren dies doch keine Ausnahmen,
sondern nur Höhepunkte einer allgemeinen Ent-
wicklung. Diese Zeit des hohen Mittelalters hat
allgemein mit der Entwicklung der Stadt ein
geschichtlich bedeutungsvolles Gebilde des sozia-
len Lebens hervorgebracht. Die mittelalterliche
Stadt ist die ureigene Schöpfung des Bürgers.
Sie ist anders als die Städte der Griechen und
Römer. Dort Tempel und Paläste als Schöpfun-
gen der Mächtigen und Reichen neben oftmals
dürftigen Unterkünften, Hütten und Höhlen
für das niedere Volk. Hier aber - wohl auch um
den Herrensitz, um die Pfalz des Kaisers oder
die Residenz des Bischofs herum - Bürgerhäuser,
ursprünglich schlicht und einfach, doch mit wach-
sendem Wohlstand geräumiger, wohnlicher und
schöner werdend. So mag der Ruhm Griechen-
lands und Roms von seinen Tempeln und Pa-
lästen ausstrahlend in die Welt getragen worden
sein; Ansehen, Reiz und Geltung der mittelalter-
lichen deutschen Städte hatten ein anderes Fun-
dament. Was den Besucher dieser Städte mit Be-
wunderung und Entzücken erfüllte, war die in
absichtslosem Wachsen und Werden der dichtge-
drängten Ansiedlung zustandegekommene na-
türliche Harmonie. Und diese wiederum war ja
nur das sichtbare Ergebnis eines sozialen Zustan-
des, einer inneren Ordnung der Stadtgemein-
schaft, wie sie sich im Zusammenleben freier
Menschen, in ihren städtischen Gliederungen
und ihrer auf gegenseitige Rücksichtnahme aus-
gerichteten Selbstverwaltung entwickelte. Auch
das letztgenannte ist nicht unwesentlich - irgend-
wo bei Oskar Spengler findet sich der Hinweis
darauf, daß kein mittelalterliches Stadtbild die
beleidigende Front einer kahlen Brandmauer
zeigt, die unsere modernen Städte überall auf-
weisen. - Noch war die Gemeinschaft echt und
lebendig, noch waren die sozialen Unterschiede
nicht gemeinschaftszerstörend, denn sie waren -
zumindest unter der Einwohnerschaft der Stadt-
bürger - doch wesentlich durch echte Leistungs-
unterschiede bedingt und darum naturgemäß
von größerer Ausgeglichenheit und weniger einer
zersetzenden sozialen Unzufriedenheit ausge-
setzt.

Dabei war die Brakteaten-Prägung, wie schon
im vorhergehenden Kapitel ausgeführt, im We-
sten wenig verbreitet. Daß Kaiser Heinrich VI.
in Frankfurt Brakteaten schlagen konnte, war
schon fast eine Ausnahme. In Köln hat Erzbi-
schof Philipp dem Kaiser anno 1190 das feier-
liche Versprechen abgenommen, die Münz-
rechte des Kirchenfürsten zu respektieren und
innerhalb der Kölner Diözese nur in Dortmund
und Duisburg prägen zu lassen. In Köln waren
die bischöflichen Pfennige zweiseitig geprägt,
im Silbergehalt und Gewicht gleich den alten
karolingischen Pfennigen. Daß dessen ungeach-
tet die allgemeine Wirtschaftsblüte des Mittel-
alters, die wir uns hier aus der Brakteaten-Geld-
wirtschaft zu erklären versuchen, sich auch am
Rhein, in Flandern und Burgund entfalten
konnte, dürfte seinen Grund, wie ebenfalls
schon gesagt, in der Hauptsache darin haben,
daß die einfache Münzerneuerung beim Herr-
schaftswechsel im Westen ausreichend darauf
hinwirkte, das Geld in der werteschaffenden
Zirkulation zu halten. - Und wo sollte nun
diese durch beständige Arbeit zustandegekom-
mene Wertschöpfung in Erscheinung treten,
wenn nicht an den bevorzugten Plätzen, an de-
nen sich das Gewerbe gegenseitig förderte und
an denen die reisenden Kaufleute sich trafen? -
Das waren die mittelalterlichen Städte.

Als das Ideal einer schönen Stadt wurde sehr
früh schon Nürnberg angesehen. Italienische
Schriftsteller der damaligen Zeit glaubten, nie
eine schönere Stadt als Köln gesehen zu haben;
ebenso wurden Mainz, Worms, Speyer, Trier,
Straßburg, Basel, Aachen und andere Städte ge-
rühmt. Montaigne gab noch im 16. Jahrhundert
Augsburg den Vorzug vor Paris.

Wie großartig die Wirtschaftsblüte dieser Jahr-
hunderte gewesen sein muß, kann man vielleicht
am besten daran ermessen, daß die Gründung
von Städten erst mit dem 12. Jahrhundert - mit
dem Beginn der Brakteatengeldwirtschaft, d. h.
mit dem Beginn der dadurch verursachten Kon-
junkturperiode - richtig eingesetzt hat. Und der
riesenhafte Aufwand, den diese Leistung beding-
te, kam fast spielend aus vorhandener Schaffens-
kraft und Regsamkeit. Nichts davon, daß unter
Opfern und Verzicht des breiten Landes einige
wenige Plätze glanzvolle Städte erstehen sehen
durften; die neuen Städte entstanden überall im
deutschen Lande, 2000 bis 3000 an der Zahl!

Von dieser großen Zahl der Städte waren
freilich 90 Prozent Kleinstädte mit weniger als
1000 Einwohnern; dennoch waren es Städte,
denn das Wesen der Sache liegt nicht in der Zahl
und der Masse, sondern im Geist, der das Ge-
bilde prägt. Wir können noch heute Orte an-
treffen, die ehemals freie Reichsstädte waren,
dann aber, abseits der Heerstraßen moderner
Entwicklung im Dornröschen-Schluf versunken,
bei 2000 bis 3000 Seelen stehen blieben; und wir
werden doch bei jedem Schritt, den wir tun, füh-
len, daß wir auf dem Boden einer Stadt stehen -
während vielleicht eine Industrie-Ansiedlung
von zehnfacher Kopfzahl dieses Gefühl nicht
gibt.

Große Städte mit mehr als 1000 Einwohnern
gab es nur etwa fünfzehn an der Zahl. Köln
hatte etwa 30 000 Einwohner, Lübeck zählte im
14. Jahrhundert 25 000 Einwohner, Augsburg
und Nürnberg hatten nach Adolf Damaschke
im 15. Jahrhundert noch nicht mehr als 18 000
bis 20 000 Einwohner, Frankfurt a. Main 9000,
Mainz 6000; diese Einwohnerzahlen müssen wir
auch im Auge behalten, wenn wir die erstaun-
lichen Bauleistungen der Gotik betrachten, für
deren Finanzierung wir uns eigentlich eine brei-
tere Basis vorgestellt hatten. -

Um aber hier noch eine Schilderung zeitge-
nössischer Berichterstatter anzuführen, sei beson-
ders darauf verwiesen, was Kardinal Silvio de
Piccolomini, der spätere Papst Pius II. vom
wirtschaftlichen Wahlstand, vom Leben und
Treiben Wiens erzählte und was Bonifini, der
die Stadt um 1490 besucht hatte, enthusiastisch
bestätigt:

"Wie ein Palast liegt die eigentliche Stadt in-
mitten ihrer Vorstädte, deren mehrere an Schön-
heit und Größe mit ihr wetteifern. Jede Woh-
nung hat ihr Sehenswertes, ihr Denkwürdiges.
Fast jedes Haus hat seinen Hinterhof und seinen
Vorhof, weite Säle, aber auch gute Winterstu-
ben. Die Gastzimmer sind gar schön getäfelt,
herrlich eingerichtet und haben Öfen. In alle
Fenster sind Gläser eingelassen, viele sehr schön
bemalt, durch Eisenstäbe gegen Diebe geschützt.
Unter der Erde sind weite Weinkeller und Ge-
wölbe. Diese sind den Apotheken, Warennieder-
lagen, Kramläden und Mietwohnungen für
Fremde und Einheimische gewidmet. In den
Sälen und Sommerstuben hält man so viele
Vögel, daß der, der durch die Straße geht, wohl
wähnen möchte, er sei inmitten eines grünen,
luftigen Waldes. Auf den Gassen und Markt-
plätzen wogt das lebendigste Treiben. Vor dem
letzten Krieg wurden ohne Kinder und erwach-
sene Jugend 50 000 Seelen und 7000 Studenten
gezählt. Ungeheuer ist der Zusammenfluß der
Kaufleute, und so wird hier massenhaft viel Geld
verdient. . . Wiens ganzes Gebiet ist nur ein
großer herrlicher Garten mit schönen Rebhügeln
und Obstgärten bekrönt, mit den lieblichsten
Landhäusern geschmückt." (s. Joh. Scherr "Deut-
sche Kultur- und Sittengeschichte" S. 231).

Vergessen wir nicht, solche Schilderungen be-
treffen - nochmals gesagt - nicht die Ausnahmen,
sondern nur die Höhepunkte eines allgemeinen
Zustandes. Und wenn es auch eine enthusiastisch-
liebenswürdige Übertreibung gewesen sein mag,
als Silvio Piccolomini ausrief: "Wo ist ein deut-
sches Gasthaus, wo man nicht von Silber äße?
- Wo ist eine nichtadlige, sondern bürgerliche
Frau, die nicht von Gold schimmert?" - so gibt
es doch der Zeugnisse eines erstaunlichen Wohl-
standes noch viele.

Wir brauchen uns nur zwischen den Giebeln
unserer Altstädte umzusehen, wo diese Zeugen
der Vergangenheit noch stehen, oder mit offenen
Augen durch Orte wie Nördlingen, Rothenburg
ob der Tauber, Hildesheim, Marburg, Milten-
berg und Dinkelsbühl zu wandern, um zu be-
greifen, was der Chronist von Dinkelsbühl zum
Schluß seiner Aufzeichnungen mit ehrlichem
Stolz erklären konnte: "Ich glaube, den Beweis
erbracht zu haben, daß in diesem Gemeinwesen
sowie in den 60 anderen deutschen Reichsstädten
. . . einmal wenigstens ein Optimum der Mensch-
heit erreicht worden ist." -


Dieser Text wurde ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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