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Ein Kapitel aus:
Karl Walker: Das Geld in der Geschichte
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 1959

LEBENSFREUDE UND SITTLICHKEIT

Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht
noch danach fragen wollten, wie der Mensch
eines Zeitalters, in welchem doch das Christen-
tum seine höchste Blüte erreicht hat, sein Ver-
hältnis zum Leib und zur Leibespflege und sein
Verhältnis dem anderen Geschlecht gegenüber
regelte. Auch dieser Rückblick in das vermeint-
lich "finstere Mittelalter" ist außerordentlich
aufschlußreich.

In seiner "Sozialgeschichte der mittelalter-
lichen Kunst" stellt Arnold Hauser fest, daß es
kaum noch eine Epoche der abendländischen Ge-
schichte geben dürfte, in deren Literatur so viel
von körperlicher Schönheit und Nacktheit, von
An- und Ausziehen, von Baden und Waschen
der Helden durch junge Mädchen und Frauen
die Rede wäre, wie in der ritterlichen Dichtung
des sittenstrengen Mittelalters. Aber nicht nur in
der höfischen Dichtung, in den Liedern der Min-
nesänger, wird dem Leib und den Sinnen in un-
mißverständlichem Widerspruch zu jeglichem
asketisch-klösterlichen Denken ein erstaunlich
hoher Tribut gezollt; auch in der Wirklichkeit
des Lebens herrscht eine weitaus unbefangenere
Einstellung des Menschen zum Leib und seinen
Sinnen und Bedürfnissen vor als in späteren
Zeiten, die mit Kriegen und Krisen, mit Seu-
chen und materieller Not die Lebensfreude dros-
selten.

Die Epoche des hohen Mittelalters war eine
Zeit gesteigerten Lebensgefühls; und das hatte
seinen Grund nicht zuletzt darin, daß die Le-
benshaltung des Menschen bei aller Berücksich-
tigung der ständischen Gliederung doch in Ein-
klang stand mit der Höhe der Kultur. Das
mußte auch das Verhältnis des Menschen zum
Leib und seinen Bedürfnissen berühren. Daß in
einer Zeit der Lebensfülle, wie sie diese Jahr-
hunderte boten, auch Amor und Eros zu ihrem
Recht kommen mußten, ist nur natürlich. Die
christliche Kirche hat sich wohl der Ehe ange-
nommen, aber den allgemeinen Auffassungen
von Sitte und Moral waren doch vielerlei Dinge
nicht so völlig unvereinbar mit dem Christen-
tum wie es spätere Zeiten annahmen. Jedenfalls
war es nicht der Inhalt der Sittlichkeit, jegliche
Regung von Lebenslust und die unbefangene
Freude an der Schönheit des Leibes zu unter-
drücken - wenn auch tatsächliche sittliche Ver-
gehen außerordentlich hart geahndet wurden;
auf Notzucht stand der Tod durch Pfählen. -

Adolf Damaschke hatte sicher nicht unrecht,
als er schrieb: "Bezeichnend für die Höhe der
Lebenshaltung aller Schichten war die Ausdeh-
nung des Badewesens." In der mittelalterlichen
Stadt gehörten die Badestuben zu den selbstver-
ständlichsten öffentlichen Einrichtungen. Die
Bader waren eine Zunft; da sie auch das Rasie-
ren besorgten, ist die Bezeichnung "Bader" für
den Barbier bis auf den heutigen Tag haften ge-
blieben. Die Erlaubnis zur Errichtung einer Ba-
destube wurde vom Rat einer mittelalterlichen
Stadt nach ähnlichen Gesichtspunkten wie die
Erlaubnis zur Errchitung einer Schenke erteilt.
Im 14. Jahrhundert hatte Basel 15 öffentliche
Badestuben, Nürnberg hatte deren 12, Ulm nur
10, Stuttgart 7, Würzburg 7 und Wien hatte gar
29! - Selbst Dörfer hatten schon ihre eigenen
Badestuben. In den Städten richteten sich die
Patrizier und vermögenden Bürger natürlich in
den eigenen Wohnhäusern ihre Badestuben ein
- ebenso die Adligen auf ihren Schlössern und
Burgen. Die Reinlichkeit und Gesundheit des
Leibes war dem Menschen des gotischen Zeit-
alters wichtig. Das ist später bekanntlich wieder
ein wenig anders geworden. In der Geschichts-
Epoche des Rokoko sollen die Vornehmen nach
zeitgenössischen Berichten in des Wortes wahr-
ster Bedeutung nicht im besten Geruch gestan-
den haben; Haut und Haare kamen damals
weniger mit Wasser als vielmehr mit Pomaden,
Puder und Schminken in Berührung, - Schicht
auf Schicht, was in Verbindung mit den von
solchen Auflagen absorbierten Ausdünstungen
des Körpers keine sonderlich angenehmen Ge-
rüche ergeben haben dürfte. - Aber das war vier
Jahnhunderte später als unser Badeleben im
Mittelalter; und dieser unhygienische Brauch
war schließlich auch nur der letzte Ausdruck des
bis zur Dekadenz verfeinerten Lebensstils des
französischen Adels vor der großen Revolution.

Aber immerhin: noch ein weiteres Jahrhun-
dert später war selbst im kaiserlichen Palais Un-
ter den Linden in Berlin, in der Residenz Wil-
helms I., noch keine Badestube eingerichtet, so
daß der Kaiser allwöchentlich einen Holzzuber
aus dem auf der anderen Straßenseite gelegenen
"Hotel de Roma" leihweise holen ließ. -

In der mittelalterlichen Stadt dagegen gab es
selbst für die Armen, d. h. für die Handwerks-
burschen, die fahrenden Gesellen und ähnliches
Volk noch "Freibäder", sogenannte "Seelenbä-
der", die aus Stiftungen für die Armen und zur
allgemeinen Wohlfahrt errichtet waren, von den
Stiftern im Sinne der mittelalterlichen Denk-
weise als gottgefälliges Werk für ihr Seelenheil
finanziert (s. A. Damaschke "Geschichte der Na-
tionalökonomie", S. 50/51).

In den öffentlichen Badestuben konnten beide
Geschlechter in ungezwungener Gesellschaft ge-
meinsam baden. Aus zahlreichen in Wort und
Bild überlieferten Berichten wissen wir, daß die-
ses Baden einen sehr breiten Raum im Lebens-
stil dieser Zeit einnahm, vielleicht schon mehr so
etwas wie eine gesellschaftliche Veranstaltung
war. Männlein und Weiblein badeten gemein-
sam und völlig nackt im gleichen Zuber, wobei
die weibliche Eitelkeit allerdings noch um die
gute Frisur und um die richtige Geltung des oft
genug noch extra angelegten Schmuckes besorgt
war. In der Regel nahm man während des Ba-
dens auch noch Speisen und Getränke zu sich.
Auch in den Dampfbädern trafen sich die Ge-
schlechter in völliger Nacktheit, und bis in das
14. Jahrhundert hinein fand man daran nichts
auszusetzen. Wo eine Trennung der Geschlech-
ter in den Bädern vorgesehen war, bestand sie
meistens nur aus einer niederen Barriere, die das
Badebecken in zwei Hälften teilte.

Wie bereits erwähnt, hatten die Patrizier und
begüterten Bürger ihre eigenen Badestuben im
Haus. Ein berühmtes Beispiel ist der luxuriös
ausgestattete Badesaal im Fuggerpalast zu Augs-
burg - die Fugger gehörten allerdings zu den
Geschlechtern, die erst mit der Zeitenwende zur
Renaissance zu ihrem beispiellosen Reichtum ka-
men. Im frühen Mittelalter haben selbst Fürsten
noch die öffentlichen Badestuben aufgesucht.
Erst mit dem zunehmenden Reichtum einer
kaufmännisch tätigen Oberschicht kamen vom
15. zum 16. Jahrhundert mehr Hausbadestuben
in den Städten auf. In Ulm sollen um 1489
neben den öffentlichen Bädern bereits 168 Haus-
badestuben bestanden haben (Eduard Fuchs:
Illustrierte Sittengeschichte, S. 456).

Auch die Hausbadestube diente keineswegs
nur der Familie; ebenso wie in den öffentlichen
Bädern konnte man hier sozusagen menschliche
Begegnungen arrangieren; man empfing Gäste,
Freunde des Hauses, die man zum Bade einläd
und dabei mit Essen und Trinken, Spiel und
Scherz unterhielt. Die Sitte, Gäste im Bade zu
empfangen, und ihnen ein Bad zu bereiten und
sie zu bedienen, ist übrigens in anderen Kulturen
und Völkern - heute z. B. noch in Japan - auch
anzutreffen und es besteht gerade in diesem Fall
nicht die geringste Veranlassung, solche Sitten
als "unmoralisch" zu deklarieren.

Im Mittelalter war der Mensch in einem durch-
aus gesunden Sinne noch natürlich und unbefan-
gen; und aus dieser Unbefangenheit heraus
machte er auch kein Hehl aus seiner Freude am
Dasein - zu der zu allen Zeiten die erotische
Spannung hinzugehört. Sittlichkeit bestand nicht
aus einer asketischen Unterdrückung dieses Le-
benselements, sondern sie bestand offensichtlich
mehr aus einem gesunden Maßhalten - eben aus
der Einhaltung jenes Maßes, das die später auf-
tretenden zerrüttenden Ausschweifungen, wie
wir sie aus der Renaissance kennen, noch zu
vermeiden wußte.

Besonders hoch scheint es in den Kur- und
Heilbädern hergegangen zu sein, so daß man
wohl mit Recht sagen kann, daß das Badeleben
mit zu den Lebensgenüssen gehörte, die sich des
größten Zuspruchs erfreuten. Auch hiervon gibt
es mancherlei zeitgenössische Schilderungen. Ein
Bericht des Italieners Poggio aus dem Jahre
1417, der den Ort Baden im Aargau (Schweiz)
betrifft, meldet folgendes: "In der Morgenfrühe
waren die Bäder am belebtesten. Wer nicht
selbst badete, stattete seinen Bekannten Besuche
ab. Von den Galerien herab konnte man mit
ihnen sprechen und sie an schwimmenden Tischen
essen und speisen sehen. Schöne Mädchen baten
um ,Almosen`, und warf man ihnen Münzen
hinab, so breiteten sie die Gewänder aus, die
Münzen aufzufangen und dabei ihre Reize zu
enthüllen. Blumen schmückten die Oberfläche
des Wassers und oft hallten die Gewölbe wider
vom Saitenspiel und Gesang. Mittags an der Ta-
fel ging nach gestilltem Hunger der Becher so-
lange um, wie der Magen den Wein vertrug,
oder bis die Pauken und Pfeifen zum Tanze
riefen."

Vielfach wurde auch der Ausklang von Hoch-
zeitsfeiern mit einem gemeinsamen Hochzeits-
bad beschlossen. Die Hochzeitsgäste begleiteten
das Hochzeitspaar ins Badehaus, wobei aller-
dings dem Vernehmen nach immerhin schon
obrigkeitliche Beschränkungen der Teilnehmer-
zahl respektiert werden mußten. Nach dem
Stadtrecht von München waren dem glücklichen
Paar je 6 Frauen beigeordnet - also auch der
Bräutigam wurde mit Frauengesellschaft zum
Bade begleitet -: "Zu der Fest und zu Pette und
zu Bade soll man haben jedweder Teil nur sechs
Frauen, das sind 12 Frauen". In Regensburg da-
gegen hieß es: "daß er und die Braut soll selb
acht Frauen dargehen und mit keiner mehr!"-

Die Menschen des gotischen Mittelalters waren
sicherlich keine Heiligen. In den Städten gab
es auch bereits öffentliche Frauenhäuser, die man
zum Schutze der Ehe für notwendig ansah.
Mancherorts war dafür sogar eine Zunftord-
nung eingeführt. Im übrigen aber galt es nicht
von vornherein für schimpflich, daß sich Frauen
einem solchen Leben widmeten. Die Verachtung
der Frauenhäuser und der "gelüstigen Fräulein"
kam erst auf, nachdem sich im 16. Jahrhundert
eingeschleppte Geschlechtskrankheiten verbreitet
hatten, die der Lebensfreude einen argen Schock
gegeben haben.

Gewissermaßen als Ergänzungsstück zu dem
freien Lebenswandel der genannten Frauen gab
es aber im Mittelalter auch eigene Orden. Der
in Paris zum Anfang des 14. Jahrhunderts ge-
gründete Orden der Büßerinnen nahm sogar nur
Frauen auf, die tatsächlich ein sündiges Leben
geführt haben mußten! - und damit die Anwär-
terinnen die Besserung nicht allzulange hinaus-
schieben konnten, wurde die Altersgrenze für
die Aufnahme auf 30 Jahre festgesetzt (s. a.
Fuchs: Illustr. Sittengeschichte. S. 430 ff). Auch
darin zeigt sich - wenn man nicht sittenstreng
moralisieren, sondern die Menschlichkeit in den
Dingen zur Kenntnis nehmen will - daß man
bei aller Unterscheidung zwischen ehrbarem und
liederlichem Lebenswandel doch keine Seele zu
einem verlorenen Glied der großen Gemein-
schaft der christlichen Welt werden lassen wollte.

Im großen Ganzen scheinen Moral und Sitt-
lichkeit dieses Zeitalters gewiß bedeutend weni-
ger vom Firnis der Prüderie überkrustet gewe-
sen zu sein, als beispielswcise das 19. Jahrhun-
dert. Das zeigte sich überall, in Kunst und Dich-
tung, in Mysterienspielen und Gesängen. Für
die Ausdrucksweise unserer Zeit mag ein sittlich
so hochstehendes Werk wie Wolfram von Eschen-
bachs "Parzival" Stellen enthalten, mit denen
sich der Autor den Unmut der Staatsanwälte zu-
ziehen könnte, wenn er heute so dichten würde.
Das dürfte aber kaum einen Maßstab für die Be-
urteilung der mittelalterlichen Sittlichkeit abge-
ben. Jedes Zeitalter muß aus der Gesamtheit sei-
ner Erscheinungen heraus verstanden werden.
Auch der höfisch ritterliche Minnedienst - wie er
sich in den Liedern der Minnesänger darstellt -
war der Ausdruck einer Verfeinerung der Sitten
im Umgang mit den Frauen. Aus dem Inhalt
dieser Lieder auf eine Sittenverderbnis zu schlie-
ßen, wäre ein Mißverständnis. Gewiß ist es der
immer wiederkehrende Inhalt der Minnelieder,
die Vasallentreue und Ergebenheit der erkore-
nen Frau gegenüber zu beteuern; in der Regel
war diese Frau - zumindest im Lied - die Gat-
tin eines anderen, des Burgherrn, der vielleicht
gerade gegen die Sarazenen kämpfte. Aber die
Vorstellung, daß diese Lieder wirkliche Sitten
und Gebräuche wiedergeben, dürfte dennoch
irrig sein; in verständigeren Urteilen ist das
Minnelied der höfisch-ritterlichen Zeit eine lite-
rarische Form, in der man den Frauen huldigte
(s. Arnold Hauser: Sozialgeschichte des Mittel-
alters, S. 90 ff).

Wie aber ehedem bei festlichen Anlässen auf
den Burgen und Schlössern des Adels, bei Tur-
nieren, bei Fürstenbesuch und ähnlichen Gele-
genheiten die Frau ihre Rolle zu spielen hatte,
so auch in den Städten - mitunter sogar in er-
staunlich kühnen öffentlichen Auftritten. Noch
zu Zeiten Albrecht Dürers (1471-1528) kam es
in prunkhaften Aufzügen wie zu den Empfän-
gen von Fürsten, bei denen große Volksmassen
auf den Beinen waren, zum Auftritt völlig
nackter Frauen, deren unverhüllte Schönheit
als Huldigung vor dem hohen Besuch aufzufas-
sen war. Von einem solchen Aufzug berichtet
Albrecht Dürer seinem Freund Melanchthon,
nachdem er 1520 in Antwerpen den Einzug
Karls V., des mächtigen römisch-deutschen Kai-
sers, miterlebt hatte, bei welchem Ereignis er
sich, "weil er ein Maler sey", recht nahe an die
schönen Mädchen herangedrängt habe. Es wäre
sicher auch hier einigermaßen abwegig, in sol-
chen Vorgängen einfach ein Zeichen von Sitten-
losigkeit zu erblicken, denn niemals hätte man
es wagen dürfen, dem römischen Kaiser, der der
treueste Diener seiner Kirche war - und zu-
gleich der Herr über ein Weltreich, in dem die
Sonne nicht unterging - einen Anblick zu bie-
ten, der sein sittliches Empfinden verletzt haben
würde.

Dennoch vollzog sich mit dem Umbruch
der Zeiten, mit dem Niedergang des gotischen
Lebensgefühls und dem Heraufkommen der
Renaissance eine Wandlung des Denkens, die
auch den Lebensstil der Menschen umformte.
Renaissance war stärkere Diesseitigkeit, Lösung
von Glaubensbindungen und von sittlichen Nor-
men. Eine Lebensgier, wie sie vielleicht seit den
Tagen Roms nie mehr aufgetreten war, ließ die
Menschen bald jedes Maß vergessen. Auch das
muß man ins Blickfeld fassen, wenn man den
Eifer der Moralprediger und Sittenrichter gegen
die Ausschweifungen ihrer Zeit verstehen will.
Aber die verheerendsten Wirkungen auf die all-
gemeine Sittlichkeit gingen gerade davon aus,
daß die zum vorbildlichen Leben Berufenen,
die Kleriker und Kirchenfürsten, selber der Sit-
tenlosigkeit verfallen waren; und zwar einer
Sittenlosigkeit, die sich in ganz anderen Dingen
äußerte als nur etwa in galanten Reverenzen vor
der Schönheit im Leben und in der Kunst. Da
der Geist indessen willig ist, das Fleisch aber
schwach; wußte man die sittliche Entrüstung, der
man Raum geben mußte, weil sie nun berech-
tigt war, immer wieder auf Nebensächliches ab-
zulenken und das Wesentliche des moralischen
Verfalls zu übersehen. Den herrlichen Schöpfun-
gen Michelangelos, die er in der "Sixtinischen Ka-
pelle" mit den Figuren des "Jüngsten Gerichts"
geschaffen hatte, mußten Gewänder überpinselt
werden; aber das Ärgernis, das die Herde ge-
nommen hatte, das hatte sie nicht an den gran-
diosen Schöpfungen der Kunst, sondern am
wirklichen Leben ihrer Hirten genommen. Und
nicht zuletzt war die Gier nach Geld und Macht,
oft genug innig verfilzt mit der Zügellosigkeit
ausschweifenden Lebensgenusses, von gleichem
Gewicht wie die sittliche Zügellosigkeit an sich.
Das Volk sah das eine und es sah das andere. -

Für die geschichtliche Bilanz indessen dürfen
wir feststellen:

Der Mensch der Gotik hat die bedeutendsten
und zahlreichsten Kulturdenkmäler der abend-
ländischen Welt erstellt; er hat innerhalb von
drei Jahrhunderten unzählige Städte gebaut; er
hat das Netz seines Handels bis an die Grenzen
seiner Welt gespannt; er hat die für jede Weiter-
entwicklung unabdingbaren Gesetze einer sitt-
lichen Lebensordnung gegen die Daseinsprinzi-
pien des Raubmenschen, des ewigen Beutema-
chers, Wegelagerers und Seeräubers durchgesetzt.
Und bei all dem hat er nicht einmal etwas geop-
fert und entbehrt, weil er stets aus dem Vollen
schöpfen konnte. Seine Wirtschaft war gesund,
seine Gesellschaft war gesund, wie ein Organis-
mus gesund ist, in welchem die Zirkulation der
Kräfte und Säfte den Lebensbedingungen des
Ganzen entspricht.


Dieser Text wurde am 6.7.1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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