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Inhalt Vix Pervenit

 

 


 

Vorgeschichte der Zins-Enzyklika «Vix pervenit»

 

Im Mittelalter bestand ein von Kirche und Staat gefordertes Zinsverbot, daß vom 16. Jahrhundert an immer mehr bekämpft und übertreten wurde. Man erfand allerhand Praktiken, Verträge und Titel (= Sammelausdruck für Wertpapiere), um das Zinsverbot umgehen zu können.

 

Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts hob ein Staat nach dem andern das staatliche Zinsverbot auf und gestattete vielfach einen Zinsfuß von 5 Prozent. Nun fanden bald einige Gelehrte wieder einen neuen Titel zur Umgehung des kirchlichen Zinsverbotes, den „Titulus legis civilis“ (den Titel des bürgerlichen Gesetzes), der von den Kirchenvätern und dem ganzen Mittelalter stets verworfen war (cf. Thomas II. II. q. 78 a. 1 ad 3). Sogar Professor Biederlack gab das zu (Darlehenszins, Wien 1898, S. 40 f). Nach und nach glaubte man vielfach, irgendein Titel sei stets vorhanden, der einen mäßigen Zinsbezug erlaube. P Tamburini SJ behauptete sogar 1673 das stete Vorkommen mehrerer Zinstitel.

 

Während die Katholiken nicht wagten, das Prinzip des kanonischen Zinsverbotes zu bestreiten, sondern es nur durch allerhand ersonnene Verträge und Titel umgingen, fingen die Kalvinisten und Jansenisten an, das Zinsverbot grundsätzlich zu bekämpfen. Kalvin sprach dem alttestamentlichen Zinsverbot die Verbindlichkeit für die Christen ab und leugnete, daß die Stelle Lukas 6,35 ein Zinsverbot enthalte (F. Jacobson/E. Sehling, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Band 21/1908, S. 526, s.V. «Wucher»). Ihm folgte der französische Jurist Charles Dumoulin, oder Molinäus (1500-1566), der katholisch erzogen, 1542 kalvinistisch, später lutherisch und vor seinem Tode wieder katholisch wurde. In seinem «Tractatus contractuum et usurarum redituumque pecunia constitutorum (Abhandlung über auf Geldbasis begründete Verträge, Zinsen und Renten)» lehrte er 1546, «das Zinsnehmen sei bei einem Produktivdarlehen, durch das man einem Geschäftsmanne ein gewinnbringendes Unternehmen ermögliche, erlaubt und verstoße weder gegen das göttliche noch das natürliche Recht; nur dann sei man verpflichtet, den Nächsten mit einem unentgeltlichen Darlehen zu unterstützen, wenn er arm und bedürftig sei und wenn ihm die Bezahlung eines Zinses schwer falle. Das Zinsnehmen verstoße nicht gegen die Gerechtigkeit, sondern höchstens gegen die Liebe. Mäßiger Zins sei notwendig und nützlich». Seine Werke wurden als häretisch verboten, und er selber wurde gezwungen, 1522 Amt und Vaterland zu verlassen.

 

Seine Zinslehre wurde aber von anderen Juristen aufgenommen und weiter gebildet, so von Hugo Grotius und besonders von dem französischen Kalvinisten Claude de Saumaise, genannt Salmasius (1588-1653), dem Lehrer der Königin Christine von Schweden, der als Professor in Leyden in mehreren Schriften, die er 1638-1640 veröffentlichte, für die Produktivität des Geldes und die schlechthin anfallende Verzinsung des Darlehens eintrat und dem schon die freie Konkurrenz als die allein gerechte Ordnerin der Preise galt; sie allein dürfe und müsse das Zinsmaximum feststellen.

 

Am 16. Juli 1658 verurteilte die Pariser Sorbonne eine Reihe von Sätzen aus den Werken von Salamasius und Molinäus. 1659 wurde diese Verurteilung auch durch die römische Inquisitionskongregation gutgeheißen und durch Papst Alexander VII. bestätigt.

 

Von den französischen Theologen und Bischöfen trat besonders Bossuet (1627-1704), den Papst Pius X. ein „christliches Genie“ genannt hat, gegen diese neue Zinslehre auf. In seiner Abhandlung über den Wucher (Traité de l'usure) stellte er folgende Sätze auf:

 

1. Das Wuchern oder Zinsnehmen war den Israeliten gegenüber Volksgenossen verboten.

 

2. Es ist dem Geist des Alten Testaments nach etwas an sich Böses.

 

3. Den Christen galt jenes Verbot stets als für die Christen verbindlich.

 

4. Im Neuen Bund sollte es dem Geiste des Evangeliums gemäß vervollkommnet werden.

 

5. Die Lehre, daß Zinsnehmen im Neuen Bund allen gegenüber verboten sei, ist Glaubenssache.

 

6. Die entgegengesetzte Meinung ist unbegründet.

 

7. Mit dem Wucher verbietet das göttliche Gesetz alles, was ihm gleichbedeutend ist, denn bei Gott handelt es sich nicht um bloße Worte, sondern um das Wesen der Sache.

 

Im Jahre 1743 gab der Jansenist Broedersen, Pastor in Delft und Pseudokanonikus der Schismatischen Kirche zu Utrecht, einen großen Folianten «De usuris licitis et illicitis» (Über die erlaubten und unerlaubten Zinsen) heraus, in dem er in den Fußstapfen von Molinäus und Salmasius wandelt. Er leugnet die Übertragung des Eigentumsrechtes im Darlehensvertrag und behauptet, das Geld sei seiner Natur nach nicht unfruchtbar. Darum sei es ebenso erlaubt, von dem einem reichen Kaufmanne geliehenen Gelde Zins zu nehmen, wie es gestattet werde, von einem fruchttragenden Acker jährliche Pacht oder von einem Hause Mittel zu beziehen. Von einem Armen aber Zins zu nehmen, sei Wucher. Damit stellte er einen neuen Wucherbegriff auf.

 

Im Jahre 1740 gab der berühmte Petrus Ballerini (1698-1769), Rektor der Akademie von Verona, die «Summa theologica des hl. Antonius von Florenz» neu heraus. Schon im Vorwort kündigte er an, daß er dem zweiten Bande ein eigenes Traktat beigeben werde über den im Zeitalter des Antonius noch unbekannten, jetzt aber von einigen Katholiken vertretenen Irrtum, die Wuchersünde bestehe nur in einem übermäßigen Zins. Darin zeigte er, daß das Alte und Neue Testament, die Kirchenväter, Konzilien und Päpste übereinstimmend lehren: Jeder Darlehenszins ist wucherisch. Diese Lehre sei Dogma und der entgegenstehende Irrtum Häresie. Da die Stadt Verona gerade damals, wie es auch schon andere Städte Italiens getan hatten, eine Anleihe à 4 Prozent auflegte, fühlten sich viele im Gewissen beunruhigt, beleidigt und zur Verteidigung gezwungen. Es entstand ein Meinungsstreit, der sich bald über einen großen Teil Italiens ausbreitete. Die Wogen gingen hoch.

 

Die Zinsfreunde bestürmten den in ganz Italien als Koryphäe gefeierten Archäologen, Dichter und Polyhistor. Francesco Scipio Maffei, ihre Verteidigung zu übernehmen. 1744 trat er in die Arena mit seinem aufsehenerregenden Werke: «Dell'impiego del denaro, libri tre» (drei Bücher über die Anlage des Geldes). Er widmete es seinem ehemaligen Lehrer und Freund Papst Benedikt XIV. Wegen der wunderbaren Eleganz des Stiles wurde es viel gelesen. Im ersten Buch zeigt Maffei, daß keine Stelle der Heiligen Schrift verbiete, demjenigen gegen einen gesetzlichen und mäßigen Zins zu leihen, der eine Geldsumme zur Verbesserung seiner Lage und für sein Geschäft verlange. Im zweiten Buch untersucht er die Wucherlehre der Väter, des kanonischen Rechts und der Theologen und findet, daß sie wohl gegen einen enormen Zins, aber nicht gegen einen mäßigen Zins von 4 oder 5 Prozent seien.

 

Im dritten Buch endlich versucht er, die Theorie der Unfruchtbarkeit des Geldes, den Eigentumswechsel im Darlehensvertrag, die Untrennbarkeit des Gebrauchs des Geldes vom Gelde selbst zu widerlegen und die Vernunftgründe aufzuführen, die für einen mäßigen Darlehenszins an Reiche sprechen. Das Erscheinen dieser Schrift, in der zum ersten Mal ein Katholik prinzipiell das Zinsnehmen verteidigte, trieb die Hitze des Kampfes bis zum Siedepunkt. Scipio Maffei wurde verfolgt und aus der Stadt Verona für kurze Zeit verbannt. Der Papst erkannte, daß er eingreifen mußte. Da die Leute nicht mehr wußten, welches denn eigentlich die Lehre der Kirche über den Zins sei, wollte er ihnen diese Lehre klar verkünden. Deshalb bestellte er sofort eine Kommission von Kardinälen und Gelehrten, darunter auch den berühmten Dominikanerpater Daniel Concina, Prediger und Moralprofessor in Neapel, und betraute sie am 4. Juli 1745 mit der Aufgabe, zu erforschen, was die Kirchenväter und Theologen übereinstimmend durch die Jahrhunderte betreffs des Zinses gelehrt haben und so die sichere Lehre der Kirche über den Zins festzustellen. Die Kommission hielt zwei Sitzungen ab (am 18. Juli und 1. August) und faßte einstimmig die sichere Lehre der Kirche in 5 Sätze zusammen.

 

Nachdem der Papst die 5 Sätze selbst einläßlich geprüft und für richtig befunden hatte, veröffentlichte er sie feierlich am 1. November 1745 in einem eigenen Rundschreiben an die Bischöfe Italiens, das mit den Worten «Vix pervenit» (Deutsche Übersetzung: «Kaum ist uns zu Ohren gekommen») beginnt.