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Text aus: Dieter Suhr: Der Kapitalismus als monetäres Syndrom Campus Verlag, 1988, ISBN 3-593-33999-4, Seite 64 - 102 (Im August 1999 gescannt, korrekturgelesen und ins Web gestellt von W. Roehrig.)
4. Kapitel
Geld ohne Mehrwert
Geld vermittelt nicht nur den Tauschwert, den es als "allgemeine Äquiva- lentform" der Waren verkörpert, sondern es vermittelt zusätzlich den spezifi- schen ökonomischen Nutzen der monetären Liquidität, und zwar entweder in der Naturgestalt der monetären "Schlagfertigkeit", oder in der pekuniären Gestalt derart, daß dieser Nutzen vermarktet und in Rendite verwandelt wird. Dies ist das überlieferte "Geld mit Mehrwert". So gesehen kommt es also darauf an, ein "Geld ohne Mehrwert" zu konzipieren und zu verwirklichen.
I. Neutralisierung des monetären Privilegs
Der Naturalnutzen der monetären Liquidität besteht darin, daß man bei wirtschaftlichen Transaktionen Informations- und Transaktionskosten spart, wenn man dabei mit der Geldeinheit messen und mit Geld bezahlen kann. Dieser Nutzen, diese Einsparung von Informations- und Transaktionskosten durch Geld, ist eine wirtschaftsgeschichtliche Errungenschaft, die man nicht aufgeben darf, bevor man nicht noch bessere Techniken gefunden hat. Es kann also nicht darum gehen, die Liquidität des Geldes und damit den Liqui- ditätsnutzen und den Wohlfahrtsgewinn abzuschaffen, der daraus resultiert. Man muß einen anderen Weg finden, die kapitalistische Asymmetrie des her- kömmlichen Geldes zu beseitigen.
l. Keynes: Durchhaltekosten für monetäre Liquidität
Die Sache ist im Prinzip einfach. Kein Geringerer als John Maynard Keynes hat dafür nicht nur die einfache Formel angegeben, sondern auch schon praktische Vorschläge dafür im Keynes-Plan für den Internationalen Währungsfonds unterbreitet. Im 17. Kapitel seiner berühmten General Theory of Employment, Interest and Money (1936) hat Keynes die elementaren und einfachen liquiditätstheo- retischen Grundlagen für die Ökonomie geschaffen. Dieses bestechend klare Kapitel gilt einigen Lesern freilich eher als "verworren und bedeutungslos", so daß "nicht viel verloren" wäre, wenn es niemals geschrieben worden wäre (Hansen 1959, S. 156-158). Man findet es "unklar oder doch verwirrend" (Herr 1986, S. 128). Dabei liefert es die unentbehrlichen liquiditätstheoreti- schen Grundlagen zur übrigen "Allgemeinen Theorie". Ohne diese Grundla- gen hängt die "Allgemeine Theorie" selbst in der Luft. Zunächst einmal analysiert Keynes den ökonomischen Nutzen der Tauschbarkeit von Wirtschaftsobjekten überhaupt. Es geht dabei um die Macht, über ein Wirtschaftsgut innerhalb einer Periode verfügen zu können. Keynes hat erkannt, daß die Güter gleichen Tauschwertes unterschiedliche Tauschbarkeit haben können. Und er hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Nutzen dieser Tauschbarkeit nicht ohne weiteres als Ertrag sichtbar ist und zu Buche schlägt. Damit hat Keynes die schon Aristoteles vertrauten zwei Werteigenschaften "Gebrauchswert" und "Tauschwert" um eine dritte erwei- tert, die für die Tausch- und Geldwirtschaft ganz entscheidend ist: nämlich um den Tauschbarkeits- oder Liquiditätswert.
"Finally, the power of disposal over an asset during a period may offer a potential convenience or security, which is not equal for assets of dif- ferent kinds, though the assets themselves are of equal initial value. There is, so to speak, nothing to show for this at the end of the period in the shape of output; yet it is something for which people are ready to pay something. The amount (...) which they are willing to pay for the potential convenience or security given by this power of disposal (... ), we shall call its liquidity premium l." (S. 226)
Wirtschaftsgüter, schreibt Keynes dann weiter, produzierten erstens unter Umständen einen gewissen Ertrag: "yield or output q". Sie seien zweitens meistens mit gewissen Kosten verbunden: "carrying-costs c". Und drittens gehe mit ihnen je nach Tauschbarkeit ein Liquiditätsnutzen einher: "liquidi- ty-premium l" . Und dann folgt mit aller wünschenswerten Klarheit und Einfachheit die Formel von Keynes, nach der sich der Nettoertrag eines Wirtschaftsgutes ergibt, wenn man alle drei Ströme von Nutzen und Kosten zusammenzieht: Dieser Nettoertrag ergibt sich aus den Erträgen q minus Kosten c plus Liqui- ditätsnutzen l:
"It follows that the total return expected from the ownership of an asset over a period is equal to its yield minus its carrying costs plus its liqui- dity-premium, i.e. to q - c + l." (S. 226)
Wendet man diese im Grunde banale Formel auf das Geld an, so zeigt sich: Beim Geld sind die pekuniären Erträge Null. Die laufenden Kosten kann man vernachlässigen; sie können also auch als Null angesehen werden. Aber der Liquiditätsnutzen ist erheblich: "It is characteristic (...) of money that its yield is nill, and its carrying-costs negligible, but its liquidity-premium sub- stantial." (S. 226) Da l der Betrag ist, den man für die Inanspruchnahme des Liquiditätsnut- zens zu zahlen bereit ist, gibt diese Größe auch den Preis an, den man für die Überlassung von Geld zu zahlen bereit ist, vorausgesetzt, daß mit dem Geld nicht anderweitige Erträge verbunden sind, die das Gut "Geld" noch wert- voller machen, oder laufende Kosten, die seinen Nutzen schmälern. Also kann man auch formulieren: Die Rendite r von Finanzkapital (von vermarktetem Geldnutzen) ergibt sich nach der Formel: r = q - c + l. Wenn dann beim Geld in der Kasse als solchem die pekuniären Erträge q gleich Null sind und wenn die Kosten von Kassehaltung c vernachlässigt werden können, dann fallen aus dem Kosten-Nutzen-Bündel "Geld", das als Finanzkapital ver- marktet wird, die beiden Posten q und c heraus, und es verbleibt: r = l. Das heißt, daß der Zins dem Liquiditätsnutzen entspricht. Wenn man nun erreichen will, daß die Zinsen sinken, daß also die "kapi- talistische" Rendite von Finanzkapital verschwindet, dann muß man ein Ko- sten-Nutzen-Bündel "Geld" schnüren, in dem künstliche Durchhaltekosten c untergebracht sind, und zwar Kosten in solcher Höhe, daß sie den Liquidi- tätsnutzen kompensieren: c = l. Ist diese Bedingung erfüllt, dann ergibt sich: r = l - c = 0. Deshalb, meint Keynes, seien diejenigen Sozialreformer, die dem Geld künstliche Durchhaltekosten anheften wollten, auf dem richtigen Wege gewesen:
"Thus those reformers, who look for a remedy by creating artificial car- rying-costs for money through the device of requiring legal-tender cur- rency to be periodically stamped at a prescribed cost in order to retain its quality as money, or in analogous ways, have been on the right track; and the practical value of their proposals deserves consideration." (S. 234)
Wenig bekannt ist, daß Keynes künstliche Durchhaltekosten für Liquidität dann selbst vorgeschlagen hat, und zwar in seinen Proposals für die Interna- tionale Zahlungsunion (Keynes 1941- 43; Hankel 1986, S. 69 - 80), die während des Zweiten Weltkrieges diskutiert wurde und die - freilich nicht nach den Vorstellungen von Keynes - mit dem Internationalen Währungs- fonds politisch ins Werk gesetzt worden ist. Noch weniger haben die Ökono- men den Zusammenhang zwischen den Proposals und der Allgemeinen Theorie bemerkt und durchschaut, was Keynes sich bei seinem Vorschlag wohl alles gedacht hat. Keynes betont immer wieder, wie entscheidend es ist, daß das herkömm- liche Geld keine Durchhaltekosten verursacht. Diese Durchhaltekosten spielen in verschiedensten Zusammenhängen eine signifikante Rolle: Nach Keynes sind diese fehlenden carrying-costs beim Geld mitverant- wortlich für die Starrheit der Löhne:
"The expectation of a relative stickiness of wages in terms of money is a corallary of the excess of liquidity-premium over carrying-costs (!) being greater for money than for any other asset." (S. 238)
Sie sind vor allem für die allgemeine Signifikanz des Geldzinssatzes genau so konstituierend wie die Liquiditätsprämie des Geldes selbst:
"Moreover, the low carrying-costs (!) of money as we know it play quite as large a part as a high liquidity-premium in making the money-rate of interest the significant rate. For what matters is the difference between the liquidity-premium and the carrying-costs." (S. 237)
Daß Vermögensmassen überhaupt ohne ständige Verluste angehäuft werden können, hat ebenfalls mit den fehlenden Durchhaltekosten des Geldes zu tun:
"In this connection the low (or negligible) carrying-costs (!) of money play an essential part." Denn Durchhaltekosten würden den künftig erwarteten Wert des gehaltenen Geldes sowie der Geldvermögenstitel und der Sachkapitalien beeinflussen. Die Liquiditätspräferenzkurve würde abgesenkt (Bubeck 1966, S. 22f.), und zwar je nach Höhe der carrying-costs bis zu dem Punkt, in dem der untere Ast der Kurve die Abszisse tangiert oder sogar schneidet und in den negativen Quadranten eindringt: Statt einer Präferenz für Liquidität käme man über den Neutralpunkt der Indifferenz gegenüber der Liquidität bis hin zur Abneigung gegenüber der Liquidität! Solches Geld würde als Instrument der Vermögenshaltung gemieden und als Renditeinstrument ausfallen. Seine Transaktionsfunktionen würden dagegen nicht nur nicht beeinträchtgt, sondern verbessert. Die Folgen von carrying-costs auf Geld betreffen insbesondere die Flucht ins Geld bei Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Preise anderer Güter:
"The readyness of the public to increase their stock of money in response to a comparatively small stimulus is due to the advantages of liquidity (...) having no offset to content with in the shape of carrying-costs (!) moun- ting steeply with the lapse of time." (S. 233)
Die Folgen sind freilich von noch viel allgemeinerer Art, und zwar, was die Ansammlung von Reichtum überhaupt betrifft:
"In the case of a commodity other than money a modest stock of it may offer some convenience to users of the commodity. But even though a larger stock might have some attractions as representing a store of wealth of stable value, this would be offset by its carrying-costs (!) in the shape of storage, wastage, etc. Hence after a certain point is reached, there is necessarily a loss in holding a greater stock." (S. 233/4)
So erscheinen stets die (fehlenden) Durchhaltekosten beim Geld nicht we- niger wichtig und entscheidend als die Liquiditätseigenschaften des Geldes selbst! In seinem liquiditätstheoretischen 17. Kapitel der General Theory befaßt Keynes sich letztlich mehr mit den carrying-costs als mit der Liquidität des Geldes selbst. Aber seine Leser können wenig damit anfangen. So geht z.B. auch Spahn (1986, S. 138ff.) auf diese Schlüsselkategorie bei seiner liquidi- tätstheoretischen Neuerschließung von Keynes nicht näher ein. Die Vorstellung eines kostentragenden Geldes, die Keynes diskutiert und seinen Lesern vermitteln will, ist so ungewohnt, daß sie bei den Lesern ein- fach nicht perzipiert wird. Alte Denkgewohnheiten zum Geld setzen die Per- zeptionsschwelle für diese intellektuelle Innovation im Leser so hoch, daß schlichtes Lesen offenbar nicht ausreicht, sie zu überwinden. Meist erscheint dann in solchen Fällen dem jeweiligen Leser der gelesene und nicht ganz er- faßte Text selbst als dunkel. Dafür liefert das "mysteriöse" 17. Kapitel (Find- lay 1963, S. 12) ein gutes Beispiel. Zwar hat dieses Kapitel zuerst "eine gewisse Begeisterung" ausgelöst. Die aber, heißt es dann, sei "teilweise auf seine Unklarheit" zurückzuführen (Hansen 1959, S. 157). Es ist eine in der Philosophie wohlvertraute Erscheinung, daß Leser, die etwas nicht begreifen, die Schuld nicht bei sich selbst suchen, sondern dem Buch zuschieben, das sie lesen, also dem Autor, der es verfaßt hat. Aber jeder, der einen Text für verworren oder dunkel hält, sollte sich zurückhalten: "Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?" (G. Chr. Lichtenberg) So ist auch im Falle Keynes gerade nicht der Text des 17. Kapitels unklar. Unklar ist nicht Keynes. Unklar blieb nur seinen Lesern, sofern sie die sig- nifikanten carrying-costs überhaupt perzipierten, inwiefern gerade diese Ein- zelheiten des 17. Kapitels den Schlüssel dazu liefern, auch den übrigen Keynes der Allgemeinen Theorie besser zu begreifen. So wenig erfaßt und begriffen wurde das 17. Kapitel, - so unbekannt sind diese Einzelheiten geblieben, daß später die Monetaristen genau das Gegenteil dessen, was Keynes für erwägenswert hielt, vorschlagen konnten: nämlich statt der Durchhaltekosten eine Zugabe in Gestalt von Zinsprämien auf das Geld in der Kasse, - und das, ohne daß sie auf die einschlägigen Vorstellungen von Keynes auch nur einen einzigen eigenen Gedanken ver- schwendeten. Auf die monetaristischen Ideen werde ich gleich zurückkommen. Zunächst gilt es, das Bild von Keynes etwas abzurunden, um Mißverständnissen vor- zubeugen, denen meine liquiditätstheoretische Deutung leicht ausgesetzt ist. Betrachtet man nämlich das Geld in der Kasse nur durch die Augen eines typischen Geldanlegers, dem es um nichts geht als um möglichst sichere und möglichst ertragreiche Anlagen, dann rücken die Transaktionsvorteile, die hier ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, an den Rand. Dann interessiert eigentlich nur, welchen Nutzen und welche Sicherheiten das flüssige Geld als eine Vermögensart im Verhältnis zu anderen Anlagen bietet. Geld erscheint dann, bei stabiler Währung, als sichere, flüssige Wertaufbewahrungsform. Im Vergleich mit Anlagen, deren erwarteter Ertrag oder deren Rückzahlung un- sicher ist, bietet Geld in der Kasse gewisse Vorteile. Wenn freilich die Rückzahlung sicher und der erwartete Ertrag aller Anlagemöglichkeiten be- kannt und daher erwartbar wäre, wäre es unsinnig, noch Geld, das keine Erträge mit sich bringt, in der Kasse zu behalten. Keynes hat das so formu- liert:
"There is, however, a necessary condition failing which the existence of a liquidity-preference for money as a means of holding wealth could not exist. This necessary condition is the existence of uncertainty as to the future of the rate of interest, i.e. as to the complex of rates of interest for varying maturities which will rule future dates." (Keynes 1936, S. 168)
Bei flüchtiger Lektüre kann man dann den Eindruck mitnehmen, als ginge es Keynes bei seiner Liquidität, bei der Neigung von Individuen zur Liquidität und bei der Liquiditätsprämie um diese Sicherheit des Geldes im Verhältnis zur Unsicherheit erwarteter Renditearten. Und dieses Mißverständnis spielt in der Tat bei einer Reihe von Ökonomen eine nicht gerade fruchtbare Rolle. (Herr 1986, S. 113; vgl. Riese 1983, S. 106f.) Aber Keynes wird dabei wieder in einem nicht unerheblichen Ausmaß verstümmelt. Denn Keynes behandelt an der einschlägigen Stelle ausdrücklich nur - und wirklich nur - den zweiten von zwei Aspekten der Kassehaltung: Nachdem die Geldvorhaltung zu Zwecken der laufenden Geschäftstätigkeit der Geldhaltung zu Zwecken der Aufbewahrung von Wert gegenübergestellt worden ist, wird das Geld nur unter dem Aspekt der Wertaufbewahrung ("money as a means of holding wealth" im Gegeasatz zu "money for the transaction of current business") erörtert, und auch diese speziellen Feststel- lungen zur Liquiditätspräferenz bei Unsicherheit erwarteter Renditen werden alsbald wieder relativiert. Während die Neigung zur Liquidität unter dem Aspekt des richtigen Reich- tums-Portefeuilles sich nach Keynes als recht differenziertes Problem erweist und - vor allem - starken Schwankungen je nach psychologischer Stim- mungslage von Anlegern unterliegt, gilt für die Vorhaltung von Liquidität für Zwecke der laufenden Geschäftsführung, daß es sich um eine recht nüchterne und beständige Angelegenheit handelt. Es sei offenkundig, schreibt Keynes, daß es sich lohne, für die Bequemlichkeiten der monetären Liquidität einen gewissen Ausfall von Zinsen in Kauf zu nehmen:
"In this connection we can usefully employ the ancient distinction between the use of money for the transaction of current business and its use as a store of wealth. As regards the first of these two uses, it is obvious that up to a point it is worth while to sacrifice a certain amount of interest for the convenience of liquidity." (S. 168)
Mit anderen Worten: Alle Geldanleger können davon ausgehen, daß es immer Individuen geben wird, die Liquidität nachfragen, um ihre laufenden Geschäfte abzuwickeln. Dafür gibt es heute weitere differenzierte Deutungen der Liquidität, bei denen die Rechenmittelfunktion des Geldes, die Zeitüber- brückungsfunktion und die Zahlungsmittelfunktion in ihrem Zusammenwirken erscheinen. (Spahn 1986, S. 139ff.) Deshalb würde auch dann, wenn Sicher- heit bestünde hinsichtlich der Rückzahlung von Krediten und hinsichtlich der erwarteten Renditen, Liquidität noch intensiv nachgefragt und vorgehalten werden, nämlich von allen denen, die Geld nicht zu abstrakten Anlagezwek- ken verwenden (kapitalistisches Vermögensmotiv), sondern zur Durchführung realwirtschaftlicher Transaktionen (Transaktionsmotiv). Gäbe es diese faktisch garantierte Sockelnachfrage nach Transaktions- Liquidität nicht, dann allerdings hinge die Zinsrate vorwiegend von der er- wähnten Unsicherheit ab und könnte bei stabilen Erwartungen substantiell sinken. Man kann sich jedoch in einer arbeitsteiligen und monetisierten Wirt- schaft zuverlässig auf eine kräftige und permanente Nachfrage nach Transak- tionsgeld verlassen. Dafür sorgen neben den Haltern von Transaktionskassen vor allem alle Verkäufer, die ständig so viel Geld nachfragen, wie Ware am Markt feilge- boten wird. Diese Geldnachfrage der Verkäufer ist überhaupt die eigentliche Nachfrage nach Geld. Denn auch sie suchen Geld nicht nur um seines Tauschwertes willen, sondern wegen der Liquidität der monetisierten Tauschkraft: Sie sind es, die ständig unbeweglichere Güter welcher Art auch immer feilbieten, weil sie sich gerade Geld verschaffen, sich also liquidisieren wollen. Nicht nur wer Schuldscheine verkauft, sondern auch schon wer Kar- toffeln, Videogeräte oder Arbeitsleistung anbietet, sucht Geld und fragt Geld nach.
Die unerbittliche Nachfrage nach Geld zur Abwicklung von realen Ge- schäften sorgt dafür, daß das Geld knapp bleibt und daher die Liquiditätsprä- mie nennenswert über Null verharrt. So profitieren alle, die das Geld und ihre Geldvermögenstitel als bloßes Vermögen halten wollen, genau davon, daß die anderen das Geld für ihre existentiellen Transaktionszwecke dringend brau- chen. So können die reichen bloßen Vermögenshalter den Transaktionsbedarf der anderen ausnutzen und ausbeuten. Die Macht dazu schwindet in dem Maße, wie Geldhaltung Kosten verursacht. Es kommt hier sogar noch etwas hinzu: Immer dann, wenn ein Geldanle- ger Geld anbietet, nur um es leihweise zur Verfügung zu stellen, dann tritt er nicht als Käufer auf, der ein Gut vom Markt abruft, sondern als jemand, der eine Lücke im System der Nachfrage reißt: So gesehen erzeugt er selbst den Liquiditätsmangel, den zu befriedigen er anbietet. So sorgt auch er, bevor er sein Geld wieder verleiht, durch Abzug des Geldes aus der Zirkulation dafür, daß das Geld knapp bleibt. Einen raffinierteren Knapphaltemechanismus hätte man schwerlich zugunsten der Kassehalter und Geldanleger erfinden können:
"Stammt das Geld, das die Kapitalisten verleihen, aus dem Verkehr," (wird es also nicht von Banken, die es emittieren, geschaffen), "so stopfen sie mit dem Weiterverleihen dieses Geldes nur die Löcher zu, die sie beim Vereinnahmen des Geldes gegraben haben. (...) Je mehr Geld angeboten wird, um so größer sind diese Löcher. Bei sonst unveränderten Verhält- nissen muß sich also eine Nachfrage nach Leihgeld einstellen, die dem Geld entspricht, das die Kapitalisten zu verleihen haben." (Gesell 1949, S. 320f.)
Es ist also weder im Sinne von Keynes, noch überhaupt ökonomisch ver- tretbar, die Liquiditätsprämie des Geldes nur oder auch nur überwiegend im Zusammenhang mit Risiken der Vermögenshaltung zu sehen. Und es bleibt also dabei: Um den Zins von Finanzkapital gegen Null zu bringen, empfiehlt sich die praktische Verwirklichung der keynesschen Formel, wonach r = l - c. Danach wird auch l - c = 0, und zwar sobald die künstlichen Duchhaltekosten für Geld ("carrying-costs", Liquiditätskosten) so dosiert werden, daß sie den pekuniären Marktwert des Liquiditätsnutzens ("liqui- dity-premium") praktisch abschöpfen. In diesem Falle werden Nutzen und Kosten der Liquidität ausgeglichen.
Nun hat freilich Keynes selbst gegen das kostentragende Geld eingewen- det, daß solches Geld sehr bald durch Geldsubstitute verdrängt würde, und Kritiker des kostentragenden Geldes (z.B. Herr 1986, S. 123) zitieren denn auch diesen einen Keynes gegen den anderen Keynes, der Durchhaltekosten auf Liquidität sonst für signifikant und erwägenswert hält:
"If currency notes were to be deprived of their liquidity-premium by the stamping system, a long series of substitutes would step into their shoes - bank-money, debts at call, foreign money, jewelry and the precious metals generally, and so forth." (Keynes 1936, S. 358)
Hier allerdings ergibt sich ein Widerspruch: Keynes nämlich bemüht sich zuvor über Seiten hinweg, die ganz besondere Rolle des Geldes und die Sig- nifikanz des Geldzinses im Verhältnis zu den Ertragsraten anderer Güter her- auszuarbeiten. Zu den spezifischen Eigenschaften des Geldes, die dabei betont werden und die das Geld als einzigartig erscheinen lassen, gehört nach Keynes - die Nichtsubstituierbarkeit des Geldes! Kein anderer Faktor, bemerkt Keynes beiläufig, könne die Rolle des Gel- des gleich gut spielen (no other factor "being capable of doing money's duty equally well", S. 234). Oder es heißt mehrfach und unmißverständlich, Geld sei praktisch nicht substituierbar ("has an elasticity of substitution equal, or near equal, to zero", S. 231; ähnlich S. 238). Keynes soll im übrigen seinen "Denkfehler hinsichtlich der 'Ausweichmöglichkeiten' " eingesehen haben. (Bubeck 1966, S. 32, bezugnehmend auf Radecke 1954, S. l9) Die Substitute, die Keynes als Ersatzmittel für kostentragendes Geld in Erwägung zieht, fungieren denn auch in der Regel nicht als Ersatzzahlungs- mittel, sondern nur als Ersatzvermögensobjekte von mehr oder weniger großer Liquidität. Gerade weil das Geld als Vermögensobjekt uninteressanter wird, wird es ausgegeben für andere Vermögensobjekte, also in seine Funktion als Zahlungsmittel gedrängt. (Dahlberg 1938, S. 95f.) Die von Keynes auch als Geldsubstitut erwähnten Abrufkredite freilich sind wirklich ein mögliches Liquiditätssubstitut: Sie zeigen, welche Liquiditäts- techniken wohl vordringen werden, wenn kostentragendes Geld eingeführt wird. Treffend ist das Beispiel der bereitgestellten Gelder auch insofern, als schon heute in solchen Fällen üblicherweise Bereitstellungsgebühren fällig werden. Liquiditätskosten im Sinne der keynesschen carrying-costs können in der Tat am besten vorgestellt werden als eine Art von Bereitstellungskosten, die mit der Transaktionsliquidität einhergehen. Wo Keynes freilich Substitute für Geld in Vermögensfunktionen aufzählt und gegen das kostentragende Geld Silvio Gesells als Argument verwendet, bleibt der Transaktionsaspekt des Geldes momentan unterbelichtet und Keynes verharrt weitgehend in einer ähnlichen Vermögenshalterperspektive wie später noch viel schlimmer die Monetaristen: Er denkt an dieser Stelle an das Geld vorwiegend aus der (kapitalistischen) Sicht des Vermögenshalters statt wenig- stens gleichermaßen aus der (transaktionstechnischen) Sicht von Händlern, Produzenten und Konsumenten. Und wer Keynes seine Substitute für das Geld als Argument gegen kostentragendes Geld abnimmt, wie etwa Hansjörg Herr (1986, S. 122f.), kommt ebenfalls noch nicht ganz frei von dieser kapitali- stischen Vermögensperspektive des Geldes und der Liquidität. Heute würde man das Portefeuille-Problem der Substituierung wohl ge- nereller so angehen: Die verschiedenen Güter einschließlich des Geldes bieten je unterschiedliche Gebrauchsmöglichkeiten, Nützlichkeiten, Chancen, Risiken und Kostenlasten. Die einen eignen sich eher zum physischen Gebrauch, die anderen eher zur "Wertaufbewahrung", wieder andere sind eher eine gute Beweglichkeitsre- serve. Das Geld bietet dabei die günstigste Verbindung von relativ sicherer Wertaufbewahrung und größter Beweglichkeit, ohne daß mit diesen beiden Gelddiensten nennenswerte laufende Kosten (carrying-costs) oder einmalige Umwandlungskosten (Liquidisierungskosten, Transformationskosten) verbunden sind. So wie das Geld seine angenehmen Dienste bietet (money services), so bieten die anderen Güter andere Bündel von Nutzen und Kosten (costs and benefits). Dabei zeigen sich je unterschiedliche Nützlichkeitsprofile der je- weiligen Güter, die je nach Bedarfsprofil des betroffenen Wirtschaftssubjektes seinen Wünschen in unterschiedlichsten Ausmaßen entsprechen. Wenn nun bei dem Gut "Geld" das Nützlichkeitsprofil dadurch geändert wird, daß dem Geld Liquiditätskosten (carrying-costs) angeheftet werden, dann findet eine Umschichtung in den Portefeuilles der Vermögenshalter statt. Dabei wird man dem kostentragenden Geld in der Tat ausweichen und auf Substitute zugreifen, soweit es um Vermögensmotive geht. Und in den Um- schichtungskalkül gehen dann mit ein die jeweiligen Ausweichkosten (Bubeck, S. 16), welche die Substituierung des Geldes und womöglich der Geldtitel durch andere Güter mit sich bringt. Angesichts der geringen Substitutionsela- stizität des Geldes in der Transaktionskasse wird sich dort freilich wenig än- dern, zumal das Vermögensmotiv im Bedarfs- und Nützlichkeitsprofil der Halter einer typischen Transaktionskasse eine zu vernachlässigende Rolle spielt. Während die Akzeptanz des Geldes, das Kosten verursacht, bei den Haltern von Transaktionskassen nur wenig verändert würde, wären typische Ver- mögenshalter gegenüber dem Geld zurückhaltend, es sei denn, sie benötigen es, um ihr Portefeuille umzuschichten.
2. Geldnutzen und Geldkosten aus monetaristischer Sicht
Wenn von künstlichen Kosten der Kassehaltung die Rede ist, muß bedacht werden, daß es Geldtheoretiker gibt, denen nicht etwa die einzigartige Liqui- ditätsprämie des Geldes auffällt und für die daher nicht der Liquiditätsnutzen nach Ausgleich durch künstliche Kosten verlangt, die vielmehr vom Gegenteil überzeugt sind: Wiederum kein Geringerer als diesmal der Nobelpreisträger Milton Friedman (1976, S. 9-76) und andere Monetaristen (z.B. H. G. Johnson 1969) gehen davon aus, daß Geld in der Kasse ohnehin Kosten mit sich bringt: Den Kassehaltern entgehen Zinsen oder anderweitige Erträge aus möglichen Geldanlagen, wenn sie, statt ihr Geld anzulegen, es in der Kasse behalten. Dabei geht es um den gleichen Befund, der uns schon bei Keynes (1936, S. 168) begegnet war, der meinte, die Vorteile und Bequemlichkeiten der Liquidität für die Abwicklung der laufenden geschäftlichen Transaktionen sei es wert, daß man dafür bis zu einem gewissen Punkt Zinsen opfert ("worth while to sacrifice a certain amount of interest for the convenience of liqui- dity"). Noch stärker als Keynes beschränkt Friedman seine Betrachtung auf das Geld als eine Vermögensart, als eine "Möglichheit der Vermögenshal- tung" (Friedman 1956, S. 78; Herr 1986, S. 110), und sieht in den einschlä- gigen Zusammenhängen von der Transaktionsfunktion des Geldes weitgehend ab. Während aber Keynes im Zusammenhang mit der Kosten-Nutzen-Struktur des Geldes in den Zinsen echte Aufwendungen und einen Preis sieht, der dem Liquiditätsnutzen entspricht, sehen die Monetaristen in diesem Zusammen- hang nur etwas anderes: Die "Kosten" der Kassehaltung, also die geopferten anderweitigen Erträge, erscheinen ihnen relativ groß im Verhältnis zu den geringen Kosten, die die Herstellung von Geld verursacht. Die Kassehalter bringen also, nach monetaristischer Sichtweise, Opfer an entgangenen Zinsen, die größer sind, als es die Herstellungskosten von Geld rechtfertigen. Und die Differenz zwischen geringen Herstellungskosten des Geldes einerseits und den hohen Opportunitätskosten von Kassehaltern ande- rerseits, die streicht die Zentralbank ein als Emissionsgewinn. Das stört die Monetaristen. Sie möchten die Kassehalter teilhaben lassen an dem Wohl- fahrtsgewinn, der in Form des Emissionsgewinnes bei der Zentralbank anfällt. Also sollen Kassehalter einen Ausgleich erhalten in Höhe der entgangenen Zinsen. Daran ist richtig die Fragwürdigkeit der Emissionsgewinne. Im übrigen aber übersehen die Monetaristen: Der Kassehalter opfert zunächst einmal am Ende nichts, aber auch wirklich gar nichts, wenn er sich aus ökonomischen Gründen für eine gewisse Kassehaltung entscheidet. Er profitiert nur und einzig und allein ohnehin vom Geld: Der Kassehalter wählt zwischen vielen Möglichkeiten, mit seinem Geld zu verfahren, die für ihn günstigste. Also ist die Liquiditätsprämie, die er dann in Form des Liquiditätsnutzens einstreicht und genießt, für ihn größer oder gleich jeder anderen Verwendungsmöglich- keit, gegenüber welcher er die gewählte Kassehaltung vorzieht. Was die Monetaristen hier behandeln, als ob es sich um echte Aufwen- dungen des Kassehalters handele, das sind nur hypothetische (gleiche oder geringere) Erträge, die nicht auch noch gleichzeitig real erreichbar sind. Weil diese anderweitigen hypothetischen Vergleichserträge im Fachjargon "Oppor- tunitätskosten" genannt werden, kann es leicht passieren, daß man auf die eigene Terminologie hereinfällt und dann die hypothetischen Erträge bei ab- strakt-theoretischen Modellüberlegungen als echte Kosten behandelt an Stel- len, wo es nicht zulässig ist. Das Ergebnis, zu dem die Verwechslung der Opportunitätskosten der Kas- sehaltung mit echten Kosten führt, ist grotesk: Obwohl Kassehalter schon die Liquiditätsprämie praktisch geschenkt bekommen, schlagen diese Monetaristen vor, ihnen das pekuniäre Äquivalent der Liquiditätsprämie, nämlich einen Betrag in Höhe der "geopferten Zinsen", zusätzlich zu vergüten. Wo Keynes also echte Durchhaltekosten vorschlägt, um die Liquiditätsprä- mie auszugleichen, dort führen die monetaristischen Vorstellungen dazu, nachzudoppeln und auf den Liquiditätsnutzen des Geldes noch einmal den gleichen Wert draufzulegen: Nicht Ausgleich der monetären Asymmetrie, sondern ihre Verdoppelung. Es ist schon eigenartig, bis auf welche absurden Irrwege Ökonomie und Geldtheorie sich selbst führen, wenn sie nicht mehr nach den wirklichen Bedürfnissen der Individuen und nach den realwirtschaftlichen Funktionen des Geldes fragen, sondern nur noch durch die Augen des Kassehalters und An- legers schauen, um dann irgendwelche abstrakten Überlegungen anzustellen und Vorschläge zu entwickeln, die den realwirtschaftlichen Funktionen des Geldes Hohn sprechen. Würden die monetaristischen Vorstellungen vom Ausgleich der Opportunitätskosten von Kassehaltung realisiert, bräuchte man sein Geld nicht einmal mehr anzulegen, um Renditen einzustreichen. Und die anderen, die auf das Geld angewiesen sind, um ihre Transaktionen abzuwik- keln, müßten am Ende etwa doppelt so hohe Zinsen zahlen, um die Kasse- halter noch aus der Reserve zu locken. Die Liquiditätspräferenzkurve würde kräftig nach oben verschoben. Und die Monetaristen müßten dann folgerichtig den armen Kassehaltern noch höhere Ausgleichszahlungen zukommen lassen, weil sie ja, wenn sie ihr Geld nicht anlegen, nunmehr noch höhere Zins- erträge opfern würden...
3. Sachkapitalwährung?
Wenn vom zinstragenden oder leicht deflationierten Geld der Monetaristen die Rede ist, muß auch noch eines Vorschlages gedacht werden, der die wohlfahrtsökonomischen Gedanken, die letztlich auch den monetaristischen Vorstellungen zugrundeliegen, auf die folgerichtigste Art und Weise umzu- setzen verspricht. Gemeint ist das Konzept von Wolfram Engels: Die Wäh- rungseinheit wird darin als Anteil am Marktportefeuille der Aktien definiert, und Geld wird von den Banken im Wettbewerb untereinander ausgegeben. (Engels 1981 ) Die Währungseinheit dieses Geldes wird definiert nicht als Äquivalent zu den Waren, die zirkulieren, sondern als Äquivalent zu Kapitalien, die stationär genutzt werden, und diese Währungseinheit wächst an (ist deflationär) in dem Maße, wie das repräsentierte Sachkapital produktiv ist: kapitalistisches Geld in reinster Form. Zwar möchte Engels durchaus alle drei klassischen Funktionen des Geldes zugleich optimieren: die Tauschmittelfunktion, die Wertaufbewahrungsfunktion und die Funktion als Maß für Kaufkraft. (S. 24ff., 29) Aber tatsächlich op- timiert er zunächst und vor allem die Wertaufbewahrungsfunktion insofern, als das von ihm konzipierte Geld als solches nicht nur seinen Wert behalten, sondern im Werte nach Maßgabe der Produktivität der Sachkapitalien wach- sen soll, - nach der Formel:
"As a store of value money is all the more suitable, the higher its real rate of interest, i.e. the smaller the margin between the yield on cash (bank notes) and that on other assets." (S. 30)
Zugleich soll der Wert des Geldes möglichst vorhersagbar sein. Dies soll dann eintreten, wenn die Währung an den Wert des Marktportefeuilles der Aktien gebunden wird. So würde das systematische Risiko verschwinden. Die Zinsrate würde nominell Null. Man könnte statt Aktien Geld halten, ohne auf Erträge verzichten zu müssen. Man könnte sich mit Liquidität sättigen, also praktisch sein Vermögen in Geld halten und doch davon Erträge haben. Aber Engels macht am Ende keine praktisch-realwirtschaftliche Plausi- bilitätskontrolle auf sein theoretisch abgeleitetes Ergebnis: Wie soll ein Geld, das sich schon in der Kasse oder auf dem Konto von selbst durch Deflation wie durch Renditen vermehrt, noch optimales Transaktionsmittel sein? Es würde seine Zinsen ja praktisch schon verdienen, ohne daß es noch seinen Job als Tauschmittel, Zahlungsmittel und Zirkulationsmittel erledigen müßte! Solches Geld würde man noch lieber behalten als das heutige. Die Liqui- ditätspräferenz würde sich kräftig erhöhen. Geld würde von den Transak- tionsmärkten in die Kassen der Vermögenshalter abgezogen. Die gesättigt vollen Kassen wären ein riskantes Potential an Geldangebot, das sich bei kleinen Schwankungen in den psychologischen Einschätzungen auf die Märkte ergießen und dort Preis- bzw. Kursschwankungen exzessiver Art auslösen könnte. Es ist denn auch symptomatisch, daß John Maynard Keynes im Literatur- verzeichnis von Engels nicht vorkommt. Die pathologische Liquiditätspräfe- renz, wie sie von einem Geld nach dem Vorschlag von Engels ausgelöst würde, ist für ihn kein Problem. Wohl aber gehört er zu jenen Geldtheore- tikern, die die Liquiditätsprämie nur sehen im Zusammenhang mit Porte- feuille-Risiken statt auch im Zusammenhang mit den Informations- und Transaktionskosten, die bei der Abwicklung der laufenden Geschäfte (nicht von Vermögenshaltern, sondern von Produzenten, Händlern und Konsumen- ten) anfallen. Wird die Währungseinheit als Anteil des Marktportefeuilles definiert, ver- schwinden nach Engels die Risiken und mit ihnen die Liquiditätsprämie und die Zinsen:
"There are neither risk nor liquidity premia in the interest rate. (...) Then liquidity premia can no longer exist. Holding cash will not require any sacrifice of income from capital. (...) All money interest, revenue and capital costs are equal and nominally zero. In practice this would be re- flected in a decline in the commodity price level." (S. l0f.)
Wie die Monetaristen, so macht auch Engels seine Rechnung auf ohne die anderen Wirtschaftssubjekte, die die Profite irgendwie realwirtschaftlich erar- beiten müssen, die den Vermögenshaltern in Gestalt der Gewinne aus Defla- tion zuströmen. Woher sollen sie ihr Geld nehmen, wenn es in die Kassen untätiger Vermögenshalter gesogen wird wie Materie in die "schwarzen Lö- cher" im Weltall? Sie müssen den Kassehaltern doppelte Zinsen bieten, um das Geld wieder herauszulocken. Also stimmt es nicht, daß Kassehaltung keine Einkommensopfer mehr mit sich bringen würde. Im Gegenteil: Wer Geld nach dem Konzept von Engels nicht anlegt, dem entgehen höhere Zinsen als heute. Und so zeigt sich, daß die ganze Rechnung von Engels ebenso- wenig und auf die gleiche Art und Weise nicht aufgeht wie die der Moneta- risten. Die Rechnung ginge nur auf, wenn die Liquiditätsprämie und der Zins nicht nur nominell, sondern auch realiter Null wären. Dazu aber ist nicht ein Geld erforderlich, das reale Erträge mit sich führt, sondern ein Geld, bei dem reale Kosten den Liquiditätsnutzen ausgleichen.
II. Monetäre Techniken eines postkapitalistischen Zirkulationssystems
Das Geld hat einen Austauschbarkeitsvorsprung vor den Waren. Um diesen Nutzen auszugleichen und zu neutralisieren, muß man dem Geld nur entspre- chende Kosten anheften: Die Vorhaltung von Liquidität muß ungefähr so kostspielig sein, wie diese Liquidität ökonomisch nützlich ist. Dann behält zwar das Geld seine ihm eigentümliche und unentbehrliche Schlagfertigkeit ("money's supreme salability"). Aber diese Schlagfertigkeit ist nicht mehr gratis als Geschenk der Volkswirtschaft an Geldbesitzer zu haben. In dem Maße wie Geldbesitzer dann unter Kostendruck geraten, schwindet ihre Vormachtstellung gegenüber den Händlern, Produzenten und Konsumenten. Wird der ökonomische Transaktionsnutzen des Geldes durch Liquiditäts- kosten abgeschöpft, dann entsteht "neutrales Geld" oder "Geld ohne Mehr- wert". (Suhr 1983) Dafür gibt es zwei unterschiedliche Strategien: eine staat- lich-hoheitliche und eine ökonomisch-wettbewerbswirtschaftliche.
l. Steuern oder Gebühren auf monetäre Liquidität
Eine erste Möglichkeit besteht darin, Banknoten nach dem Vorbild des Freigeldes von Silvio Gesell (1949) auszugeben, die man mit Gebührenmarken bekleben muß, wenn sie ihren Nennwert behalten sollen: Eine Note über 100 Währungseinheiten z.B., die 6% p.a. Liquiditätskosten verursachen soll, würde monatlich 0,5 % an Wert verlieren, wenn sie nicht monatlich mit einer Gebührenmarke im Werte von 0,5 Währungseinheiten beklebt würde. Die Gebühren würden in diesem Falle z.B. der Notenbank oder dem Staat zufließen. Sie hätten zur Folge, daß das Geld für alle Geldnutzer in etwa ein neutrales Instrument wäre, das ihnen in der Kasse per Saldo weder Nutzen noch Kosten brächte, das sie aber sehr wohl als nützliches und kostensparen- des Zahlungs- und Zirkulationsmittel verwenden könnten. Geldnutzer könn- ten sich von den Liquiditätskosten durch zügige Verwendung des Zahlungs- mittels befreien. Den Gegenwert des Gebrauchsnutzens, den die in der Kasse festgehaltene Liquidität verursacht, würde das Gemeinwesen in Gestalt der Liquiditätsge- bühren erhalten, so daß auch die Gesamtgesellschaft den Vorteil daraus hätte, daß sie durch eine "gesellschaftliche Tat" Geld hervorbringt und in Funktion hält. Diese erste monetäre Technik für ein "Geld ohne Mehrwert" wäre eine hoheitliche, staatlich organisierte Abschaffung des monetären Kapitalismus. Die Liquiditätsgebühr wäre der Sache nach eine Art Ausgleichsabgabe oder Ausgleichssteuer, mit deren Hilfe der private Liquiditätsnutzen abgeschöpft würde, den die gesellschaftliche Produktion von Liquidität einzelnen Kasse- haltern ermöglicht. Außer dem Abstempeln der Banknoten sind verschiedene Techniken diskutiert worden, die freilich mehr unter dem Aspekt der "Um- laufsicherung" als unter dem eines Ausgleichs des Liquiditätsnutzens entwik- kelt wurden (z.B. Walker 1952; Creutz 1986).
2. Selbsthilfetechniken für ein Geld ohne Mehrwert
(Der im folgenden von Suhr beschriebene Vorschlag soll in München umgesetzt werden. Infos unter: http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/suhr/muenchengeld/; Anm. von W. Roehrig)
"Geld ohne Mehrwert" läßt sich aber wohl nicht nur mit Hilfe des Staates einführen, sondern auch durch Privatinitiative als Finanzinnovation. Irving Fisher hat während der großen Krise Anfang der dreißiger Jahre ei- gens ein Buch geschrieben, in dem er vorgeschlagen hat, im großen Stil ein Geld mit künstlichen Durchhaltekosten einzuführen, um die müde Wirtschaft wieder in Gang zu setzen: Stamp Scrip. (Fisher 1933) Die Ausgabe solcher eigener Geldzeichen ist freilich dort nicht möglich, wo es nicht nur gesetzlich verboten ist, Banknoten nachzumachen, sondern auch, eigene Geldzeichen auszugeben. Deshalb scheidet der Weg über die Ausgabe solcher Geldzeichen durch Banken oder Gemeinden oder Genossenschaften aus. Aber damit ist noch nicht aller Tage Abend. Wenn man sich auf kommunaler oder regionaler Ebene zusammentut und eine Bank gründet oder eine Bank dazu bewegen kann, mitzumachen, ergibt sich noch eine andere Möglichkeit. (Suhr 1986, S. 63 - 76; Suhr/Godschalk 1986, S. 133 -147) Voraussetzung dafür ist, daß man möglichst viele Wirt- schaftssubjekte für die freiwillige Teilnahme an dem neuen System gewinnt. Da es sich um ein am Ende preiswerteres Transaktionssystem als das bishe- rige Geld handelt, hat es die Chance, sich im Wettbewerb durchzusetzen. Worum geht es? Es geht darum, daß zwar nicht die Banknoten, wohl aber die von den Wirt- schaftssubjekten bei der Bank auf dem Konto gehaltene monetäre Liquidität ähnlich mit Kosten belastet wird, wie es soeben für die Banknoten ins Auge gefaßt wurde. Die Bank würde sich zunächst einmal wie bisher Geld auf dem Geld- und Kapitalmarkt verschaffen. Sie würde dieses Geld dann an die Kunden, die bei "Geld ohne Mehrwert" mitmachen wollen, kreditweise wei- tergeben. Die Kunden der Bank, die diese Kredite in Anspruch nehmen, würden aber nicht wie bisher für die gesamte Laufzeit des Darlehens Zinsen zahlen, sondern jeweils nur so lange mit Liquiditätskosten belastet werden, wie sie auf ihrem Konto liquide Posten stehen haben. So könnte die Bank sehr wohl ihre Kosten hereinwirtschaften und ihre her- kömmlichen Geldgeber mit Zinsen bezahlen. Zunächst allerdings müssen diese Kosten der neuartigen Liquidität in herkömmlichem Geld erhoben und erwirt- schaftet werden; denn die herkömmlichen Geldgeber wollen herkömmlich bezahlt werden, ebenso die Mitarbeiter der Bank. Im übrigen aber würden die Kosten so berechnet und verteilt, daß jeder Kunde immer nur für eine sehr kurze Zeitspanne für die Kosten aufkommen müßte. Die Geldbeschaffungs- kosten würden nicht mehr länger beim Kreditnehmer hängenbleiben, sondern immer dort zu Buche schlagen, wo monetäre Liquidität in Anspruch genom- men wird. Die Geschäftsbanken und Sparkassen bei uns dürfen Geldschöpfung be- treiben. Sie schaffen und vernichten sogar tagtäglich Geld, nämlich Giral- geld, wie man es auf dem Konto hat, wenn man Geld auf ein Konto einzahlt oder einen Kredit gutgeschrieben erhält. Bei Einzahlung von Bargeld z.B. wird dieses Bargeld aus dem Verkehr der Nichtbanken untereinander heraus- gezogen ("vernichtet") und durch ("selbstgeschaffenes") Giralgeld der Ban- ken ersetzt. Da also die Banken und Sparkassen Geld ausgeben dürfen, steht nichts mehr im Wege, dieses Geld "nach Maß" so zuzuschneiden, daß es zu einem "Geld ohne Mehrwert" oder zu "neutralem Geld" wird. Zur Verwirklichung des neutralen Geldes ohne Mehrwert bedarf es also von Anfang an wenigstens einer Bank oder Sparkasse. Sie bietet ihren Kunden bisher und zunächst nur die herkömmlichen Dienstleistungen des Bankge- schäftes an. Nennen wir diese Bank oder Sparkasse, die sich bereiterklärt, bei der Emission von Geld ohne Mehrwert mitzuwirken, die "N-Bank" ("N" für neutrales Geld). Die N-Bank bietet allen ihren alten und neuen Kunden die Eröffnung je eines zusätzlichen Kontos an: eines "N-Kontos". Auf diesen N-Konten stellt die N-Bank ihren Kunden Kredite zur Verfügung, für die sie keine her- kömmlichen Zinsen berechnet. Der Kreditnehmer zahlt also nicht Zinsen für die gesamte Laufzeit der Inanspruchnahme seines Kredites. Er zahlt vielmehr nur so lange Liquiditätskosten, wie das Geld auf dem Konto bereitsteht. Von diesen Liquiditätskosten wird er frei, sobald er durch Überweisung von dem N-Konto eine Zahlung auf ein anderes N-Konto tätigt. In dem Zins für herkömmliche Kredite ist jedoch nicht nur ein Preis für die zeitweilige Überlassung des Nutzens monetärer Liquidität enthalten. Der Zins enthält vielmehr auch eine mehr oder weniger hohe "Risikoprämie" derart, daß Kreditnehmer mit guter Bonität eine geringere Risikoprämie zahlen als solche mit schlechter Bonität. Diese Komponente im herkömmlichen Zins muß gedanklich und praktisch abgetrennt werden, so daß zwischen der N-Bank und dem Kreditnehmer gesondert vereinbart wird, welchen Preis er für das Risiko zahlen muß, das er für die N-Bank darstellt. Eine ähnliche Abschich- tung und Trennung ist erforderlich, wenn und soweit im herkömmlichen Zins ein Ausgleich für erwartete Inflation steckt. Praktisch würde das darauf hin- auslaufen, daß ein N-Kreditnehmer geringe Zinsen nach herkömmlichem Muster und im übrigen nur die Liquiditätskosten zu zahlen hätte für die be- reitgehaltene Liquidität. Für die Kredite, die die N-Bank auf den N-Konten ihren N-Kunden zur Verfügung stellt, muß sie sich wie bisher refinanzieren (genau genommen: sie muß sich reliquidisieren!). Sie kann sich also das Geld, das sie ihren N-Kun- den auf die neuartige Art und Weise zur Verfügung stellt, auf den herkömm- lichen Geld- und Kapitalmärkten besorgen. Dort muß sie die zur Refinanzie- rung (bzw. Reliquidisierung) aufgenommenen Gelder auch mit herkömmlichem Geld verzinsen. Damit die Rechnung aufgeht, muß die Bank also die Kredit- und Liquidi- tätskosten, die sie bei ihren N-Kunden erhebt, in herkömmlichem Geld be- kommen. Das führt dazu, daß die Liquiditätskosten einerseits und die her- kömmlich berechnete Risiko- und Inflationsausgleichsprämie andererseits dem herkömmlichen Konto des betroffenen Kreditnehmers belastet werden. "Liquiditätskosten" hat der Inhaber eines N-Kontos auch dann zu tragen, wenn er sein Konto überzieht. Das erscheint zunächst nicht ohne weiteres verständlich. Es hat aber seinen guten Grund und seine Richtigkeit: Es darf nämlich keine Rolle spielen, ob die Liquidität auf dem N-Konto im Soll oder im Haben zu Buche steht. Bei einem Guthaben besteht die "Liquidität" darin, daß ungewiß ist, ob und wann der Kunde darüber verfügt: Er hat sich zeitlich nicht festgelegt. Wird das Konto einfach überzogen, so besteht der Zustand der "Liquidität" darin, daß wiederum zeitlich offen ist, wann der Kunde sein Konto ausgleicht, z.B. auch dadurch, daß er einen zeitlich festgelegten Kredit aufnimmt. So gesehen gibt es also nicht nur kostentragende Guthaben, sondern auch kostentragende Überziehungspositionen. Wer will, kann sich die Rechtferti- gung dieser scheinbar paradoxen Kosten für Negativposten plausibel machen, indem er sich vorstellt: Wer mit Geld umgeht, das Anweisungen auf Anteile am Sozialprodukt vermittelt, der darf in keinem Falle die Zirkulation unge- straft stören, - weder dadurch, daß er ins Ungewisse hinein Geld nicht aus- gibt, das er hat, - noch dadurch, daß er ins Ungewisse hinein Geld ausgibt, das er nicht hat. Der Zahlungsverkehr von N-Konto zu N-Konto spielt sich nicht anders ab als Überweisungen von herkömmlichen Konten auf herkömmliche Konten. Liquiditätskosten fallen jeweils dann an, wenn auf den N-Konten von der Null-Linie abgewichen wird. Und diese Kosten werden, wie gesagt, in her- kömmlichem Geld erhoben und den herkömmlichen Konten der betroffenen Kunden belastet. Wie aber steht es mit der Abhebung von Bargeld? Hebt ein Kunde Bargeld von seinem N-Konto ab, so entgeht der Bank die Möglichkeit, den Weg dieses Geldes weiterzuverfolgen und Liquiditätskosten immer dort zu erheben, wo sich das Geld gerade befindet. Sie muß sich des- halb an den Kunden halten, der von seinem N-Konto Bargeld abgehoben hat. Von ihm fordert sie also die Liquiditätskosten so lange, bis er das herkömm- liche Bargeld wieder einzahlt. (Dann freilich kann der betroffene Kunde ebensogut das Geld von seinem herkömmlichen Konto abheben und einen herkömmlichen Kredit in Anspruch nehmen, für den gegebenenfalls sein Guthaben auf dem N-Konto oder eine Anlage dieses Geldes bei der Bank als Sicherheit dient.) Ein N-Kunde, der von seinem N-Konto Bargeld abhebt, verhält sich nicht anders und wird so behandelt, als entnähme er dem N-System einen herkömmlichen Kredit. Also zahlt er auch herkömmliche Zinsen. Nicht anders als die Abhebung von Bargeld spielt sich die Sache ab, wenn jemand, der ein Guthaben auf seinem N-Konto hat, Überweisungen auf her- kömmliche Konten tätigen möchte: Auch dieser Kunde erscheint aus der Sicht des N-Systems wie ein Bar- abheber und wird so behandelt. (Und wiederum erscheint es denkbar, daß der N-Kunde sein N-Guthaben der Bank als N-Festgeld oder N-Darlehen anbie- tet, um die Liquiditätskosten zu senken oder ihnen zu entgehen, und daß er dann auf seinem herkömmlichen Konto einen herkömmlichen Kredit nimmt, für den wiederum sein Guthaben als Sicherheit fungieren kann.) In dem Umfange, wie das N-Zahlungsnetzwerk wächst und die Teilneh- merzahl zunimmt, wird es wahrscheinlich, daß monetäre Märkte entstehen, die den heutigen Geld-, Kapital- und Devisenmärkten entsprechen: Man wird dann mit herkömmlichem Geld N-Liquidität und mit N-Liquidität herkömm- liches Geld kaufen können. Schließlich gilt es noch den Fall zu bedenken, daß ein Kunde herkömm- liches Bargeld auf ein Konto einzahlen möchte. In diesem Falle wird er kaum herkömmliches Bargeld einfach auf ein N-Konto legen. Denn dabei würde er seine bisher kostenlose Liquidität in eine für ihn kostenträchtige umtauschen. Also wird er sein herkömmliches Bargeld bei seiner Bank auf herkömmliche Weise anlegen, indem er ein Sparbuch eröffnet, Termingelder vereinbart oder Obligationen kauft. Dann wird er einen N-Kredit in Anspruch nehmen, für den seine Geldanlage als Sicherheit fungiert. Sobald N-Kunden auf ihren N-Konten über Guthaben verfügen, für die sie im Augenblick keine "Verwendung" im übrigen Wirtschaftsleben haben, werden sie dazu motiviert, diese ihre N-Liquidität "anzulegen". Dieses "neu- trale Geld" drängt also in die "Geldanlage". Der Konteninhaber sucht dann also andere Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr, die noch "Verwendung" für N-Liquidität haben. Er kann einem Freund, einem Geschäftspartner oder sonst jemandem ein Darlehen in N-Liquidität geben. Oder aber er bietet sein Gut- haben der N-Bank als Festgeld oder Darlehen an. Und genau dieser Fall, daß nämlich N-Kunden ihre eigenen N-Bankgutha- ben in N-Liquidität zu Anlagezwecken anbieten, ist aufschlußreich. Von dem Augenblick an nämlich, in dem die N-Bank N-Liquidität ihrer N-Kunden entgegennimmt, beginnt die Selbstreliquidisierung im N-System. Jetzt fließt das erste Leihgeld neuer Art und Güte zurück in das Gebiet des neuen neu- tralen Geldes. Der Kreislauf des neutralen Geldes schließt sich. Soweit dann die N-Bank (oder das N-Banksystem) sich durch N-Einlagen reliquidisiert, bedarf es der Mittel nicht mehr, die während der Startphase auf den herkömmlichen Geld- und Kapitalmärkten aufgenommen werden mußten. Es entfallen dann auch die Zinsen in herkömmlichem Geld, die das N-System noch an die Geldgeber herkömmlicher Art abführen mußte. Und soweit die N-Bank ihre eigenen Aufwendungen an Angestellte und an Geschäftspartner in N-Liquidität tätigen kann, kann und muß sie Erträge in N-Liquidität hereinwirtschaften. Das wiederum bedeutet, daß auch die N-Kunden ihre Kosten (Kreditrisiko- und Liquiditätskosten) mehr und mehr in N-Liquidität werden entrichten können. So erscheint es am Ende möglich, daß sich das N-System als eine mone- täre Enklave in der kapitalistischen Welt entwickelt, die sich von dem kapi- talistischen Umfeld in dem Maße emanzipiert, wie die Enklave wächst. Und in dem Maße, wie die Enklave wächst, unterwandert sie die kapitalistische Umgebung. Die preiswerten Liquidisierungsdienste setzen sich am Ende im Wettbewerb mit dem kapitalistischen Geld durch. Und so erweist sich das neutrale Geld ohne Mehrwert eben durch seine Kostenträchtigkeit als unge- heuer kräftig: als so kräftig, daß es dem kapitalistischen Geld die Nachfrage abgraben kann. Wenn sich das N-System im wesentlichen in sich selbst reliquidisiert, er- scheint eine Entwicklung denkbar, die ich noch nicht recht absehe: Sofern die Kosten, die der N-Bank bei ihren Liquiditäts- und Kreditdiensten entstehen, so gering werden sollten, daß auch die Kosten, die den Kunden in Gestalt von Liquiditätskosten belastet werden, extrem niedrig werden, dann wird mone- täre Liquidität am Ende vielleicht wieder so billig, daß ihre Kosten geringer sind als der Liquiditätsnutzen. Dann beginnen die Kunden wieder eine "Nei- gung zur Liquidität" zu entwickeln, und das könnte zu Marktsituationen füh- ren, bei denen wieder herkömmliche Zinsen verlangt werden für Darlehen. Dann beginnt der Kreislauf vielleicht von neuem mit dem Trick der N-Kon- ten, auf denen die Zinsen in Liquiditätskosten transformiert werden... Kurz: Es sind gewiß noch nicht alle Fragen der "neutralen Liquidität" und des Geldes ohne Mehrwert beantwortet, noch nicht alle Probleme gelöst. - Während der Startphase ist das System der N-Bank einem Barter-Klub sehr gut vergleichbar: Es gilt, die Anzahl der Teilnehmer zu vergrößern, um einen Markt für das neue Verrechnungsverfahren aufzubauen. So erscheint es auch denkbar, daß man, bevor man das System startet, mit einem Barter-Klub beginnt. Wenn dann der Klub seine Anfangsschwierigkeiten überwunden hat, kann man die Verrechnungsarbeit einer N-Bank übertragen und die Annähe- rung des Tauschklubs an herkömmliche Zahlungstechniken mit neuartigem Geld bewirken. Die Anfangsschwierigkeiten der Finanzinnovation "neutrales Geld" dürften erheblich sinken, sobald es gelingt, das Projekt auf kommunaler Ebene zu starten und die betroffene Gemeinde dafür zu gewinnen, in das N-System einzusteigen. Dann wüßte jeder aktuelle und potentielle Teilnehmer, daß er wenigstens seine kommunalen Verbindlichkeiten (Gewerbesteuer, Abwasser, Müllabfuhr, Straßenreinigung usw.) mit N-Liquidität begleichen kann. Das Projekt könnte sogleich mit einer sehr viel höheren "Akzeptanz" des neuen Zahlungsmittels rechnen, weil sich die Bereitschaft der Kommune, das Geld anzunehmen, auswirkt auf die Bereitschaft aller anderen, das "neutrale Geld" in Gestalt der N-Liquidität anzunehmen.
III. Prinzipien einer freiheitlich-sozialen Geldpolitik
l. Stabile Währung
Bei allen vorstehenden Überlegungen wurde vernachlässigt, welche Aus- wirkungen es hat, wenn man nicht stabile Währung, sondern Inflation oder Deflation voraussetzen muß. Auch "Geld ohne Mehrwert" funktioniert auf die angedeutete Weise nur dann reibungslos, wenn die Geldmenge so weit kon- trolliert wird, daß die Währung im großen und ganzen stabil bleibt. Die geldordnungspolitischen Ansätze bei dem Nutzen und den Kosten der Liqui- dität können zwar auf lange Sicht das währungspolitische Problem einer sta- bilen Währung erleichtern, zielen aber auf andere Symptome und sind daher nicht das geeignete Mittel, stabile Währung als solche dort herbeizuführen, wo die Geldmengenpolitik im übrigen versagt.
2. Austauschfreiheit als Grundlage der marxistischen Kritik der Ökonomie
Es verdient gerade im Zusammenhang mit der marxistischen Ökonomie erwähnt und betont zu werden, auf welchen Voraussetzungen Marx bei seiner Kritik der politischen Ökonomie selbst aufbaut. Es war schon die Rede davon, daß am Anfang des "Kapitals", also an unübersehbarer Stelle, die Fundamente in dem Sinne gelegt werden, daß die Ware ein nutzloser Gegenstand ist, wenn sie nicht durch ihre Eigenschaften "menschliche Bedürfnisse irgend einer Art befriedigt". (Marx 1890, S. 49) Nur diese Nützlichkeit der Ware in bezug auf menschliche Bedürfnisse macht sie zu "Gebrauchswerten", und zwar unab- hängig davon, ob diese Ware "viel oder wenig Arbeit kostet". (S. 50) Also noch einmal und in prägnanter Kürze: Nur das menschliche Bedürfnis entscheidet über den Gebrauchswert. Nur der Gebrauchswert qualifiziert ein Ding zur Ware und verleiht der Ware ihren Tauschwert. So entscheidet in- direkt das menschliche Bedürfnis, und nur das menschliche Bedürfnis, über die Nützlichkeit nicht nur der Waren, sondern auch der in sie investierten Arbeit. Arbeit, die keine Gebrauchswerte in diesem Sinne erzeugt, ist nutzlose Arbeit. (Marx 1859, S. 15) Wenn z.B. "die bestimmte Ware in einem das gesellschaftliche Bedürfnis dermalen überschreitenden Maß produziert worden ist, (so wird) ein Teil der gesellschaftlichen Arbeitzeit vergeudet, und die Warenmasse repräsentiert dann auf dem Markt ein viel kleineres Quantum gesellschaftlicher Arbeit, als wirk- lich in ihr enthalten ist." (Marx 1894, S. 197) Eine solche Vergeudung der Arbeit ist eine höchst demütigende Mißachtung und eine höchst unsoziale Behandlung, die den Arbeitern und Unternehmern in allen Wirtschaftssyste- men zuteil wird, in denen mangels Markt an den Bedürfnissen vorbeigear- beitet wird. Wenn man also die Vergeudung von Arbeitskraft im besonderen und die Vergeudung von ökonomischen Ressourcen im allgemeinen vermeiden will, so muß man so präzise, so genau und so effektiv wie möglich sicherstellen, daß die Arbeitsprodukte Gebrauchswert haben und mit diesem ihrem Gebrauchs- wert bestmöglich menschliche Bedürfnisse befriedigen: Die Bedürftigen be- stimmen über den Wert der Arbeit. Wie aber können die Menschen, denen die Produkte mit ihrem Ge- brauchswert dazu nutzen sollen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, - wie können diese bedürftigen Menschen den Produzenten möglichst genau, mög- lichst direkt und möglichst unverfälscht mitteilen, welche Bedürfnisse sie haben und ob die Produkte ihre Bedürfnisse auch wirklich befriedigen? Hinter dieser Frage verbirgt sich ein entscheidendes Informationsproblem: In der Volkswirtschaft bedarf es eines effektiven und möglichst verfälschungs- sicheren Nachrichtensystems, vermittels dessen Signale über menschliche Be- dürfnisse von den Konsumenten an die Produzenten übermittelt werden kön- nen. Und tatsächlich: Dadurch, daß innerhalb der Wirtschaft durch "gesell- schaftliche Tat" eine Äquivalentform der Waren, nämlich das Geld, hervor- gebracht wurde, ist zugleich ein Meßsystem entstanden, mit Hilfe dessen die bedürftigen Menschen den Produzenten signalisieren können, ob und in wel- chem Umfang sie ein Produkt "wertschätzen". So wurde denn auch das Geld vor Marx gerade nicht nur als ein Maßstab der Arbeit, sondern als ein Maß- stab vor allem der Bedürfnisse behandelt: bei Aristoteles (1972, S. 112f.) ebenso wie etwa bei Hegel. (1821, S. 303: Zusatz zu § 63) Wenn aber die bedürftigen Menschen als Konsumenten vermittels des Maßstabes "Geld" (Währung) direkt oder indirekt den Produzenten signali- sieren sollen, welche ökonomische Wertschätzung sie diesem oder jenem Produkt entgegenbringen, dann darf man den Konsumenten und Produzenten nicht vorschreiben, zu welchen Preisen sie in Austauschverkehr miteinander treten sollen: "Im Preis ist der Tauschwert ausgedrückt als ein bestimmtes Quantum Geld (...) Das Geld ist hier also gesetzt als das Maß der Tausch- werte." (Marx 1857/58, S. 104). Also ist das Geld auch Maß der Bedürfnisse, nämlich ein Maß der Nützlichkeit von Waren relativ zu den Bedürfnissen. In den Preisen drückt sich geradezu die Bewertung aus, die die Arbeit von den Bedürfnissen her erhält. Nur was ein Bedürfnis befriedigt, hat Gebrauchswert. (Marx 1890, S. 49f.) - Und es "kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchswert zu sein". (S. 55) Das Maß für die Nützlichkeit der auf eine Ware verausgabten Arbeit ist ihr Gebrauchswert, der sich beim Warenaustausch im Warenwert als Geldwert ausdrückt. Ohne Austausch findet keine angemessene Bewertung der Arbeit statt. Denn die Waren
"müssen sich als Gebrauchswerte bewähren, bevor sie sich als Werte re- alisieren können. Denn die auf sie verausgabte menschliche Arbeit zählt nur, soweit sie in nützlicher Form verausgabt ist. Ob sie anderen nützlich (ist), ihr Produkt daher fremde Bedürfnisse befriedigt, kann aber nur ihr Austausch beweisen." (S. l00f.)
Ohne freien Austausch der Waren und Arbeitserzeugnisse also keine rich- tige Bemessung der Nützlichkeit von Arbeit, also auch keine richtige Bemes- sung der Gebrauchswerte, also insgesamt falsche Mitteilungen über Nutzen, Gebrauchswerte und Austauschwerte von Waren im volkswirtschaftlichen Prozeß. Es mag zwar durchaus Gebiete geben, auf denen der einzelne Konsument seine Bedürfnisse nicht richtig einschätzen kann: z.B. als Alkoholiker, als Morphiumsüchtiger oder als sonst krankhafte Persönlichkeit. Im übrigen aber weiß schon der Bewohner eines Hauses am besten, ob ihm das Haus nutzt und gefällt; und der Besucher eines Restaurants kann am besten beurteilen, ob das Essen, das man ihm serviert, ihm den Preis wert ist oder nicht. Wenn sich also die Preise nicht im Austauschprozeß als Maßstab sowohl des Bedürfnisses als auch der nützlichen Arbeit von selbst herausbilden, wenn sie vielmehr von außen vorgeschrieben werden, dann besteht die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit, daß gesellschaftliche Arbeit "vergeudet" wird, weil Waren "in einem das gesellschaftliche Bedürfnis dermalen überschreitenden Maße produziert" werden. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr und Wahrscheinlichkeit, daß an anderen Stellen Gebrauchswerte nicht auf dem Markt erscheinen, weil der Preis, der gefordert werden darf, nicht hinreichend Anreiz bietet, die erforderliche Menge nützlicher Arbeit aufzuwenden. So setzt am Ende nicht nur die kritische Ökonomie von Marx den freien Austausch von Arbeit, Geld und Produkten als seine reale Basis voraus, son- dern so setzt ebensosehr die Abschaffung des Kapitalismus mit Hilfe eines "Geldes ohne Mehrwert" voraus, daß Arbeit, sonstige Güter und Geld im wesentlichen frei austauschbar sind. Es ist selbstverständlich, daß die freie Austauschbarkait nicht nur durch Preisvorschriften, sondern auch durch natürliche oder künstliche Monopole außer Kraft gesetzt werden kann. Doch alles dies sind dann spezielle Proble- me, die am Ende wenig zu tun haben mit der Fundamentalstruktur des über- lieferten Kapitalismus, nämlich mit dem Mehrwert, der in das überlieferte Geld mit eingebaut ist.
3. Das monetäre Tauschwertsystem als "System der Gleichheit und Freiheit"
Für Marx ist das Tauschwertsystem im allgemeinen (letztlich also der freie Markt) und das Geldsystem im besonderen ausdrücklich das elementare "Sy- stem der Gleichheit und Freiheit". Er spricht affirmativ von der "Dreieinigkeit von Eigentum, Freiheit und Gleichheit." (1857/58, S. 915) Marx behauptet und verteidigt diese Erkenntnis sowohl gegenüber ihrer Idealisierung durch die Apologeten der bürgerlichen Ökonomie als auch ge- genüber jenen französischen Sozialisten wie Proudhon, die die Freiheit und Gleichheit nur "verfälscht" sähen durch das Geld und das Kapital. (S. 152 -162, 915f.) Marx vertraut auf die Freiheit und Gleichheit im Aus- tausch- und Geldsystem der Volkswirtschaft sogar so weit, daß er davon ausgeht, zwischen Kapital und Arbeit würden im Arbeitskontrakt durchaus Äquivalente ausgetauscht: Nicht hier, beim Vertrag, entstünde der Mehrwert, sondern durch die Ausbeutung der Arbeit im Produktionsprozeß selbst. Die Widersprüche, die etwa im Kapitalismus erscheinen, seien "immanente Wi- dersprüche, Verwicklungen dieses Eigentums, (dieser) Freiheit und (dieser) Gleichheit selbst", die in ihrer historischen Entwicklung in ihr Gegenteil umschlügen. (S. 916, 159f.) Um zu verstehen, wie grundlegend reale Freiheit und reale Gleichheit nach Karl Marx ihre reale Basis im Tausch- und Geldsystem haben, muß man sich die Polemik von Marx gegen die Idealisierung des Tauschprinzips in Erinne- rung rufen: Schaue man nur auf die Austauschformen, ohne Ansehen der konkreten Menschen, ihrer konkreten Bedürfnisse und ihrer konkreten Lei- stungen, dann, so betont Marx, erschienen alle wirklichen Unterschiede in ihrer geschichtlichen Entwicklung als ausgelöscht. Dieser bloße Schein von Gleichheit und Freiheit im Tausch diene dann den bürgerlichen Ökonomen zur "Apologetik der bestehenden ökonomischen Verhältnisse." (S. 152, 916) Gegenüber dieser bloß oberflächlichen Formbestimmung des Austausches betont Marx die "ganz andren Prozesse", die "in der Tiefe" vorgehen (S. 159): Dieser der abstrakten Form vorausliegende Inhalt könne nur sein:
"1) Die natürliche Besonderheit der Ware, die ausgetauscht wird. 2) Das besondre natürliche Bedürfnis der Austauschenden (...) Dieser, der Inhalt des Austauschs, der ganz außerhalb seiner ökonomischen Bestimmung liegt, so, weit entfernt die soziale Gleichheit der Individuen zu gefährden, macht vielmehr ihre natürliche Verschiedenheit zum Grund ihrer sozialen Gleichheit. Wenn das Individuum A dasselbe Bedürfnis hätte wie das In- dividuum B und in demselben Gegenstand seine Arbeit realisiert hätte, wie das Individuum B, so wäre gar keine Beziehung zwischen ihnen vorhan- den; sie wären gar nicht verschiedne Individuen nach der Seite ihrer Pro- duktion hin betrachtet. Beide haben das Bedürfnis zu atmen; für beide existiert die Luft als Atmosphäre; dies bringt sie in keinen sozialen Kon- takt; als atmende Individuen stehn sie nur als Naturkörper zueinander in Beziehung, nicht als Personen." (S. 154)
Marx beschreibt hier mit einer köstlichen Anschaulichkeit das physische Individuum, um dann den sozialen Menschen dagegenzustellen: Nur und erst die
"Verschiedenheit ihres Bedürfnisses und ihrer Produktion gibt (...) den Anlaß zum Austausch und zu ihrer sozialen Gleichsetzung in ihm; diese natürliche Verschiedenheit ist daher die Voraussetzung ihrer sozialen Gleichheit im Akt des Austauschs (...) Demnach sind sie aber nicht gleichgültig gegeneinander, sondern integrieren sich, bedürfen einander, so daß das Individuum B als objektiviert in der Ware ein Bedürfnis für das Individuum A ist und vice versa (...)" (Marx 1857/8, S. 154)
Dies alles beweise,
"daß jeder Mensch als Mensch über sein eignes besondres Bedürfnis etc. übergreift, und daß sie sich als Menschen zueinander verhalten (...) Soweit nun diese natürliche Verschiedenheit der Individuen und der Waren der- selben (...) das Motiv bilden zur Integrierung dieser Individuen, zu ihrer gesellschaftlichen Beziehung als Austauschende, worin sie sich als Gleiche vorausgesetzt sind und bewähren, kommt zur Bestimmung der Gleichheit noch die der Freiheit hinzu." (S. 154f.)
Sehr präzise wird dann der Vorgang der Freiheit erfaßt:
"Obgleich das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individu- ums B, bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch vice versa, sondern sie erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als Personen, deren Willen ihre Waren durchdringt. Danach kommt hier zunächst das juristische Moment der Person herein und der Freiheit, soweit sie darin enthalten ist. (...) Jedes entäußert sich desselben (Eigentums) freiwillig." (S. 155)
Das ist letztlich genau das Wechselseitigkeitsverhältnis, das Hegel im "System der Bedürfnisse" beschrieben hat. Bei Marx liest sich das weiter wie folgt:
"Jedes dient dem andren, um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines Mittels. Es ist nun beides in dem Bewußt- sein der beiden Individuen vorhanden: 1 ) daß jedes nur seinen Zweck erreicht, soweit es dem andren als Mittel dient; 2) daß jedes nur Mittel für das andre (Sein für andres) wird als Selbstzweck (Sein für sich); 3) daß die Wechselseitigkeit, wonach jedes zugleich Mittel und Zweck, und zwar nur seinen Zweck erreicht, insofern es Mittel wird, und nur Mittel wird, insofern es sich als Selbstzweck setzt, daß jeder sich also als Sein für andere setzt, insofern er Sein für sich, und der andre als Sein für ihn, insofern er Sein für sich - daß diese Wechselseitigkeit ein notwendiges fact ist, vorausgesetzt als natürliche Bedingung des Austauschs, daß sie aber als solche jedem der beiden Subjekte des Austauschs gleichgültig ist, und ihm diese Wechselseitigkeit nur Interesse hat, soweit sie sein Interesse als das des andren ausschließend, ohne Beziehung darauf, befriedigt." (S. 155) "Aus dem Akt des Austauschs selbst ist das Individuum, jedes derselben, in sich reflektiert als ausschließliches und herrschendes (bestim- mendes) Subjekt desselben. Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums gesetzt: Freiwillige Transaktion; Gewalt von keiner Seite; Setzen seiner als Mittel, oder als dienend, nur als Mittel, um sich als Selbstzweck, als das Herrschende und Übergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige Interesse, kein darüberstehendes verwirklichend; der andre ist auch ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend aner- kannt und gewußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Inter- esse eben nur in der Doppelseitigkeit, Vielseitigkeit, und Verselbständi- gung nach den verschiednen Seiten, der Austausch des selbstsüchtigen Interesses ist. Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen. Wenn also die ökonomische Form, der Aus- tausch nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der In- halt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit." (S. l56)
Marx verkennt nicht, daß eine Art Austauschzwang besteht:
"Nun ist es zwar richtig, daß die Beziehung der Austauschenden nach der Seite der Motive, d.h. der natürlichen, außerhalb des ökonomischen Pro- zesses fallenden, auch auf einem gewissen Zwang beruht; aber diese ist nach der einen Seite selbst nur die Gleichgültigkeit des anderen für mein Bedürfnis als solches, gegen meine natürliche Individualität, also seine Gleichheit mit mir und Freiheit, die aber ebensosehr die Voraussetzung der meinigen ist; andererseits, soweit ich bestimmt werde, forciert durch meine Bedürfnisse, ist es nur meine eigne Natur, die ein Ganzes von Bedürfnissen und Trieben ist, das mir Gewalt antut, nichts Fremdes (oder mein Interesse in allgemeiner, reflektierter Form gesetzt). Aber es ist ja auch eben diese Seite, wodurch ich dem andren Zwang antue, ihn in das Tauschsystem treibe. Im römischen Recht ist der servus daher richtig be- stimmt, als einer, der nicht für sich durch den Austausch erwerben kann." (S . 156f. )
Der Sklave bietet ein Beispiel für faktische Asymmetrie in den realen Be- dingungen des Austausches. Zugleich zeigt er, inwiefern die "reale Basis aller Gleichheit und Freiheit" unter geschichtlichen Bedingungen eine "andere Po- tenz" annimmt: als eine Struktur von entwickelten "juristischen, politischen, sozialen Beziehungen". (S. 156) Der beschriebene wechselseitige Tauschzwang offenbart zudem, wo die heikle und brisante Problematik der Tauschgleichheit angesiedelt ist: in den realen Voraussetzungen der Tauschgleichheit. Treffen etwa Partner aufeinan- der, von denen der eine dringend auf Lebensmittel angewiesen ist, der andere jedoch im Überflusse lebt, dann ist der Austausch nur der Form, aber nicht dem Inhalte nach eine Erscheinungsform von realer Gleichheit und Freiheit. Und vor diesem Hintergrund schildert Marx die angeblich neutrale Rolle des Geldes:
"Da das Geld erst die Realisierung des Tauschwerts ist, und erst bei ent- wickeltem Geldsystem das System der Tauschwerte sich realisiert hat oder umgekehrt, so kann das Geldsystem in der Tat (!) nur die Realisation dieses Systems der Freiheit und Gleichheit sein. Als Maß gibt das Geld nur (!) dem Äquivalent den bestimmten Ausdruck, macht es erst zum Äquivalent auch der Form nach. In der Zirkulation tritt zwar (!) noch ein Unterschied in der Form hervor: Die beiden Austauschenden erscheinen in den unterschiedenen Bestimmungen als Käufer und Verkäufer; der Tauschwert erscheint einmal als allgemeiner in der Form des Geldes, dann als besondrer in der natürlichen Ware, die nun Preis hat; aber (!) erstens wechseln diese Bestimmungen; die Zirkulation selbst macht nicht ein Ungleichsetzen, sondern nur (!) ein Gleichsetzen, ein Aufheben des nur (!) verneinten Unterschieds. Die Ungleichheit ist nur (!) eine rein formelle. Endlich im Geld als zirkulierendem selbst, so daß es bald in der einen Hand, bald in der andren erscheint, und gleichgültig gegen dies Erschei- nen ist, setzt sich nun gar die Gleichheit (!) sachlich. Jeder erscheint als Besitzer des Geldes dem andren gegenüber, selbst als Geld, soweit der Prozeß des Austauschs betrachtet wird. Darum ist die Gleichgültigkeit und Gleichgeltendheit in der Form der Sache ausdrücklich vorhanden. Die besondre natürliche Verschiedenheit, die in der Ware lag, ist ausgelöscht und wird beständig durch die Zirkulation ausgelöscht." (S. 157f.)
Danach erscheint eine durch das Geld selbst hervorgerufene Ungleichheit als geradezu logisch ausgeschlossen; ist doch das Geld der Inbegriff der gleichgemachten Waren. Ungleichheit und Bereicherung müssen andere Gründe haben:
"Wenn das eine verarmt, das andere sich bereichert, so ist das ihr freier Wille und geht keineswegs aus dem ökonomischen Verhältnisse, aus der ökonomischen Beziehung selbst, in die sie zueinander gesetzt sind, her- vor. " (S. 158)
Nicht einmal gegen Ungleichheiten durch Erbgang wird in diesem Zusam- menhang etwas eingewendet. Im Gegenteil; Marx ist kein Feind von Unter- schieden, die ihre natürliche Grundlage haben, sondern er rechtfertigt sie geradezu, und zwar folgerichtig und konsequent, da er die soziale Gleichheit im Austausch der unterschiedlichen Waren bei unterschiedlichen Bedürfnissen konstituiert sieht:
"Selbst die Erbschaft und dergleichen juristische Verhältnisse, die so ent- stehende Ungleichheiten verewigen, tun dieser natürlichen Freiheit und Gleichheit keinen Eintrag. Wenn das ursprüngliche Verhältnis des Indivi- duums A nicht im Widerspruch steht zu diesem System, so kann dieser Widerspruch sicher nicht dadurch hervorgebracht werden, daß das Indivi- duum B an die Stelle des Individuums A tritt, es verewigt. Es ist dies vielmehr ein Geltendmachen der sozialen Bestimmung über die natürliche Lebensgrenze hinaus: eine Befestigung derselben gegen die zufällige Wirkung der Natur, deren Einwirkung als solche vielmehr Aufhebung der Freiheit des Individuums wäre." (S. 158)
Hier zeigt sich, daß Marx die Asymmetrien des Geldes, die er andernorts durchaus erkennt, bei der "realen Basis" des geldvermittelten Tauschs ange- sichts der gleichmacherischen Funktionen des Geldes übersieht, vergißt und deshalb auch vernachlässigt. Tatsächlich aber ist es gerade das Geld, das die natürliche Ungleichheit in ein monetäres Privilegium transformiert, verfestigt und verstärkt. Das Geld und damit die Trennung von Verkauf und Kauf "befähigt so eine Masse Pa- rasiten, sich in den Produktionsprozeß einzudrängen und die Scheidung aus- zubeuten." (Marx 1859, S. 79) Ein späterer Kritiker beschreibt das ganz ähnlich:
"Das Geld beherrschte also unbedingt den Warenaustausch und die Ar- beitsmittel (Produktionsmittel). Alles war dem Gelde zinspflichtig; es schob sich zwischen Verbraucher und Erzeuger, zwischen Arbeiter und Unter- nehmer; es trennte alle, die danach streben müssen, sich zu vereinigen, und die entstandenen Verlegenheiten beutete es aus. Die Beute nannte man Zins. " (Gesell 1949, S. 288)
Weil Marx seinen ureigenen, an sich grundlegenden und richtigen Gedan- ken von dem Geld, das sich dazwischenschiebt und zur Ausbeutung der Trennung von Produzenten und Konsumenten führt, nicht nachhaltig aufgreift, - und da er auch seine eigenen an sich richtigen Gedanken vom Geld als gesellschaftlicher Macht, vom Geld als geradezu magischem Instrument nicht zu Ende spinnt, sucht er das Problem an falscher Stelle. Und er kommt in die Lage, anderen wie Proudhon, die dem gleichen Problem auf der Spur und dabei auf der richtigeren Fährte sind, Irrtum vorzuwerfen: Es sei "ein ebenso frommer wie alberner Wunsch, daß z.B. der Tauschwert aus der Form von Ware und Geld sich nicht zu der Form des Kapitals oder die Tauschwert produzierende Arbeit sich nicht zur Lohnarbeit fortentwickeln soll". (Marx 1857/8, S. 916, ähnlich S. 160) Es sei eine
"Albernheit der Sozialisten (namentlich der französischen)", demonstrieren zu wollen, "daß der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der Zeit) oder ihrem Begriff nach (in ihrer adäquaten Form) ein System der Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht worden sind durch das Geld, Kapital etc. (...) Ihnen ist zu antworten: daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist und daß, was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Gleichheit und Freiheit, die sich ausweisen als Ungleichheit und Unfrei- heit." (S. 160)
Es hat sich jedoch im Verlaufe dieser Untersuchung gezeigt, daß das Geld selbst schon gegenüber den Waren einen Gebrauchs-Mehrwert besitzt. Es muß sich also gar nicht erst zum Kapital wandeln und entwickeln, sondern es ist selbst schon die erste, ursprüngliche Erscheinungsform der kapitalistischen Privatisierbarkeit gesellschaftlich erzeugter Werte, jedenfalls in seiner über- lieferten Gestalt als "Geld mit kostenlosem Liquiditätsnutzen". Geld erweist sich damit als genau diejenige künstliche Struktur, die es Privatleuten erlaubt, das von Marx so genau beschriebene gesellschaftliche Verhältnis des inte- grierenden Austauschs auszubeuten. Und insofern hat Marx mit seiner allge- meinen Analyse im Ansatz recht behalten; nur die bestimmte Anwendung und Deutung bezüglich des Geldes und des Mehrwertes trifft die Sache nicht ganz. Die "Störungen" der Gleichheit und Freiheit, von denen Marx spricht (S. 160) sind dem Geld nämlich noch viel unmittelbarer "immanent", als Marx es sich vorstellte, als er davon sprach. Und wenn dann diese "Störun- gen" , die dem herkömmlichen Geld und damit auch der Geldwirtschaft ins- gesamt "immanent" sind, an der Wurzel behoben werden, dann wird die "reale Basis" von Gleichheit und Freiheit überhaupt erst richtig konstituiert und hergestellt! Dann erst gilt wirklich:
"Der in der Zirkulation entwickelte Tauschwertprozeß respektiert (...) nicht nur die Freiheit und die Gleichheit, sondern sie sind sein Produkt; er ist ihre reale Basis. (...) Das Tauschwertsystem und mehr das Geldsystem sind in der Tat das System der Freiheit und Gleichheit." (S. 915f., ähnlich S. 160)
Denn "der Austausch oder Verkauf der Waren zu ihrem (Markt-)Wert ist das Rationelle, das natürliche Gesetz" des "Gleichgewichts" zwischen "ge- sellschaftlicher Arbeit" einerseits und der Befriedigung der "gesellschaftlichen Bedürfnisse" andererseits. (Marx 1894, S. 197; Zusatz "(Markt-)" von mir) "Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die pro- duktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit ." (Marx 1857/8, S. 156) Und so rundet sich die reale "Dreieinigkeit von Eigentum, Freibeit und Gleichheit." (vgl. S. 915)
IV . Das allgemeine Interesse als bloße Allgemeinheit
der selbstsüchtigen Interessen?
1. Das System der Bedürfnisse
Soeben wurde Marx vielfach für ein Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit zitiert, das als perfekte und konkretisierende Umschrei- bung dessen gelten kann, was Hegel als das "System der Bedürfnisse" be- griffen hat. Auch nach Hegel spielt sich die Befriedigung der Bedürfnisse in einer eigenartigen und gegenläufigen dialektischen Bewegung ab, in welcher die "subjektive Selbstsucht" umschlägt in den "Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller". (Hegel 1821, § 199) "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andre ist ihm Nichts. Aber ohne Beziehung auf Andre kann er den ganzen Umfang seiner Zwecke nicht erreichen. Diese Andren und ihr Verhältnis sind nun Mittel zum Zweck des Besonderen." (Hegel 1818-31, S. 567, auch 614-616) Was Marx als das wechselseitige "Integrieren" schon moderner beschreibt faßt Hegel so:
"Eins ist nur mit (dem) und durch das Andre, und die Notwendigkeit be- steht in dem Schein, daß zwei Selbständige sind, (...) daß aber das wahre Verhältnis dies ist, daß beide nur durch und füreinander sind." (S. 574) Man hat es zu tun mit dem "Gebundensein zweier Selbständiger anein- ander, so daß an sich Jedes nur in der Identität mit dem anderen ist, aber beide als selbständig erscheinen (...) Und doch hat Jedes das Andre zur Bedingung, ist nur durch das Andre." (S. 572)
Dazu noch einmal Marx:
"Beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in der Dop- pelseitigkeit, Vielseitigkeit und Verselbständigung nach den verschiedenen Seiten, der Austausch der selbsüchtigen Interessen" ist. (Marx 1857/8, S. 156)
Jeder aber verfolgt am Ende doch sein eigenes Interesse, und das Allge- meine konstituiert sich dabei nur indirekt, gewissermaßen hinter dem Rücken: "Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen In- teressen." (S. 156) Das erscheint insofern unbefriedigend, als die Menschen dabei zwar der Wirklichkeit nach reale Gemeinschaftwesen sind, die Art und Weise ihres wirtschaftlichen Daseins aber zur selbstsüchtigen Zweckverfolgung führt. So sind sie objektiv und "an sich" Gemeinschaftswesen, subjektiv und "für sich" aber etwas anderes; sie sind nicht auch schon "an und für sich" Gemein- schaftswesen.
2. Das Gemeinwesen
Zwar fungiert der andere nicht mehr wie in der Ideologie der bürgerlichen Ökonomie und in den Freiheitsvorstellungen der Menschenrechtserklärungen, die der junge Marx kritisierte, als bloßes Hindernis der eigenen Freiheit, sondern als deren Bedingung und Voraussetzung. Aber man hat den Eindruck, als sei auch Marx noch nicht ganz zufrieden mit dem allgemeinen Interesse, das bloß als Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen erscheint, - so sehr er auch herausarbeitet, daß es sich dabei um die reale Basis von Freiheit und Gleichheit handelt. Um Klarheit zu gewinnen, muß man sich bewußt machen, daß Marx es bei der Kritik der politischen Ökonomie ebenso wie Hegel bei seinem System der Bedürfnisse nicht mit dem ganzen gesellschaftlichen Menschen zu tun hat, sondern zunächst nur mit dem ökonomischen Menschen, der seine elementa- ren und seine darüber hinausführenden wirtschaftlichen Verbrauchs- und Erzeugungsbedürfnisse in einem Integrationsverband auf Wechselseitigkeit des Austauschs befriedigt. Bei Hegel macht dieses "System der Bedürfnisse" bekanntlich nur ein Teilsystem der "bürgerlichen Gesellschaft" aus. Die bürgerliche Gesellschaft ist weiter. Sie umgreift die Familie und die Korporation. Und die bürgerliche Gesellschaft insgesamt wiederum konstituiert die freiheitliche Grundlage des Staates als der umfassenden Gemeinschaft, in der die Menschen Felder für Identifikationen finden, die über die Sphäre der "selbstsüchtigen Interessen" hinausführen. Daß auch für Marx die Menschen sich nicht darin erschöpfen, daß sie ihre ökonomische Not bewältigen, sondern darüberhinaus in ein wie auch immer gestaltetes "Reich der Freiheit" streben, ist ebenfalls bekannt. Die Diktatur des Proletariats sollte nur Instrument und Übergang sein. Sehr genau aller- dings waren die Vorstellungen und Verheißungen nicht; im Gegenteil: Es schien zu früh, es erschien als Utopismus, sich über die konkrete Gestalt des zukünftigen Menschen, sich also auch konkrete Gedanken über die zukünftige Gesellschaft und das zukünftige Gemeinwesen zu machen. So bleiben die Zukunft und der zukünftige Mensch abstrakt fast wie die abstrakten Gottheiten der Religion und des Geldes, die Marx überwinden wollte. (Suhr 1975, S. 331ff.)
3. Der Mensch als Gemeinschaftswesen
Unabhängig davon, wie die Gestalt des menschlichen Gemeinwesens als Wirklichkeit erscheint, zeigen sich bei Marx jedoch auch Einsichten in das Wesen der Menschen, die über das bloß ökonomische selbstsüchtige Interesse hinausführen. Zwar handelt es sich dabei um Erkenntnisse vor allem des jungen Marx. Aber der spätere Marx hat den jüngeren nie verleugnet. Die Kritik der politischen Ökonomie galt der realen Basis, und ohne kriti- sche Überwindung der kapitalistischen Wirtschaft hatte es wenig Sinn, ideali- stisch ins Blaue hinein politische Konzepte zu erfinden. Aber die anthropolo- gischen Einsichten des jungen Marx bilden nach wie vor den Hintergrund, das Orientierungsraster und die Ausgangsstellung für die Kritik der politischen Ökonomie, die den Weg frei machen sollte für eine bessere menschliche Wirklichkeit im Sinne der sehr elementaren, sehr allgemeinen, aber doch auch stets grundlegenden philosophischen Anthropologie des jungen Marx. Schon der junge Hegel hatte seine Schwierigkeiten mit ideologischen Täu- schungen und Klischeevorstellungen in den Köpfen der Sozial- und Polit- philosophen seiner Zeit. Damals wie vielfach noch heute stellen sich viele den Menschen und seine Freiheit als Individuum vor, das allein tun und lassen kann, was anderen nicht schadet. Und dabei erscheint der Nächste als lästiges Hindernis der eigenen Freiheit. Dagegen Hegel: "Die Gemeinschaft der Per- son mit anderen muß (...) wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden." (Hegel 1801, S. 82; Suhr 1986, S. 8f.) Diese Wirklichkeit der Freiheit wird inzwischen auch innerhalb der modernen Grundrechtswissen- schaft berücksichtigt. (Suhr 1976 und 1984) Sachlich gleich, aber im Ton angriffslustiger kritisiert Marx das Freiheits- verständnis der Menschenrechtserklärungen: "Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet (...:) Die Freiheit des Menschen als isolierter, auf sich zurückgezogener Monade." Dieses
"Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Men- schen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. (...) Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Privateigentum (...) Sie Iäßt jeden Menschen im anderen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden." (Marx 1844, S. 364f.)
Man muß nun einmal voraussetzen, daß die Menschen erkennen, wie sehr die je eigene Freiheit den anderen voraussetzt: den anderen, der zuhört, hilft, in einen Vertrag einwilligt, leistet, in eine Gesellschaft mit eintritt und auf diese Weise dem hilflosen und vereinzelten "Individuum" aus dem Gefängnis seines isolierten Ich verhilft. Die Menschen müssen das nicht vollbewußt und reflektiert "erkennen", sondern sie sollen es nur spüren. Und wenn man sich bei einem Vertrag als gleichberechtigt anerkannt erfährt, wenn man sich nicht unter einseitigem Druck spürt und wenn man nicht gedemütigt wird dadurch, daß man individueller oder struktureller Übermacht ausgeliefert ist: Dann freut man sich in der Regel über den gelungenen Handel, und zwar nicht nur, weil man selbst sein Ziel erreicht, sondern auch, weil man dem anderen dazu verhilft, daß auch er zu seinem Zwecke gelangt. Man bleibt im System der Bedürfnisse also gerade nicht auf schiere öko- nomische Selbstsucht beschränkt. Man erhält vielmehr tagtäglich Anschau- ungsunterricht darin, daß das eigene Tun und Leisten anderen und das der anderen einem selber weiterhilft. Man lernt dabei, auch die Freude des an- deren als eigene Freude mitzuempfinden nach der Logik des Sprichwortes, wonach geteilte Freude doppelte Freude ist. (Suhr 1975, S. 293ff.) So kommt es: Der reale Prozeß, der zunächst anscheinend bloß primitiv selbstsüchtige wechselseitige Instrumentalisierung zwecks Bedürfnisbefriedi- gung ist, wird von der Erfahrung eingeholt und überholt derart, daß der ökonomische Vorteil, den man dem jeweils anderen bereitet, als psychologi- sche Bestätigung und Anerkennung des Selbst und als Mitfreude zurück- schlägt. So entspricht der materiell-ökonomischen "Integrierung", von der Marx (1857/8, S. 154f.) spricht, am Ende die ideell-psychische Integrierung der anderen ins eigene Empfinden und Wissen. Dann wird die "Doppelsei- tigkeit und Wechselseitigkeit" der selbstsüchtigen Interessen übersetzt in eine Doppelseitigkeit und Wechselseitigkeit des eigenen Wesens. Diese ideell-psychische Vergemeinschaftung des Menschen, wie sie so- eben am einfachen Beispiel des wechselseitigen Vertrages idealtypisch veran- schaulicht worden ist, erschöpft sich freilich nicht in der Verinnerlichung solcher Verträge. Sie hat ihre eigenen Probleme, Pathologien und Tücken. Sie wird heute sozial-psychologisch erforscht. Sie wird vorausgesetzt in Kon- zepten der repräsentativen Demokratie. (Suhr 1975, S.343) Und im wirt- schaftlichen Bereich bekommt man es mit ihr z.B. auch dann zu tun, wenn man die Zusammenarbeit von Menschen in Unternehmen und anderen Kor- porationen untersucht oder einrichtet. Solange freilich in der kapitalistischen Wirklichkeit der Wirtschaft die elementare monetäre Ungleichheit des Tauschens und Wirtschaftens die all- tägliche Grundlage fast alles anderen Erwartens, Handelns, Denkens und Empfindens konstituiert, kann schwerlich eine ausgeglichene menschliche Wirklichkeit verinnerlicht werden. Man übt und trainiert vielmehr tagtäglich die Ungleichheit, die Übervorteilung, die Übermacht und das Ausgeliefertsein. Und während die Nicht-Kapitalisten kraft ihres Produzierens-und-Konsu- mierens noch tagtäglich die Erfahrung elementarer Wechselseitigkeit machen, erscheint die ökonomische Welt aus der Erfahrung des kapitalistiscben Profi- tierers als einseitig und asymmetrisch. Solche Erfahrung schlägt sich im Innern nieder und formt die Menschen, fast ohne daß sie sich wehren können. Und selbst wenn eines Tages Symmetrie und Gleichheit innerhalb der rea- len Basis aller Freiheit und Gleichheit hergestellt sind, wird es lange dau- ern, bis die äußeren Institutionen sich zurückbilden, die auf dem Boden der herkömmlichen Asymmetrien gewachsen sind, und bis wir uns innerlich auf die neue Gleichheit als selbstverständliche Grundlage unserer neuen Freiheit eingestellt haben.