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Text aus: Dieter Suhr: Der Kapitalismus als monetäres Syndrom 
Campus Verlag, 1988, ISBN 3-593-33999-4, Seite 64 - 102 
(Im August 1999 gescannt, korrekturgelesen und ins Web gestellt von W. Roehrig.) 

4.  Kapitel
Geld ohne Mehrwert


  Geld vermittelt nicht nur den Tauschwert, den es als "allgemeine Äquiva-
lentform" der Waren verkörpert, sondern es vermittelt zusätzlich den spezifi-
schen ökonomischen Nutzen der monetären Liquidität, und zwar entweder in
der Naturgestalt der monetären  "Schlagfertigkeit", oder in der pekuniären
Gestalt derart, daß dieser Nutzen vermarktet und in Rendite verwandelt wird.
Dies ist das überlieferte "Geld mit Mehrwert". So gesehen kommt es also
darauf an, ein "Geld ohne Mehrwert" zu konzipieren und zu verwirklichen.

 

I.   Neutralisierung des monetären Privilegs
  Der Naturalnutzen der monetären Liquidität besteht darin, daß man bei
wirtschaftlichen  Transaktionen  Informations-  und  Transaktionskosten  spart,
wenn man dabei mit der Geldeinheit messen und mit Geld bezahlen kann.
Dieser Nutzen, diese Einsparung von Informations- und Transaktionskosten
durch Geld, ist eine wirtschaftsgeschichtliche Errungenschaft, die man nicht
aufgeben darf, bevor man nicht noch bessere Techniken gefunden hat. Es
kann also nicht darum gehen, die Liquidität des Geldes und damit den Liqui-
ditätsnutzen und den Wohlfahrtsgewinn abzuschaffen, der daraus resultiert.
Man muß einen anderen Weg finden, die kapitalistische Asymmetrie des her-
kömmlichen Geldes zu beseitigen.

 

l.   Keynes: Durchhaltekosten für monetäre Liquidität
    Die  Sache  ist  im  Prinzip  einfach.  Kein  Geringerer  als John Maynard
Keynes hat dafür nicht nur die einfache Formel angegeben, sondern auch
schon praktische Vorschläge dafür im Keynes-Plan für den Internationalen
Währungsfonds unterbreitet.
   Im 17. Kapitel seiner berühmten General Theory of Employment, Interest
and Money (1936) hat Keynes die elementaren und einfachen liquiditätstheo-
retischen Grundlagen für die Ökonomie geschaffen. Dieses bestechend klare
Kapitel gilt einigen Lesern freilich eher als "verworren und bedeutungslos",
so daß "nicht viel verloren" wäre, wenn es niemals geschrieben worden wäre
(Hansen 1959, S. 156-158). Man findet es "unklar oder doch verwirrend"
(Herr 1986, S. 128). Dabei liefert es die unentbehrlichen liquiditätstheoreti-
schen Grundlagen zur übrigen "Allgemeinen Theorie". Ohne diese Grundla-
gen hängt die "Allgemeine Theorie" selbst in der Luft.
   Zunächst  einmal  analysiert  Keynes  den  ökonomischen  Nutzen  der
Tauschbarkeit  von  Wirtschaftsobjekten  überhaupt.  Es  geht  dabei  um  die
Macht, über ein Wirtschaftsgut innerhalb einer Periode verfügen zu können.
Keynes hat erkannt, daß die Güter gleichen Tauschwertes unterschiedliche
Tauschbarkeit haben können. Und er hat darauf aufmerksam gemacht, daß der
Nutzen dieser Tauschbarkeit nicht ohne weiteres als Ertrag sichtbar ist und zu
Buche  schlägt.  Damit  hat  Keynes  die  schon  Aristoteles  vertrauten  zwei
Werteigenschaften "Gebrauchswert" und "Tauschwert" um eine dritte erwei-
tert, die für die Tausch- und Geldwirtschaft ganz entscheidend ist: nämlich
um den Tauschbarkeits- oder Liquiditätswert.
       "Finally, the power of disposal over an asset during a period may offer a
       potential convenience or security, which is not equal for assets of dif-
       ferent kinds, though the assets themselves are of equal initial value. There
       is, so to speak, nothing to show for this at the end of the period in the
       shape of output; yet it is something for which people are ready to pay
       something. The amount (...) which they are willing to pay for the potential
       convenience or security given by this power of disposal (... ), we shall call
       its liquidity premium l." (S. 226)
   Wirtschaftsgüter, schreibt Keynes dann weiter, produzierten erstens unter
Umständen einen gewissen Ertrag: "yield or output q". Sie seien zweitens
meistens mit gewissen Kosten verbunden:  "carrying-costs c". Und drittens
gehe mit ihnen je nach Tauschbarkeit ein Liquiditätsnutzen einher: "liquidi-
ty-premium l" .
   Und dann folgt mit aller wünschenswerten Klarheit und Einfachheit die
Formel  von Keynes,  nach der sich der Nettoertrag eines  Wirtschaftsgutes
ergibt, wenn man alle drei Ströme von Nutzen und Kosten zusammenzieht:
Dieser Nettoertrag ergibt sich aus den Erträgen q minus Kosten c plus Liqui-
ditätsnutzen l:
  "It follows that the total return expected from the ownership of an asset
  over a period is equal to its yield minus its carrying costs plus its liqui-
  dity-premium, i.e. to q - c + l." (S. 226)
  Wendet man diese im Grunde banale Formel auf das Geld an, so zeigt
sich: Beim Geld sind die pekuniären Erträge Null. Die laufenden Kosten kann
man vernachlässigen; sie können also auch als Null angesehen werden. Aber
der Liquiditätsnutzen ist erheblich: "It is characteristic (...) of money that its
yield is nill, and its carrying-costs negligible, but its liquidity-premium sub-
stantial." (S. 226)
  Da l der Betrag ist, den man für die Inanspruchnahme des Liquiditätsnut-
zens zu zahlen bereit ist, gibt diese Größe auch den Preis an, den man für die
Überlassung von Geld zu zahlen bereit ist, vorausgesetzt, daß mit dem Geld
nicht anderweitige Erträge verbunden sind, die das Gut "Geld" noch wert-
voller machen, oder laufende Kosten, die seinen Nutzen schmälern. Also kann
man auch formulieren: Die  Rendite  r von Finanzkapital (von vermarktetem
Geldnutzen) ergibt sich nach der Formel: r = q - c + l. Wenn dann beim
Geld in der Kasse als solchem die pekuniären Erträge q gleich Null sind und
wenn die Kosten von Kassehaltung c vernachlässigt werden können, dann
fallen  aus dem Kosten-Nutzen-Bündel  "Geld",  das als Finanzkapital ver-
marktet wird, die beiden Posten q und c heraus, und es verbleibt: r = l. Das
heißt, daß der Zins dem Liquiditätsnutzen entspricht.
  Wenn man nun erreichen will, daß die Zinsen sinken, daß also die "kapi-
talistische" Rendite von Finanzkapital verschwindet, dann muß man ein Ko-
sten-Nutzen-Bündel "Geld" schnüren, in dem künstliche Durchhaltekosten c
untergebracht sind, und zwar Kosten in solcher Höhe, daß sie den Liquidi-
tätsnutzen kompensieren: c = l.
  Ist diese Bedingung erfüllt, dann ergibt sich: r = l - c = 0. Deshalb,
meint  Keynes,  seien  diejenigen  Sozialreformer,  die  dem  Geld  künstliche
Durchhaltekosten anheften wollten, auf dem richtigen Wege gewesen:
"Thus those reformers, who look for a remedy by creating artificial car-
  rying-costs for money through the device of requiring legal-tender cur-
  rency to be periodically stamped at a prescribed cost in order to retain its
  quality as money, or in analogous ways, have been on the right track; and
  the practical value of their proposals deserves consideration." (S. 234)
  Wenig bekannt ist, daß Keynes künstliche Durchhaltekosten für Liquidität
dann selbst vorgeschlagen hat, und zwar in seinen Proposals für die Interna-
tionale  Zahlungsunion  (Keynes  1941- 43;  Hankel  1986,  S. 69 - 80),  die
während des Zweiten Weltkrieges diskutiert wurde und die - freilich nicht
nach den Vorstellungen von Keynes  - mit dem Internationalen Währungs-
fonds politisch ins Werk gesetzt worden ist. Noch weniger haben die Ökono-
men  den  Zusammenhang  zwischen  den  Proposals  und  der  Allgemeinen
Theorie bemerkt und durchschaut, was Keynes sich bei seinem Vorschlag
wohl alles gedacht hat.
  Keynes betont immer wieder, wie entscheidend es ist, daß das herkömm-
liche Geld keine Durchhaltekosten verursacht. Diese Durchhaltekosten spielen
in verschiedensten Zusammenhängen eine signifikante Rolle:
  Nach Keynes sind diese fehlenden  carrying-costs beim Geld mitverant-
wortlich für die Starrheit der Löhne:
   "The expectation of a relative stickiness of wages in terms of money is a
   corallary of the excess of liquidity-premium over carrying-costs (!) being
   greater for money than for any other asset." (S. 238)
   Sie sind vor allem für die allgemeine Signifikanz des Geldzinssatzes genau
so konstituierend wie die Liquiditätsprämie des Geldes selbst:
   "Moreover, the low carrying-costs (!) of money as we know it play quite
   as large a part as a high liquidity-premium in making the money-rate of
   interest the significant rate. For what matters is the difference between the
   liquidity-premium and the carrying-costs." (S. 237)
   Daß Vermögensmassen überhaupt ohne ständige Verluste angehäuft werden
können, hat ebenfalls mit den fehlenden Durchhaltekosten des Geldes zu tun:
"In this connection the low (or negligible) carrying-costs (!) of money play an
essential part." Denn Durchhaltekosten würden den künftig erwarteten Wert
des gehaltenen Geldes sowie der Geldvermögenstitel und der Sachkapitalien
beeinflussen.  Die Liquiditätspräferenzkurve würde abgesenkt (Bubeck 1966,
S. 22f.), und zwar je nach Höhe der carrying-costs bis zu dem Punkt, in dem
der untere Ast der Kurve die Abszisse tangiert oder sogar schneidet und in
den negativen Quadranten eindringt: Statt einer Präferenz für Liquidität käme
man über den Neutralpunkt der Indifferenz gegenüber der Liquidität bis hin
zur Abneigung gegenüber der Liquidität! Solches Geld würde als Instrument
der Vermögenshaltung gemieden und als Renditeinstrument ausfallen. Seine
Transaktionsfunktionen würden dagegen nicht nur nicht beeinträchtgt, sondern
verbessert.
   Die Folgen von carrying-costs auf Geld betreffen insbesondere die Flucht
ins Geld bei Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Preise anderer Güter:   
  "The readyness of the public to increase their stock of money in response
   to a comparatively small stimulus is due to the advantages of liquidity (...)
   having no offset to content with in the shape of carrying-costs (!) moun-
   ting steeply with the lapse of time." (S. 233)
   Die Folgen sind freilich von noch viel allgemeinerer Art, und zwar, was
die Ansammlung von Reichtum überhaupt betrifft:
   "In the case of a commodity other than money a modest stock of it may
   offer some convenience to users of the commodity. But even though a
   larger stock might have some attractions as representing a store of wealth
   of stable value, this would be offset by its carrying-costs (!) in the shape
   of storage, wastage, etc. Hence after a certain point is reached, there is
   necessarily a loss in holding a greater stock." (S. 233/4)
   So erscheinen stets die (fehlenden) Durchhaltekosten beim Geld nicht we-
niger wichtig und entscheidend als die Liquiditätseigenschaften des Geldes
selbst!
  In seinem liquiditätstheoretischen  17. Kapitel der General  Theory befaßt
Keynes sich letztlich mehr mit den carrying-costs als mit der Liquidität des
Geldes selbst. Aber seine Leser können wenig damit anfangen. So geht z.B.
auch Spahn (1986, S. 138ff.) auf diese Schlüsselkategorie bei seiner liquidi-
tätstheoretischen Neuerschließung von Keynes nicht näher ein.
   Die Vorstellung eines kostentragenden Geldes, die Keynes diskutiert und
seinen Lesern vermitteln will, ist so ungewohnt, daß sie bei den Lesern ein-
fach nicht perzipiert wird. Alte Denkgewohnheiten zum Geld setzen die Per-
zeptionsschwelle für diese intellektuelle Innovation im Leser so hoch, daß
schlichtes Lesen offenbar nicht ausreicht, sie zu überwinden. Meist erscheint
dann in solchen Fällen dem jeweiligen Leser der gelesene und nicht ganz er-
faßte Text selbst als dunkel. Dafür liefert das "mysteriöse" 17. Kapitel (Find-
lay 1963,  S. 12) ein gutes Beispiel.  Zwar hat dieses Kapitel zuerst "eine
gewisse Begeisterung" ausgelöst. Die aber, heißt es dann, sei "teilweise auf
seine Unklarheit" zurückzuführen (Hansen 1959, S. 157).
    Es ist eine in der Philosophie wohlvertraute Erscheinung, daß Leser, die
etwas nicht begreifen, die Schuld nicht bei sich selbst suchen, sondern dem
Buch zuschieben, das sie lesen, also dem Autor, der es verfaßt hat. Aber
jeder, der einen Text für verworren oder dunkel hält, sollte sich zurückhalten:
"Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das
allemal im Buch?" (G. Chr. Lichtenberg)
   So ist auch im Falle Keynes gerade nicht der Text des 17. Kapitels unklar.
Unklar ist nicht Keynes. Unklar blieb nur seinen Lesern, sofern sie die sig-
nifikanten carrying-costs überhaupt perzipierten, inwiefern gerade diese Ein-
zelheiten des  17.  Kapitels den Schlüssel dazu liefern,  auch den übrigen
Keynes der Allgemeinen Theorie besser zu begreifen.
    So wenig erfaßt und begriffen wurde das 17. Kapitel, - so unbekannt
sind diese Einzelheiten geblieben, daß später die Monetaristen genau das
Gegenteil dessen, was Keynes für erwägenswert hielt, vorschlagen konnten:
nämlich statt der Durchhaltekosten eine Zugabe in Gestalt von Zinsprämien
auf das Geld in der Kasse, - und das, ohne daß sie auf die einschlägigen
Vorstellungen von Keynes auch nur einen einzigen eigenen Gedanken ver-
schwendeten.
   Auf die monetaristischen Ideen werde ich gleich zurückkommen. Zunächst
gilt es, das Bild von Keynes etwas abzurunden, um Mißverständnissen vor-
zubeugen, denen meine liquiditätstheoretische Deutung leicht ausgesetzt ist.
Betrachtet man nämlich das Geld in der Kasse nur durch die Augen eines
typischen Geldanlegers, dem es um nichts geht als um möglichst sichere und
möglichst ertragreiche Anlagen, dann rücken die Transaktionsvorteile, die hier
ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, an den Rand. Dann interessiert
eigentlich nur, welchen Nutzen und welche Sicherheiten das flüssige Geld als
eine Vermögensart im Verhältnis zu anderen Anlagen bietet. Geld erscheint
dann, bei stabiler Währung, als sichere, flüssige Wertaufbewahrungsform. Im
Vergleich mit Anlagen, deren erwarteter Ertrag oder deren Rückzahlung un-
sicher ist, bietet Geld in der Kasse gewisse Vorteile.  Wenn freilich die
Rückzahlung sicher und der erwartete Ertrag aller Anlagemöglichkeiten be-
kannt und daher erwartbar wäre, wäre es unsinnig, noch Geld, das keine
Erträge mit sich bringt, in der Kasse zu behalten. Keynes hat das so formu-
liert:
  "There is, however, a necessary condition failing which the existence of a
  liquidity-preference for money as a means of holding wealth could not
  exist. This necessary condition is the existence of uncertainty as to the
  future of the rate of interest, i.e. as to the complex of rates of interest for
  varying maturities which will rule future dates." (Keynes 1936, S. 168)
  Bei flüchtiger Lektüre kann man dann den Eindruck mitnehmen, als ginge
es Keynes bei seiner Liquidität, bei der Neigung von Individuen zur Liquidität
und bei der Liquiditätsprämie um diese Sicherheit des Geldes im Verhältnis
zur Unsicherheit erwarteter Renditearten. Und dieses Mißverständnis spielt in
der Tat bei einer Reihe von Ökonomen eine nicht gerade fruchtbare Rolle.
(Herr 1986, S. 113; vgl. Riese 1983, S. 106f.)
  Aber Keynes  wird dabei  wieder in einem nicht unerheblichen Ausmaß
verstümmelt. Denn Keynes behandelt an der einschlägigen Stelle ausdrücklich
nur - und wirklich nur - den zweiten von zwei Aspekten der Kassehaltung:
Nachdem die Geldvorhaltung zu Zwecken der laufenden Geschäftstätigkeit der
Geldhaltung  zu  Zwecken  der  Aufbewahrung  von  Wert gegenübergestellt
worden ist,  wird das Geld  nur unter dem Aspekt der  Wertaufbewahrung
("money as a means of holding wealth" im Gegeasatz zu "money for the
transaction of current business") erörtert, und auch diese speziellen Feststel-
lungen zur Liquiditätspräferenz bei Unsicherheit erwarteter Renditen werden
alsbald wieder relativiert.
  Während die Neigung zur Liquidität unter dem Aspekt des richtigen Reich-
tums-Portefeuilles sich nach Keynes als recht differenziertes Problem erweist
und -  vor allem  -  starken Schwankungen je nach psychologischer Stim-
mungslage von Anlegern unterliegt, gilt für die Vorhaltung von Liquidität für
Zwecke der laufenden Geschäftsführung, daß es sich um eine recht nüchterne
und beständige Angelegenheit handelt. Es sei offenkundig, schreibt Keynes,
daß es sich lohne, für die Bequemlichkeiten der monetären Liquidität einen
gewissen Ausfall von Zinsen in Kauf zu nehmen:
  "In this connection we can usefully employ the ancient distinction between
  the use of money for the transaction of current business and its use as a
  store of wealth. As regards the first of these two uses, it is obvious that
  up to a point it is worth while to sacrifice a certain amount of interest for
  the convenience of liquidity." (S. 168)
  Mit anderen Worten: Alle Geldanleger können davon ausgehen, daß es
immer Individuen geben wird, die Liquidität nachfragen, um ihre laufenden
Geschäfte abzuwickeln. Dafür gibt es heute weitere differenzierte Deutungen
der Liquidität, bei denen die Rechenmittelfunktion des Geldes, die Zeitüber-
brückungsfunktion und die Zahlungsmittelfunktion in ihrem Zusammenwirken
erscheinen. (Spahn 1986, S. 139ff.) Deshalb würde auch dann, wenn Sicher-
heit bestünde hinsichtlich der Rückzahlung von Krediten und hinsichtlich der
erwarteten Renditen, Liquidität noch intensiv nachgefragt und vorgehalten
werden, nämlich von allen denen, die Geld nicht zu abstrakten Anlagezwek-
ken verwenden (kapitalistisches Vermögensmotiv), sondern zur Durchführung
realwirtschaftlicher Transaktionen (Transaktionsmotiv).
  Gäbe  es  diese  faktisch garantierte  Sockelnachfrage  nach  Transaktions-
Liquidität nicht, dann allerdings hinge die Zinsrate vorwiegend von der er-
wähnten Unsicherheit ab und könnte bei stabilen Erwartungen substantiell
sinken. Man kann sich jedoch in einer arbeitsteiligen und monetisierten Wirt-
schaft zuverlässig auf eine kräftige und permanente Nachfrage nach Transak-
tionsgeld verlassen.
  Dafür sorgen neben den Haltern von Transaktionskassen vor allem alle
Verkäufer, die ständig so viel Geld nachfragen, wie Ware am Markt feilge-
boten wird. Diese Geldnachfrage der Verkäufer ist überhaupt die eigentliche
Nachfrage  nach  Geld.  Denn  auch  sie  suchen  Geld  nicht  nur  um seines
Tauschwertes  willen,  sondern  wegen  der  Liquidität  der  monetisierten
Tauschkraft: Sie sind es, die ständig unbeweglichere Güter welcher Art auch
immer feilbieten, weil sie sich gerade Geld verschaffen, sich also liquidisieren
wollen. Nicht nur wer Schuldscheine verkauft, sondern auch schon wer Kar-
toffeln, Videogeräte oder Arbeitsleistung anbietet, sucht Geld und fragt Geld
nach.
  Die unerbittliche Nachfrage nach Geld zur Abwicklung von realen Ge-
schäften sorgt dafür, daß das Geld knapp bleibt und daher die Liquiditätsprä-
mie nennenswert über Null verharrt. So profitieren alle, die das Geld und ihre
Geldvermögenstitel als bloßes Vermögen halten wollen, genau davon, daß die
anderen das Geld für ihre existentiellen Transaktionszwecke dringend brau-
chen. So können die reichen bloßen Vermögenshalter den Transaktionsbedarf
der anderen ausnutzen und ausbeuten.  Die Macht dazu schwindet in dem
Maße, wie Geldhaltung Kosten verursacht.
   Es kommt hier sogar noch etwas hinzu: Immer dann, wenn ein Geldanle-
ger Geld anbietet, nur um es leihweise zur Verfügung zu stellen, dann tritt er
nicht als Käufer auf, der ein Gut vom Markt abruft, sondern als jemand, der
eine Lücke im System der Nachfrage reißt: So gesehen erzeugt er selbst den
Liquiditätsmangel, den zu befriedigen er anbietet. So sorgt auch er, bevor er
sein Geld wieder verleiht, durch Abzug des Geldes aus der Zirkulation dafür,
daß das Geld knapp bleibt. Einen raffinierteren Knapphaltemechanismus hätte
man schwerlich zugunsten der Kassehalter und Geldanleger erfinden können:
   "Stammt das Geld, das die Kapitalisten verleihen, aus dem Verkehr,"
   (wird es also nicht von Banken, die es emittieren, geschaffen), "so stopfen
   sie mit dem Weiterverleihen dieses Geldes nur die Löcher zu, die sie beim
   Vereinnahmen des Geldes gegraben haben. (...) Je mehr Geld angeboten
   wird, um so größer sind diese Löcher. Bei sonst unveränderten Verhält-
   nissen muß sich also eine Nachfrage nach Leihgeld einstellen, die dem
   Geld entspricht, das die Kapitalisten zu verleihen haben." (Gesell 1949,
   S. 320f.)
   Es ist also weder im Sinne von Keynes, noch überhaupt ökonomisch ver-
tretbar, die Liquiditätsprämie des Geldes nur oder auch nur überwiegend im
Zusammenhang mit Risiken der Vermögenshaltung zu sehen. Und es bleibt
also dabei: Um den Zins von Finanzkapital gegen Null zu bringen, empfiehlt
sich  die  praktische  Verwirklichung  der  keynesschen  Formel,  wonach
r = l - c. Danach wird auch l - c = 0, und zwar sobald die künstlichen
Duchhaltekosten  für  Geld  ("carrying-costs",  Liquiditätskosten)  so  dosiert
werden,  daß sie den pekuniären Marktwert des Liquiditätsnutzens  ("liqui-
dity-premium") praktisch abschöpfen. In diesem Falle werden Nutzen und
Kosten der Liquidität ausgeglichen.
  Nun hat freilich Keynes selbst gegen das kostentragende Geld eingewen-
det, daß solches Geld sehr bald durch Geldsubstitute verdrängt würde, und
Kritiker des kostentragenden Geldes (z.B. Herr 1986, S. 123) zitieren denn
auch diesen einen Keynes gegen den anderen Keynes, der Durchhaltekosten
auf Liquidität sonst für signifikant und erwägenswert hält:
   "If currency notes were to be deprived of their liquidity-premium by the
   stamping system, a long series of substitutes would step into their shoes -
   bank-money, debts at call, foreign money, jewelry and the precious metals
   generally, and so forth." (Keynes 1936, S. 358)
   Hier allerdings ergibt sich ein Widerspruch: Keynes nämlich bemüht sich
zuvor über Seiten hinweg, die ganz besondere Rolle des Geldes und die Sig-
nifikanz des Geldzinses im Verhältnis zu den Ertragsraten anderer Güter her-
auszuarbeiten. Zu den spezifischen Eigenschaften des Geldes, die dabei betont
werden und die das Geld als einzigartig erscheinen lassen, gehört nach Keynes
- die Nichtsubstituierbarkeit des Geldes!
  Kein anderer Faktor, bemerkt Keynes beiläufig, könne die Rolle des Gel-
des gleich gut spielen (no other factor "being capable of doing money's duty
equally well", S. 234). Oder es heißt mehrfach und unmißverständlich, Geld
sei praktisch nicht substituierbar ("has an elasticity of substitution equal, or
near equal, to zero", S. 231; ähnlich S. 238). Keynes soll im übrigen seinen
"Denkfehler  hinsichtlich  der  'Ausweichmöglichkeiten' "  eingesehen  haben.
(Bubeck 1966, S. 32, bezugnehmend auf Radecke 1954, S. l9)
  Die Substitute, die Keynes als Ersatzmittel für kostentragendes Geld in
Erwägung zieht, fungieren denn auch in der Regel nicht als Ersatzzahlungs-
mittel, sondern nur als Ersatzvermögensobjekte von mehr oder weniger großer
Liquidität. Gerade weil das Geld als Vermögensobjekt uninteressanter wird,
wird es ausgegeben für andere Vermögensobjekte, also in seine Funktion als
Zahlungsmittel gedrängt. (Dahlberg 1938, S. 95f.)
  Die von Keynes auch als Geldsubstitut erwähnten Abrufkredite freilich sind
wirklich ein  mögliches  Liquiditätssubstitut:  Sie  zeigen,  welche  Liquiditäts-
techniken  wohl  vordringen  werden,  wenn kostentragendes Geld eingeführt
wird. Treffend ist das Beispiel der bereitgestellten Gelder auch insofern, als
schon  heute in solchen Fällen  üblicherweise Bereitstellungsgebühren fällig
werden. Liquiditätskosten im Sinne der keynesschen carrying-costs können in
der Tat am besten vorgestellt werden als eine Art von Bereitstellungskosten,
die mit der Transaktionsliquidität einhergehen.
  Wo Keynes freilich Substitute für Geld in Vermögensfunktionen aufzählt
und gegen das kostentragende Geld Silvio Gesells als Argument verwendet,
bleibt der Transaktionsaspekt des Geldes momentan unterbelichtet und Keynes
verharrt weitgehend in einer ähnlichen Vermögenshalterperspektive wie später
noch viel schlimmer die Monetaristen: Er denkt an dieser Stelle an das Geld
vorwiegend aus der (kapitalistischen) Sicht des Vermögenshalters statt wenig-
stens  gleichermaßen  aus  der  (transaktionstechnischen)  Sicht  von  Händlern,
Produzenten und Konsumenten. Und wer Keynes seine Substitute für das Geld
als Argument gegen kostentragendes Geld abnimmt, wie etwa Hansjörg Herr
(1986, S. 122f.), kommt ebenfalls noch nicht ganz frei von dieser kapitali-
stischen Vermögensperspektive des Geldes und der Liquidität.
  Heute würde man das Portefeuille-Problem der Substituierung wohl ge-
nereller so angehen:
  Die verschiedenen Güter einschließlich des Geldes bieten je unterschiedliche
Gebrauchsmöglichkeiten, Nützlichkeiten, Chancen, Risiken und Kostenlasten.
Die einen eignen sich eher zum physischen Gebrauch, die anderen eher zur
"Wertaufbewahrung", wieder andere sind eher eine gute Beweglichkeitsre-
serve. Das Geld bietet dabei die günstigste Verbindung von relativ sicherer
Wertaufbewahrung und größter Beweglichkeit, ohne daß mit diesen beiden
Gelddiensten nennenswerte laufende Kosten (carrying-costs) oder einmalige
Umwandlungskosten (Liquidisierungskosten, Transformationskosten) verbunden
sind.
  So wie das Geld seine angenehmen Dienste bietet (money services), so
bieten die anderen Güter andere Bündel von Nutzen und Kosten (costs and
benefits). Dabei zeigen sich je unterschiedliche Nützlichkeitsprofile der je-
weiligen Güter, die je nach Bedarfsprofil des betroffenen Wirtschaftssubjektes
seinen Wünschen in unterschiedlichsten Ausmaßen entsprechen.
  Wenn nun bei dem Gut "Geld" das Nützlichkeitsprofil dadurch geändert
wird,  daß dem Geld Liquiditätskosten  (carrying-costs) angeheftet werden,
dann findet eine Umschichtung in den Portefeuilles der Vermögenshalter statt.
Dabei wird man dem kostentragenden Geld in der Tat ausweichen und auf
Substitute zugreifen, soweit es um Vermögensmotive geht. Und in den Um-
schichtungskalkül gehen dann mit ein die jeweiligen Ausweichkosten (Bubeck,
S. 16), welche die Substituierung des Geldes und womöglich der Geldtitel
durch andere Güter mit sich bringt. Angesichts der geringen Substitutionsela-
stizität des Geldes in der Transaktionskasse wird sich dort freilich wenig än-
dern,  zumal das  Vermögensmotiv im Bedarfs- und  Nützlichkeitsprofil der
Halter  einer  typischen  Transaktionskasse  eine  zu  vernachlässigende  Rolle
spielt.
  Während die Akzeptanz des Geldes, das Kosten verursacht, bei den Haltern
von  Transaktionskassen  nur  wenig  verändert würde,  wären typische  Ver-
mögenshalter gegenüber dem Geld zurückhaltend, es sei denn, sie benötigen
es, um ihr Portefeuille umzuschichten.

 

2.   Geldnutzen und Geldkosten aus monetaristischer Sicht
    Wenn von künstlichen Kosten der Kassehaltung die Rede ist, muß bedacht
werden, daß es Geldtheoretiker gibt, denen nicht etwa die einzigartige Liqui-
ditätsprämie des Geldes auffällt und für die daher nicht der Liquiditätsnutzen
nach Ausgleich durch künstliche Kosten verlangt, die vielmehr vom Gegenteil
überzeugt sind: Wiederum kein Geringerer als diesmal der Nobelpreisträger
Milton Friedman (1976,  S. 9-76) und andere Monetaristen  (z.B.  H. G.
Johnson 1969) gehen davon aus, daß Geld in der Kasse ohnehin Kosten mit
sich bringt: Den Kassehaltern entgehen Zinsen oder anderweitige Erträge aus
möglichen Geldanlagen, wenn sie, statt ihr Geld anzulegen, es in der Kasse
behalten.
  Dabei geht es um den gleichen Befund, der uns schon bei Keynes (1936,
S. 168) begegnet war, der meinte, die Vorteile und Bequemlichkeiten der
Liquidität für die Abwicklung der laufenden geschäftlichen Transaktionen sei
es wert, daß man dafür bis zu einem gewissen Punkt Zinsen opfert ("worth
while to sacrifice a certain amount of interest for the convenience of liqui-
dity"). Noch stärker als Keynes beschränkt Friedman seine Betrachtung auf
das Geld als eine Vermögensart, als eine "Möglichheit der Vermögenshal-
tung" (Friedman 1956, S. 78; Herr 1986, S. 110), und sieht in den einschlä-
gigen Zusammenhängen von der Transaktionsfunktion des Geldes weitgehend
ab.
  Während aber Keynes im Zusammenhang mit der Kosten-Nutzen-Struktur
des Geldes in den Zinsen echte Aufwendungen und einen Preis sieht, der dem
Liquiditätsnutzen entspricht,  sehen die Monetaristen in diesem Zusammen-
hang nur etwas anderes: Die "Kosten" der Kassehaltung, also die geopferten
anderweitigen Erträge, erscheinen ihnen relativ groß im Verhältnis zu den
geringen Kosten, die die Herstellung von Geld verursacht.
  Die Kassehalter bringen also, nach monetaristischer Sichtweise, Opfer an
entgangenen Zinsen, die größer sind, als es die Herstellungskosten von Geld
rechtfertigen.  Und die Differenz zwischen geringen Herstellungskosten des
Geldes einerseits und den hohen Opportunitätskosten von Kassehaltern ande-
rerseits, die streicht die Zentralbank ein als Emissionsgewinn. Das stört die
Monetaristen.  Sie möchten die Kassehalter teilhaben lassen an dem Wohl-
fahrtsgewinn, der in Form des Emissionsgewinnes bei der Zentralbank anfällt.
Also sollen Kassehalter einen Ausgleich erhalten in Höhe der entgangenen
Zinsen.
  Daran ist richtig die  Fragwürdigkeit der Emissionsgewinne.  Im übrigen
aber übersehen die Monetaristen: Der Kassehalter opfert zunächst einmal am
Ende nichts, aber auch wirklich gar nichts, wenn er sich aus ökonomischen
Gründen für eine gewisse Kassehaltung entscheidet. Er profitiert nur und
einzig und allein ohnehin vom Geld: Der Kassehalter wählt zwischen vielen
Möglichkeiten, mit seinem Geld zu verfahren, die für ihn günstigste. Also ist
die Liquiditätsprämie, die er dann in Form des Liquiditätsnutzens einstreicht
und genießt, für ihn größer oder gleich jeder anderen Verwendungsmöglich-
keit, gegenüber welcher er die gewählte Kassehaltung vorzieht.
  Was die Monetaristen hier behandeln, als ob es sich um echte Aufwen-
dungen des Kassehalters handele, das sind nur hypothetische (gleiche oder
geringere) Erträge, die nicht auch noch gleichzeitig real erreichbar sind. Weil
diese anderweitigen hypothetischen Vergleichserträge im Fachjargon "Oppor-
tunitätskosten" genannt werden, kann es leicht passieren, daß man auf die
eigene Terminologie hereinfällt und dann die hypothetischen Erträge bei ab-
strakt-theoretischen Modellüberlegungen als echte Kosten behandelt an Stel-
len, wo es nicht zulässig ist.
  Das Ergebnis, zu dem die Verwechslung der Opportunitätskosten der Kas-
sehaltung mit echten Kosten führt, ist grotesk: Obwohl Kassehalter schon die
Liquiditätsprämie praktisch geschenkt bekommen, schlagen diese Monetaristen
vor, ihnen das pekuniäre Äquivalent der Liquiditätsprämie,  nämlich einen
Betrag in Höhe der "geopferten Zinsen", zusätzlich zu vergüten.
  Wo Keynes also echte Durchhaltekosten vorschlägt, um die Liquiditätsprä-
mie  auszugleichen,  dort  führen  die  monetaristischen  Vorstellungen  dazu,
nachzudoppeln und auf den Liquiditätsnutzen  des Geldes noch einmal den
gleichen  Wert draufzulegen:  Nicht  Ausgleich der  monetären  Asymmetrie,
sondern ihre Verdoppelung.
  Es ist schon eigenartig, bis auf welche absurden Irrwege Ökonomie und
Geldtheorie sich selbst führen, wenn sie nicht mehr nach den wirklichen
Bedürfnissen der Individuen und nach den realwirtschaftlichen Funktionen des
Geldes fragen, sondern nur noch durch die Augen des Kassehalters und An-
legers schauen, um dann irgendwelche abstrakten Überlegungen anzustellen
und Vorschläge zu entwickeln, die den realwirtschaftlichen Funktionen des
Geldes  Hohn  sprechen.  Würden  die  monetaristischen  Vorstellungen  vom
Ausgleich der Opportunitätskosten von Kassehaltung realisiert, bräuchte man
sein Geld nicht einmal mehr anzulegen, um Renditen einzustreichen. Und die
anderen, die auf das Geld angewiesen sind, um ihre Transaktionen abzuwik-
keln, müßten am Ende etwa doppelt so hohe Zinsen zahlen, um die Kasse-
halter noch aus der Reserve zu locken. Die Liquiditätspräferenzkurve würde
kräftig nach oben verschoben. Und die Monetaristen müßten dann folgerichtig
den armen Kassehaltern noch höhere Ausgleichszahlungen zukommen lassen,
weil sie ja, wenn sie ihr Geld nicht anlegen, nunmehr noch höhere Zins-
erträge opfern würden...

 

3.  Sachkapitalwährung?
  Wenn vom zinstragenden oder leicht deflationierten Geld der Monetaristen
die Rede ist, muß auch noch eines Vorschlages gedacht werden, der die
wohlfahrtsökonomischen Gedanken, die letztlich auch den monetaristischen
Vorstellungen zugrundeliegen, auf die folgerichtigste Art und Weise umzu-
setzen verspricht. Gemeint ist das Konzept von Wolfram Engels: Die Wäh-
rungseinheit wird darin als Anteil am Marktportefeuille der Aktien definiert,
und Geld wird von den Banken im Wettbewerb untereinander ausgegeben.
(Engels 1981 )
   Die Währungseinheit dieses Geldes wird definiert nicht als Äquivalent zu
den Waren, die zirkulieren, sondern als Äquivalent zu Kapitalien, die stationär
genutzt werden, und diese Währungseinheit wächst an (ist deflationär) in dem
Maße, wie das repräsentierte Sachkapital produktiv ist: kapitalistisches Geld in
reinster Form.
  Zwar möchte Engels durchaus alle drei klassischen Funktionen des Geldes
zugleich optimieren: die Tauschmittelfunktion, die Wertaufbewahrungsfunktion
und die Funktion als Maß für Kaufkraft. (S. 24ff., 29) Aber tatsächlich op-
timiert er zunächst und vor allem die Wertaufbewahrungsfunktion insofern, als
das von ihm konzipierte Geld als solches nicht nur seinen Wert behalten,
sondern im Werte nach Maßgabe der Produktivität der Sachkapitalien wach-
sen soll, - nach der Formel:
   "As a store of value money is all the more suitable, the higher its real rate
   of interest, i.e. the smaller the margin between the yield on cash (bank
   notes) and that on other assets." (S. 30)
   Zugleich soll der Wert des Geldes möglichst vorhersagbar sein. Dies soll
dann eintreten, wenn die Währung an den Wert des Marktportefeuilles der
Aktien gebunden wird. So würde das systematische Risiko verschwinden. Die
Zinsrate würde nominell Null. Man könnte statt Aktien Geld halten, ohne auf
Erträge verzichten zu müssen. Man könnte sich mit Liquidität sättigen, also
praktisch sein Vermögen in Geld halten und doch davon Erträge haben.
  Aber Engels macht am Ende keine praktisch-realwirtschaftliche Plausi-
bilitätskontrolle auf sein theoretisch abgeleitetes Ergebnis: Wie soll ein Geld,
das sich schon in der Kasse oder auf dem Konto von selbst durch Deflation
wie durch Renditen vermehrt, noch optimales Transaktionsmittel sein? Es
würde seine Zinsen ja praktisch schon verdienen, ohne daß es noch seinen Job
als Tauschmittel, Zahlungsmittel und Zirkulationsmittel erledigen müßte!
  Solches Geld würde man noch lieber behalten als das heutige. Die Liqui-
ditätspräferenz würde sich kräftig erhöhen. Geld würde von den Transak-
tionsmärkten  in die Kassen der  Vermögenshalter abgezogen.  Die gesättigt
vollen Kassen wären ein riskantes Potential an Geldangebot, das sich bei
kleinen Schwankungen in den psychologischen Einschätzungen auf die Märkte
ergießen und dort Preis- bzw.  Kursschwankungen exzessiver Art auslösen
könnte.
   Es ist denn auch symptomatisch, daß John Maynard Keynes im Literatur-
verzeichnis von Engels nicht vorkommt. Die pathologische Liquiditätspräfe-
renz, wie sie von einem Geld nach dem Vorschlag von Engels ausgelöst
würde, ist für ihn kein Problem. Wohl aber gehört er zu jenen Geldtheore-
tikern, die die Liquiditätsprämie nur sehen im Zusammenhang mit Porte-
feuille-Risiken  statt  auch  im  Zusammenhang  mit  den  Informations-  und
Transaktionskosten, die bei der Abwicklung der laufenden Geschäfte (nicht
von Vermögenshaltern, sondern von Produzenten, Händlern und Konsumen-
ten) anfallen.
  Wird die Währungseinheit als Anteil des Marktportefeuilles definiert, ver-
schwinden nach Engels die Risiken und mit ihnen die Liquiditätsprämie und
die Zinsen:
   "There are neither risk nor liquidity premia in the interest rate. (...) Then
   liquidity premia can no longer exist. Holding cash will not require any
   sacrifice of income from capital.  (...) All money interest, revenue and
   capital costs are equal and nominally zero. In practice this would be re-
   flected in a decline in the commodity price level." (S. l0f.)
   Wie die Monetaristen, so macht auch Engels seine Rechnung auf ohne die
anderen Wirtschaftssubjekte, die die Profite irgendwie realwirtschaftlich erar-
beiten müssen, die den Vermögenshaltern in Gestalt der Gewinne aus Defla-
tion zuströmen. Woher sollen sie ihr Geld nehmen, wenn es in die Kassen
untätiger Vermögenshalter gesogen wird wie Materie in die "schwarzen Lö-
cher" im Weltall? Sie müssen den Kassehaltern doppelte Zinsen bieten, um
das Geld wieder herauszulocken.  Also stimmt es nicht, daß Kassehaltung
keine Einkommensopfer mehr mit sich bringen würde. Im Gegenteil: Wer
Geld nach dem Konzept von Engels nicht anlegt, dem entgehen höhere Zinsen
als heute. Und so zeigt sich, daß die ganze Rechnung von Engels ebenso-
wenig und auf die gleiche Art und Weise nicht aufgeht wie die der Moneta-
risten.
  Die Rechnung ginge nur auf, wenn die Liquiditätsprämie und der Zins
nicht nur nominell, sondern auch realiter Null wären. Dazu aber ist nicht ein
Geld erforderlich, das reale Erträge mit sich führt, sondern ein Geld, bei dem
reale Kosten den Liquiditätsnutzen ausgleichen.

 

II.   Monetäre Techniken eines postkapitalistischen Zirkulationssystems
  Das Geld hat einen Austauschbarkeitsvorsprung vor den Waren. Um diesen
Nutzen auszugleichen und zu neutralisieren, muß man dem Geld nur entspre-
chende Kosten anheften:  Die Vorhaltung von Liquidität muß ungefähr so
kostspielig sein, wie diese Liquidität ökonomisch nützlich ist.  Dann behält
zwar das Geld seine ihm eigentümliche und unentbehrliche Schlagfertigkeit
("money's supreme salability"). Aber diese Schlagfertigkeit ist nicht mehr
gratis als Geschenk der Volkswirtschaft an Geldbesitzer zu haben. In dem
Maße  wie  Geldbesitzer  dann  unter  Kostendruck  geraten,  schwindet  ihre
Vormachtstellung gegenüber den Händlern, Produzenten und Konsumenten.
  Wird der  ökonomische Transaktionsnutzen des Geldes durch Liquiditäts-
kosten abgeschöpft, dann entsteht "neutrales Geld" oder "Geld ohne Mehr-
wert". (Suhr 1983) Dafür gibt es zwei unterschiedliche Strategien: eine staat-
lich-hoheitliche und eine ökonomisch-wettbewerbswirtschaftliche.

 

l.  Steuern oder Gebühren auf monetäre Liquidität
  Eine erste Möglichkeit besteht darin, Banknoten nach dem Vorbild des
Freigeldes von Silvio Gesell (1949) auszugeben, die man mit Gebührenmarken
bekleben muß, wenn sie ihren Nennwert behalten sollen: Eine Note über 100
Währungseinheiten  z.B.,  die  6%  p.a.  Liquiditätskosten  verursachen  soll,
würde monatlich 0,5 % an Wert verlieren, wenn sie nicht monatlich mit einer
Gebührenmarke im Werte von 0,5 Währungseinheiten beklebt würde.
  Die Gebühren würden in diesem Falle z.B. der Notenbank oder dem Staat
zufließen. Sie hätten zur Folge, daß das Geld für alle Geldnutzer in etwa ein
neutrales Instrument wäre, das ihnen in der Kasse per Saldo weder Nutzen
noch Kosten brächte, das sie aber sehr wohl als nützliches und kostensparen-
des Zahlungs- und Zirkulationsmittel verwenden könnten. Geldnutzer könn-
ten sich von den Liquiditätskosten durch zügige Verwendung des Zahlungs-
mittels befreien.
  Den Gegenwert des Gebrauchsnutzens, den die in der Kasse festgehaltene
Liquidität verursacht, würde das Gemeinwesen in Gestalt der Liquiditätsge-
bühren erhalten, so daß auch die Gesamtgesellschaft den Vorteil daraus hätte,
daß sie durch eine "gesellschaftliche Tat" Geld hervorbringt und in Funktion
hält.
  Diese erste monetäre Technik für ein "Geld ohne Mehrwert" wäre eine
hoheitliche, staatlich organisierte Abschaffung des monetären Kapitalismus.
Die Liquiditätsgebühr wäre der Sache nach eine Art Ausgleichsabgabe oder
Ausgleichssteuer, mit deren Hilfe der private Liquiditätsnutzen abgeschöpft
würde, den die gesellschaftliche Produktion von Liquidität einzelnen Kasse-
haltern ermöglicht. Außer dem Abstempeln der Banknoten sind verschiedene
Techniken diskutiert worden, die freilich mehr unter dem Aspekt der "Um-
laufsicherung" als unter dem eines Ausgleichs des Liquiditätsnutzens entwik-
kelt wurden (z.B. Walker 1952; Creutz 1986).

 

2.  Selbsthilfetechniken für ein Geld ohne Mehrwert 
(Der im folgenden von Suhr beschriebene Vorschlag soll in München umgesetzt werden.
Infos unter:  http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/suhr/muenchengeld/; Anm. von
 W. Roehrig)

 

     "Geld ohne Mehrwert" läßt sich aber wohl nicht nur mit Hilfe des Staates
einführen, sondern auch durch Privatinitiative als Finanzinnovation.
  Irving Fisher hat während der großen Krise Anfang der dreißiger Jahre ei-
gens ein Buch geschrieben, in dem er vorgeschlagen hat, im großen Stil ein
Geld mit künstlichen Durchhaltekosten einzuführen, um die müde Wirtschaft
wieder in Gang zu setzen: Stamp Scrip. (Fisher 1933) Die Ausgabe solcher
eigener Geldzeichen ist freilich dort nicht möglich, wo es nicht nur gesetzlich
verboten ist, Banknoten nachzumachen, sondern auch, eigene Geldzeichen
auszugeben. Deshalb scheidet der Weg über die Ausgabe solcher Geldzeichen
durch Banken oder Gemeinden oder Genossenschaften aus. Aber damit ist
noch nicht aller Tage Abend.
  Wenn man sich auf kommunaler oder regionaler Ebene zusammentut und
eine Bank gründet oder eine Bank dazu bewegen kann, mitzumachen, ergibt
sich noch eine andere Möglichkeit. (Suhr 1986, S. 63 - 76; Suhr/Godschalk
1986, S. 133 -147) Voraussetzung dafür ist, daß man möglichst viele Wirt-
schaftssubjekte für die freiwillige Teilnahme an dem neuen System gewinnt.
Da es sich um ein am Ende preiswerteres Transaktionssystem als das bishe-
rige Geld handelt, hat es die Chance, sich im Wettbewerb durchzusetzen.
  Worum geht es?
  Es geht darum, daß zwar nicht die Banknoten, wohl aber die von den Wirt-
schaftssubjekten bei der Bank auf dem Konto gehaltene monetäre Liquidität
ähnlich mit Kosten belastet wird, wie es soeben für die Banknoten ins Auge
gefaßt wurde. Die Bank würde sich zunächst einmal wie bisher Geld auf dem
Geld- und Kapitalmarkt verschaffen.  Sie  würde dieses Geld dann an die
Kunden, die bei "Geld ohne Mehrwert" mitmachen wollen, kreditweise wei-
tergeben.  Die Kunden der Bank, die diese Kredite in Anspruch nehmen,
würden aber nicht wie bisher für die gesamte Laufzeit des Darlehens Zinsen
zahlen, sondern jeweils nur so lange mit Liquiditätskosten belastet werden, wie
sie auf ihrem Konto liquide Posten stehen haben.
  So könnte die Bank sehr wohl ihre Kosten hereinwirtschaften und ihre her-
kömmlichen Geldgeber mit Zinsen bezahlen. Zunächst allerdings müssen diese
Kosten der neuartigen Liquidität in herkömmlichem Geld erhoben und erwirt-
schaftet werden;  denn die herkömmlichen Geldgeber wollen herkömmlich
bezahlt werden, ebenso die Mitarbeiter der Bank. Im übrigen aber würden die
Kosten so berechnet und verteilt, daß jeder Kunde immer nur für eine sehr
kurze Zeitspanne für die Kosten aufkommen müßte. Die Geldbeschaffungs-
kosten würden nicht mehr länger beim Kreditnehmer hängenbleiben, sondern
immer dort zu Buche schlagen, wo monetäre Liquidität in Anspruch genom-
men wird.
   Die Geschäftsbanken und Sparkassen bei uns dürfen Geldschöpfung be-
treiben.  Sie schaffen und vernichten sogar tagtäglich Geld, nämlich Giral-
geld, wie man es auf dem Konto hat, wenn man Geld auf ein Konto einzahlt
oder einen Kredit gutgeschrieben erhält. Bei Einzahlung von Bargeld z.B.
wird dieses Bargeld aus dem Verkehr der Nichtbanken untereinander heraus-
gezogen ("vernichtet") und durch ("selbstgeschaffenes") Giralgeld der Ban-
ken ersetzt. Da also die Banken und Sparkassen Geld ausgeben dürfen, steht
nichts mehr im Wege, dieses Geld "nach Maß" so zuzuschneiden, daß es zu
einem "Geld ohne Mehrwert" oder zu "neutralem Geld" wird.
  Zur Verwirklichung des neutralen Geldes ohne Mehrwert bedarf es also
von Anfang an wenigstens einer Bank oder Sparkasse. Sie bietet ihren Kunden
bisher und zunächst nur die  herkömmlichen  Dienstleistungen des Bankge-
schäftes an. Nennen wir diese Bank oder Sparkasse, die sich bereiterklärt, bei
der Emission von Geld ohne Mehrwert mitzuwirken, die "N-Bank" ("N" für
neutrales Geld).
  Die N-Bank bietet allen ihren alten und neuen Kunden die Eröffnung je
eines zusätzlichen Kontos an: eines "N-Kontos". Auf diesen N-Konten stellt
die N-Bank ihren Kunden Kredite zur Verfügung, für die sie keine her-
kömmlichen Zinsen berechnet. Der Kreditnehmer zahlt also nicht Zinsen für
die gesamte Laufzeit der Inanspruchnahme seines Kredites. Er zahlt vielmehr
nur so lange Liquiditätskosten, wie das Geld auf dem Konto bereitsteht. Von
diesen Liquiditätskosten wird er frei, sobald er durch Überweisung von dem
N-Konto eine Zahlung auf ein anderes N-Konto tätigt.
  In dem Zins für herkömmliche Kredite ist jedoch nicht nur ein Preis für die
zeitweilige Überlassung des Nutzens monetärer Liquidität enthalten. Der Zins
enthält vielmehr auch eine mehr oder weniger hohe "Risikoprämie" derart,
daß Kreditnehmer mit guter Bonität eine geringere Risikoprämie zahlen als
solche mit schlechter Bonität. Diese Komponente im herkömmlichen Zins muß
gedanklich und praktisch abgetrennt werden, so daß zwischen der N-Bank
und dem Kreditnehmer gesondert vereinbart wird, welchen Preis er für das
Risiko zahlen muß, das er für die N-Bank darstellt. Eine ähnliche Abschich-
tung und Trennung ist erforderlich, wenn und soweit im herkömmlichen Zins
ein Ausgleich für erwartete Inflation steckt. Praktisch würde das darauf hin-
auslaufen,  daß  ein  N-Kreditnehmer  geringe  Zinsen  nach  herkömmlichem
Muster und im übrigen nur die Liquiditätskosten zu zahlen hätte für die be-
reitgehaltene Liquidität.
  Für die Kredite, die die N-Bank auf den N-Konten ihren N-Kunden zur
Verfügung stellt, muß sie sich wie bisher refinanzieren (genau genommen: sie
muß sich reliquidisieren!). Sie kann sich also das Geld, das sie ihren N-Kun-
den auf die neuartige Art und Weise zur Verfügung stellt, auf den herkömm-
lichen Geld- und Kapitalmärkten besorgen. Dort muß sie die zur Refinanzie-
rung (bzw. Reliquidisierung) aufgenommenen Gelder auch mit herkömmlichem
Geld verzinsen.
  Damit die Rechnung aufgeht, muß die Bank also die Kredit- und Liquidi-
tätskosten, die sie bei ihren N-Kunden erhebt, in herkömmlichem Geld be-
kommen. Das führt dazu, daß die Liquiditätskosten einerseits und die her-
kömmlich berechnete Risiko- und Inflationsausgleichsprämie andererseits dem
herkömmlichen Konto des betroffenen Kreditnehmers belastet werden.
  "Liquiditätskosten" hat der Inhaber eines N-Kontos auch dann zu tragen,
wenn er sein Konto überzieht. Das erscheint zunächst nicht ohne weiteres
verständlich. Es hat aber seinen guten Grund und seine Richtigkeit: Es darf
nämlich keine Rolle spielen, ob die Liquidität auf dem N-Konto im Soll oder
im Haben zu Buche steht. Bei einem Guthaben besteht die "Liquidität" darin,
daß ungewiß ist, ob und wann der Kunde darüber verfügt: Er hat sich zeitlich
nicht festgelegt. Wird das Konto einfach überzogen, so besteht der Zustand
der "Liquidität" darin, daß wiederum zeitlich offen ist, wann der Kunde sein
Konto ausgleicht, z.B. auch dadurch, daß er einen zeitlich festgelegten Kredit
aufnimmt.
  So gesehen gibt es also nicht nur kostentragende Guthaben, sondern auch
kostentragende  Überziehungspositionen. Wer will, kann sich die Rechtferti-
gung dieser scheinbar paradoxen Kosten für Negativposten plausibel machen,
indem er sich vorstellt: Wer mit Geld umgeht, das Anweisungen auf Anteile
am Sozialprodukt vermittelt, der darf in keinem Falle die Zirkulation unge-
straft stören, - weder dadurch, daß er ins Ungewisse hinein Geld nicht aus-
gibt, das er hat, - noch dadurch, daß er ins Ungewisse hinein Geld ausgibt,
das er nicht hat.
  Der Zahlungsverkehr von N-Konto zu N-Konto spielt sich nicht anders ab
als Überweisungen von herkömmlichen Konten auf herkömmliche Konten.
Liquiditätskosten fallen jeweils dann an, wenn auf den N-Konten von der
Null-Linie abgewichen wird. Und diese Kosten werden, wie gesagt, in her-
kömmlichem Geld erhoben und den herkömmlichen Konten der betroffenen
Kunden belastet.
  Wie aber steht es mit der Abhebung von Bargeld?
  Hebt ein Kunde Bargeld von seinem N-Konto ab, so entgeht der Bank die
Möglichkeit, den Weg dieses Geldes weiterzuverfolgen und Liquiditätskosten
immer dort zu erheben, wo sich das Geld gerade befindet. Sie muß sich des-
halb an den Kunden halten, der von seinem N-Konto Bargeld abgehoben hat.
Von ihm fordert sie also die Liquiditätskosten so lange, bis er das herkömm-
liche Bargeld wieder einzahlt.  (Dann  freilich kann der betroffene Kunde
ebensogut das Geld von seinem herkömmlichen Konto abheben und einen
herkömmlichen  Kredit  in  Anspruch  nehmen,  für  den  gegebenenfalls  sein
Guthaben auf dem N-Konto oder eine Anlage dieses Geldes bei der Bank als
Sicherheit dient.) Ein N-Kunde, der von seinem N-Konto Bargeld abhebt,
verhält sich  nicht  anders  und  wird  so behandelt,  als entnähme er dem
N-System einen herkömmlichen Kredit.  Also zahlt er auch herkömmliche
Zinsen.
  Nicht anders als die Abhebung von Bargeld spielt sich die Sache ab, wenn
jemand, der ein Guthaben auf seinem N-Konto hat, Überweisungen auf her-
kömmliche Konten tätigen möchte:
  Auch dieser Kunde erscheint aus der Sicht des N-Systems wie ein Bar-
abheber und wird so behandelt. (Und wiederum erscheint es denkbar, daß der
N-Kunde sein N-Guthaben der Bank als N-Festgeld oder N-Darlehen anbie-
tet, um die Liquiditätskosten zu senken oder ihnen zu entgehen, und daß er
dann auf seinem herkömmlichen Konto einen herkömmlichen Kredit nimmt,
für den wiederum sein Guthaben als Sicherheit fungieren kann.)
  In dem Umfange, wie das N-Zahlungsnetzwerk wächst und die Teilneh-
merzahl zunimmt, wird es wahrscheinlich, daß monetäre Märkte entstehen, die
den heutigen Geld-, Kapital- und  Devisenmärkten entsprechen:  Man wird
dann mit herkömmlichem Geld N-Liquidität und mit N-Liquidität herkömm-
liches Geld kaufen können.
  Schließlich gilt es noch den Fall zu bedenken, daß ein Kunde herkömm-
liches Bargeld auf ein Konto einzahlen möchte. In diesem Falle wird er kaum
herkömmliches Bargeld einfach auf ein N-Konto legen. Denn dabei würde er
seine bisher kostenlose Liquidität in eine für ihn kostenträchtige umtauschen.
Also wird er sein herkömmliches Bargeld bei seiner Bank auf herkömmliche
Weise anlegen, indem er ein Sparbuch eröffnet, Termingelder vereinbart oder
Obligationen kauft. Dann wird er einen N-Kredit in Anspruch nehmen, für
den seine Geldanlage als Sicherheit fungiert.
  Sobald N-Kunden auf ihren N-Konten über Guthaben verfügen, für die sie
im  Augenblick  keine  "Verwendung"  im  übrigen  Wirtschaftsleben  haben,
werden sie dazu motiviert, diese ihre N-Liquidität "anzulegen". Dieses "neu-
trale Geld" drängt also in die "Geldanlage". Der Konteninhaber sucht dann
also andere Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr, die noch "Verwendung" für
N-Liquidität haben. Er kann einem Freund, einem Geschäftspartner oder sonst
jemandem ein Darlehen in N-Liquidität geben. Oder aber er bietet sein Gut-
haben der N-Bank als Festgeld oder Darlehen an.
  Und genau dieser Fall, daß nämlich N-Kunden ihre eigenen N-Bankgutha-
ben in N-Liquidität zu Anlagezwecken anbieten, ist aufschlußreich. Von dem
Augenblick an nämlich, in dem die N-Bank N-Liquidität ihrer N-Kunden
entgegennimmt, beginnt die Selbstreliquidisierung im N-System. Jetzt fließt
das erste Leihgeld neuer Art und Güte zurück in das Gebiet des neuen neu-
tralen Geldes. Der Kreislauf des neutralen Geldes schließt sich.
  Soweit dann die N-Bank (oder das N-Banksystem) sich durch N-Einlagen
reliquidisiert, bedarf es der Mittel nicht mehr, die während der Startphase auf
den herkömmlichen Geld- und Kapitalmärkten aufgenommen werden mußten.
Es entfallen dann auch die Zinsen in herkömmlichem Geld, die das N-System
noch an die Geldgeber herkömmlicher Art abführen mußte. Und soweit die
N-Bank ihre eigenen Aufwendungen an Angestellte und an Geschäftspartner
in  N-Liquidität tätigen  kann,  kann  und  muß  sie  Erträge  in  N-Liquidität
hereinwirtschaften.  Das  wiederum  bedeutet,  daß  auch  die  N-Kunden  ihre
Kosten (Kreditrisiko- und Liquiditätskosten) mehr und mehr in N-Liquidität
werden entrichten können.
  So erscheint es am Ende möglich, daß sich das N-System als eine mone-
täre Enklave in der kapitalistischen Welt entwickelt, die sich von dem kapi-
talistischen Umfeld in dem Maße emanzipiert, wie die Enklave wächst. Und
in dem Maße, wie die Enklave wächst, unterwandert sie die kapitalistische
Umgebung. Die preiswerten Liquidisierungsdienste setzen sich am Ende im
Wettbewerb mit dem kapitalistischen Geld durch. Und so erweist sich das
neutrale Geld ohne Mehrwert eben durch seine Kostenträchtigkeit als unge-
heuer kräftig: als so kräftig, daß es dem kapitalistischen Geld die Nachfrage
abgraben kann.
  Wenn sich das N-System im wesentlichen in sich selbst reliquidisiert, er-
scheint eine Entwicklung denkbar, die ich noch nicht recht absehe: Sofern die
Kosten, die der N-Bank bei ihren Liquiditäts- und Kreditdiensten entstehen,
so gering werden sollten, daß auch die Kosten, die den Kunden in Gestalt von
Liquiditätskosten belastet werden, extrem niedrig werden, dann wird mone-
täre Liquidität am Ende vielleicht wieder so billig, daß ihre Kosten geringer
sind als der Liquiditätsnutzen. Dann beginnen die Kunden wieder eine "Nei-
gung zur Liquidität" zu entwickeln, und das könnte zu Marktsituationen füh-
ren, bei denen wieder herkömmliche Zinsen verlangt werden für Darlehen.
Dann beginnt der Kreislauf vielleicht von neuem mit dem Trick der N-Kon-
ten, auf denen die Zinsen in Liquiditätskosten transformiert werden... Kurz:
Es sind gewiß noch nicht alle Fragen der  "neutralen Liquidität" und des
Geldes ohne Mehrwert beantwortet, noch nicht alle Probleme gelöst. -
  Während der Startphase ist das System der N-Bank einem Barter-Klub sehr
gut vergleichbar:  Es gilt,  die Anzahl der Teilnehmer zu vergrößern, um
einen Markt für das neue Verrechnungsverfahren aufzubauen. So erscheint es
auch denkbar, daß man, bevor man das System startet, mit einem Barter-Klub
beginnt. Wenn dann der Klub seine Anfangsschwierigkeiten überwunden hat,
kann man die Verrechnungsarbeit einer N-Bank übertragen und die Annähe-
rung des Tauschklubs an herkömmliche Zahlungstechniken  mit neuartigem
Geld bewirken.
  Die Anfangsschwierigkeiten der Finanzinnovation "neutrales Geld" dürften
erheblich sinken, sobald es gelingt, das Projekt auf kommunaler Ebene zu
starten und die betroffene Gemeinde dafür zu gewinnen, in das N-System
einzusteigen. Dann wüßte jeder aktuelle und potentielle Teilnehmer, daß er
wenigstens seine kommunalen Verbindlichkeiten (Gewerbesteuer, Abwasser,
Müllabfuhr, Straßenreinigung usw.) mit N-Liquidität begleichen kann.  Das
Projekt könnte sogleich mit einer sehr viel höheren "Akzeptanz" des neuen
Zahlungsmittels rechnen, weil sich die Bereitschaft der Kommune, das Geld
anzunehmen, auswirkt auf die Bereitschaft aller anderen, das "neutrale Geld"
in Gestalt der N-Liquidität anzunehmen.

 

III.   Prinzipien einer freiheitlich-sozialen Geldpolitik
l.  Stabile Währung
  Bei allen vorstehenden Überlegungen wurde vernachlässigt, welche Aus-
wirkungen es hat, wenn man nicht stabile Währung, sondern Inflation oder
Deflation voraussetzen muß. Auch "Geld ohne Mehrwert" funktioniert auf die
angedeutete Weise nur dann reibungslos, wenn die Geldmenge so weit kon-
trolliert wird, daß die  Währung im großen und ganzen  stabil bleibt.  Die
geldordnungspolitischen Ansätze bei dem Nutzen und den Kosten der Liqui-
dität können zwar auf lange Sicht das währungspolitische Problem einer sta-
bilen Währung erleichtern, zielen aber auf andere Symptome und sind daher
nicht das geeignete Mittel, stabile Währung als solche dort herbeizuführen, wo
die Geldmengenpolitik im übrigen versagt.

 

2.  Austauschfreiheit als Grundlage der marxistischen Kritik der Ökonomie
  Es verdient gerade im Zusammenhang mit der marxistischen Ökonomie
erwähnt und betont zu werden, auf welchen Voraussetzungen Marx bei seiner
Kritik der politischen Ökonomie selbst aufbaut. Es war schon die Rede davon,
daß am Anfang des "Kapitals", also an unübersehbarer Stelle, die Fundamente
in dem Sinne gelegt werden, daß die Ware ein nutzloser Gegenstand ist, wenn
sie nicht durch ihre Eigenschaften "menschliche Bedürfnisse irgend einer Art
befriedigt". (Marx 1890, S. 49) Nur diese Nützlichkeit der Ware in bezug auf
menschliche Bedürfnisse macht sie zu "Gebrauchswerten", und zwar unab-
hängig davon, ob diese Ware "viel oder wenig Arbeit kostet". (S. 50)
  Also noch einmal und in prägnanter Kürze: Nur das menschliche Bedürfnis
entscheidet über den Gebrauchswert. Nur der Gebrauchswert qualifiziert ein
Ding zur Ware und verleiht der Ware ihren Tauschwert. So entscheidet in-
direkt das menschliche Bedürfnis, und nur das menschliche Bedürfnis, über
die Nützlichkeit nicht nur der Waren, sondern auch der in sie investierten
Arbeit. Arbeit, die keine Gebrauchswerte in diesem Sinne erzeugt, ist nutzlose
Arbeit. (Marx 1859, S. 15)
  Wenn z.B. "die bestimmte Ware in einem das gesellschaftliche Bedürfnis
dermalen überschreitenden Maß produziert worden ist, (so wird) ein Teil der
gesellschaftlichen Arbeitzeit vergeudet, und die Warenmasse repräsentiert dann
auf dem Markt ein viel kleineres Quantum gesellschaftlicher Arbeit, als wirk-
lich in ihr enthalten ist." (Marx 1894, S. 197) Eine solche Vergeudung der
Arbeit ist eine höchst demütigende Mißachtung und eine höchst unsoziale
Behandlung, die den Arbeitern und Unternehmern in allen Wirtschaftssyste-
men zuteil wird, in denen mangels Markt an den Bedürfnissen vorbeigear-
beitet wird.
  Wenn man also die Vergeudung von Arbeitskraft im besonderen und die
Vergeudung von ökonomischen Ressourcen im allgemeinen vermeiden will, so
muß man so präzise, so genau und so effektiv wie möglich sicherstellen, daß
die Arbeitsprodukte Gebrauchswert haben und mit diesem ihrem Gebrauchs-
wert bestmöglich menschliche Bedürfnisse befriedigen: Die Bedürftigen be-
stimmen über den Wert der Arbeit.
  Wie  aber  können  die  Menschen,  denen  die  Produkte  mit  ihrem  Ge-
brauchswert dazu nutzen sollen,  ihre Bedürfnisse zu befriedigen,  -  wie
können diese bedürftigen Menschen den Produzenten möglichst genau, mög-
lichst  direkt  und  möglichst unverfälscht mitteilen,  welche  Bedürfnisse  sie
haben und ob die Produkte ihre Bedürfnisse auch wirklich befriedigen?
  Hinter dieser Frage verbirgt sich ein entscheidendes Informationsproblem:
In der Volkswirtschaft bedarf es eines effektiven und möglichst verfälschungs-
sicheren Nachrichtensystems, vermittels dessen Signale über menschliche Be-
dürfnisse von den Konsumenten an die Produzenten übermittelt werden kön-
nen. Und tatsächlich: Dadurch, daß innerhalb der Wirtschaft durch "gesell-
schaftliche Tat" eine Äquivalentform der Waren, nämlich das Geld, hervor-
gebracht wurde, ist zugleich ein Meßsystem entstanden, mit Hilfe dessen die
bedürftigen Menschen den Produzenten signalisieren können, ob und in wel-
chem Umfang sie ein Produkt "wertschätzen". So wurde denn auch das Geld
vor Marx gerade nicht nur als ein Maßstab der Arbeit, sondern als ein Maß-
stab vor allem der Bedürfnisse behandelt: bei Aristoteles (1972, S. 112f.)
ebenso wie etwa bei Hegel. (1821, S. 303: Zusatz zu § 63)
  Wenn  aber  die  bedürftigen  Menschen  als  Konsumenten  vermittels  des
Maßstabes "Geld" (Währung) direkt oder indirekt den Produzenten signali-
sieren sollen,  welche ökonomische  Wertschätzung sie diesem oder jenem
Produkt entgegenbringen, dann darf man den Konsumenten und Produzenten
nicht vorschreiben, zu welchen Preisen sie in Austauschverkehr miteinander
treten sollen: "Im Preis ist der Tauschwert ausgedrückt als ein bestimmtes
Quantum Geld (...) Das Geld ist hier also gesetzt als das Maß der Tausch-
werte." (Marx 1857/58, S. 104). Also ist das Geld auch Maß der Bedürfnisse,
nämlich ein Maß der Nützlichkeit von Waren relativ zu den Bedürfnissen. In
den Preisen drückt sich geradezu die Bewertung aus, die die Arbeit von den
Bedürfnissen her erhält.
  Nur was ein Bedürfnis befriedigt, hat Gebrauchswert. (Marx 1890, S. 49f.)
- Und es "kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchswert zu sein". (S. 55)
Das Maß für die Nützlichkeit der auf eine Ware verausgabten Arbeit ist ihr
Gebrauchswert, der sich beim Warenaustausch im Warenwert als Geldwert
ausdrückt. Ohne Austausch findet keine angemessene Bewertung der Arbeit
statt. Denn die Waren
   "müssen sich als Gebrauchswerte bewähren, bevor sie sich als Werte re-
   alisieren können. Denn die auf sie verausgabte menschliche Arbeit zählt
   nur, soweit sie in nützlicher Form verausgabt ist. Ob sie anderen nützlich
   (ist), ihr Produkt daher fremde Bedürfnisse befriedigt, kann aber nur ihr
   Austausch beweisen." (S. l00f.)
   Ohne freien Austausch der Waren und Arbeitserzeugnisse also keine rich-
tige Bemessung der Nützlichkeit von Arbeit, also auch keine richtige Bemes-
sung der Gebrauchswerte, also insgesamt falsche Mitteilungen über Nutzen,
Gebrauchswerte  und  Austauschwerte  von  Waren  im  volkswirtschaftlichen
Prozeß.
  Es mag zwar durchaus Gebiete geben, auf denen der einzelne Konsument
seine Bedürfnisse nicht richtig einschätzen kann:  z.B.  als Alkoholiker,  als
Morphiumsüchtiger oder als sonst krankhafte Persönlichkeit. Im übrigen aber
weiß schon der Bewohner eines Hauses am besten, ob ihm das Haus nutzt
und gefällt; und der Besucher eines Restaurants kann am besten beurteilen, ob
das Essen, das man ihm serviert, ihm den Preis wert ist oder nicht.
  Wenn sich also die Preise nicht im Austauschprozeß als Maßstab sowohl
des Bedürfnisses als auch der nützlichen Arbeit von selbst herausbilden, wenn
sie vielmehr von außen vorgeschrieben werden, dann besteht die Gefahr und
die Wahrscheinlichkeit, daß gesellschaftliche Arbeit "vergeudet" wird, weil
Waren  "in einem das gesellschaftliche Bedürfnis dermalen überschreitenden
Maße produziert"  werden.  Auf der anderen Seite besteht die Gefahr und
Wahrscheinlichkeit, daß an anderen Stellen Gebrauchswerte nicht auf dem
Markt erscheinen, weil der Preis, der gefordert werden darf, nicht hinreichend
Anreiz bietet, die erforderliche Menge nützlicher Arbeit aufzuwenden.
  So setzt am Ende nicht nur die kritische Ökonomie von Marx den freien
Austausch von Arbeit, Geld und Produkten als seine reale Basis voraus, son-
dern so setzt ebensosehr die Abschaffung des Kapitalismus mit Hilfe eines
"Geldes ohne Mehrwert" voraus, daß Arbeit, sonstige Güter und Geld im
wesentlichen frei austauschbar sind.
  Es ist selbstverständlich, daß die freie Austauschbarkait nicht nur durch
Preisvorschriften, sondern auch durch natürliche oder künstliche Monopole
außer Kraft gesetzt werden kann. Doch alles dies sind dann spezielle Proble-
me, die am Ende wenig zu tun haben mit der Fundamentalstruktur des über-
lieferten Kapitalismus, nämlich mit dem Mehrwert, der in das überlieferte
Geld mit eingebaut ist.

 

3.   Das monetäre Tauschwertsystem als "System der Gleichheit und Freiheit"
    Für Marx ist das Tauschwertsystem im allgemeinen (letztlich also der freie
Markt) und das Geldsystem im besonderen ausdrücklich das elementare "Sy-
stem der Gleichheit und Freiheit". Er spricht affirmativ von der "Dreieinigkeit
von Eigentum, Freiheit und Gleichheit." (1857/58, S. 915)
  Marx behauptet und verteidigt diese Erkenntnis sowohl gegenüber ihrer
Idealisierung durch die Apologeten der bürgerlichen Ökonomie als auch ge-
genüber jenen französischen Sozialisten wie Proudhon, die die Freiheit und
Gleichheit  nur  "verfälscht"  sähen  durch  das  Geld  und  das  Kapital.
(S. 152 -162, 915f.) Marx vertraut auf die Freiheit und Gleichheit im Aus-
tausch- und Geldsystem der Volkswirtschaft sogar so weit, daß er davon
ausgeht, zwischen Kapital und Arbeit würden im Arbeitskontrakt durchaus
Äquivalente ausgetauscht: Nicht hier, beim Vertrag, entstünde der Mehrwert,
sondern durch die Ausbeutung der Arbeit im Produktionsprozeß selbst. Die
Widersprüche, die etwa im Kapitalismus erscheinen, seien "immanente Wi-
dersprüche, Verwicklungen dieses Eigentums, (dieser) Freiheit und (dieser)
Gleichheit selbst",  die  in  ihrer  historischen  Entwicklung  in  ihr  Gegenteil
umschlügen. (S. 916, 159f.)
  Um zu verstehen, wie grundlegend reale Freiheit und reale Gleichheit nach
Karl Marx ihre reale Basis im Tausch- und Geldsystem haben, muß man sich
die Polemik von Marx gegen die Idealisierung des Tauschprinzips in Erinne-
rung rufen:  Schaue man  nur auf die  Austauschformen,  ohne  Ansehen der
konkreten Menschen, ihrer konkreten Bedürfnisse und ihrer konkreten Lei-
stungen, dann, so betont Marx, erschienen alle wirklichen Unterschiede in
ihrer geschichtlichen Entwicklung als ausgelöscht. Dieser bloße Schein von
Gleichheit und Freiheit im Tausch diene dann den bürgerlichen Ökonomen zur
"Apologetik der bestehenden ökonomischen Verhältnisse." (S. 152, 916)
  Gegenüber dieser bloß oberflächlichen Formbestimmung des Austausches
betont  Marx die  "ganz  andren  Prozesse",  die  "in  der  Tiefe"  vorgehen
(S. 159): Dieser der abstrakten Form vorausliegende Inhalt könne nur sein:
  "1)  Die natürliche Besonderheit der Ware, die ausgetauscht wird. 2) Das
  besondre natürliche Bedürfnis der Austauschenden (...) Dieser, der Inhalt
  des  Austauschs,  der  ganz  außerhalb  seiner ökonomischen  Bestimmung
  liegt, so, weit entfernt die soziale Gleichheit der Individuen zu gefährden,
  macht vielmehr ihre natürliche Verschiedenheit zum Grund ihrer sozialen
  Gleichheit. Wenn das Individuum A dasselbe Bedürfnis hätte wie das In-
  dividuum B und in demselben Gegenstand seine Arbeit realisiert hätte, wie
  das Individuum B, so wäre gar keine Beziehung zwischen ihnen vorhan-
  den; sie wären gar nicht verschiedne Individuen nach der Seite ihrer Pro-
  duktion hin betrachtet. Beide haben das Bedürfnis zu atmen; für beide
  existiert die Luft als Atmosphäre; dies bringt sie in keinen sozialen Kon-
  takt; als atmende Individuen stehn sie nur als Naturkörper zueinander in
  Beziehung, nicht als Personen." (S. 154)
  Marx beschreibt hier mit einer köstlichen Anschaulichkeit das physische
Individuum, um dann den sozialen Menschen dagegenzustellen: Nur und erst
die
   "Verschiedenheit ihres Bedürfnisses und ihrer Produktion gibt (...) den
   Anlaß zum Austausch und zu ihrer sozialen Gleichsetzung in ihm; diese
   natürliche  Verschiedenheit  ist  daher  die  Voraussetzung  ihrer  sozialen
   Gleichheit  im  Akt  des  Austauschs  (...)  Demnach  sind  sie  aber  nicht
   gleichgültig gegeneinander, sondern integrieren sich, bedürfen einander, so
   daß das Individuum B als objektiviert in der Ware ein Bedürfnis für das
   Individuum A ist und vice versa (...)" (Marx 1857/8, S. 154)
 Dies alles beweise,
 "daß jeder Mensch als Mensch über sein eignes besondres Bedürfnis etc.
 übergreift, und daß sie sich als Menschen zueinander verhalten (...) Soweit
 nun diese natürliche Verschiedenheit der Individuen und der Waren der-
 selben (...) das Motiv bilden zur Integrierung dieser Individuen, zu ihrer
 gesellschaftlichen Beziehung als Austauschende, worin sie sich als Gleiche
 vorausgesetzt sind und bewähren, kommt zur Bestimmung der Gleichheit
 noch die der Freiheit hinzu." (S. 154f.)
 Sehr präzise wird dann der Vorgang der Freiheit erfaßt:
 "Obgleich das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individu-
 ums B, bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch vice versa,
 sondern sie erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als Personen,
 deren Willen ihre Waren durchdringt. Danach kommt hier zunächst das
 juristische Moment der Person herein und der Freiheit, soweit sie darin
 enthalten ist. (...) Jedes entäußert sich desselben (Eigentums) freiwillig."
 (S. 155)
 Das  ist  letztlich  genau  das  Wechselseitigkeitsverhältnis,  das  Hegel  im
"System der Bedürfnisse" beschrieben hat. Bei Marx liest sich das weiter wie
folgt:
  "Jedes dient dem andren, um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des
  andren wechselseitig als seines Mittels. Es ist nun beides in dem Bewußt-
  sein der beiden Individuen vorhanden:  1 ) daß jedes nur seinen Zweck
  erreicht, soweit es dem andren als Mittel dient; 2) daß jedes nur Mittel für
  das andre (Sein für andres) wird als Selbstzweck (Sein für sich); 3) daß
  die Wechselseitigkeit, wonach jedes zugleich Mittel und Zweck, und zwar
  nur seinen Zweck erreicht, insofern es Mittel wird, und nur Mittel wird,
  insofern es sich als Selbstzweck setzt, daß jeder sich also als Sein für
  andere setzt, insofern er Sein für sich, und der andre als Sein für ihn,
  insofern er Sein für sich - daß diese Wechselseitigkeit ein notwendiges
  fact ist, vorausgesetzt als natürliche Bedingung des Austauschs, daß sie
  aber als solche jedem der beiden Subjekte des Austauschs gleichgültig ist,
  und ihm diese Wechselseitigkeit nur Interesse hat, soweit sie sein Interesse
  als das des andren ausschließend,  ohne Beziehung darauf,  befriedigt."
  (S. 155) "Aus dem Akt des Austauschs selbst ist das Individuum, jedes
  derselben, in sich reflektiert als ausschließliches und herrschendes (bestim-
  mendes) Subjekt desselben. Damit ist also die vollständige Freiheit des
  Individuums gesetzt:  Freiwillige  Transaktion;  Gewalt von  keiner  Seite;
  Setzen seiner als Mittel, oder als dienend, nur als Mittel, um sich als
  Selbstzweck, als das Herrschende und Übergreifende zu setzen; endlich
  das  selbstsüchtige  Interesse,  kein darüberstehendes  verwirklichend; der
  andre ist auch ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend aner-
  kannt und gewußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Inter-
  esse eben nur in der Doppelseitigkeit, Vielseitigkeit, und Verselbständi-
  gung nach den verschiednen Seiten, der Austausch des selbstsüchtigen
  Interesses ist.  Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der
  selbstsüchtigen Interessen.  Wenn also die ökonomische Form, der Aus-
  tausch nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der In-
  halt, der Stoff, individueller sowohl wie sachlicher, der zum Austausch
  treibt, die Freiheit. Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert
  im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von
  Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit."
  (S. l56)
Marx verkennt nicht, daß eine Art Austauschzwang besteht:
  "Nun ist es zwar richtig, daß die Beziehung der Austauschenden nach der
  Seite der Motive, d.h. der natürlichen, außerhalb des ökonomischen Pro-
  zesses fallenden, auch auf einem gewissen Zwang beruht; aber diese ist
  nach der einen Seite selbst nur die Gleichgültigkeit des anderen für mein
  Bedürfnis als solches, gegen meine natürliche Individualität, also seine
  Gleichheit mit mir und Freiheit, die aber ebensosehr die Voraussetzung
  der meinigen ist; andererseits, soweit ich bestimmt werde, forciert durch
  meine Bedürfnisse,  ist es nur meine eigne Natur, die ein Ganzes von
  Bedürfnissen und Trieben ist, das mir Gewalt antut, nichts Fremdes (oder
  mein Interesse in allgemeiner, reflektierter Form gesetzt). Aber es ist ja
  auch eben diese Seite, wodurch ich dem andren Zwang antue, ihn in das
  Tauschsystem treibe. Im römischen Recht ist der servus daher richtig be-
  stimmt, als einer, der nicht für sich durch den Austausch erwerben kann."
  (S . 156f. )
  Der Sklave bietet ein Beispiel für faktische Asymmetrie in den realen Be-
dingungen des Austausches. Zugleich zeigt er, inwiefern die "reale Basis aller
Gleichheit und Freiheit" unter geschichtlichen Bedingungen eine "andere Po-
tenz" annimmt: als eine Struktur von entwickelten "juristischen, politischen,
sozialen Beziehungen". (S. 156)
  Der beschriebene  wechselseitige Tauschzwang offenbart zudem,  wo die
heikle und brisante Problematik der Tauschgleichheit angesiedelt ist: in den
realen Voraussetzungen der Tauschgleichheit. Treffen etwa Partner aufeinan-
der, von denen der eine dringend auf Lebensmittel angewiesen ist, der andere
jedoch im Überflusse lebt, dann ist der Austausch nur der Form, aber nicht
dem Inhalte nach eine Erscheinungsform von realer Gleichheit und Freiheit.
  Und vor diesem Hintergrund schildert Marx die angeblich neutrale Rolle
des Geldes:
  "Da das Geld erst die Realisierung des Tauschwerts ist, und erst bei ent-
  wickeltem Geldsystem das System der Tauschwerte sich realisiert hat oder
  umgekehrt, so kann das Geldsystem in der Tat (!) nur die Realisation
  dieses Systems der Freiheit und Gleichheit sein. Als Maß gibt das Geld
  nur (!) dem Äquivalent den bestimmten Ausdruck, macht es erst zum
  Äquivalent auch der Form nach. In der Zirkulation tritt zwar (!) noch ein
  Unterschied in der Form hervor: Die beiden Austauschenden erscheinen in
  den  unterschiedenen  Bestimmungen  als  Käufer  und  Verkäufer;  der
  Tauschwert erscheint einmal als allgemeiner in der Form des Geldes, dann
  als besondrer in der natürlichen Ware, die nun Preis hat; aber (!) erstens
  wechseln  diese Bestimmungen;  die  Zirkulation  selbst macht  nicht ein
  Ungleichsetzen, sondern nur (!) ein Gleichsetzen, ein Aufheben des nur (!)
  verneinten Unterschieds. Die Ungleichheit ist nur (!) eine rein formelle.
  Endlich im Geld als zirkulierendem selbst, so daß es bald in der einen
 Hand, bald in der andren erscheint, und gleichgültig gegen dies Erschei-
  nen ist, setzt sich nun gar die Gleichheit (!) sachlich. Jeder erscheint als
  Besitzer des Geldes dem andren gegenüber, selbst als Geld, soweit der
  Prozeß des Austauschs betrachtet wird. Darum ist die Gleichgültigkeit und
  Gleichgeltendheit in der Form der Sache ausdrücklich vorhanden.  Die
  besondre natürliche Verschiedenheit, die in der Ware lag, ist ausgelöscht
  und wird beständig durch die Zirkulation ausgelöscht." (S. 157f.)
  Danach erscheint eine durch das Geld selbst hervorgerufene Ungleichheit
als geradezu logisch ausgeschlossen; ist doch das Geld  der Inbegriff der
gleichgemachten  Waren.  Ungleichheit  und  Bereicherung  müssen  andere
Gründe haben:
  "Wenn das eine verarmt, das andere sich bereichert, so ist das ihr freier
  Wille und geht keineswegs aus dem ökonomischen Verhältnisse, aus der
  ökonomischen Beziehung selbst, in die sie zueinander gesetzt sind, her-
  vor. " (S. 158) 
  Nicht einmal gegen Ungleichheiten durch Erbgang wird in diesem Zusam-
menhang etwas eingewendet. Im Gegenteil; Marx ist kein Feind von Unter-
schieden, die ihre natürliche Grundlage haben, sondern er rechtfertigt sie
geradezu, und zwar folgerichtig und konsequent, da er die soziale Gleichheit
im Austausch der unterschiedlichen Waren bei unterschiedlichen Bedürfnissen
konstituiert sieht:
 "Selbst die Erbschaft und dergleichen juristische Verhältnisse, die so ent-
 stehende Ungleichheiten verewigen, tun dieser natürlichen Freiheit und
 Gleichheit keinen Eintrag. Wenn das ursprüngliche Verhältnis des Indivi-
 duums A nicht im Widerspruch steht zu diesem System, so kann dieser
 Widerspruch sicher nicht dadurch hervorgebracht werden, daß das Indivi-
 duum B an die Stelle des Individuums A tritt, es verewigt. Es ist dies
 vielmehr ein Geltendmachen der sozialen Bestimmung über die natürliche
 Lebensgrenze  hinaus:  eine  Befestigung  derselben  gegen  die  zufällige
 Wirkung der Natur, deren Einwirkung als solche vielmehr Aufhebung der
 Freiheit des Individuums wäre." (S. 158)
  Hier zeigt sich, daß Marx die Asymmetrien des Geldes, die er andernorts
durchaus erkennt, bei der "realen Basis" des geldvermittelten Tauschs ange-
sichts der gleichmacherischen Funktionen des Geldes übersieht, vergißt und
deshalb auch vernachlässigt.
   Tatsächlich aber ist es gerade das Geld, das die natürliche Ungleichheit in
ein monetäres Privilegium transformiert, verfestigt und verstärkt. Das Geld
und damit die Trennung von Verkauf und Kauf "befähigt so eine Masse Pa-
rasiten, sich in den Produktionsprozeß einzudrängen und die Scheidung aus-
zubeuten."  (Marx  1859,  S. 79) Ein späterer Kritiker beschreibt das ganz
ähnlich:
   "Das Geld beherrschte also unbedingt den Warenaustausch und die Ar-
   beitsmittel (Produktionsmittel). Alles war dem Gelde zinspflichtig; es schob
   sich zwischen Verbraucher und Erzeuger, zwischen Arbeiter und Unter-
   nehmer; es trennte alle, die danach streben müssen, sich zu vereinigen,
   und die entstandenen Verlegenheiten beutete es aus. Die Beute nannte man
   Zins. " (Gesell 1949, S. 288)
   Weil Marx seinen ureigenen, an sich grundlegenden und richtigen Gedan-
ken von dem Geld, das sich dazwischenschiebt und zur Ausbeutung der
Trennung von Produzenten und Konsumenten führt, nicht nachhaltig aufgreift,
- und da er auch seine eigenen an sich richtigen Gedanken vom Geld als
gesellschaftlicher Macht, vom Geld als geradezu magischem Instrument nicht
zu Ende spinnt, sucht er das Problem an falscher Stelle. Und er kommt in die
Lage, anderen wie Proudhon, die dem gleichen Problem auf der Spur und
dabei auf der richtigeren Fährte sind, Irrtum vorzuwerfen: Es sei "ein ebenso
frommer wie alberner Wunsch, daß z.B. der Tauschwert aus der Form von
Ware und Geld sich nicht zu der Form des Kapitals oder die Tauschwert
produzierende Arbeit sich nicht zur Lohnarbeit fortentwickeln soll". (Marx
1857/8, S. 916, ähnlich S. 160) Es sei eine
  "Albernheit der Sozialisten (namentlich der französischen)", demonstrieren
  zu wollen, "daß der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der
  Zeit) oder ihrem Begriff nach (in ihrer adäquaten Form) ein System der
  Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht worden sind durch das
  Geld, Kapital etc. (...) Ihnen ist zu antworten: daß der Tauschwert oder
  näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist
  und daß,  was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems störend
  entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der
  Gleichheit und Freiheit, die sich ausweisen als Ungleichheit und Unfrei-
  heit." (S. 160)
  Es hat sich jedoch im Verlaufe dieser Untersuchung gezeigt, daß das Geld
selbst schon gegenüber den Waren einen Gebrauchs-Mehrwert besitzt. Es muß
sich also gar nicht erst zum Kapital wandeln und entwickeln, sondern es ist
selbst schon die erste, ursprüngliche Erscheinungsform der kapitalistischen
Privatisierbarkeit gesellschaftlich erzeugter Werte, jedenfalls in seiner über-
lieferten Gestalt als "Geld mit kostenlosem Liquiditätsnutzen". Geld erweist
sich damit als genau diejenige künstliche Struktur, die es Privatleuten erlaubt,
das von Marx so genau beschriebene gesellschaftliche Verhältnis des inte-
grierenden Austauschs auszubeuten. Und insofern hat Marx mit seiner allge-
meinen Analyse im Ansatz recht behalten; nur die bestimmte Anwendung und
Deutung bezüglich des  Geldes und des Mehrwertes trifft die Sache nicht
ganz.
  Die "Störungen" der Gleichheit und Freiheit,  von denen Marx spricht
(S. 160) sind dem Geld nämlich noch viel unmittelbarer "immanent", als
Marx es sich vorstellte, als er davon sprach. Und wenn dann diese "Störun-
gen" , die dem herkömmlichen Geld und damit auch der Geldwirtschaft ins-
gesamt "immanent" sind, an der Wurzel behoben werden, dann wird die
"reale Basis" von Gleichheit und Freiheit überhaupt erst richtig konstituiert
und hergestellt! Dann erst gilt wirklich:
  "Der in der Zirkulation entwickelte Tauschwertprozeß respektiert (...) nicht
  nur die Freiheit und die Gleichheit, sondern sie sind sein Produkt; er ist
  ihre reale Basis. (...) Das Tauschwertsystem und mehr das Geldsystem
  sind in der Tat das System der Freiheit und Gleichheit." (S. 915f., ähnlich
  S. 160)
  Denn "der Austausch oder Verkauf der Waren zu ihrem (Markt-)Wert ist
das Rationelle, das natürliche Gesetz" des "Gleichgewichts" zwischen "ge-
sellschaftlicher Arbeit" einerseits und der Befriedigung der "gesellschaftlichen
Bedürfnisse" andererseits. (Marx 1894, S. 197; Zusatz "(Markt-)" von mir)
"Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf
Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die pro-
duktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit ." (Marx 1857/8, S. 156)
Und  so rundet sich die  reale  "Dreieinigkeit von  Eigentum,  Freibeit und
Gleichheit." (vgl. S. 915)

 


IV .  Das allgemeine Interesse als bloße Allgemeinheit 
der selbstsüchtigen Interessen?

 

1.  Das System der Bedürfnisse
  Soeben wurde Marx vielfach für ein Verständnis von Freiheit, Gleichheit
und Selbständigkeit zitiert, das als perfekte und konkretisierende Umschrei-
bung dessen gelten kann, was Hegel als das "System der Bedürfnisse" be-
griffen hat. Auch nach Hegel spielt sich die Befriedigung der Bedürfnisse in
einer eigenartigen und gegenläufigen dialektischen Bewegung ab, in welcher
die "subjektive Selbstsucht" umschlägt in den "Beitrag zur Befriedigung der
Bedürfnisse aller". (Hegel 1821, § 199) "In der bürgerlichen Gesellschaft ist
jeder sich Zweck, alles andre ist ihm Nichts. Aber ohne Beziehung auf Andre
kann er den ganzen Umfang seiner Zwecke nicht erreichen. Diese Andren
und ihr  Verhältnis sind nun Mittel zum Zweck des Besonderen."  (Hegel
1818-31, S. 567, auch 614-616)
  Was Marx als das wechselseitige "Integrieren" schon moderner beschreibt
faßt Hegel so:
  "Eins ist nur mit (dem) und durch das Andre, und die Notwendigkeit be-
  steht in dem Schein, daß zwei Selbständige sind, (...) daß aber das wahre
  Verhältnis dies ist, daß beide nur durch  und füreinander sind." (S. 574)
  Man hat es zu tun mit dem "Gebundensein zweier Selbständiger anein-
  ander, so daß an sich Jedes nur in der Identität mit dem anderen ist, aber
  beide als selbständig erscheinen (...) Und doch hat Jedes das Andre zur
  Bedingung, ist nur durch das Andre." (S. 572)
  Dazu noch einmal Marx:
   "Beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in der Dop-
   pelseitigkeit, Vielseitigkeit und Verselbständigung nach den verschiedenen
   Seiten, der Austausch der selbsüchtigen Interessen" ist. (Marx 1857/8,
   S. 156)
   Jeder aber verfolgt am Ende doch sein eigenes Interesse, und das Allge-
meine konstituiert sich dabei nur indirekt, gewissermaßen hinter dem Rücken:
"Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen In-
teressen." (S. 156)
  Das erscheint insofern unbefriedigend, als die Menschen dabei zwar der
Wirklichkeit nach reale Gemeinschaftwesen sind, die Art und Weise ihres
wirtschaftlichen Daseins aber zur selbstsüchtigen Zweckverfolgung führt. So
sind sie objektiv und "an sich" Gemeinschaftswesen, subjektiv und "für sich"
aber etwas anderes; sie sind nicht auch schon "an und für sich" Gemein-
schaftswesen.

 

2.  Das Gemeinwesen
  Zwar fungiert der andere nicht mehr wie in der Ideologie der bürgerlichen
Ökonomie und in den Freiheitsvorstellungen der Menschenrechtserklärungen,
die der junge Marx kritisierte,  als bloßes Hindernis der eigenen Freiheit,
sondern als deren Bedingung und Voraussetzung. Aber man hat den Eindruck,
als sei auch Marx noch nicht ganz zufrieden mit dem allgemeinen Interesse,
das bloß als Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen erscheint, - so sehr
er auch herausarbeitet, daß es sich dabei um die reale Basis von Freiheit und
Gleichheit handelt.
  Um Klarheit zu gewinnen, muß man sich bewußt machen, daß Marx es bei
der Kritik der politischen Ökonomie ebenso wie Hegel bei seinem System der
Bedürfnisse nicht mit dem ganzen gesellschaftlichen Menschen zu tun hat,
sondern zunächst nur mit dem ökonomischen Menschen, der seine elementa-
ren  und  seine  darüber  hinausführenden  wirtschaftlichen  Verbrauchs-  und
Erzeugungsbedürfnisse in einem Integrationsverband auf Wechselseitigkeit des
Austauschs befriedigt.
  Bei Hegel macht dieses  "System der Bedürfnisse" bekanntlich nur ein
Teilsystem der "bürgerlichen Gesellschaft" aus. Die bürgerliche Gesellschaft
ist weiter. Sie umgreift die Familie und die Korporation. Und die bürgerliche
Gesellschaft insgesamt wiederum konstituiert die freiheitliche Grundlage des
Staates als der umfassenden Gemeinschaft, in der die Menschen Felder für
Identifikationen finden, die über die Sphäre der "selbstsüchtigen Interessen"
hinausführen.
  Daß auch für Marx die Menschen sich nicht darin erschöpfen, daß sie ihre
ökonomische Not bewältigen, sondern darüberhinaus in ein wie auch immer
gestaltetes "Reich der Freiheit" streben, ist ebenfalls bekannt. Die Diktatur
des Proletariats sollte nur Instrument und Übergang sein. Sehr genau aller-
dings waren die Vorstellungen und Verheißungen nicht; im Gegenteil: Es
schien zu früh, es erschien als Utopismus, sich über die konkrete Gestalt des
zukünftigen Menschen, sich also auch konkrete Gedanken über die zukünftige
Gesellschaft und das zukünftige Gemeinwesen  zu machen.  So bleiben die
Zukunft und der zukünftige Mensch abstrakt fast wie die abstrakten Gottheiten
der  Religion und des  Geldes,  die Marx überwinden  wollte.  (Suhr 1975,
S. 331ff.)

 

3.  Der Mensch als Gemeinschaftswesen
  Unabhängig davon, wie die Gestalt des menschlichen Gemeinwesens als
Wirklichkeit erscheint, zeigen sich bei Marx jedoch auch Einsichten in das
Wesen der Menschen, die über das bloß ökonomische selbstsüchtige Interesse
hinausführen. Zwar handelt es sich dabei um Erkenntnisse vor allem des
jungen Marx. Aber der spätere Marx hat den jüngeren nie verleugnet.
  Die Kritik der politischen Ökonomie galt der realen Basis, und ohne kriti-
sche Überwindung der kapitalistischen Wirtschaft hatte es wenig Sinn, ideali-
stisch ins Blaue hinein politische Konzepte zu erfinden. Aber die anthropolo-
gischen Einsichten des jungen Marx bilden nach wie vor den Hintergrund, das
Orientierungsraster und die Ausgangsstellung für die Kritik der politischen
Ökonomie, die den Weg frei machen sollte für eine bessere menschliche
Wirklichkeit im Sinne der sehr elementaren, sehr allgemeinen, aber doch auch
stets grundlegenden philosophischen Anthropologie des jungen Marx.
  Schon der junge Hegel hatte seine Schwierigkeiten mit ideologischen Täu-
schungen und Klischeevorstellungen in den Köpfen der Sozial- und Polit-
philosophen seiner Zeit. Damals wie vielfach noch heute stellen sich viele den
Menschen und seine Freiheit als Individuum vor, das allein tun und lassen
kann, was anderen nicht schadet. Und dabei erscheint der Nächste als lästiges
Hindernis der eigenen Freiheit. Dagegen Hegel: "Die Gemeinschaft der Per-
son mit anderen muß (...) wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren
Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen
werden."  (Hegel 1801, S. 82;  Suhr 1986, S. 8f.) Diese Wirklichkeit der
Freiheit wird inzwischen auch innerhalb der modernen Grundrechtswissen-
schaft berücksichtigt. (Suhr 1976 und 1984)
  Sachlich gleich, aber im Ton angriffslustiger kritisiert Marx das Freiheits-
verständnis der Menschenrechtserklärungen: "Die Freiheit ist also das Recht,
alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet (...:) Die Freiheit
des Menschen als isolierter, auf sich zurückgezogener Monade." Dieses
   "Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Men-
   schen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des
   Menschen von dem Menschen. (...) Die praktische Nutzanwendung des
   Menschenrechts der Freiheit ist das Privateigentum (...) Sie Iäßt jeden
   Menschen im anderen nicht die  Verwirklichung,  sondern vielmehr die
   Schranke seiner Freiheit finden." (Marx 1844, S. 364f.)
  Man muß nun einmal voraussetzen, daß die Menschen erkennen, wie sehr
die je eigene Freiheit den anderen voraussetzt: den anderen, der zuhört, hilft,
in einen Vertrag einwilligt, leistet, in eine Gesellschaft mit eintritt und auf
diese Weise dem hilflosen und vereinzelten "Individuum" aus dem Gefängnis
seines isolierten Ich verhilft. Die Menschen müssen das nicht vollbewußt und
reflektiert "erkennen", sondern sie sollen es nur spüren. Und wenn man sich
bei einem Vertrag als gleichberechtigt anerkannt erfährt, wenn man sich nicht
unter einseitigem Druck spürt und wenn man nicht gedemütigt wird dadurch,
daß man individueller oder struktureller Übermacht ausgeliefert ist: Dann freut
man sich in der Regel über den gelungenen Handel, und zwar nicht nur, weil
man selbst sein Ziel erreicht, sondern auch, weil man dem anderen dazu
verhilft, daß auch er zu seinem Zwecke gelangt.
  Man bleibt im System der Bedürfnisse also gerade nicht auf schiere öko-
nomische Selbstsucht beschränkt.  Man erhält vielmehr tagtäglich Anschau-
ungsunterricht darin, daß das eigene Tun und Leisten anderen und das der
anderen einem selber weiterhilft. Man lernt dabei, auch die Freude des an-
deren als eigene Freude mitzuempfinden nach der Logik des Sprichwortes,
wonach geteilte Freude doppelte Freude ist. (Suhr 1975, S. 293ff.)
  So kommt es: Der reale Prozeß, der zunächst anscheinend bloß primitiv
selbstsüchtige  wechselseitige  Instrumentalisierung  zwecks  Bedürfnisbefriedi-
gung ist,  wird von der Erfahrung eingeholt und überholt derart, daß der
ökonomische Vorteil, den man dem jeweils anderen bereitet, als psychologi-
sche Bestätigung und Anerkennung des  Selbst und als Mitfreude zurück-
schlägt.  So entspricht der materiell-ökonomischen  "Integrierung",  von der
Marx (1857/8, S. 154f.) spricht, am Ende die ideell-psychische Integrierung
der anderen ins eigene Empfinden und Wissen. Dann wird die "Doppelsei-
tigkeit und Wechselseitigkeit" der selbstsüchtigen Interessen übersetzt in eine
Doppelseitigkeit und Wechselseitigkeit des eigenen Wesens.
  Diese  ideell-psychische  Vergemeinschaftung des Menschen,  wie sie so-
eben am einfachen Beispiel des wechselseitigen Vertrages idealtypisch veran-
schaulicht worden ist, erschöpft sich freilich nicht in der Verinnerlichung
solcher Verträge. Sie hat ihre eigenen Probleme, Pathologien und Tücken. Sie
wird heute  sozial-psychologisch erforscht.  Sie wird vorausgesetzt in Kon-
zepten der repräsentativen Demokratie.  (Suhr 1975, S.343) Und im wirt-
schaftlichen Bereich bekommt man es mit ihr z.B. auch dann zu tun, wenn
man die Zusammenarbeit von Menschen in Unternehmen und anderen Kor-
porationen untersucht oder einrichtet.
  Solange  freilich  in  der  kapitalistischen  Wirklichkeit der  Wirtschaft  die
elementare monetäre Ungleichheit des Tauschens und Wirtschaftens die all-
tägliche Grundlage fast alles anderen Erwartens,  Handelns,  Denkens und
Empfindens  konstituiert,  kann  schwerlich  eine  ausgeglichene  menschliche
Wirklichkeit verinnerlicht werden. Man übt und trainiert vielmehr tagtäglich
die Ungleichheit, die Übervorteilung, die Übermacht und das Ausgeliefertsein.
Und  während  die  Nicht-Kapitalisten  kraft  ihres  Produzierens-und-Konsu-
mierens noch tagtäglich die Erfahrung elementarer Wechselseitigkeit machen,
erscheint die ökonomische Welt aus der Erfahrung des kapitalistiscben Profi-
tierers als einseitig und asymmetrisch.  Solche  Erfahrung  schlägt sich im
Innern  nieder und  formt die  Menschen,  fast ohne daß sie  sich wehren
können.
  Und selbst wenn eines Tages Symmetrie und Gleichheit innerhalb der rea-
len Basis aller Freiheit und Gleichheit hergestellt sind, wird es lange dau-
ern, bis die äußeren Institutionen sich zurückbilden, die auf dem Boden der
herkömmlichen Asymmetrien gewachsen sind, und bis wir uns innerlich auf
die neue Gleichheit als selbstverständliche Grundlage unserer neuen Freiheit
eingestellt haben.