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Text aus: Dieter Suhr: Der Kapitalismus als monetäres Syndrom Campus Verlag, 1988, ISBN 3-593-33999-4, Seite 25 - 45 (Im August 1999 gescannt, korrekturgelesen und ins Web gestellt von W. Roehrig.)
2. Kapitel
Geld als Äquivalent und als Nicht-Äquivalent von Ware
Für Marx ist das Geld einerseits "Äquivalentform" der Ware (unten I.). Für Marx fungiert das Geld aber ebensosehr auch als ein "gesellschaftliches Monopol" innerhalb der Warenwelt, wodurch "gesellschaftliche Macht (...) zur Privatmacht" wird: also als etwas, das der Ware signifikant überlegen, das also jedenfalls alles andere als ein der Ware in jeder Hinsicht "äquivalentes" ökonomisches Gut ist (unten II.). Es wird zu klären sein, wie beide Beob- achtungen miteinander verträglich bleiben (unten III.).
I. Geld als Äquivalent von Ware
1. Geld als allgemein-gesellschaftliche Äquivalentform der Ware
Marx beschreibt eine Stufenfolge, auf der sich die Äquivalentformen von Ware bis hin zum Geld entwickeln. Am Ende dieser Reihe entwickelt sich die Ware "Gold" zum Geld: "Die spezifische Warenart nun, mit deren Natural- form die Äquivalentform gesellschaftlich verwächst, wird zur Geldware oder funktioniert als Geld. Es wird ihre spezifische gesellschaftliche Funktion, (...) die Rolle des allgemeinen Äquivalentes zu spielen." (Marx 1890, S. 83) Dabei wird immer wieder die Äquivalenz zwischen Geld und Ware betont und z.B. festgestellt, der Fortschritt bestehe darin, "daß die Form unmittel- barer allgemeiner Austauschbarkeit" oder die allgemeine Äquivalentform "durch gesellschaftliche Gewohnheit endgültig erreicht sei". (S. 84) Durch "gesellschaftliche Tat" wird auf diese Art und Weise "eine bestimmte Ware zum allgemeinen Äquivalent" gemacht: "Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozesses, worin verschiedenartige Arbeitsprodukte einander tatsächlich gleichgesetzt und daher tatsächlich in Waren verwandelt werden." (S. l0lf.) Alle anderen Waren erscheinen nur als "besondere Äquivalente des Geldes", und das Geld erscheint seinerseits als "ihr allge- meines Äquivalent". (S. 104)
2. Geld als Wertmaß der Äquivalenz
Die Äquivalenz des Geldes zu den Waren kommt in verschiedenen Funk- tionen zur Geltung: Gold wird dadurch zu Geld, daß es "als allgemeines Maß der Werte" fungiert. Es ermöglicht, "die Warenwerte als gleichnamige Größen, qualitativ gleiche und quantitativ vergleichbare, darzustellen". (Marx 1890, S. 109) Das Geld wird hier geradezu zum Maßstab der ökonomischen Gleichwertigkeit ("Äquivalenz"), und zwar eben dadurch, daß es selbst schlechthin "Äquiva- lentform" der Waren ist. In dieser seiner Funktion als Wertmaß dient das Geld "als nur vorgestelltes oder ideelles Geld". (S. 111 ) Heute spricht man vom Geld, soweit die mes- sende Geldeinheit gemeint ist, präziser von der "Währungseinheit". In seiner Meßfunktion tritt das Geld z.B. beim vertraglichen Kauf von Ware (S. 150) auf: "Ihr kontraktlich festgesetzer Preis mißt die Obligation des Käufers, d.h. die Geldsumme, die er an bestimmtem Zeittermin schuldet." Dabei fungiert das Geld gleichzeitig, wie Marx sagt, als "ideelles Kaufmittel" : Obgleich es sich nämlich zunächst nur um ein Geldversprechen des Käufers handelt, noch nicht um das Geld selbst, kann es schon "den Händewechsel der Ware" bewirken. Insofern erscheint das Geld gar nicht mehr als echtes "Tauschmittel", sondern als Maßstab für eine Forderung. Und was den Aus- tausch bewirkt und was in Austausch gegeben wird, ist dabei zunächst ein rechtliches Gebilde: die rechtlich gesicherte Erwartung zukünftiger Zahlung von Geld. Diese Kaufpreisforderung ist zwar erst in Zukunft fällig. Aber schon in der Gegenwart verkörpert sie (als vorhandenes Recht auf zukünftige Zahlung) den Wert, gegen den der andere die Ware zu leisten bereit ist. Und diese zu- künftige Geldforderung wird in den Einheiten des Wertmaßes "Geld" (Wäh- rung) bemessen. So entsteht ein "privatrechtlicher Titel auf Geld", der selbst ein Wirtschaftsgut ist und den "Händewechsel der Ware" bewirken kann.
3. Das Zahlungsmittel als äquivalente Inkarnation von Arbeit
Das Geld fungiert freilich nicht nur als Wertmaß der Äquivalenz (Wäh- rung), sondern auch als Instrument und Mittel zur Übertragung von Wert in Gestalt der "allgemeinen Äquivalentform" : "Erst am fälligen Zahlungstermin tritt das Zahlungsmittel wirklich in Zirkulation, d.h. (es) geht aus der Hand des Käufers in die des Verkäufers über." (Marx 1890, S. 150) Insoweit er- scheint das Geld für Marx dann als "die individuelle Inkarnation der gesell- schaftlichen Arbeit, selbständiges Dasein des Tauschwerts, absolute Ware." (S. 152)
4. Naive Schatzbildung und kapitalistische Akkumulation
In Gestalt seiner allgemeinen Äquivalentform des Geldes kann der Waren- wert festgehalten werden: "Schatzbildung". An sich erscheint der "flüssige Umschlag von Verkauf und Kauf (...) im rastlosen Umlauf des Geldes oder seiner Funktion als perpetuum mobile der Zirkulation." Sobald "der Verkauf aber nicht (mehr) durch nachfolgenden Kauf ergänzt wird," verwandelt sich die rollende Münze in stationäres Geld, und es "entwickelt sich die Notwendigkeit und die Leidenschaft, (...) die verwandelte Gestalt der Ware oder ihre Goldpuppe festzuhalten. (...) das Geld versteinert damit zum Schatz, der Warenverkäufer wird Schatzbildner." (Marx 1890, S. 144). Doch handelt es sich dabei nur um die erste, "naive Form der Schatzbil- dung", bei der sich der jeweilige Überschuß an Gebrauchswerten in Gold und Silber in einen Geldschatz verwandelt. Diese "naive" Verwendung des Gel- des ist noch keine kapitalistische Form des Reichtums. Die bloße Nutzung des Geldes als Schatzbildner hat den Nachteil, daß der "von Natur maßlose" "Trieb der Schatzbildung" insofern nicht befriedigt wird, als die versteinerte Geldsumme nicht wächst. Deshalb treibt es den Schatzbildner "stets zurück zur Sisyphusarbeit der Akkumulation. Es geht ihm wie dem Welteroberer, der mit jedem neuen Land nur eine neue Grenze erobert." Denn er kann der Zirkulation "nur in Geld entziehen, was er ihr in Ware" gibt. (S. 147; auch Marx 1857/8, S. 144)
5. Offene Fragen
An dieser Stelle wird die Darstellung von Marx undeutlich: Zunächst war Geld die "allgemeine Äquivalentform" von Ware. In der Kasse oder im Sparstrumpf festgehalten, versteinert es zum trägen Schatz, der nicht wächst. Auf der anderen Seite ist es evident, daß angelegtes Geldkapital Zinsen bringt. Solches Geldvermögen wächst. Es vermehrt sich, - und zwar ohne daß der Geldbesitzer dabei wie Sisyphus ewig schuften und schwitzen muß. Deshalb treibt es das Geld auch immer wieder aus den Kassen. Dem Geld- besitzer entgeht sonst die Chance, sein Vermögen zu vermehren. Schuften und schwitzen muß der Geldkapitalist nur, wenn er mit seinem eigenen Kapital Produktionsmittel erwirbt und selbst als Unternehmer von früh bis spät Organisations-, Dispositions- und Leitungsarbeit erbringt: und zwar so, daß er sich dafür nicht nur einen angemessenen Unternehmerlohn ver- dient, sondern dabei auch noch eine angemessene Kapitalrendite für sein Eigenkapital herauswirtschaftet. Und "rentabel" arbeitet dieser unser Eigen- kapital-Unternehmer nur dann, wenn er zusätzlich zu seinem Unternehmer- lohn aus seinem Geldkapital wenigstens so viel herausholt, wie er herausholen würde, wenn er gerade nicht selbst schuftete und schwitzte, sondern sein Geld bequem und einfach verleihen würde. Schuften und schwitzen also muß unser Geldanleger nur, wenn er ein doppeltes Rollenspiel spielt, bei dem er sich in zwei verschiedenen ökonomi- schen Funktionen betätigt: wenn er nämlich sein Geld bei sich selber als dem Unternehmer anlegt, der damit wirtschaftet. Dann beutet er in seiner Rolle als Kapitalist sein alter ego aus, das in der anderen Rolle als Unternehmer ar- beitet. So klärt sich das Verhältnis zwischen dem "Geldkapitalisten" und dem "fungierenden" oder "industriellen Kapitalisten." Dabei nötigt die kapitalisti- sche Seele die unternehmerische Seele, unternehmerische Mehrarbeit zu er- bringen, damit das von der kapitalistischen Seele eingesetzte Eigenkapital auch angemessen verzinst werde. (Suhr/Godschalk 1986, S. 74f.) Marx hat diese zwei Seelen in der Brust des Eigenkapitalunternehmers genau beschrieben:
"Der Anwender des Kapitals, auch wenn er mit eigenem Kapital arbeitet, zerfällt in zwei Personen, den bloßen Eigentümer des Kapitals und den Anwender des Kapitals: sein Kapital selbst, mit Bezug auf die Kategorien von Profit, die es abwirft, zerfällt in Kapitaleigentum, Kapital außer dem Produktionsprozeß, das an sich Zins abwirft, und Kapital, das im Pro- duktionsprozeß prozessierend Unternehmergewinn abwirft." (Marx 1894, S. 388)
Soll der Kapitaleigentümer zu seinem Ziel gelangen und den Mehrwert erhalten, dann muß der Industrielle sich ins Zeug legen und in den Dienst des Kapitaleigentümers treten. Er muß sich mit seinem kapitalistischen alter ego identifizieren und wird dadurch wirklich zum "funktionierenden Kapitalisten". Und auch, wenn es sich beim Kapitalgeber und Unternehmer um ver- schiedene Personen handelt, kann ein tüchtiger Mensch, der zum Unternehmer wie geschaffen ist, diese seine Funktion unter den Bedingungen des überlie- ferten Systems nur erfüllen, wenn er die Mehrwerterwartungen des Geldgebers erfüllt, sich also als dessen verlängerter Arm versteht. Die Kapitaleigentümer haben es daher in der Hand, mit Hilfe des Geldhebels die Unternehmer auf ihre Seite zu ziehen, sie für die Rolle des "fungierenden Kapitalisten" einzu- kaufen und eben dadurch auch in Gegensatz zu den Arbeitnehmern zu brin- gen, die an sich originäre Verbündete wären in der Konfrontation mit den Geldgebern. Zu den weiteren offenen Fragen gehört auch, daß Marx im Zusammenhang mit der kapitalistischen Vermögensmehrung feststellt, der (kapitalistische, nicht mehr nur "naive") Schatzbildner könne der Zirkulation "nur in Geld entziehn was er ihr in Ware gibt." (Marx 1890, S. 147) Denn der Geldverleiher kann in Wirklichkeit der Zirkulation durchaus Geld in Gestalt von Zinsen entziehen, ohne ihr etwas in Gestalt von Waren zu geben: nämlich einfach dadurch, daß er jemand anderem sein Geld vorübergehend zur Nutzung überläßt. Er be- kommt seinen Zins schlicht für die zeitweilige Überlassung des Geldes. Diese Unvollständigkeit und Ungenauigkeit bei Marx erklärt sich zwar später dadurch, daß Marx ausdrücklich das "Handelskapital und Wucherka- pital" zunächst unberücksichtigt läßt. (S. 178) Aber eben deshalb stolpert Marx an dieser Stelle wieder nicht über die entscheidenden Fragen, die sich hier an sich unausweichlich stellen: - Welche Eigenschaften des Geldes machen das Geld als solches ökonomisch so nützlich und begehrt, daß man es gegen Entgelt verleihen und daß man auf diese Art und Weise sein Geldvermögen vermehren kann, ohne daß man wie der arme Sisyphus schuften und schwitzen muß? - Welche Eigenschaften des Geldes sind dafür verantwortlich, daß andere bereit sind, für den vorübergehenden Gebrauch von Geld Zinsen zu zah- len? Und: - Welche Produktionsleistung wird honoriert, wenn die zeitweilige Inan- spruchnahme von Geld für Konsum oder für ein Begräbnis mit Zins be- zahlt wird? Diese Fragen lassen wiederum vermuten, daß das Geld gerade nicht nur ein schlichtes Äquivalent der Ware darstellt, sondern darüber hinaus Eigenschaften besitzt, die selbst wiederum geldwert sind: Mehrwert-Eigenschaften! Also gilt es, weiter nachzuforschen, ob und inwiefern Marx Beobachtungen mitteilt, die uns diese zusätzlichen Geldeigenschaften zeigen, welche so angenehm oder nützlich sind, daß man bereit ist, dafür einen Preis wiederum in Form von Geld zu zahlen.
II. Geld als ein der Ware überlegenes Nicht-Äquivalent
Man muß nicht lange suchen, um bei Marx in einschlägigen Zusammen- hängen Beschreibungen zu finden, die das Geld in einer Rolle zeigen, die es gegenüber den Waren ökonomisch auszeichnet. Stanisic (1925, S. 6-9) hat einige der aufschlußreichsten Formulierungen zusammengetragen. Das Mate- rial ist aber noch etwas reichhaltiger und differenzierter.
l. Geld als schlagfertige gesellschaftliche Macht in privater Hand
Der Unterschied zwischen Ware und Geld wird zunächst sehr exakt als unterschiedliche Brauchbarkeit im Tauschverkehr erfaßt: Die Ware ist "ge- genüber dem Geld ein Tauschmittel von nur beschränkter Kraft". (Marx I857/8, S. 114) Gold und Silber hat den anderen Waren "voraus", daß mit wenig Metall viel Tauschwert verbunden ist: "Dadurch Leichtigkeit des Transports, der Übertragung usw. In einem Wort, Leichtigkeit der realen Zirkulation, was natürlich (die) erste Bedingung für ihre ökonomische Funk- tion als Zirkulationsmittel (ist)." (S. 897f., 83) Marx erkennt selbstverständlich auch, daß das Geld typischerweise bestän- diger ist als die meisten anderen Waren; aber er zieht daraus keine Folge- rungen hinsichtlich einer etwaigen Nicht-Äquivalenz im Ablaufe der Zeit: "Waren sind vergängliches Geld; das Geld ist die unvergängliche Ware". (Marx 1857/8, S. 67). Das "Anhäufen von Gold und Silber" unterscheidet sich vom "Anhäufen anderer Waren" auch durch deren größere "Vergänglichkeit" . (S.144) Oben wurde schon zitiert, daß die Geldware die "spezifisch gesellschaft- liche Funktion" erlangt, "innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu spielen."(Marx 1890, S. 83) Im gleichen Satz wird diese ge- sellschaftliche Funktion und Rolle beschrieben als "gesellschaftliches Mono- pol", und im nächsten Satz ist von dem "bevorzugten Platz" die Rede, den das Geld "unter den Waren" habe. Erst in der versachlichten Form des Gel- des "erhalten und beweisen" die Produkte und die Tätigkeit der Individuen "ihre gesellschaftliche Macht". (Marx 1857/8, S. 76) Als "bevorzugte" Ware unter den Waren aber kann die Geldware schwer- lich noch gleichwertig im Sinne eines vollkommenen Äquivalents sein. In anderen Zusammenhängen ist die Rede vom "Privilegium dieser besonderen Ware" (Marx 1857/8, S. 84) oder von der "Suprematie des Geldes" gegen- über den "wirklichen Bedürfnissen der Produktion". (S. 144) Doch damit nicht genug. Das Geld erscheint auch als der "nervus rerum", als "gesellschaftliches Faustpfand", und im gleichen Absatz ist die Rede von der "Macht des Geldes, der stets schlagfertigen, absolut gesellschaftlichen Form des Reichtums." Und Marx zitiert dann im Gedanken an das Geld zu- stimmend: "Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das Paradies gelangen lassen." (Marx 1890, S. 145) In anderem Zusammenhang wird der Spekulationsnutzen des Geldes mit Hilfe eines Zitats beschrieben: "Der große Vorteil, der mit dem Besitz von Gold und Silber verbunden ist, da er die Möglichkeit gibt, die günstigsten Momente des Kaufes auszuwählen." (Msrx 1862/3, S. 525) Durch das Geld wird die Zirkulation zu einer großen, alchimistischen ge- sellschaftlichen Retorte "worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen." Und dieses wunderbare Geld "ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. Die gesell- schaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson." (Marx 1890, S. 145/6) Und als ob die "Magie des Geldes" (S. 107; neuerdings Binswanger 1985) und die "scheinbar transzendentale Macht" (Marx 1857/8, S. 65) des Geldes gar nicht lebendig genug geschildert werden könnten, werden noch Shakespeare und Sophokles zu Zeugen gerufen. (Marx 1890, S. 146) Allen diesen Stellungnahmen zum Geld sind frühere vorhergegangen, von denen die bemerkenswerteste wohl die in dem Artikel "Zur Judenfrage" ist. Das Geld erscheint dabei als "weltlicher Gott" oder als "Weltmacht", und es heißt: "Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld (...) wäre die Selbst- emanzipation unsrer Zeit." "Der Gott des praktischen Bedürfnisses und Eigennutzes ist das Geld. Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor wel- chem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, er betet es an. Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, ist zum Weltgott geworden." (Marx 1844, S. 372-375)
Nach allem erscheint Geld bei Marx in der Tat einerseits als bloße "Äqui- valentform" der Ware, andererseits aber als ein geradezu magisches Instru- ment privater gesellschaftlicher Macht, in dessen Angesicht sich alles in ihm untergeordnete Ware verwandelt.
2. Widersprüchlichkeit des Geldes
Marx ist sich dieses Widerspruches zwischen "Äquivalent" und "Nicht- Äquivalent" durchaus bewußt. Zunächst erscheint er ihm als Widerspruch zwischen dem ideellen Maß der Werte einerseits und dem sich verselbständi- genden Zahlungsmittel andererseits. Dann aber kann sich die Macht des ver- selbständigten Geldes auch ganz real und handfest zeigen: "Dieser Wider- spruch eklatiert in dem Moment der Produktions- und Handelskrisen, der Geldkrise heißt." Hier schlage das Geld plötzlich und unvermittelt um aus der nur ideellen Gestalt in "hartes Geld" : "Es wird unersetzlich durch profane Waren. Der Gebrauchswert der Ware wird wertlos, und der Wert verschwindet vor seiner eigenen Wertform. Eben noch erklärte der Bürger in prosperitätstrunkenem Aufklärungsdünkel das Geld für leeren Wahn. Nur die Ware ist Geld."
Und im nächsten Moment gellt es jetzt über den Weltmarkt: "Nur das Geld ist Ware!" In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert. (Marx 1890, S. 152) Marx sieht Widersprüche am Werke, die das Geld erst zum Machtmittel werden lassen. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung und Versachlichung des Geldes:
"Das Bedürfnis des Austauschs und die Verwandlung des Produkts in rei- nen Tauschwert schreitet voran im selben Maße wie die Teilung der Ar- beit, d.h. mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion. Aber in demselben Maße wie dieser wächst, wächst die Macht des Geldes, d.h. setzt sich das Tauschverhältnis als eine den Produzenten gegenüber äußere und von ihnen unabhängige Macht fest. In demselben Verhältnis, wie die Produzenten vom Austausch abhängig werden, scheint der Austausch von ihnen unabhängig zu werden und die Kluft zwischen dem Produkt als Produkt und dem Produkt als Tauschwert zu wachsen." (Marx 1857/8, S. 64f.)
Das Geld ist in sich selbst "immanent" widersprüchlich. Durch seine Verselbständigung verkehrt es die Verhältnisse:
"Das Geld ist ursprünglich Repräsentant aller Werte; in der Praxis dreht sich die Sache um, und alle realen Produkte werden die Repräsentanten des Geldes. (...) Wir sehen also, wie es dem Geld immanent ist, seine Zwecke zu erfüllen, indem es sie zugleich negiert; sich zu verselbständi- gen gegen die Waren; aus einem Mittel zum Zweck zu werden; den Tauschwert der Waren zu realisieren, indem es sie von ihm lostrennt; den Austausch zu erleichtern, indem es ihn spaltet; die Schwierigkeiten des unmittelbaren Warenaustauschs zu überwinden, indem es sie verallgemei- nert; in demselben Grad, wie die Produzenten vom Austausch abhängig werden, den Austausch gegen die Produzenten zu verselbständigen." (S. 67 - 69)
Obwohl diese Widersprüche dem Geld "immanent" sind, so heißt es doch auch, gerade nicht das Geld bringe die Gegensätze und Widersprüche, son- dern die Gegensätze und Widersprüche brächten die "scheinbar transzenden- tale Macht des Geldes" hervor. (S. 65) Wenn aber die Macht des Geldes erst ein Produkt der Entwicklung zum Kapitalismus ist, - wieso kommt dann der Zins des Wuchergeldes schon vorher?
3. Asymmetrie von Verkauf und Kauf
Doch nicht nur in diesem immanenten Widerspruch, und auch nicht erst in der Krise, wo er auf die Spitze getrieben wird, zeigt sich der Widerspruch zwischen dem Geld als der bloßen Äquivalentform der Ware einerseits und dem Geld als einem Herrschaftsinstrument andererseits. Vielmehr läßt er sich schon in jedem einzelnen, kleinen Geschäft mit Geld und Ware beobachten, in dem sich der geldbesitzende Käufer und der Verkäufer eigener Ware oder Arbeit gegenüberstehen. In allen diesen Geschäften zeigt sich eine Asymmetrie. (Suhr 1983, S. 22ff.; Suhr/Godschalk 1986, S.28ff.) Sie hängt zusammen mit zwei Geldeigenschaften: Erstens mit der optimalen Tauschbarkeit des Geldes, die von seiner allgemeinen Äquivalentform herührt, zweitens damit, daß es dem Geldbesitzer als "Schatzbildner" freisteht, sein Geld nicht als Käufer auszu- geben, sondern zurückzuhalten ("naive" Schatzbildung) oder Kapitalzwecken zu widmen (kapitalistische "Schatzbildung" mit Mehrwertgenerierung). Marx verspottet jene Ökonomen, die ein "notwendiges Gleichgewicht der Verkäufe und Käufe" annehmen, (Marx 1890, S. 127) also voraussetzen, jeder Ver- käufer könne eines eigenen Käufers sicher sein. Er zitiert als "Probe ökonomischer Apologetik" James Mil1 mit folgender Annahme:
"Es kann nie einen Mangel an Käufern für alle Waren geben. Wer immer eine Ware zum Verkauf darbietet, verlangt eine Ware im Austausch dafür zu erhalten, und er ist daher Käufer durch das bloße Faktum, daß er Verkäufer ist. Käufer und Verkäufer aller Waren zusammengenommen müssen sich daher durch eine metaphysische Notwendigkeit das Gleich- gewicht halten." (Marx 1859, S. 78) Und Marx entgegnet dieser Gleichgewichts- und Symmetrieannahme mit schneidiger Ironie:
"Das metaphysische Gleichgewicht der Käufer und Verkäufer beschränkt sich darauf, daß jeder Kauf ein Verkauf und jeder Verkauf ein Kauf ist, was kein sonderlicher Trost (ist) für die Warenhüter, die es nicht zum Verkauf, also auch nicht zum Kauf bringen." (S. 78)
Dem liegt folgende Ungleichheit zwischen Verkäufer und Käufer zugrun- de: "Keiner kann verkaufen, ohne daß ein anderer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, wenn er selbst verkauft hat." (Marx 1890, S. 127) In der Phase G-W des Prozesses G-W-G ist der Käufer im Vorteil: "Er kann warten," schreibt Engels (1868, S. 250), während W-G als Phase des Ver- kaufs einschließt, "daß die Ware nutzlos ist, wenn sie nicht verkauft wird, und ebenso, daß dieser Fall eintreten kann." Dadurch also, daß der schlichte Tausch in Verkauf und Kauf aufgespalten wird und das Geld dazwischentritt, entsteht eine elementare Ungleichheit. Marx scheut sich nicht, dafür vielfache Belege anzuführen. Und weil es auf die Asymmetrie, die das Geld in das System des Austauschens bringt, bei der Beurteilung der etwaigen kapitalistischen Eigenschaften des Geldes entschei- dend ankommt, sollen die Belege für die "verschiedenen Formbestimmungen" der Waren, auf die Marx zustimmend Bezug nimmt, (Marx 1859, S. 78f.; 1890, S. 127f.) auch hier ausführlich wiedergegeben werden:
"Im Besitz von Geld brauchen wir nur einen Tausch zu machen, um den Gegenstand des Wunsches zu erlangen, während wir mit anderen Sur- plusprodukten zwei machen müssen, von denen der erste (Besorgung des Geldes) unendlich schwieriger ist als die zweite." (George Opdyke) "Die höhere Verkaufbarkeit von Geld ist gerade die Wirkung oder natürliche Konsequenz der geringeren Verkaufbarkeit von Waren." (Thomas Corbet) "Geld hat die Eigenschaft, immer gegen das austauschbar zu sein, was es mißt." (Charles Bosanquet) "Geld kann immer andere Waren kaufen während andere Waren nicht immer Geld kaufen können." (Thomas Tooke)
Neuerdings wird die einzigartige Tauschbarkeit, die das Geld vor anderen Waren auszeichnet, betont z.B. von Lawrence H. White (1987, S. 452, im Anschluß an Leland B. Yeager, 1968, S. 45ff.): "Money's supreme salability in comparison with all other assets." Die Produkte werden nicht mehr direkt ausgetauscht, weil die "vorhandene unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eigenen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts" aufgespalten ist. Das Geld tritt dazwischen:
"Die Trennung von Verkauf und Kauf (...) macht eine Masse Scheintrans- aktionen vor dem definitiven Austausch (...) möglich und befähigt so eine Masse Parasiten, sich in den Produktionsprozeß einzudrängen und die Scheidung auszubeuten." (Marx 1859, S. 79)
Denn das Geld erlangt als Vermittler der Warenzirkulation die Funktion des Zirkulationsmittels. Als solches kann es sich gegen die Zirkulation wenden, also Krisen auslösen. (Marx 1890, S. 152) Es kann sich als Mittler der wirt- schaftlichen Kommunikation versagen, indem Geldbesitzer es zurückhalten und nur unter Bedingung wieder zur Verfügung stellen. An die Stelle des "identischen" und symmetrischen Austauschprozesses der Tauschwirtschaft tritt die asymmetrische Struktur von Verkauf und Kauf: Der Käufer kann kaufen wann er will, und er braucht nicht unmittelbar zu kaufen, wenn er selbst verkauft hat. Der Verkäufer aber bleibt auf seiner Arbeits- kraft oder Ware sitzen, wenn und solange es dem Geldbesitzer beliebt, nicht oder noch nicht zu kaufen. Wer aber seine Arbeit oder Ware nicht loswird, weil er dabei vom Kauf willen der Geldbesitzer abhängt, - wer insbesondere seine eigene Arbeit nicht als Ware verkaufen kann, der kann anschließend auch nicht als Käufer auftreten: der kann sich nicht die Lebensmittel und Produktionsmittel besor- gen, deren er bedarf, um zu leben, zu arbeiten, zu produzieren und zu kon- sumieren. Noch einmal:
"Das metaphysische Gleichgewicht der Käufer und Verkäufer beschränkt sich darauf, daß jeder Kauf ein Verkauf und jeder Verkauf ein Kauf ist, was kein sonderlicher Trost (ist) für die Warenhüter, die es nicht zum Verkauf, also auch nicht zum Kauf bringen." (Marx 1859, S. 78)
So beginnt die Abhängigkeit des Arbeiters als eines Verkäufers von Arbeit, bevor er ins Geschäft kommt; und so wiederholt sich seine Abhängigkeit je- desmal, wenn er wieder von vorn anfängt und seine Arbeit anbietet.
Der Besitzer des Zirkulationsmittels hat es in der Hand, ihm den Eintritt in die Zirkulation zu versagen. "Die Wucherer verwandeln sich (...) in Beherr- scher des Zirkulationsmittels (... und) damit in Beherrscher der Produktion." (Engels 1894, S. 284) Diese Macht geht nicht aus der Arbeit hervor, deren Wert im Geld steckt, sondern daraus, daß das Austauschbedürfnis ausgebeutet wird:
"Das Bedürfnis des Austauschs und die Verwandlung des Produkts in rei- nen Tauschwert schreitet voran im selben Maß wie die Teilung der Arbeit, d.h. mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion. Aber in dem- selben Maß wie dieser wächst, wächst die Macht des Geldes." (Marx 1857/8, S. 64)
Diese Macht des Geldes ist nicht die Macht des Verkäufers, der unbeweg- liche Ware oder Arbeit bietet, sondern die des Käufers, der das bewegliche Geld in der Hand hat. Und sie ist die Macht des Geldgebers, der mit dem Geld über die Macht verfügt, andere zu Käufern zu machen. Wer innerhalb der Gesellschaft reich ist, der kann sich typischerweise in die Rolle des Geldbesitzers und Käufers begeben. Wer dagegen sieht sich typischerweise immer wieder auf die Rolle des Verkäufers verwiesen? Die Antwort ist einfach: Wer von seiner Arbeit leben muß, der muß seine Arbeit als Ware verkaufen, hat also die schlechtere Waren-Karte des Wirtschafts- spiels in der Hand. Wer dagegen irgendwelche seiner Güter nicht selbst ge- brauchen muß, der kann sie versilbern und zu Geld machen: Dann hat er Anteil am "gesellschaftlichen Monopol" des "allgemeinen Äquivalents" Geld , vermittels dessen die "gesellschaftliche Macht" "Privatmacht" wird. Wenn es richtig ist, daß keiner verkaufen kann, ohne daß einer kauft, aber keiner kaufen muß, nur weil er schon verkauft hat: dann sitzt der Käufer mit seinem Geld in der Tat am längeren Hebel, - dann ist denkbar, daß er die Situation ausnutzen kann, um mehr als ein Äquivalent herauszuschlagen, - dann ist denkbar, daß der Verkäufer der Ware "Arbeitskraft" weniger als ein Äquivalent bekommt. Denn wer am längeren Hebel sitzt, kann mehr Druck ausüben. Er hat die größere Verhandlungsmacht, während der andere unter Verhandlungsdruck gerät. So kommt ein ungleiches Geschäft zustande, bei dem der Geldbesitzer einen Preis heraushandeln kann, der den Preis unter Gleichgewichtsbedingungen übersteigt. Und in der Tat: Marx beschreibt den kapitalistischen Produktionsprozeß als einen Vorgang, in dessen Verlaufe der Kapitalist am Ende weniger Arbeit bezahlt, als er bekommt, so daß auch der Arbeiter weniger Geld bekommt, als er an Arbeit leistet. Also kann der Kapitalist bequem Surplus-Arbeit schlicht einkaufen. So einfach scheint die Sache mit dem Mehrwert zu sein. Aber Marx selbst will den Vorgang des Verkaufs und Kaufs von Arbeit und die Entstehung des Mehrwertes dann doch auch wieder gerade nicht als "surcharge" (Aufpreis beim Vertragsabschluß) gedeutet wissen. (Marx 1862/3, S. 512) Es ist, als wäre ihm das zu einfach. Es ist, als wolle Marx größere und schwierigere Geheimnisse aufklären: Er fordert den Leser auf, die ge- räuschvolle Sphäre der Zirkulation und des Austauschs zu verlassen, um mit ihm in die "verborgene Stätte der Produktion" einzudringen. Dort werde sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert; und jetzt wird der Vorgang geradezu paradox: "Dieser ganze Verlauf, die Verwandlung eines Geldes in Kapital, geht in der Zirkulations- sphäre vor und geht nicht in ihr vor." (Marx 1890, S. 209) Ein späterer Kritiker sieht das ganz anders:
"Der Verbraucher, von persönlichen Bedürfnissen getrieben, kann nicht warten, obschon sein Geld es ihm erlauben würde; der Warenerzeuger kann auch nicht warten, obschon seine persönlichen Bedürfnisse es ihm in manchen Fällen wohl gestatten würden; aber der als Kaufmann auftretende Geldbesitzer, der Eigentümer des allgemeinen, unentbehrlichen Tausch- mittels, der kann warten, der kann Warenerzeuger und -verbraucher re- gelmäßig dadurch in Verlegenheit bringen, daß er mit dem Tauschmittel (Geld) zurückhält. Und die Verlegenheiten des einen sind ja im Handel das Kapital des anderen." (Gesell 1949, S. 316f.)
4. Neutralisierung der Asymmetrie durch Rollentausch?
Ich kann und will hier nicht auf die subtilen Mehrwerterklärungen einge- hen, bei denen insbesondere sorgfältig zwischen Arbeitswert, Gebrauchswert und Tauschwert unterschieden wird. Vielmehr möchte ich mich mit einer einfacheren Vorüberlegung auseinandersetzen, mit der Marx sich und seine Leser davon überzeugt, daß der Mehrwert trotz Überlegenheit des Geldes gegenüber der Ware im allgemeinen und gegenüber der Arbeit im besonderen nicht schon bei Gelegenheit des Verkaufs und Kaufes von Ware oder Arbeit einfach als "surcharge" (Aufpreis) entsteht: Zunächst wird bei Marx, wo es um den Mehrwert geht, der eklatante Un- terschied zwischen Ware und Geld, der andernorts als geradezu magisch be- schrieben wird, sowie der Unterschied zwischen Verkauf und Kauf, der an- dernorts mit großem Zitataufwand belegt wird, rhetorisch bis zur Irrelevanz heruntergespielt, - als ob Marx sich selbst davon überzeugen müsse, daß es diesen eklatanten Unterschied gar nicht gibt:
"Jedenfalls steht auf dem Warenmarkt nur (!) der Warenbesitzer dem Warenbesitzer gegenüber, und die Macht, die diese Personen über einan- der ausüben, ist nur (!) die Macht ihrer Waren. Die stoffliche Verschie- denheit der Waren ist das stoffliche Motiv des Austausches und macht die Warenbesitzer wechselseitig voneinander abhängig, indem keiner von ihnen den Gegenstand seines eigenen Bedürfnisses und jeder von ihnen den Gegenstand des Bedürfnisses des anderen in seiner Hand hält. Außer dieser stofflichen Verschiedenheit ihrer Gebrauchswerte besteht nur (!) noch ein Unterschied unter den Waren, der Unterschied zwischen ihrer Naturalform und ihrer verwandelten Form, zwischen Ware und Geld. Und so unterscheiden sich die Warenbesitzer nur (!) als Verkäufer, Besitzer von Ware, und als Käufer, Besitzer von Geld." (Marx 1890, S. 174f.)
Nachdem so praktisch kein Unterschied mehr zwischen Ware und Geld, zwischen Verkäufer und Käufer sichtbar ist bis auf den kleinen zwischen Naturalform und Geldform, spielt Marx zwei (für ihn rein hypothetische) Fälle vollkommen abstrakt durch, nämlich die, daß entweder der Käufer oder der Verkäufer eine ausgezeichnete, bessere Position habe. Einerseits:
"Gesetzt nun, es sei durch irgend ein unerklärliches Privilegium dem Ver- käufer gegeben, die Ware über ihrem Werte zu verkaufen, zu 110, wenn sie 100 wert ist, also mit einem nominellen Preisaufschlag von 10 % . Der Verkäufer kassiert also einen Mehrwert von 10 ein. Aber nachdem er Verkäufer war, wird er Käufer. Ein dritter Warenbesitzer begegnet ihm jetzt als Verkäufer und genießt seinerseits das Privilegium, die Ware 10 % teurer zu verkaufen. Und unser Mann hat als Verkäufer 10 gewonnen, um als Käufer 10 zu verlieren. (...)" (S. 175)
Andererseits:
"Unterstellen wir umgekehrt, es sei das Privilegium des Käufers, die Ware unter ihrem Wert zu kaufen. Hier ist es nicht einmal nötig zu erinnern, daß der Käufer wieder Verkäufer wird. Er war Verkäufer bevor er Käufer war. Er hat bereits 10 % als Verkäufer verloren, bevor er 10 % als Käufer gewinnt. Alles bleibt wieder beim alten." "Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld in Kapital kann also weder dadurch erklärt werden, daß die Verkäufer die Waren über ihrem Werte verkaufen, noch dadurch, daß die Käufer sie unter ihrem Werte kaufen." (S. 175)
Diese hypothetischen und hochabstrakten Gedankenspiele sind scheinbar überzeugend und unwiderlegbar; wird doch der etwaige Vorteil des Käufers sofort kompensiert durch den Nachteil, den er anschließend als Verkäufer hat. Auf die gleiche Art und Weise scheint sich der Nachteil, den der Mensch in der Rolle als Verkäufer seiner Arbeit hat, alsbald auszugleichen durch den Vorteil, den er in der Rolle des Käufers seiner Lebensmittel genießt. Doch der Schein dieser formalen Symmetrie trügt, und Marx, der Theoretiker des historischen Materialismus, läßt sich durch die ideale Gleichheit in der Ab- wechslung der Rollenspiele als Verkäufer und Käufer täuschen. Marx nämlich vergißt, vernachlässigt, ja verdrängt hier geradezu genau diejenige fundamentale Polarisation zwischen Kapital und Arbeit, die sonst den historischen Ausgangspunkt und die materialistische Grundlage seiner Kritik der politischen Ökonomie konstituiert: Die hypothetischen und hochabstrakten Gedankenspiele von Marx zur Rolle von Verkäufer und Käufer setzen einfach die Symmetrie wirtschaftlich voraus, die Marx andernorts bestreitet und die dann scheinbar bewiesen wird. In seinen Gedankenspielen behandelt Marx nämlich abstrakt und formal den Arbeiter, der seine Arbeit verkaufen und Lebensmittel erwerben muß, um leben zu können, nicht anders als den Kapi- talisten, der Arbeit kauft oder Waren kauft, weil er schon leben kann und dar- überhinaus Profite machen möchte. Marx setzt unausgesprochen reale symmetrische Bedingungen voraus: daß alle Beteiligten an dem Spiel von Verkauf und Kauf zu Beginn gleichermaßen reich, gleichermaßen dringend auf den Erwerb von Lebensmitteln angewiesen und auf die Dauer gleichermaßen sparwillig und sparfähig sind. Denn nur unter dieser ökonomisch irrealen Annahme geht die Kompensationsrechnung auf, die Marx vorführt. Genau diese Annahme aber ist nicht erfüllt, wenn man mit Marx die historische Trennung von Kapital und Arbeit voraussetzt. Dann muß man von Arbeitern ausgehen, die verkaufen und kaufen müssen, um zu leben, und von Vermögenden, die anderer Leute Arbeit kaufen kön- nea, aber nicht müssen. So beginnt das Spiel mit einer Art "Kurvenvorgabe" für den Geldbesitzer und mit Nachteilen für den Verkäufer von Arbeit: "Keiner kann verkaufen" (auch kein Arbeiter), "wenn keiner kauft" (nämlich der Kapitalist die Arbeit), sagt Marx. (Marx 1890; S. 127) Der Käufer kann den Verkäufer zappeln lassen. Hat der Kapitalist den Arbeiter genug zappeln lassen, um den gewünschten Aufpreis zu erzielen (surcharge), dann bekommt der Arbeiter seinen Lohn und der Kapitalist produziert mit der unterbezahlten Arbeit Waren. Daraufhin tauschen sie zwar nicht ihre Rollen als Kapitalist und Nichtkapitalist, wohl aber ihre Rollen als Käufer und Verkäufer: Jetzt, meint Marx, kann der Ar- beiter als Konsument dem Kapitalisten den etwaigen Aufschlag wieder ab- nehmen, den der Kapitalist beim Arbeitsvertrag durchgesetzt hat: "Unser Mann", der Arbeiter, "hat bereits 10 % als Verkäufer verloren, bevor er 10 % als Käufer", als Konsument, wieder "gewinnt". "Alles bleibt wieder beim alten". (S . 175) Es stehen sich aber nach wie vor gegenüber ein wohlhabender Kapitalist, der warten kann, auch wenn er dabei seinen Profit verringert, und ein Ar- beiter und Konsument, der seine Arbeit verkaufen will, weil er Milch, Brot und Wohnung kaufen muß. Jenem geht es in jeder Runde um Profit am Rande seines bereits großen Vermögens. Diesem geht es in jeder Runde um seine Existenz, und der Geldbesitzer hat ihn am Gängelband des von Marx selbst betonten "Vorschusses". Davon, daß der Arbeiter in der Rolle des Konsumenten sich als Käufer zurückholen könne, was er als Verkäufer von Arbeit an Mehrarbeit hat draufgeben müssen, kann nicht die Rede sein. Viel eher besteht die Möglich- keit, ihn ein zweites Mal auszubeuten, und sei es mit den Zinsen für einen Konsumentenkredit. Und wenn der Arbeiter als Konsument sein Geld für die Befriedigung sei- ner Bedürfnisse ausgegeben und der Kapitalist seine Waren an den Mann gebracht hat, stehen sie sich wieder in der ersten, ungleichen Runde gegen- über, aber so, daß der Kapitalist jetzt noch etwas besser, der Arbeiter also noch etwas schlechter ausgestattet in die Verhandlungen geht. Und weil der Kapitalist nicht nur über die Produktionsmittel verfügt, sondern auch über das Zirkulationsmittel, können die Arbeiter auch nicht einfach selbst miteinander ins Geschäft kommen, eine Produktion ohne die Vermögenden aufbauen und sich von den Herrn über die Zirkulation emanzipieren. Denn für den Arbeiter gilt, solange die typische "Polarisation" anhält, gerade nicht allgemein: "Keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat." (S. 127) Denn der Arbeiter verkauft seine Arbeit, um alsbald etwas zu kaufen. Es sind die gleichen existentiellen Bedürfnisse, die ihn zu- nächst nötigen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und dann, das verdiente Geld anzubieten gegen Lebensmittel. Der Druck, unter dem er beim Kaufen steht, gleicht dem, unter dem er schon beim Verkauf seiner Arbeit stand.
III. Deutung der Äquivalenz-und-Nicht-Äquivalenz
Geld ist ein Äquivalent der Ware (oben I.). Geld ist auch ein Nicht- Äquivalent der Ware (oben II.). Wie kann man dieses Paradoxon verstehen? Geld ist ein Äquivalent der Ware im Augenblick des Vertragsabschlusses. Dabei fungiert das Geld als Vergleichsmaßstab. Und bei Zahlung des Kauf- preises wird die so bestimmte Summe bezahlt. Dabei geht es um den Nenn- wert des Geldes im Sinne seines Tauschwertes. Geld ist der Ware dagegen im Verkehr überlegen, soweit es den Austausch der trägen Waren durch Verflüssigung ihres Wertes erleichtert. Insoweit haben wir es nicht mit dem Wertäquivalent im Geld zu tun, sondern mit der mo- netären Liquidität eben dieses Äquivalentes, die den Gebrauchsnutzen des Geldes selbst ausmacht. Dabei geht es nicht mehr um den Nennwert des Geldes, sondern um seinen Tauschbarkeitswert: um die nützliche (kostenspa- rende) Überlegenheit des Geldes bei der Abwicklung von Austauschgeschäften und einfachen Kaufkraft-Transfers. Dadurch also, daß das Wertäquivalent, wie es in jeder Ware steckt, bei der Ware "Geld" kraft seiner "Schlagfertigkeit" einen zusätzlichen Gebrauchs- wert bekommt, wird das Geld zu einer Komposition aus einem Warenäqui- valent (Nennwert) einerseits und der besonderen, selbst nützlichen allgemeinen Äquivalentform dieses Wertes (Tauschbarkeitswert) andererseits. Solange die Waren als Waren fungieren (und noch nicht als Güter), inter- essiert nicht ihr Gebrauchswert, sondern ihr Verkaufswert. Für den typischen Warenbesitzer und -händler ist der Gebrauchswert der Waren verschwindend, ihr Warenwert jedoch erheblich. Geld dagegen ist für den Warenbesitzer und -händler nicht nur als einfaches Äquivalent von Ware nützlich, sondern vor allem in seiner Schlagfertigkeit: Ware und Geld sind beide zum Austausch bestimmt. Aber das Geld besitzt die bessere Austauschbarkeit. Genau darin steckt die Überlegenheit der allgemeinen Äquivalentform der Geldware über die anderen Äquivalente, die in trägen Waren stecken. Die Ware ist "gegen- über dem Geld ein Tauschschmittel von nur beschränkter Kraft" . (Marx 1857/8, S. 114) Diese größere Austauschbarkeit des Geldes ist zugleich der Urzins in seiner Naturalform: die elementare Quellform des Mehrwertes. An dieser Stelle muß jenes Kritikers von Karl Marx gedacht werden, der den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt des Mehrwertproblems im Geld- system identifiziert hat und dem auch ich letztlich die maßgebenden Anre- gungen verdanke. Gemeint ist Silvio Gesell, der hier am besten selbst zu Worte kommt:
"Merkwürdigerweise beginnt übrigens Marx mit seinen Untersuchungen über den Zins gleichfalls beim Geld. Ihm widerfuhr jedoch das Mißge- schick, daß er (trotz der Warnung Proudhons) am entscheidenden Ort mit einer falschen Voraussetzung begann und genau wie die gewöhnlichen kapitalfreundlichen Zinsforscher Geld und Ware als vollkommene Äqui- valente behandelte (...) Noch merkwürdiger aber ist es, daß Marx in der von ihm selbst als Regel bezeichneten Abwicklung des Tausches (G.W.G' = Geld, Ware, Mehrgeld) wohl einen Widerspruch mit dem behaupteten Äquivalent findet, die Lösung dieses Widerspruches jedoch anderswo, und zwar in einer langen Kette von Mittelgliedern nachzuweisen verspricht. Diese 'lange Kette' ist der Produktionsprozeß, und zwar beginnt und endet diese Kette in der Fabrik. Der Unternehmer ist nicht ein Ausbeuter unter vielen, sondern ist der Ausbeuter. Die Ausbeutung geschieht restlos an der Lohnkasse. Um den von Marx in der Formel G.W.G' aufgedeckten Wi- derspruch glatt zu lösen, werde ich keine solche Kette von Mittelgliedern nötig haben. Ich werde dem Zins die Angel vor das Maul werfen und ihn geradewegs aus seinem Elemente ziehen, für jeden erkennbar. Die Kraft, die zur Tauschformel G.W.G' gehört, werde ich unmittelbar im Tausch- vorgang enthüllen. Ich werde zeigen, daß das Geld in der Gestalt, in der wir es von den Alten unbesehen übernommen haben, kein 'Äquivalent' ist und daß es nicht anders als nach der Formel G.W.G' umlaufen kann." (Gesell 1949, S . 314f. )
Gesell erkannte wie Marx die Unentbehrlichkeit des Geldes für die Ar- beitsteilung. Er aber entdeckte außerdem, daß es die Möglichkeit ist, Geld ohne nennenswerten Kostenaufwand zurückzuhalten, die zum Zins und zum Mehrwert führt, und zwar weil die anderen, um kostengünstig zu tauschen, auf das Geld als die preiswerteste Straße der ökonomischen Kommunikation angewiesen sind. Auch vor Gesell haben sich Politökonomen mit der Überlegenheit des Geldes befaßt und sich bemüht, die Ware liquider zu machen, also durch Zirkulationsverbesserungen (z.B. "Arbeitsgeld") den Nachteil der Ware ge- genüber dem Geld aufzuheben (während Gesell umgekehrt das Geld durch Geldkosten den Waren angleichen möchte). Aber Marx war sich seiner Sache sicher. Er hielt weder die theoretischen Ansätze noch die praktischen Vor- schläge für aufschlußreich oder hilfreich. Seine Entgegnung war am Ende nur Spott:
"Die 'organische' Konstruktion von 'Arbeitsgeld' und 'Nationalbank' und 'Warendocks' ist nur Traumgebild. (...) Was bei Gray versteckt und namentlich ihm selbst verheimlicht bleibt, nämlich, daß das Arbeitsgeld eine ökonomisch klingende Phrase ist für den frommen Wunsch, das Geld, mit dem Geld den Tauschwert, mit dem Tauschwert die Ware, und mit der Ware die bürgerliche Form der Produktion loszuwerden, wird gera- dezu herausgesagt von einigen englischen Sozialisten, die teils vor, teils nach Gray schrieben. Herrn Proudhon aber und seiner Schule blieb es vorbehalen, die Degradation des Geldes und die Himmelfahrt der Ware ernsthaft als Kern des Sozialismus zu predigen und damit den Sozialismus in ein elementares Mißverständnis über den notwendigen Zusammenhang zwischen Ware und Geld aufzulösen." (Marx 1859, S. 68/69)
Friedrich Engels (1885, S. 175-182) skizziert rückblickend und in Ausein- andersetzung mit Rodbertus noch einmal die sozialistischen Versuche, die Arbeitswertlehre Ricardos (1817) in direkte reformerische Praxis umzusetzen. An den Utopien des Arbeitsgeldes läßt er kein gutes Haar. Im folgenden aber geht es weiter darum aufzuzeigen, inwiefern trotz allem Marx selbst schon viele weitere Erkenntnisbausteine zu der Einsicht zusam- mengetragen hat, daß das Geld eine noch entscheidendere Rolle als die spielt, die er ihm als Tauschmittler ohnehin zuerkannt hat.