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Text aus: Dieter Suhr: Der Kapitalismus als monetäres Syndrom Campus Verlag, 1988, ISBN 3-593-33999-4, Seite 11 - 24 (Im August 1999 gescannt, korrekturgelesen und ins Web gestellt von W. Roehrig.)
1. Kapitel
Die Frage nach den Ursachen des "Kapitalismus"
Karl Marx hat wie keiner vor ihm kapitalistische Ausbeutungszusammen- hänge und kapitalistische Machtstrukturen analysiert. Im folgenden geht es nicht um sämtliche Folgen und Fernwirkungen dieser kapitalistischen Pro- duktionsverhältnisse, sondern nur um entscheidende ökonomische Wurzeln und Grundstrukturen des Kapitalismus selbst: um die elementarsten wirtschaftli- chen Gegebenheiten und Zusammenhänge, auf die die kapitalistischen Er- scheinungsformen der Wirtschaft mit dem Mehrwertsyndrom, mit der Aus- beutung und mit der Akkumulation von wirtschaftlicher Macht im wesentli- chen zurückzuführen sind.
I. Scheidung der Arbeiter von den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit
1. Die "Polarisation" von Kapital und Arbeit
Die elementarste sozio-ökonomische Struktur, die den Kapitalismus konsti- tuiert, ist nach Marx wirtschaftsgeschichtlich vorgegeben, und zwar hervor- gegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft: "Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Ei- gentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus." (Marx 1890, S. 742) Geld und Ware seien nämlich nicht von vornherein Kapital. Sie müßten erst verwandelt werden:
"Zweierlei sehr verschiedene Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwenden durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andererseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. (...) Mit dieser Polarisation des Warenmarktes sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben." (S. 742)
Wer also den Kapitalismus überwinden will, der muß die "Scheidung zwi- schen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit" überwinden, - der muß das (Privat-)Eigentum an Produktions- mitteln in die Hand der Arbeiter zurückgeben, - der muß die kapitalistischen Formen des Eigentums durch andere ersetzen. Diese Konsequenz scheint innerhalb des marxistischen Denkens ebenso grundlegend wie überzeugend zu sein. Wenn man es unternimmt, sie dennoch im Geiste der Kritik der politischen Ökonomie zu hinterfragen, läuft man Gefahr, sich lächerlich zu machen. Meine Fragen lauten gleichwohl:
- Genügt es wirklich, das Eigentum an den Produktionsmitteln zu verge- sellschaften, um den Kapitalismus zu beseitigen? - Ist das wirklich erforderlich? - Würde es nicht hinreichen, die Bedingungen, zu denen die Besitzer von Produktionsmitteln und die Besitzer von Arbeitskraft miteinander verhan- deln, Verträge schließen und zusammenarbeiten, derart fair auszugestalten, daß nicht länger die Eigentümer der Produktionsmittel am längeren Hebel sitzen und die Eigentümer eigener Arbeitskraft den kürzeren ziehen? - Und ist es nicht auch in jedem Falle erforderlich, die Bedingungen fair zu gestalten, zu denen Anbieter und Nachfrager von Arbeit aufeinandertref- fen, - ganz unabhängig davon, wem die Produktionsmittel gehören?
2. Der Vorschuß des Kapitalisten an die Arbeiter
In der Tat: Nicht allein, daß die Kapitaleigner über Kapital verfügen, macht die Arbeiter von ihnen abhängig und verursacht den Kapitalismus. Die Ab- hängigkeit der Produzenten vom Kapitalisten beruht vielmehr auf einer wei- teren Bedingung: Bevor die Produzenten produzieren können, bevor sie ihre Produkte verkaufen und als Konsumenten selbst wieder kaufen können und bevor sie diese ihre eigenen Produkte am Ende konsumieren können, sind sie auf einen Vorschuß angewiesen:
"Der Kapitalist schießt das Gesamtkapital vor (...); er kann die Arbeit nur exploitieren, indem er gleichzeitig die Bedingungen für die Verwirklichung dieser Arbeit, Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, Maschinerie und Rohstoff vorschießt." (Marx 1894, S. 51)
Angenommen, die Besitzer von Arbeit wären auf einen Vorschuß in Gestalt realer Produktionsmittel gar nicht angewiesen. Angenommen nämlich, diese Arbeiter könnten sich als potentielle Produzenten Geld leihen, ohne dafür mit Zinsen belastet zu werden, also auch, ohne sogleich Mehrwert abführen zu müssen: Dann könnten diese potentiellen Produzenten Lebensmittel und Pro- duktionsmittel nachfragen und erwerben. Sie könnten ihre eigene Produktion aufbauen. Der Besitzer von sachlichen Produktionsmitteln bliebe auf seinen Produktionsmitteln nebst deren Kosten sitzen. Er würde also Verluste machen, wenn er sich nicht dazu herabließe, sie zu verkaufen oder zu Selbstkosten für Produktionszwecke zu Verfügung zu stellen. Es könnte also sein, daß es gar nicht so sehr die Eigentumsverhältnisse sind, die als Trennwand zwischen Arbeit und Produktionsmitteln stehen. Diese Trennwand zwischen der Arbeit und den Arbeitsmitteln ist durch Vertrag schnell überwunden. Es erscheint vielmehr als denkbar, daß die "Verwirkli- chungsbedingungen" für die Arbeit deshalb so schlecht sind, weil die Arbeit ("das Angebot") im Transaktionssystem des volkswirtschaftlichen Güteraus- tausches im Verhältnis zum Geld ("Nachfrage") unter Druck steht und so erpreßbar wird. Zu den "Verwirklichungsbedingungen der Arbeit" gehören nämlich wo- möglich nicht nur sachliche Produktionsmittel, sondern gehört womöglich auch, daß die Eigentümer, die Produzenten und die Konsumenten in Aus- tausch miteinander treten: Die Bedürftigen, die Arbeitswilligen und die Besit- zer der übrigen Produktionsmittel müssen miteinander ins Geschäft kommen. Denn was sie besitzen, hat keinen Gebrauchswert für sie selbst, sondern nur für andere: Jeder hat Waren, die die jeweils anderen brauchen, und erst durch den doppelten Austausch z.B. der Ware "Arbeit" gegen die Äquiva- lentform aller Waren "Geld" und des Geldes gegen Lebensmittel kommt der Arbeiter zum Ziel seiner Bedarfsbefriedigung: "Alle Waren sind Nicht-Ge- brauchswerte für ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nichtbesitzer. Sie müssen also allseitig die Hände wechseln." (Marx 1890, S. 100; Hervorhe- bung von mir) Dieser Händewechsel aber funktioniert praktisch nur noch vermittels des Geldes in seiner Funktion als Zirkulationsmittel, "welches die an und für sich bewegungslosen Waren zirkuliert, sie aus der Hand, worin sie Nicht-Gebrauchswerte, in die Hand überträgt, worin sie Gebrauchswerte (werden)". (S. 130) Ohne das Geld bewegen sich die Waren nicht!
3. Das Geld als Verwirklichungsbedingung der Arbeit
Der wechselseitige Austausch der Waren wird durch das Geld vermittelt. Wer über diesen Mittler "Geld" verfügt, der beherrscht den Austauschmittler. Wer den Mittler beherrscht, beherrscht den Austausch selbst. Wer den Aus- tausch beherrscht, der kontrolliert das Zirkulationssystem. Und dieses Aus- tauschsystem ist die elementare "Verwirklichungsbedingung der Arbeit" in einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Der Geldkapitalist, der das Austauschmedium in der Hand hat, der hat es auch in der Hand, den wirtschaftlichen Verkehr zwischen den Eigentümern von sachlichen Produktionsmitteln, den Arbeitern und den Konsumenten zu verhindern oder nach eigenem Wunsch und Profitinteresse zu beeinflussen. Man könnte jetzt, nach den Gedanken zum Geld als der allgemeinen öko- nomischen Kommunikationsbedingung für Produzenten und Konsumenten, auf folgende Idee verfallen: Läßt sich die Abhängigkeit der potentiellen Produ- zenten und Konsumenten vom Kapitalisten vielleicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, daß man ein besseres monetäres Tauschsystem ausdenkt und einrichtet, ein Geldsystem oder Verrechnungssystem, in dem nicht mehr allein durch Überlassung des Tauschmediums "Geld" Mehrwert von Vorschußneh- mern erhoben und an Vorschußgeber abgeführt wird? Dieser Gedanke ist al- lerdings nicht neu. Gray (1831, 1848), Bray (1848) und Proudhon (1851) sowie viele andere haben sich mit dem Geld als ungleichem Tauschmittler befaßt und überlegt, wie man die durch das Geld hervorgerufenen Ungerech- tigkeiten und Probleme überwinden könne. Marx allerdings hat sich über diese Kritiker der Ökonomie am Ende nur kritisch lustig gemacht: Sie hätten nicht begriffen, worum es gehe. (Marx 1890, S. 82f.; Suhr 1983, S. 12ff.) "Durch allerlei Künsteleien" am Geld wollten diese Kritiker Gegensätze abbauen, die tiefer liegende, wirtschaftsge- schichtliche Ursachen hätten und zu denen das Geld nur die oberflächliche, bloß "sinnfällige Erscheinung" sei. Ein Angriff auf das Geld würde alles beim alten lassen: "Man schlägt dann auf den Sack und meint den Esel." (Marx 1857/8, S. 152) Dadurch, "daß man die Formen des Geldes verändert", lie- ßen sich die ökonomischen Widersprüche nicht aufheben:
"Das Geld bringt diese Widersprüche nicht hervor; sondern die Entwick- lung dieser Widersprüche und Gegensätze bringt die scheinbar transzen- dentale Macht des Geldes hervor." "Es ist nötig, dies klar zu erkennen, um sich keine unmöglichen Aufgaben zu stellen und die Grenzen zu ken- nen, innerhalb derer Geldreformen und Zirkulationsumwandlungen die Produktionsverhältnisse (...) neugestalten können." (Marx 1857/8, S. 64f.)
Aber auch im Werk von Karl Marx selbst finden sich deutliche Anhalts- punkte dafür, daß das Geld eine Rolle spielt, die es gegenüber Waren und sachlichen Produktionsmitteln auszeichnet: eine dominierende kapitalistische Rolle. Diesen Hinweisen bei Marx selbst werde ich nachgehen, um die Fol- gerungen zu ziehen, die sich dann aufdrängen.
II. "Geldkapitalist" und "industrieller Kapitalist"
Abgesehen von den geldtheoretischen Fragen, um die es in den kommen- den Abschnitten geht, spiegelt sich die Problematik auch in der Art und Weise, wie Marx zwischen dem Geldgeber als dem Geldkapitalisten auf der einen Seite und dem tätigen Unternehmer als dem industriellen oder auch fungierenden Kapitalisten auf der anderen Seite unterscheidet (1857/8, S. 224f.; 1862/3, S. 465ff.; 1894, S. 383ff.) und wie er dabei seine Schwie- rigkeiten hat.
1. Geldzins und industrieller Profit
Zum einen erkennt Marx in bezug auf das Geld sehr wohl:
"Nun existiert aber historisch das zinstragende Kapital als eine fertige überlieferte Form und daher der Zins als fertige Unterform des vom Ka- pital erzeugten Mehrwerts, lange bevor die kapitalistische Produktions- weise und die ihr entsprechenden Vorstellungen von Kapital und Profit existierten." (Marx 1894, S. 389)
Geldkapital hat also seinen Mehrwert immer schon erzeugt, bevor Kapital und Arbeit getrennt waren in der Art, wie Marx es für das industrielle Zeit- alter beschreibt. Und Geldkapital erzeugt seinen Mehrwert nach wie vor auch dann, wenn damit gar nicht produktiv gearbeitet wird, sondern etwa bloß Schulden getilgt oder Konsumgüter finanziert werden. So ist das Geldkapital ein "für den Verleiher in der Tat vom Prozeß des Kapitals unabhängiges Kapital". In diesem Fall ist der Zins ein "von der kapitalistischen Produktion - der Erzeugung des Mehrwertes - als solcher unabhängiger fact". (Marx 1862/3, S. 477f.) Zum anderen aber entsteht der Mehrwert, von dem der Zins ein Teil ist, nach Marx erst und nur im kapitalistischen Produktionsprozeß: "Das zinstra- gende Kapital bewährt sich nur als solches, soweit das verliehene Geld wirk- lich in Kapital verwandelt und ein Überschuß produziert wird, wovon der Zins ein Teil (ist)." (Marx 1862/3, S. 479; 1894, S. 394) Das heißt: Obwohl das mehrwertzeugende Kapital historisch "eingewachsen" (1894, S. 394) und vorhergegangen ist, und obwohl es als Kapital in den Prozeß als Grundlage immer schon eingeht, ist es doch auch immer erst das Resultat:
"Dies eine Moment nun, getrennt vom kapitalistischen Produktionsprozeß selbst, dessen stetes Resultat es ist und als dessen stetes Resultat es seine stete Voraussetzung ist, drückt sich nun darin aus, daß Geld (und) Ware an sich latent Kapital sind." "Der Zins erscheint daher als der dem Kapital als Kapital, dem bloßen Eigentum des Kapitals geschuldete Mehrwert, den es aus dem Produktionsprozeß herausbringt, weil es als Kapital in ihn eingeht (...); der industrielle Profit dagegen (erscheint) als Teil des Mehrwertes, der dem funktionierenden Eigentümer, funktionierenden Ka- pital zukommt." (1862/63, S. 468)
Da bleibt zumindest einiges undeutlich. Die Erklärung des Kapitals durch die Identität von Voraussetzungen und Wirkung bleibt zirkulär dunkel. Die Paradoxien, die von Marx freilich eher als dialektische Wahrheiten oder Be- stätigungen im Sinne von "Verkehrungen" erlebt werden, setzen sich fort: Der Teil des Mehrwertes, den der fungierende industrielle Kapitalist einstreicht, erscheint gar nicht mehr als bloßer Mehrwert, sondern als Arbeitslohn für Direktionsarbeit, mithin als das "Gegenteil" von Mehrwert, nämlich als "Äquivalent für vollbrachte Arbeit":
"Wird ein Teil des Mehrwerts so in dem Zins ganz getrennt vom Exploi- tationsprozeß, so wird der andere Teil - im industriellen Profit - dar- gestellt als sein direktes Gegenteil, nicht Aneignung von fremder Arbeit, sondern Wertschöpfung eigener Arbeit. Dieser Teil des Mehrwertes ist also gar nicht mehr Mehrwert, sondern das Gegenteil, Äquivalent für vollbrachte Arbeit." (1862/3, S. 484-486) "Dieser Teil, wie schon A. Smith richtig herausfand, stellt sich rein dar, selbständig und gänzlich getrennt vom Profit (als Summe von Zins und Unternehmergewinn), an- dererseits in dem Teil des Profits, der nach Abzug des Zinses als soge- nannter Unternehmergewinn übrigbleibt, in dem Gehalt des Dirigenten." (1894, S. 396f.)
So erscheint der industrielle Kapitalist selbst als ein vom Geldkapitalisten gekaufter Arbeiter und Handlanger, der von dem, was er aus dem Kapital herausholt, den Zins als Mehrwert abführen muß: Marx vergleicht ihn mit dem Sklaventreiber, der so gut bezahlt werden muß wie die Arbeit selbst. (1862/3, S. 485f.) Also deutet fast alles darauf hin, daß der Geldkapitalist als solcher am längeren Hebel sitzt, daß das Geldkapital nicht nur geschichtlich, sondern auch ökonomisch das "eigentliche" Kapital darstellt. Der "industrielle Kapitalist", der nach Marx der eigentliche Kapitalist ist, erbringt selbst Sur- plus-Arbeit, deren pekuniäres Äquivalent der Geldgeber einstreicht.
2. Geldzins als vorausgesetztes Resultat
Aber Marx kann sich Kapital und Mehrwert immer nur in Verbindung mit wertschöpfender Arbeit vorstellen. So muß Marx, was geschichtlich voraus- gegangen ist und was ökonomisch in den Produktionsprozeß eingeht, als seine Voraussetzung zugleich zum Resultat des Produktionsprozesses definieren, um es dann als vorweggenommenes oder sonst wieder an den Anfang geholtes Ergebnis erklären zu können. (1862/3, S. 468) Und er muß den "fungieren- den", den "industriellen Kapitalisten" zum eigentlichen Kapitalisten machen, obwohl der ja das "direkte Gegenteil" vom Mehrwert bekommt, nämlich ein "Äquivalent für vollbrachte Arbeit". Ungeklärt bleibt dabei obendrein: In- wiefern ist der Zins ein Teil des Mehrwertes, der als Resultat des kapitalisti- schen Produktionsprozesses erscheint, wenn mit dem Geld gar nicht kapitali- stisch produziert, sondern etwa eine Beerdigung bezahlt oder eine uralte Schuld endlich getilgt wird?
Offenbar hat der Geldkapitalist nicht nur die Macht, von produzierenden Schuldnern (von "fungierenden Kapitalisten") Zinsen zu verlangen, sondern auch von Schuldnern, die das Geld schlicht und einfach dazu brauchen, um damit wofür auch immer zu zahlen. Das wiederum deutet darauf hin, daß der Zins nichts oder nur sehr wenig und indirekt mit den produktiven Eigen- schaften von Sachkapital zu tun hat, sehr viel aber mit der Eignung des Gel- des zu Zwecken des Zahlens und Tauschens.
3. Die Ausbeutung der Scheidung von Verkauf und Kauf
In der Tat hat Marx gespürt, daß die Widersprüche des Kapitalismus nicht eigentlich mit der Trennung von Arbeit und Eigentum auftauchen, sondern ihren Grund haben in der Aufspaltung des unmittelbaren Austausches in Ver- kauf und Kauf unter Einschaltung des Geldes. Es geht nicht nur um die Scheidung der Arbeiter von den Produktionsvoraussetzungen durch das Pri- vateigentum an den Produktionsmitteln. Sondern es geht um die andere Scheidung der Produzenten, die etwas anbieten und verkaufen wollen, von den Konsumenten, die Bedürfnisse haben und etwas kaufen wollen, - und die beide nicht miteinander ins Geschäft kommen, es sei denn durch Ver- wendung von Geld. Man produziert und ist am Ende selbst der Käufer, der den Wert auch wieder abruft, den man geschaffen hat, - freilich in anderer Brauchbarkeitsgestalt und vermittelt auf dem Umweg über die anderen. Eigentlich ist jedermann "Konsument", und jedermann möchte als "Pro- duzent" mit anderen die ebenfalls sowohl konsumieren als auch produzieren wollen, ins Geschäft kommen. Also geht es letztlich darum, daß man ganz allgemein mit seinesgleichen und indirekt mit sich selbst ins Geschäft kommen will durch Verkauf gegen Geld und Kauf unter Einsatz des Geldes. In der Selbstversorgerwirtschaft herrschen Bedingungen, unter denen jeder noch weitgehend durch eigene Arbeit auf kurzgeschlossenem Wege "von der Hand in den Mund" erzeugen kann, was er braucht und verbraucht. Das übrige wird durch den Familienverband, die nähere Gemeinschaft oder durch Tausch beschafft. Je weiter die Arbeitsteilung und die Monetisierung der Wirtschaft voranschreitet, desto ausschließlicher vollzieht sich die Selbstver- sorgung dann auf dem Umweg über eine dazwischengeschobene Fremdver- sorgung. Was einer erzeugt, kehrt zunächst nur in der Form von Geld zu ihm zurück, bevor es in Gestalt einer nützlichen Ware wiederkommt.
Damit nun die Kreise der doppelten oder vielmehr vielfach gestaffelten Fremdversorgungen in Gang kommen und sich wieder zur indirekten Selbst- versorgung schließen können: damit also der Vorgang vom Produzenten über den Verkauf und Kauf zu ihm selbst als dem Konsumenten zurückführen kann, bedarf es des Geldes. Sonst bleibt er mit seinen Produkten von sich selbst als Konsumenten geschieden. Diese elementare Scheidung und Trennung durch Aufspaltung des Tausches in geldvermittelten Verkauf und Kauf hat Marx gesehen, - und die Gefahren, die genau damit verbunden sind: "Die Trennung von Verkauf und Kauf macht mit dem eigentlichen Handel eine Masse Scheintransaktionen vor dem definitiven Austausch zwischen Warenproduzenten und Warenkonsumenten möglich." Nämlich Geldbeschaf- fung, Kreditgewährung, Zinsen; und Marx fährt fort: Sie - also die Tren- nung von Verkauf und Kauf unter Einschaltung von Geld - "befähigt so eine Masse Parasiten, sich in den Produktionsprozeß einzudrängen und die Schei- dung auszubeuten." (Marx 1859, S. 79) Die Parasiten drängen sich dann freilich gar nicht in den Produktionsprozeß ein, sondern in den durch das Geld veränderten Austauschprozeß. Und die "Scheidung" betrifft alle Tauschpartner in ihren neuen Rollen als Verkäufer und Käufer, nicht nur Eigentümer (an Produktionsmitteln) und Arbeiter (als Verkäufer ihrer Arbeitskraft). Weil dieser Unterschied nicht scharf gesehen wird, bleibt die Konsequenz undeutlich: "Dies heißt aber wiederum nur, daß mit dem Geld als der allgemeinen Form der bürgerlichen Arbeit die Mög- lichkeit der Entwicklung ihrer Widersprüche gegeben ist." (S. 79) - Warum nur "Möglichkeit"? - Und warum Geld als Form nur der "bürgerlichen Arbeit"? - Drängt sich das Geld doch überall dazwischen, wo unter Ver- wendung von Geld gehandelt, getauscht, gewirtschaftet wird.
III. Nicht "Das Kapital", sondern "Das Geld"
Marx hat viele Erkenntnisse und Beobachtungen mitgeteilt, die eine genaue Antwort auf die soeben gestellte Frage ermöglichen. Sie sollen im folgenden zusammengestellt und konsistent miteinander verbunden werden. Es versteht sich, daß ich dabei zunächst möglichst systemintern vorgehe, also in der Sprache und Denkweise, die Marx selbst verwendet hat, auch wenn sie in mancherlei Hinsicht heute nicht mehr aktuell erscheint.
Es wird sich zeigen: Geld ist zwar einerseits ein Äquivalent der Ware, andererseits aber als "schlagfertiges" ökonomisches Machtmittel in privater Hand den Waren im Verkehr signifikant überlegen. Geld ist also im Hinblick auf den Wirtschaftsverkehr auch ein Nicht-Äquivalent der Ware. Geld ist eine Art bequemer ökonomischer Sprache, mit deren Hilfe sich andere Güter leichter bewegen lassen. Am Ende kann man die Güter kaum noch anders bewegen als mit Hilfe des Geldes. Fehlt Geld, so kommen Ver- käufer und Käufer, Produzenten und Konsumenten nicht mehr ins ökonomi- sche Gespräch miteinander. Sie bleiben voneinander geschieden, weil ihnen die Kommunikationsbedingung "Geld" fehlt. Fehlt den Partnern in der Wirt- schaft das Geld, so ist das, als fehlte zwei klugen und gesprächigen Philoso- phen die Sprache. Wer den beiden ihre Sprache wiedergeben kann, vermag ihren Gesprächsbedarf auszubeuten. Und wer Geld bietet, der kann dann den Zins als den Preis verlangen, den die Produzenten und Konsumenten dafür zu zahlen bereit sind, daß sie wieder miteinander ins Geschäft kommen. Daraus resultiert eine fundamentale Polarisation zwischen Geldgebern auf der einen Seite und Produzenten und Konsumenten auf der anderen Seite. Diese Polarisation ist der pauschaleren marxistischen Polarisation zwischen Eignern von "Kapital" hier und von "Arbeit" dort zwar sehr verwandt und ähnlich, weicht aber zugleich auch davon ab, und zwar in analytisch und praktisch sehr ergiebiger Weise. Die elementare Polarisation zwischen Geldgebern hier und Produzenten und Konsumenten dort ist umfassender. Sie differenziert zugleich schärfer: Sie begreift die Arbeiter in ihrer anderen Gestalt als Konsumenten mit ein. Sie erfaßt außerdem mit dem Begriff "Produzenten" nicht nur die Arbeiter im herkömmlichen Sinne, sondern auch z.B. vermögenslose Unternehmer, die unternehmerische "Arbeit" leisten wollen, daran aber gehindert bleiben, weil die Produktionsmittel in anderer Hand sind und ihnen das Geld fehlt, sich Produktionsmittel zu kaufen. Wer Eigner von solcher eigenen unternehmerischen Arbeitskraft ist, der ist vom Kapitalisten zunächst einmal nicht weniger abhängig als andere Arbeiter. So klärt sich schon hier etwas von jener Paradoxie, daß der "industrielle Kapitalist" einerseits am Gängelbande des Geldgebers hängt und daher als dessen verlängerter Arm erscheint, andererseits aber selbst unternehmerische Arbeit leistet und insofern den Arbeitern ähnlicher ist als den Geldkapitali- sten.
Die Elementarpolarisation zwischen Geld auf der einen Seite und Produ- zenten und Konsumenten auf der anderen Seite erlaubt es auch, die These scharf und direkt zu formulieren, zu der einige Beobachtungen von Marx selbst meiner Einschätzung nach hinführen: Wer am Geldhebel sitzt, kann nicht nur die Arbeiter, sondern auch alle übrigen Produzenten und alle Kon- sumenten ausbeuten! Er kann sich insbesondere Unternehmer kaufen, die für ihn den "fungierenden", den "industriellen Kapitalisten" spielen. Er ist näm- lich Herr über das allgemeine gesellschaftliche Transaktionsmedium "Geld". Ohne Geld können die anderen weder ihre Bedürfnisse als aktuelle Nach- frage geltend machen, noch können sie ihre Produktion vorfinanzieren, noch können sie ihre Produkte austauschen und bezahlen. Wer über die Kompetenzen aus dem Geld verfügt, der ist nicht nur Herr der Produktionsmittel. Er ist sogar Herr des gesamten monetären Zirkula- tionssystems. Und wer die Bedingungen der Zirkulation in der Hand hat, der hat die Produktionsmittel allemal in der Hand: Nichts bewegt sich, ohne daß er seine Mehrwertbedingungen, ohne daß er seine Mitspracherechte durch- setzt. Friedrich Engels hat das im Anti-Dühring sehr knapp aber anschaulich beschrieben:
"Die Wucherer verwandeln sich in Händler mit dem Zirkulationsmittel, in Bankiers, in Beherrscher des Zirkulationsmittels und des Weltgeldes, damit in Beherrscher der Produktion und damit in Beherrscher der Produktions- mittel, mögen diese auch noch jahrelang dem Namen nach als Eigentum der Wirtschafts- und Handelskommune figurieren." (Engels 1894, S. 284)
So zeigt Engels ungewollt zugleich recht gut, wie allen Genossenschaften, die wirtschaftlich tätig sind, eine Art kapitalistischer Unterwanderung und Um- strukturierung ins Haus steht, solange nicht die monetären Umweltbedingun- gen verändert sind. Das kapitalistische System ist mithin noch radikaler und noch umfassender, als es nach der Marxschen Analyse "nur" der Eigentumsverhältnisse scheint. Und "Das Kapital" müßte eigentlich den Titel tragen "Das Geld". Auch in der neueren volkswirtschaftlichen Theorie zeichnet sich eine Argumentationsrichtung ab, die die Präponderanz des Geldes über das Sach- kapital auf die eine oder andere Weise herausstellt. Gunnar Heinsohn und Otto Steiger ( 1981 ) haben die Diskussion eingeleitet mit dem Geld als Ausdruck der Schuldner-Gläubiger-Beziehung zwischen Vorschußgeber und Unterneh- mer. Hajo Riese (1983, 1985, 1986) hat eine tiefgreifende Theorie der Geld- wirtschaft mit einer Dominanz oder Hierarchie des Geldvermögensmarktes über die Gütermärkte entwickelt: auf keynesscher, liquiditätstheoretischer Grundlage, aber auch mit dem Gläubiger-Schuldner-Ansatz wird die Profit- rate zur Funktion des Geldzinssatzes und die Profittheorie eine Ableitung aus der Geldtheorie. Auf der gleichen Linie liegen Marx-Deutungen, die jüngst Heinz-Peter Spahn (1986, S. 112ff.) vorgestellt hat: Der klassische Unternehmer, weit davon entfernt, Antreiber der wirtschaftlichen Entwicklung zu sein, sei selbst durch die Macht angetrieben, die das Geld über ihn habe, und zwar gerade deshalb, weil er es nicht habe. Wo Marx sich bemühe, den Unternehmer in der entscheidenden kapitalistischen Rolle zu zeigen, erscheine dieser gerade nicht auf der überlegenen Marktseite, sondern unter der Last seiner Ver- pflichtungen gegenüber dem Geldkapital. Ungewollt demonstriere Marx die starke Stellung des Geldkapitals. Spahn macht deutlich, daß der Zwang zur Kapitalverwertung die Folge eines Liquiditätsproblems ist:
"Der Unternehmer ist an die Kreditbereitschaft eines Vermögensbesitzers gebunden und hat die Schuld in einem Medium zu refundieren, das er selbst nicht schaffen kann. Die gegenüber dem Kreditgeber eingegangene Verpflichtung in Geld zwingt den Unternehmer dazu, eine Warenproduk- tion i.S. der marxschen Formel G-W-G' zu betreiben. (...) Die Attitüde, Wirtschaftsvorgänge in 'realen' Terms zu beschreiben, verdeckt die Li- quiditätproblematik." (S. 113)
Auch Keynes habe die marxsche Formel G-W-G' benutzt, um den geld- wirtschaftlichen Verwertungsakt der Produktion zu betonen; das Geld, nicht die Ware, stehe an den logischen Anfangs- und Endpunkten dieses Prozesses. (S. 138) Ähnlich ist auch für Hansjörg Herr (1986, S. 127, 112) die marxsche Geldanalyse "zwiespältig". Er hält es für erforderlich, Marx zu ergänzen, ja ihm zu widersprechen: Die Produktion sei in ihrer Grundstruktur von Kredit- verhältnissen eingerahmt, mit einem Vorschuß des Gläubigers, während Marx den Kredit nur als etwas den Wertgesetzen gegenüber Abgeleitetes habe auf fassen können. Im Anschluß an Hajo Riese (1983, S. 107) wird das spezifi- sche Charakteristikum einer Geldwirtschaft in den Verhältnissen zwischen Gläubiger und Schuldner von Geldforderungen gesehen. Eine gewisse monetäre Rehabilitierung hat Marx schließlich auch insofern erfahren, als seine Geldtheorie gegen systemtheoretische Verdünnung und Verharmlosung des Geldes ins Feld geführt worden ist (Ganßmann 1986, S. 17 -18). Diese Argumentation richtet sich gegen Niklas Luhmann (1983 und 1984) und Talcot Parsons (1967): Eine bloße Medientheorie des Geldes könne die Struktur des Schichtungs- und Ausbeutungssystems nicht wirklich erhellen. Doch was Heiner Ganßmann als marxsche Stärke ansieht, daß nämlich das Geld nicht nur als Sache und Ware, sondern von der Arbeit her verstanden werde, das lenkt den Blick eher ab von den wirklichen macht- begründenden Funktionen des Geldes, wie auch schon Marx sie herausgear- beitet hat. Entscheidend nämlich ist, daß mit dem Geld das gesellschaftlich-wirt- schaftliche Transaktionsbedürfnis der Menschen ausgenutzt und ausgebeutet werden kann, und dabei spielt das Geld als Kommunikationsmedium in der Tat die wesentliche Rolle. Und wenn Marx (1857/8, S. 80) damit zitiert wird, es sei falsch, das Geld mit der Sprache zu vergleichen, wird das sprach- lich-symbolische Moment von Macht unterschätzt, welches die ideologische Verselbständigung und Verhüllung des Machtgeschehens weitgehend überhaupt erst ermöglicht. Treffend freilich erscheint dann Marx als Zeuge für eben diese subtilen und je unterschiedlichen, sprachlich-symbolischen Verschlüsse- lungen der Macht:
"Was jedes einzelne Individuum im Geld besitzt, ist die allgemeine Tauschfähigkeit, wodurch es seinen Anteil an den gesellschaftlichen Pro- dukten für sich nach Belieben auf seine Faust bestimmt. Jedes Individuum besitzt die gesellschaftliche Macht in seiner Tasche unter der Form einer Sache. Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht, und ihr müßt diese Macht unmittelbar der Person über die Person geben. (...) Die Bande müssen als politische, religiöse etc. organisiert sein, solange die Geld- macht nicht der nexus rerum hominem ist." (Marx 1857/8, S. 986f.; Ganßmann 1986, S. 19)
Aber die Macht des Geldes, von der Marx hier spricht, kommt dem Geld als verselbständigtem symbolischem Kommunikationsmittel zu, dessen Geltung, Akzeptanz und praktische Wirksamkeit davon abhängt, daß es als verbindliche Information über Anwartschaften aus Leistungsbeiträgen anerkannt wird. Und das wird erst richtig sichtbar, wenn man das Geld mit der Sprache vergleicht: etwa mit dem Tenor eines Todesurteils, das gefällt worden ist und vollstreckt wird. Richtig ist freilich: Die bisherige systemtheoretisch-autopoietische Deutung des Geldes von Luhmann nimmt vor lauter Entdeckerfreude angesichts re- flexiver Zyklen an konkreten, sich selbst erzeugenden und erhaltenden Ge- bilden fast jeden Kreis auch schon gleich für eine angemessene und autopo- ietisch taugliche Selbstreferenz und Selbst-Parallelisierung. Man darf jedoch nicht schon jede reflexive Rekursivität für eine adäquate Ausbildung von Selbstbegegnung halten. Die Schleifen, zu denen es bei solchen Zyklen und Hyperzyklen der Selbst-Parallelisierung unausweichlich kommt, sind nämlich höchst anfällig für positive Rückkopplungserscheinungen, die der Inzucht gleichen oder zum Auseinanderdriften führen statt zur tauglichen autopoietischen Selbstbegegnung im Anderen. Und genau solche Rückkopplungsschleifen, über die das mone- täre System im Verhältnis zu der Wirklichkeit, die es parallelisiert, mehr und mehr abhebt und durchdreht, sind beim herkömmlichen Geld mit seinem Zins und Zinseszins im Spiel. Die Sachkapitalertragströme folgen diesem patholo- gischen Standard der Selbstentfremdung. Wo man also schönste Parallelisierung der Wirtschaft durch das Geld und des Geldes durch das Geld, das für Geld gezahlt wird, sehen kann, dort vollbringt das System viel eher gerade seine Selbstzerstörung. Die Schwin- delanfälle in seinem monetären Wasserkopf zeigen die Krise an. Die "mit- laufende Selbstreferenz" (Luhmann 1983, S. 154) dreht durch und dreht sich in sich selbst in absurdeste Fehlabbildungen hinein. Wie dem auch sei: Die Relevanz des Geldes bleibt in allen Fällen unbe- stritten. In jedem Falle also gilt es zu klären, inwiefern denn für Marx das Geld zugleich zum einen nur Äquivalent der Ware und zum anderen doch auch sehr viel mehr sein kann.