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Inhaltsverzeichnis: „Geld ohne Mehrwert“

 


 

 

 

 

3. Kapitel

 

Wert, Preis und Tauschgerechtigkeit

 

 

Inzwischen wären wir also dem Mehrwert schon bis hin zu der praktischen Frage, wie man ihn abschaffen kann, auf die Spur gekommen. Doch was ein „gerechter Tausch", was das „Äquivalent“ in Tauschverträgen „wirklich ist", dazu wurde noch fast nichts gesagt. Das erübrigte sich, weil die Strategie, die den Überlegungen Gesells zugrundeliegt und der wir uns angeschlossen haben, nicht eigentlich positiv ist (Verwirklichung der Gerechtigkeit), sondern negativ (Verringerung von Ungerechtigkeit). Das ist eine Strategie, die Karl Raimund Popper für Verbesserungen in der menschlichen Gesellschaft ohnehin empfiehlt. Sie hat sich hier insofern bewährt, als eine Erscheinung im Wirtschaftsleben identifiziert werden konnte, die jemandem Vorteile verschafft, für die er keinerlei Leistung einzusetzen braucht. Der „Mehrwert" hat  sich als Negativposten in der Marktwirtschaft erwiesen und eine Strategie konnte angegeben werden, wie man ihn beseitigen kann. Durch Beseitigung des Mehrwertes würden die Tauschbedingungen durchaus nicht schon in jedem Falle gerecht, aber die innerhalb der Volkswirtschaft abgeschlossenen Tauschverträge würden im großen Umfang gerechter. Auch Silvio Gesell schließt den Kreis seiner Überlegungen mit dem Gedanken an die Gerechtigkeit ab: „Käufer und Verkäufer sind nun gleich schlecht gerüstet; beide sind gleichmäßig, unmittelbar, dringend am Zustandekommen des Handels beteiligt. Brauchen wir da noch zu erwähnen, daß darum auch die Tauschbedingungen  gerecht sein werden? (56)"

 Um der Frage nach der Tauschgerechtigkeit in Geschäften unter Verwendung von Geld jetzt auf den Grund zu gehen, muß die Geschichte von Max und Moritz mit ihrer Safari durch die Wüste wieder in Erinnerung gerufen und müssen Ansätze zu Hilfe genommen werden, die ich bei Wolfgang Stützel" (57) gefunden habe: Schließen zwei Wirtschaftssubjekte einen Vertrag, etwa über den Kauf eines Fahrzeuges, so ist dem Käufer offenbar das Auto wichtiger („mehr wert") als der Betrag, den er dafür bezahlt. Sonst tauschte er sein Geld nicht gegen das Auto. Und dem Verkäufer ist offenbar der bezahlte Geldbetrag wichtiger („mehr wert") als das Fahrzeug. Sonst tauschte er sein Auto nicht gegen das Geld. Gleich ist für beide der Preis, der in Form des Kaufpreises von Hand zu Hand geht.

Der Unterschied zwischen dem Preis und dem „Wert der Kaufsache für den Käufer" ist die „Käuferrente". Der Unterschied zwischen dem Preis und dem „Wert der Kaufsache für den Verkäufer" ist die Verkäuferrente. Um ihretwillen wird der Vertrag von beiden Vertragspartnern geschlossen. Dabei kann der Vertrag und die Leistung für den einen lebenswichtig sein und für den anderen ein weiteres, verhältnismäßig unwichtiges Geschäft. Der eine kann dabei unter Druck stehen, während der andere mit ihm spielt. Einigen sie sich, so hat jeder am Ende doch nur zugestimmt, weil er das Herzugebende insgesamt im Moment geringer schätzt als das, was er erhält. Jeder gewinnt etwas hinzu. Steht der eine Partner unter Druck, weil er z. B. existenziell wichtige Güter eintauschen muß (Kontrahierungsdruck), dann kann der andere Partner das ausnutzen und die Vertragssituation ausreizen: bis zu der Grenze, wo der Käufer entweder trotz seiner Bedürfnisse den geforderten Geldbetrag höher wertzuschätzen beginnt als die begehrte Ware, oder wo der Käufer aufhören muß zu verhandeln, weil er den Preis wegen des Mangels an Geld schlicht nicht mehr bezahlen kann.

„So entscheiden die Differenzen zwischen Werten und Preisen in weiten Bereichen des sozialen Lebens darüber, inwieweit einzelne Personen von anderen konkreten einzelnen Personen wirtschaftlich abhängig sind. Diese Differenzen, abschätzbar als Geldbeträge, das jeweilige ,konkrete Vertragsinteresse`, messen den Grad des Angewiesenseins. (58)" Inwieweit eine Person „konkret" gerade auf eine bestimmte andere Person angewiesen ist, bemißt sich dabei danach, wieviel sie mehr aufwenden müßte, wenn sie nicht mit dieser Person, sondern mit einer anderen abschließen würde, die als nächstgünstigster Anbieter am Markt auftritt: „konkretes Vertragsinteresse". Doch auch bei Abschluß des günstigsten Geschäftes, das der Markt bietet, kann der eine unter Kontrahierungsdruck stehen, während der andere sehr viel freier ist, seinerseits die günstigste Alternative zu suchen oder zunächst ganz vom Geschäft abzusehen. Mit dem „konkreten" Vertragsinteresse läßt sich mithin nur der relative Unterschied der Abhängigkeit von verschiedenen konkreten Partnern abschätzen, nicht aber auch messen, ob und inwiefern der eine unter allgemein stärkerem Kontrahierungsdruck gestanden hat und infolgedessen dem anderen eine besonders hohe Verkäuferrente hat zugestehen müssen. Wie aber kann man nun feststellen, ob und unter welchen Bedingungen ein Tausch „gerecht", also ausgeglichen war?

Wo die Antwort gesucht werden muß, liegt nach der Definition von Käufer‑ und Verkäuferrente auf der Hand: ein Kauf oder Tausch ist offenbar im idealtypischen Falle ausgeglichen und gerecht, wenn die „Tauschrente" des einen Tauschpartners gleich der „Tauschrente" des anderen Tauschpartners ist. Dabei werden die Begriffe der „Käufer‑" und „Verkäuferrente" entsprechend verallgemeinert und als die Differenz verstanden, die zwischen dem „Wert des Weggegebenen" und dem „Wert des Erhaltenen" auf jeder Seite der Tauschbeziehung ermittelt werden kann.

So einfach allem Anschein nach der Ansatz auch ist, so schwierig wird die Angelegenheit, wenn man ihr auf den Grund geht. Das zeigt sich schon, wenn man versucht, beim einfachsten Autokauf die Tauschrenten abzuschätzen, um sie miteinander zu vergleichen.

Denn schon beim Preis, der für beide Partner gleich hoch ist, wird die Sache sehr viel komplizierter, als es die Überlegungen zur bloßen Käufer‑ und Verkäuferrente haben ahnen lassen. Denn bei jenen Überlegungen wurde der Preis einfach als eine Größe behandelt und benutzt, die für beide Partner nicht nur nominell gleich ist, sondern auch für beide den gleichen „Wert" bedeutet. Diese Vereinfachung steckt schon in den Definitionen:

 

Käuferrente = Wert des Fahrzeuges für den Käufer abzüglich Preis

Verkäuferrente = Preis abzüglich Wert des Fahrzeuges für den Verkäufer

 

Beim „Preis" werden Käufer und Verkäufer über den gleichen Kamm geschoren. Sie werden so behandelt, als ob der „Preis" in Form des Geldes den gleichen Wert habe sowohl „für den Käufer" als auch „für den Verkäufer". Diese Annahme ist falsch. Sie ist zumindest eine sehr, sehr grobe Vereinfachung, derer man sich bewußt sein muß, wenn man nachdenkt über Preis, Wert und Tauschgerechtigkeit. So falsch oder grob die Annahme freilich ist, ‑ auf ihr beruht der gesamte monetäre Teil des Marktmechanismus. Umso wichtiger ist es, sie im Rahmen der theoretischen Analyse zu „hinterfragen“. (59)

Der Wert von 1.000 DM „für den einen" ist so gut wie nie gleich dem Wert von 1.000 DM „für den anderen". Der eine arbeitet dafür womöglich eine Woche lang von 6 Uhr in der Früh bis 2 Uhr Mittags, hat sonst kein Einkommen und ernährt davon seine Frau sowie 3 Kinder; der andere bekommt den Betrag für eine schwierige, gut ausgeführte Operation in der Klinik; der dritte merkt gar nicht, daß ein Posten Wertpapiere, den er unter vielen anderen Posten besitzt, in diesem Jahr 1.000 DM mehr an Ertrag eingebracht hat als im Vorjahr. Am Markt aber, wo das Geld den Vermittler spielt, wird auf alles das keine Rücksicht genommen. Das Geld, der generalisierte Tauschmittler, nivelliert und schematisiert nicht nur alle Waren und Dienstleistungen und macht sie dadurch „vergleichbar", sondern ebensosehr alle Nachfrager und Anbieter, also die Wirtschaftssubjekte. Diese Nivellierung und Schematisierung ist unerbittlich, hart und rücksichtslos. Sie ist der Preis für die extreme Vereinfachung des Tauschverkehrs, die das Geld mit sich bringt.

Fragt man aber nach der Tauschgerechtigkeit, dann muß wieder durchscheinen, was das schematisierende Geld zunächst verdeckt. Man muß nicht nur nach dem „Wert" fragen, den der Kaufgegenstand jeweils „für den Käufer" und „für den Verkäufer" hat, sondern auch (und in bestimmten Zusammenhängen erst recht) nach dem „Wert", den der „Kaufpreisbetrag für den Käufer" und „für den Verkäufer" hat.

Wie aber soll man diese Größen auch nur annähernd abschätzen? Wie soll man bemessen, welchen Wert ein Geldbetrag für den einen und welchen er für den anderen hat? In welcher Maßeinheit?

Über diese Probleme zerbrechen sich die Entscheidungswissenschaftler und Werttheoretiker den Kopf. Sie sind jedenfalls so weit gekommen, daß man bei der Antwort auf die einschlägigen Fragen sehr viele Faktoren berücksichtigen muß, deren Gewichtung zusätzlich fast unüberwindliche Probleme mit sich bringt. Dadurch wird die Frage nach der Tauschgerechtigkeit am einfachsten Kaufvertrag praktisch fast unlösbar. Wie viel unlösbarer erscheint dann erst das Problem der Tauschgerechtigkeit, wenn man es allgemein betrachtet oder im Zusammenhang mit den Funktionen und Wirkungen des Geldes aufwirft? ! Dieser Weg führt in bodenlose Abgründe von persönlichen Entscheidungsfeldern und subjektiven Wertschätzungen. Bleibt also keine Hoffnung auf Klärung, keine Aussicht auf brauchbare Urteile?

Konkrete persönliche Entscheidungsfelder und subjektive Wertschätzungen sind kaum kalkulierbar. Es lassen sich jedoch typische Vertragssituationen mit typischen Entscheidungsfragen und typischen Wertschätzungen beschreiben, wie sie im wirtschaftlichen Alltag durchaus vorkommen.

Schaut man z. B. einmal auf Geldeinkommen überhaupt, so lassen sie sich einteilen in solche, denen persönlicher Einsatz an Leistung, Risiko oder Weggabe von Waren zugrundeliegt, und in andere, hinter denen keine solche Leistung steht. Diese wiederum kann man unterteilen in Glücksfälle (Losgewinn) und solche, die in der Struktur der Markt‑, Wirtschafts‑ und Geldordnung begründet sind. Zu den geldordnungsbedingten Einkommen, hinter denen keinerlei subjektive Leistung steht, gehören die Einkünfte aus Geldkapitalien. Schaut man jetzt auf das Geld, das aus diesen unterschiedlichen Quellen stammt, so wird man typischerweise feststellen können: Wer sein Geld durch eigene Leistung „im Schweiße seines Angesichts" erarbeitet hat, wird den Wert des Geldes anders einschätzen als jemand, der es nur typischerweise dafür erhält, daß er den Vorteil des von der Volkswirtschaft zur Verfügung gestellten Geldes sich privat honorieren lassen kann.

So lange hinter dem Geld, das jemand in der Hand hat, am Markt gewertete persönliche Leistung steht, kann man als den gemeinsamen subjektiven Hintergrund für die Wertschätzung des Geldes den Aufwand ansehen, den jeder einzelne treiben muß, um eine am Markt als nützlich gewertete Leistung zustande zu bringen. Dieser Maßstab mag zwar grob sein, ist aber besser als gar keiner. Gemessen an diesem Maßstab aber fallen die „leistungslosen Einkommen" vollkommen aus dem Rahmen. Sie sind nicht mehr stetig mit den übrigen Einkommen vergleichbar. Leistungslose Einkommen aus Glück und Zufall sind erträglich und sorgen für Abwechslung; anders jedoch ist es bei „leistungslosen Einkommen", hinter denen nichts anderes steckt als die Struktur der Geldordnung.

Hinzu kommt folgende Überlegung: Der Vermögende verfügt typischerweise über Vermögensgegenstände, die für seine Lebensführung relativ unwichtig sind; sie haben für ihn nur „marginale" Bedeutung und er kann sie ohne große Schmerzen verkaufen und „liquide" machen (und zwar, um das Geld sofort wieder anzulegen, also in einen nicht liquiden Gegenstand seines Vermögens zurückzuverwandeln). Der Unvermögende jedoch muß „im Schweiße seines Angesichts" arbeiten für den Lebensunterhalt. Er steht unter Kontrahierungsdruck. Das liefert ihn der „Ausbeutung" durch den aus, der eine größere Tauschrente aushandeln kann. Diese Situation hatten die Sozialreformer und Revolutionäre vor Augen, wenn sie sich anschickten, die Welt zu verändern und zu verbessern, und sie haben sie insofern im wesentlichen zutreffend gedeutet. Ob man mit Geld tauscht oder ohne Geld: Der Vermögende hat den längeren Atem und verhandelt aus stärkerer Lage heraus. Obendrein kommen ihm die Vorteile der Liquidität zugute, die seine Position noch verstärken. Nur die Mindestbedingungen, unter denen sich die Armen reproduzieren können, die mußte man ihnen zugestehen, bis sie sich mit Hilfe von Gewerkschaften mehr erstreiten konnten. Bis dahin konnte der Geldkapitalist, wegen seines längeren Hebels, alles, was darüberhinaus an Werten geschaffen wurde, als „Mehrwert" auf sich abzweigen. Insoweit hatte Marx im wesentlichen recht.

Das Geld verschärft den ohnehin vorhandenen Vorteil des Vermögenden vor dem Unvermögenden am Markt, weil der Reiche durch „Liquidierung" entbehrlicher (marginaler) Güter sich das Tauschmittel „Geld" bequem verschaffen kann, das auch die Unvermögenden, die es sich mühevoll verdienen müssen, als Tauschmittel brauchen, wenn sie sich am Markt mit dem Lebensnotwendigen versorgen wollen. Will man nun die Auswirkungen des Geldes auf die Tauschgerechtigkeit in Reinform erkennen, also ohne Verfälschung durch Unterschiede im Vermögen, so muß man von Partnern ausgehen, die, was Reichtum und Vermögen betrifft, einander ebenbürtig sind, und die sich nur darin unterscheiden, daß der eine sein Vermögen in Form liquider Mittel hat, während der andere es in Gegenständen „ruhen" hat, die nicht liquide sind. Nur wenn zu Zwecken der theoretischen Überlegung Vermögensgleichheit hergestellt wird, wird die Ungleichheit als solche evident, die das Geld in die Situation hineinbringt. Da die Vermögen in Wirklichkeit unterschiedlich sind, empfiehlt es sich wieder, eine Geschichte zu erzählen, die das anschaulich macht, worum es geht.

 

Nachdem Max und Moritz von ihrer Safari zurückgekehrt und Max auch von seinem Fieber genesen war, erhielten sie beide Post. Ein Verehrer des großen Wilhelm Busch war gestorben, und zwar nicht ohne ein Testament zu hinterlassen, in welchem er verfügt hatte: „Mein Vermögen gehe an meine gesetzlichen Erben. Für meine besonders geschätzten Freunde Max und Moritz jedoch ordne ich folgende Vermächtnisse an: Moritz erhält die von mir gesammelten Originalmöbel aus dem Hause Busch und die von mir zusammengetragenen Originalmanuskripte, Zeichnungen und Skizzen von Wilhelm Busch. Max erhält den Betrag in barem Gelde ausgezahlt, der dem Wert entspricht, den Möbel, Manuskripte, Zeichnungen und Skizzen zu dem Zeitpunkt haben, in dem die beiden ihr Vermächtnis gleichzeitig ausgehändigt und übertragen erhalten." Da Max und Moritz vorher arm waren wie Kirchenmäuse, weil ihre Safari sie alles gekostet hatte, was sie besaßen, waren sie nun gleich vermögend. Jeder hatte außerdem seine Arbeit, die ihm gerade das Notwendige einbrachte.

Und wieder wollte es die wissenschaftliche Vorsehung, daß in der Nähe gerade zwei Grundstücke angeboten wurden von gleicher Größe und Güte, auf denen Max und Moritz ihren Traum verwirklichen konnten, Haus an Haus zu bauen und zu wohnen. Haus und Grundstück, so rechneten sie durch, würden für jeden von ihnen auf etwa die Hälfte dessen kommen, was jeder von ihnen jetzt Dank der Vermächtnisse an Vermögen besaß. Max kaufte daher sogleich eines der Grundstücke und bot Moritz an, ihm den anderen Teil seines Barvermögens zu borgen. Da er wisse, daß Moritz sich nichts schenken lassen wolle, sei er leider auch gehalten, von ihm den Zins zu fordern, den er, Max, sonst anderweit für die Verleihung seines Geldes bekommen würde. Auch Moritz sah ein, daß man ‑ Zins und Mehrwert hin, Zins und Mehrwert her ‑ nicht im Einzelfall und zu Lasten ausgerechnet eines Freundes so handeln könne, als sei die Welt des Geldes anders als sie ist. Also ließ er, wie es sich gehört, auf dem anderen Grundstück, das er mit einem Teil des geborgten Geldes erwarb, zugunsten von Max eine Hypothek zur Sicherung des Darlehens eintragen, baute wie Max sein Haus und zahlte monatlich seinen Zins an Max. Obwohl die 100%ige Belastung des Grundstücks von Moritz nur eine knappe Sicherheit bot, war Max zufrieden; an eine Risikoprämie haben die beiden nicht gedacht.

Nach einigen Monaten aber fingen sie an, über die Veränderungen nachzudenken, die sich in ihrem Vermögensbestande abzuzeichnen begannen: Moritz nämlich hätte die ersten Originalzeichnungen verkaufen müssen, um seine Zinsen an Max zu zahlen. Da man jedoch unter Freunden war und Busch‑Originale nicht Dritten überlassen wollte, übertrug er sie unter Verrechnung ihres Marktwertes auf Max. So war vorauszusehen, wann Max alle Originalmöbel, Manuskripte, Zeichnungen und Skizzen besitzen würde. Diese Aussicht kam beiden eigenartig vor, vor allem, wenn sie noch weiterdachten und voraussahen, daß Moritz nicht einmal auf sein Grundstück würde zurückgreifen können, weil dessen Wert in Form der Hypothek dem Max ja schon für die Zeit übertragen worden war, während derer Moritz das Darlehen in Anspruch nahm. Dem Werte nach gehörte das Grundstück also ohnehin schon dem Max. Am Ende, das wurde ihnen eben bewußt, würde Max die Gegenstände besitzen, die Moritz vermacht worden waren, er würde sein Grundstück und sein Haus haben und er würde das Grundstück von Moritz samt dessen Haus besitzen, weil Moritz ihm zur Tilgung seiner Schuld sein Haus und Grundstück auch noch formal würde übertragen müssen. Am Ende würde Moritz bei Max zur Miete wohnen. Darüber kamen die beiden wieder auf Zins und Mehrwert ins Gespräch: ein Thema, das Max seit der Safari gemieden hatte, und auf das auch Moritz nicht zurückgekommen war, um Max nicht wieder in Alpträume zu stürzen.

Max, der inzwischen fast selbst ungewollt zum „Geldkapitalisten" geworden war, versuchte gar nicht mehr, die These von der „zinsschaffenden Kraft des Realkapitals" vorzutragen: Zu sehr hatte ihn die Praxis darüber belehrt, daß sein Freund Moritz aus den ererbten Realwerten nur dann hätte Profit schlagen können, wenn er mit ihnen gearbeitet, wenn er also selbst etwas geleistet hätte, etwa, indem er sie gegen Entgelt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte. Dazu jedoch hatte Moritz, der sich ja anderweitig durch seine Arbeit gerade das Notwendige verdiente, keine Arbeitskraft frei. Ihm, Max, jedoch war es anders ergangen. Zwar verdiente auch er sich anderweitig das Notwendige. Aber für ihn arbeitete ohne sein Zutun die „zinsschaffende Kraft" seines Geldes, und zwar mit dem Ergebnis, daß Max am Ende nicht nur Moritzens Realgüter besitzen, sondern Moritz ihm auch noch regelmäßig Miete zahlen würde. „Ein perfides Spiel," rutschte es Max heraus, „ein Spiel, das unsere Freundschaft zersetzen würde, wenn wir es nicht abbrechen." Also regelten sie ihre beiderseitige Lage in fairer, freundschaftlicher Weise, und Max, der sich durch Marx inzwischen genarrt vorkam, sann darüber nach, wie er ihre Erfahrungen verwerten und in möglichst verständlicher Form anderen würde vermitteln können. Max und Moritz, nun in Sachen Mehrwert auf der gleichen Spur oder wenigstens in der gleichen Richtung geistig unterwegs, kamen wieder nächtelang ins Gespräch. Wie sie aber den ganz besonderen Gebrauchswert des Geldes im Tauschverkehr so plastisch darstellen könnten, daß die daraus folgenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ebenso evident wären wie die Schwerkraft, wenn der Apfel fällt: Dazu fiel ihnen zunächst nichts ein. Wie sollte man die Erkenntnis, daß das Geld in der Zirkulation gerade nicht neutral wirkt, sondern ungleich, asymmetrisch und unfair, so darstellen, daß nicht nur Laien und Außenseiter, sondern sogar professionelle Ökonomen sie würden erkennen können?

An einem schönen Sonntagnachmittag, als die Sonne die Welt hell und klar bestrahlte und unsere beiden Freunde mit weiteren beim Kartenspiel saßen, schien Max auf einmal völlig abwesend, spielte wirr und war nicht einmal ansprechbar. Dann rief er plötzlich: „Heureka!" ‑ „Was?" riefen die anderen. „Ich hab's! Ich hab's: Das Geld ist der Joker unter den Waren. Das Geld ist der Joker!"

Daß ein anderer Mitspieler verwundert einwandte, man spiele doch gar nicht um Geld, hörte Max nicht; wohl aber Moritz, denn bei ihm fiel der Groschen sofort, und er war mit seinen Gedanken schon eine Stufe weiter: „Ja, sagte er, spielen wir doch um Geld! Nein: erfinden wir ein monetäres Kartenspiel! ‑ ein Kartenspiel, in dem viele Joker wie eine Art Geld verwendet werden. Es muß dem Marktspiel so ähnlich sein, daß wir damit in spielerischer Verfremdung die gar nicht spielerischen Eigenschaften des wirklichen monetären Marktspiels spielerisch durchschauen und spielerisch zu modifizieren und zu rekonstruieren lernen!" ‑ Bislang hat man noch nicht erfahren, ob ihnen der Entwurf ihres monetären Kartenspiels, in dem man die Abschaffung des Mehrwertes durchspielen könnte, gelungen ist.

 

Das Geld ist der allgemeine (generalisierte) Repräsentant aller Tauschobjekte. Als solcher ist es der Joker unter den Waren, Diensten und Risiken, die im Marktspiel gehandelt werden: So wie der Joker im Kartenspiel jede andere Karte aussticht, so paßt das Geld im Marktspiel beim Tausch zu jeder Ware, zu jedem Dienst, zu jedem Risiko. So wie im Kartenspiel der Joker in dieser Runde gezogen werden kann oder in der nächsten oder erst in der übernächsten, je nach Bedarf und Chance, so kann auch das Geld heute, morgen oder erst übermorgen die günstigste Chance am Markt wahrnehmen. So wie der Joker im Kartenspiel gegenüber diesem oder gegenüber jenem Spieler ausgespielt werden kann, so kann auch das Geld gegenüber diesem oder jenem Marktteilnehmer als Nachfrage auftreten. Und so wie schließlich im Kartenspiel eine bestimmte andere Karte, und sei sie noch so gut, gerade nicht in jeder Runde gleich gut ausgespielt werden kann, gerade nicht gegenüber jeder anderen Karte paßt und gerade nicht gegenüber jedem Mitspieler gleich schlagend gezogen werden kann, so paßt auch eine konkrete Ware, die bei mir auf Lager liegt, ein bestimmter Dienst, den ich erlernt habe, oder ein eigenartiges Risiko, das zu übernehmen ich bereit bin, gerade nicht in jede Marktsituation. Wie der Joker Dimensionen der Spielfreiheit eröffnet, so eröffnet das Geld sämtliche sachlichen, sozialen und ‑ vor allem ‑ zeitlichen Dimensionen des Marktspieles. Es eröffnet sie demjenigen, der „Kasse hält". So veranschaulicht der Joker den vielgerühmten Vorteil der Liquidität, den sonst schwerverständlichen Vorzug des Geldes gegenüber anderen Tauschobjekten, und er veranschaulicht ihn durch den Vergleich mit dem Kartenspiel so, daß es den Spieltheoretikern unter den Ökonomen wiederum ein Leichtes sein müßte, die monetäre Problematik nun auch spieltheoretisch exakt „durchzuspielen".

Fassen wir also den Marktvorteil des Geldes analog dem des Jokers auf. Nennen wir ihn daher den „Joker‑Vorteil" des Geldes. Dann ist die Prämie, die man für den zeitweiligen Verzicht auf den Jokervorteil erhält und die bislang durchaus zutreffend als Liquiditätsprämie bezeichnet wurde, die „Jokerprämie". Der Zins ist genau genommen freilich keine „Liquiditätsprämie", sondern eine „Liquiditätsverzichts‑Prämie". Also sollte man eigentlich auch nicht von der „Jokerprämie", sondern von der „Jokerverzichts‑Prämie" sprechen.

Wem verdanken wir den Jokervorteil des Geldes? Wer hat diesen wirtschaftlich wertvollen und wirtschaftlich mit Zins honorierten Vorteil geschaffen, so daß er auch verdient, den Gewinn einzustreichen, der daraus resultiert? Wer ist der Wertschöpfer des Gebrauchsvorteils, den das Geld bietet, sodaß er berechtigt ist, die Wertschöpfungsprämie einzustreichen? Wer ist legitimiert, den Mehrwert auf sein Konto zu buchen, den das Geld durch seine wirtschaftliche Nützlichkeit erzeugt? ‑Wir wissen, wo die Quelle des Mehrwertes liegt. Wir wissen auch, warum sie sprudelt. Wir fragen jetzt, wer daraus trinken soll und darf.

Ist der Jokervorteil des Geldes Verdienst irgend eines Kapitalisten? Nein, der Jokervorteil kommt von dem, der das Spiel so einrichtet, daß es den Geldjoker mit seinen nützlichen ökonomischen Freiheitsdimensionen überhaupt gibt. Es liegt, wenn man so will, im Wesen oder in der Natur des Marktspiels, wenn Geld darin als Tausch‑ und Zirkulationsmittel fungiert. Also ist die Volkswirtschaft, ist das Gemeinwesen, welches das Geld ermöglicht und das Geldwesen einrichtet, legitimer Empfänger der wirtschaftlichen Vorteile, die damit einhergehen. Der Mehrwert stammt nicht aus „produktiver Arbeit", sondern aus der Einrichtung des Mediums „Geld" zur Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs. Also gehört dieser Mehrwert nicht den „Werktätigen". Er gehört erst recht nicht den „Kapitalisten". Er gehört der Allgemeinheit; und die Allgemeinheit, das freilich sind wir alle, das sind auch die Werktätigen und die Geldbesitzer, aber nicht in ihren spezifischen Funktionen und Rollen, sondern als Mitglieder des Gemeinwesens, in dem sie leben. Ein Spiel, in dem die Reichen den Geldjoker spielen und die Jokerprämie kassieren dürfen, die anderen aber nur die einfachen Waren‑ und Dienstleistungskarten: ein solches Spiel ist extrem ungleich und unfair. Es prämiert den ohnehin vorhandenen Vorteil der Vermögenden und bestraft den ohnehin vorhandenen Nachteil der anderen. Es widerspricht den elementarsten Prinzipien von Fairneß und Gerechtigkeit. Der Fehler läßt sich jedoch nicht dadurch beheben, daß man das Vermögen umverteilt; denn der Jokervorteil bliebe erhalten. Der Fehler läßt sich auch nicht dadurch beseitigen, daß man den Joker abschafft oder vergeblich versucht, alle anderen Karten zu Jokern zu machen. Den Joker abzuschaffen, das hieße, das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Sache ist viel einfacher: Da das Marktspiel die wirtschaftlichen Vorteile des Marktspieles jemandem in die Hand spielt, der sie nicht verdient, muß man sie abschöpfen und demjenigen zufließen lassen, der am ehesten legitimiert ist, den wirtschaftlichen Gegenwert des Jokervorteils zu empfangen.

Es geht nach allem, wenn man es sehr genau nimmt, also nicht darum, dem Geld, wie Gesell meinte, seine Hortbarkeit zu nehmen und es dadurch den Waren gleichzumachen, sondern es geht darum, den Jokervorteil zu kompensieren. Diese Beschreibung des Konzeptes trägt den Differenzierungen Rechnung, die Keynes in die Diskussion um Liquidität, Zins und Durchhaltekosten eingebracht hat. Im Ergebnis freilich läuft das durchaus darauf hinaus, daß Geld aus wirtschaftlichen Gründen seine Hortbarkeit verliert; denn als „Wertspeicher" erweist sich dann das Geld im Vergleich mit dem transtemporalen Kaufkrafttausch als ein relativ kostspieliges Verfahren: so kostspielig für den, der es anwendet, wie es für die Volkswirtschaft dysfunktional ist. Das kostspielige Verfahren für die Bereithaltung von Kaufkraft durch die Zeit hindurch (Liquidität) ist funktional nur sinnvoll und sollte sich daher auch nur dann rentieren, wenn es genutzt wird, um kraft Liquidität „aus der Hüfte zu schießen", sei es, daß z. B. unerwartete Verbindlichkeiten getilgt werden müssen, sei es, daß z. B. auf günstige Geschäftsabschlüsse spekuliert wird.

Wenn der Jokervorteil liquider Geldmittel abgeschöpft wird, so wird damit noch keine einzige Deutsche Mark an ungleich verteiltem Vermögen zurückverteilt. Jeder behält, was er hat! Nur die Möglichkeit, die größeren unter den ungleichen Vermögen weiterhin ohne Hinzufügen eigner Leistung zu vergrößern oder davon ohne Hinzufügen eigener Leistung zu leben, ohne sie allmählich aufzuzehren: nur diese Möglichkeit, nach Maßgabe der Verteilung des Volksvermögens auch schon überproportional teilzuhaben am Volkswirtschaftsprodukt, würde geschmälert und im idealtypischen Modellfall beseitigt. Kein Tüchtiger wäre gehindert, sein kleines oder großes Vermögen durch den Ertrag von eigener Leistung zu vergrößern. Kein Vermögender wäre gehindert, seinen mehr oder weniger unverdienten Reichtum zu genießen und zu verzehren. Kein Fauler wäre gehindert, sieh mit dem Ertrag der wenigen Arbeit, zu der er sich aufraffen kann, zu ernähren und zu erhalten. Und selbstverständlich, müßte für Hilfsbedürftige ein soziales Netz vorhanden sein wie bisher.

Wenn der Jokervorteil liquider Mittel abgeschöpft wird, dann wird freilich der Tüchtige eine bessere Chance erhalten als bisher, sich die Mittel zu borgen, die er braucht, um alle seine Tüchtigkeit günstigst in volkswirtschaftliche Leistung umzusetzen. Der Vermögende steht zwar nach wie vor nicht unter dem gleichen Kontrahierungsdruck wie der Unvermögende, aber er muß etwas leisten, wenn er nicht von der Substanz leben und sein Vermögen allmählich dahinschwinden sehen will, so daß auch er mehr oder weniger stark unter Kontrahierungsdruck gerät. Er erfährt, wie es normalen Menschen ergeht. Er kommt ihnen näher, lernt sie besser verstehen. Der gemeinsame Maßstab in allen ihren Geschäften, die Geldeinheit, wird dann von ihm trotz aller Unterschiede etwas ähnlicher eingeschätzt. Oben hatte sich gezeigt, wie unterschiedlich ein und derselbe Geldbetrag von verschiedenen Personen je nach Entscheidungsfeld und subjektiver Wertschätzung als „wertvoll für den Betroffenen" eingeschätzt wird, vor allem, weil die einen wirklich etwas dafür leisten müssen, während er anderen womöglich dank der Geldordnung einfach zugespielt wird. Das wird anders, wenn jemand die Geldbeträge, die er ausgibt, entweder selbst durch Leistung verdienen muß oder doch, soweit er noch über Vermögen verfügt, aus der Substanz finanzieren muß. Dann schätzen zwar durchaus noch nicht alle den gleichen Geldbetrag subjektiv gleich wert, aber die Extreme nähern sich einander an. (60) Das Geld als gemeinsamer Maßstab in wechselseitigen Verkehrsgeschäften tritt in etwas gerechterer Weise in Funktion. Die Unterschiede, die dieser Maßstab fast brutal nivelliert, sind nicht mehr ganz so groß wie unter den Bedingungen einer Geldordnung, in der der liquide Geldbesitzer den Vorteil, den ihm die Geldordnung verschafft, in eine private Pfründe verwandeln kann. Und dieser „kleine" Fortschritt ist ein gewaltiger Fortschritt, ein Fortschritt in Gleichheit und Gerechtigkeit übrigens, der nirgends und in keiner Weise auf Kosten der Freiheit geht, der vielmehr die Freiheit ausschließlich erweitert und vergrößert. Wenn man allerdings Pfründen als Freiheiten definiert und ihre Beseitigung als Freiheitsentzug auffassen will, dann wird in der Tat bei der Abschaffung des Mehrwertes in solche „Pfründen‑Freiheiten" "eingegriffen". Aber Pfründen sind keine Freiheiten, sondern Vorrechte und Privilegien, die zu beseitigen die wirkliche Freiheit nicht beschränkt, sondern erweitert: So wie die Beseitigung von Brückenzöllen den Verkehr von Hindernissen befreit.

Wenn der ökonomische Vorteil aus der Liquidität des Geldes abgeschöpft wird, dann nähert sich der Kredit dem schlichten Tausch. Proudhons Forderung wird erfüllt: „Macht den Kredit zum Tausch!" Getauscht wird gegenwärtige Tauschkraft gegen zukünftige, und zukünftige gegen gegenwärtige. Wer heute nicht kaufen will, obwohl er liquide ist, muß jemanden finden, der's heute schon für ihn tut und morgen erst die gleiche Tauschmacht zurückgibt. Wer heute schon tauschen will oder muß, Mittel aber erst morgen erwartet, muß sich jemanden suchen, der heute schon Mittel hat, die er erst morgen braucht. Trifft die „Mehrwert‑Diagnose" im wesentlichen zu, die hier mit Hilfe anderer erarbeitet worden ist, dann müßten sich die Auswirkungen der monetären Asymmetrie geschichtlich in den Institutionen des Wirtschaftslebens niedergeschlagen haben und daran aufzeigen lassen. In den Formen, die sich z. B. für wirtschaftliche Unternehmen gebildet haben, sei es durch vertragliche Gestaltung, sei es durch gesetzliche Ausformung, müßte sich zweierlei niedergeschlagen und ausgedrückt haben, so daß man es jetzt daran ablesen kann:

Erstens müßten sich die Formen und Verfassungen der wirtschaftlichen Unternehmungen interpretieren lassen als vertragliche und gesetzliche, jedenfalls rechtliche Erscheinungsformen, Konkretisierungen und Versteinerungen des allgegenwärtigen Marktvorteils, den das Geldkapital dank der überlieferten Geldordnung fast immer hatte und noch hat. Die Marktvorteile des Geldkapitals müßten sich niedergeschlagen und ausgedrückt haben in Entscheidungsvorrechten in den Unternehmen und so als normativ versteinerte Denkmäler der Marktungleichheit Zeugnis ablegen für die Richtigkeit der Mehrwertanalyse.

Und als Entsprechung dazu müßten sich zweitens die Spuren der politischen, rechtlich‑normativen Versuche verfolgen lassen, die jeweils darauf zielten, den geldordnungsbedingten und insoweit scheinbar rein faktisch‑machtmäßig vorgegebenen Tauschvorteilen am Markt sowie den daraus resultierenden Entscheidungsvorrechten in den Institutionen gegenzusteuern, um Ausgeglichenheit und Gerechtigkeit wenigstens anzunähern durch mehr oder weniger komplizierte Behelfe, Ausgleichsvorschriften und Kompensationsmechanismen.

Drittens müßten sich auch radikalere Versuche, das Mehrwertproblem durch Revolution oder sonstige Umgestaltung der Produktionsverhältnisse zu lösen, sowie das Gelingen dieser radikalen Versuche oder ihr Scheitern lesen lassen als Abdrücke gigantischer Kämpfe um die Beseitigung eines Mangels, den die Kämpfer an der falschen Stelle geortet, also an der falschen Stelle und mit falschen Mitteln bekämpft haben.

Es ist zu erwarten, daß die meisten dieser Spuren als Zeugnisse dafür gedeutet werden können, daß die Kritik der monetären Welt, die hier versucht wurde, so falsch nicht ist. Der Teil des Buches, der mit diesem Kapitel schließt, trägt den Titel „Streit um den Mehrwert". Er soll nicht enden ohne eine klare, kurze, definitive und präzise, also auch gut angreifbare und kritisierbare Antwort auf die Streitfrage: eine genaue Antwort, an die später dann immer wieder angeknüpft werden kann. Um eine genaue Antwort auf die Mehrwertfrage zu formulieren, ist noch einmal zu bedenken: Geld hat zum einen eine Tauschkraft in Höhe seines Nennwertes. Diese Tauschkraft hat es in dem Augenblick, in dem es „angewendet" wird. Geld bietet jedoch darüber hinaus bis zum Augenblick seiner Verwendung die Chance, in allen sachlichen, sozialen und zeitlichen Dimensionen des Marktes nach der günstigsten Verwendungsmöglichkeit zu suchen: Liquidität. Wer, wie wir so einfach zu sagen pflegen, „Geld verleiht", der verleiht in Wahrheit nicht die Kaufkraft seines Geldes. Das scheint nur so. Die Kaufkraft behält er vielmehr in der Hand, und zwar in der juristischen Gestalt seiner Rückforderung aus dem Darlehensvertrag oder aus der Obligation. Der Wert des Geldes, den er aus der Hand gibt, wird ihm sofort ersetzt durch einen anderen Wertgegenstand, der genau so viel wert ist. Vorsichtshalber verlangt der Geldgeber meistens noch „Sicherheiten" dafür, daß er, der Geldgeber, auf jeden Fall seine Kaufkraft behält: Bürgschaften, Pfänder, Hypotheken. Genügen die Sicherheiten dem Geldgeber nicht, bleibt vielmehr doch noch ein Restrisiko, dann läßt er sich auch dieses Risiko zusätzlich vergüten durch einen Zinsaufschlag, die Risikoprämie, wie etwa bei nachrangigen Hypotheken. Wer Geld verleiht, verleiht also nicht Kaufkraft, sondern er verkauft Liquidität. Deshalb müßte man den Geldkapitalmarkt eigentlich „Liquiditätsmarkt" nennen.

Erst wenn man sich klarmacht, daß der Geldgeber gar nicht die Kaufkraft seines Geldes verleiht, sondern nur Liquidität verkauft, wird wirklich evident, daß das Geld außer dem Wert, den es z. B. als Tausch- und Schuldtilgungsmittel seinem Nennwert gemäß hat, noch einen zusätzlichen Wert als Liquiditätsmittel besitzt. Diesen zusätzlichen Wert des Geldes kann der Geldbesitzer am Geldmarkt in Form von Zinsen realisieren. Dies ist der Mehrwert, den der Geldkapitalist aus den volkswirtschaftlichen Geldströmen auf sich abzweigen kann.

Der Mehrwert des Geldes ist daher exakt faßbar als die Differenz zwischen dem bloßen Kaufkraft‑Nennwert des Geldes, wenn man es für Waren und Dienstleistungen ausgibt, und dem Kaufkraft‑Nennwert, vergrößert um den Verzinsungsfaktor des Geldes, das auf dem Geldmarkt verliehen wird.

Wer das Geld als Tauschmittel benutzt, für den ist der Geldschein nur genau so viel wert wie der Betrag, auf den er lautet. Dem aber, der das Geld zur Zeit (oder überhaupt, weil er davon zu viel hat) nicht braucht und nicht zum normalen Tausch verwendet, bietet sich die zusätzliche Möglichkeit, zwar nicht die Kaufkraft seines Geldes, die er behält, wohl aber dessen Liquidität isoliert pro Zeitablauf zu verkaufen. Für ihn also ist das Geld um den Mehrwert mehr wert als der Nennbetrag des Geldes.

Für den anderen aber, der z. Zt. zwar Güter, aber keine liquiden Güter hat, z. B. Familienschmuck, so daß er sich Liquidität am Geldmarkt erst noch kaufen muß, für den sind seine Güter um den „Minderwert" weniger wert als liquides Vermögen. Kauft jemand, wie Max in der Geschichte mit dem Vermächtnis, von Moritz ein Grundstück auf Kredit, dann kostet ihn dieses Grundstück um den Zins mehr (Bestandhaltepreis), als es wert ist (Kaufpreis); und der Geldgeber kann für sein Geld einen höheren Preis (Zins, Bestandhaltepreis), als den bloßen Nennwert (Kaufkraftwert des Geldes) verlangen.

Man muß also, sollen die Maßeinheiten in der Definition des Mehrwertes kommensurabel und die gemessenen Beträge direkt vergleichbar sein, die Mehrwertdefinition noch einmal präzisieren: Der Mehrwert des Geldes ist gleich dem kapitalisierten Preis seiner Liquidität. Dann gilt, frei nach Wolfgang Stützel (61): „Die Differenzen zwischen Werten und Preisen (entscheiden nicht nur) in weiten Bereichen des sozialen Lebens darüber, inwieweit einzelne Personen von anderen konkreten einzelnen Personen wirtschaftlich abhängig sind," sondern sie entscheiden erst recht auch in der gesamten monetären Zirkulationssphäre darüber, daß und wie sehr die Besitzer und Erzeuger von Werten, die nur einen Kaufwert haben, von den anderen abhängig sind, die über Vermögensgegenstände verfügen, die sie von Zeit zu Zeit in liquides Geld verwandeln können, um jeweils den Mehrwert abzuschöpfen. Mit der Ausgleichsabgabe auf Liquidität würde diese Abhängigkeit herabgesetzt, je nach Höhe der künstlichen Bestandhaltekosten für Liquidität. Auch insoweit würde sich die Ausgleichsabgabe auf Liquidität als das archimedische Knöpfchen erweisen, an dem man nur ein bißchen drehen muß, um den Kapitalismus aus den Angeln zu heben, die Abhängigkeit der Arbeitenden und Warenbesitzer von den Geldkapitalisten herabzusetzen und etwas mehr strukturelle Gerechtigkeit in die Ordnung der Marktwirtschaft hineinzubringen.

Jetzt, da exakt definiert ist, was der geheimnisvolle Mehrwert des Geldes ist, nämlich der kapitalisierte Preis seiner Liquidität, wird ebenso genau bestimmbar, worauf die „Ausgleichsabgabe auf Liquidität" hinausläuft: sie schöpft eben diese Differenz (ganz oder teilweise) ab, die zwischen dem bloßen Kaufkraft‑Nennwert des Geldes und dem vollen Wert des Geldes besteht, der sich daraus ergibt, daß das Geld nicht nur Tauschmittel, sondern auch Liquiditätsmittel ist. Mit der Liquiditätsabgabe wird der Mehrwert abgeschöpft.