Inhaltsverzeichnis: „Geld ohne Mehrwert“
I. Teil: Streit um den Mehrwert
1. Kapitel
Marx contra Proudhon:
Produktionssphäre oder Zirkulationssphäre?
Der Streit um den Mehrwert ist längst beigelegt. Wen
interessiert noch die Dogmengeschichte? Wen interessiert noch der Mehrwert?
Sollen die alten Geschichten wieder ausgekramt und nachgekaut werden?
Die Fachökonomen langweilt das. Sie verwenden längst
genauere Ausdrücke und arbeiten mit vielerlei exakten Formeln. Außerdem haben
sie inzwischen ihren Klassikern sowie den beiden Politökonomen, um die es jetzt
geht, mehr als hundert Jahre Erfahrung mit der Industriegesellschaft voraus.
Die Marxisten werden ebenfalls unzufrieden sein: Man
könne doch nicht auf ein paar Seiten erledigen, wozu Karl Marx drei dicke Bände
Materialien zu den Theorien über den Mehrwert gesammelt und worüber er
drei noch dickere Bände Das Kapital und vieles mehr geschrieben habe.
Und doch: Marx hat seine Gedanken nicht in der Schublade
verstaut, und was am Ende doch noch darin zu finden war, wurde von anderen
nachträglich veröffentlicht. Seine Gedanken haben viele Menschen
„beseelt". Seine Gedanken haben ihr Bewußtsein bestimmt und durch sie
Geschichte gemacht. Deshalb ist es nur recht und billig, auf die geistige
Wegegabelung zurückzuschauen, wo sich die Entwürfe der Sozial‑ und
Wirtschaftsreformer je nach Gestalt ihrer Gedanken über den Mehrwert getrennt
haben und wo das, was Marx in seinem Bewußtsein hatte, das revolutionäre Sein
in der Weltgeschichte mitbestimmt hat: getreu nach der Maxime des Deutschen
Idealismus, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt. (1)
Karl Marx (1818‑1883) hat Geschichte gemacht, ja,
aber Proudhon? Darf Pierre Joseph Proudhon (1809‑1865) als ebenbürtiger
Widersacher von Karl Marx auftreten? Ja, denn er steht für die Erklärung des
Mehrwertes, die nicht Geschichte gemacht hat, von der aber nicht ausgeschlossen
ist, daß sie zutreffend war. Vielleicht ist Proudhon trotz seiner
gelegentlichen Unübersichtlichkeit und seiner polemischen Anschaulichkeit der
Sache des Mehrwertes näher gekommen als sein bissiger Kritiker Marx; und wenn
Proudhons Einsichten zum Geld, zum Kredit und zum Zins in den entscheidenden
Punkten zutreffen sollten,
dann hat womöglich ein grundlegender Irrtum Geschichte
gemacht. Daß sein praktisches Konzept zur Beseitigung des Mehrwertes, seine
Tauschbank, ein Fehlschlag war und werden mußte, darüber ist man sich heute so
gut wie einig. Aber seine kritische Analyse?
Nach anfänglichem Lob und der Empfehlung (2), Proudhons
„Qu'est‑ce que la propriété?'' (Was ist das Eigentum?) ins Englische zu
übersetzen, läßt Marx später so gut wie kein gutes Haar mehr an Proudhon. Die
erste Salve seiner Kritik steckt in seiner Schrift „Das Elend der
Philosophie", 1848 in Französisch und 1885 in Deutsch veröffentlicht:
einer Auseinandersetzung mit Proudhons „Philosophie des Elends" (Système
des contradictions économiques, ou philosophie de la misère, Paris 1846). Den
Höhepunkt dieses Verrisses bildet die Behauptung, den Schlüssel zu Proudhons
vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Schriften bilde das Buch "Labour's
Wrongs and Labour's Remedy" des englischen Kommunisten John Francis Bray
(3). In der Tat: Beim Lesen von Proudhon wird man häufig an Gedanken von Bray
erinnert ("mutuality", "reciprocity", Tauschgerechtigkeit),
und neben der Formulierung von Bray, die gängigen Arbeitsverträge liefen auf
"legal robbery" (legalen Raub) hinaus, klingt Proudhons „Eigentum ist
Diebstahl" gar nicht mehr sehr originell. Doch bleibt die kritische
Funktionsanalyse des Geldes und des Kredits bei Bray hinter der die Zirkulation
genauer erfassenden Diagnose Proudhons zurück (4).
Die zweite Salve der Kritik publizierte Marx 1859 in
seiner Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie (5): Hier berichtet
er von den Studien, die John Gray (6) zum Tausch und zum Geld verfaßt hatte:
„Er läßt eine nationale Zentralbank vermittels ihrer
Zweigbanken die Arbeit vergewissern, die in der Produktion der verschiedenen
Waren verbraucht wird. Im Austausch für die Ware erhält der Produzent ein
offizielles Zertifikat ihres Werts, d. h. einen Empfangsschein für so viel
Arbeitszeit, als seine Ware enthält, und diese Banknoten von 1 Arbeitswoche, 1
Arbeitstag, 1 Arbeitsstunde usw. dienen zugleich als eine Anweisung für ein
Äquivalent in allen anderen in den Bankdocks gelagerten Waren. Das ist das
Grundprinzip, sorgfältig durchgeführt im Detail und überall angelehnt an
vorhandene englische Einrichtungen. Unter diesem System, sagt Gray, ,wäre es zu
allen Zeiten ebenso leicht gemacht, für Geld zu verkaufe, als es nun ist, mit
Geld zu kaufen; die Produktion würde die gleichförmige und nie versiegende
Quelle der Nachfrage sein.` Die edlen Metalle würden ihr ,Privilegium` gegen
andere Waren verlieren und ,den ihnen gebührenden Platz im Markt einnehmen
neben Butter und Eiern und Kaliko'."
„Nach der Februarrevolution sandte Gray der französischen provisorischen
Regierung eine Denkschrift zu, worin er sie belehrt, daß Frankreich nicht einer
,organisation of labour' bedürfe, sondern einer ‚organisation of exchange',
deren Plan völlig ausgearbeitet vorliege in dem von ihm ausgeheckten
Geldsystem. Der brave John ahnte nicht, daß sechzehn Jahre nach Erscheinen des
,Social System` ein Patent auf dieselbe Entdeckung ausgelöst werden sollte von
dem erfindungsreichen Proudhon."
Gray hatte in der
Tat vorweggenommen, was Proudhon demnächst zur Benachteiligung der Anbieter von
Arbeit und Waren (Nachfrager nach Geld) gegenüber den privilegierten Anbietern
von Geld (Nachfragern von Arbeit und Waren) schreiben sollte. Schon Gray wollte
das Verkaufen so leicht machen wie das Kaufen und deshalb Geld als
Empfangsschein dafür konstruieren, daß sein Inhaber einen bestimmten Wert zum
nationalen Reichtum entweder selbst beigetragen oder ein Recht darauf erworben
habe von jemandem, der ihn beigetragen hat. Das Problem jedoch war die Bewertung
der Arbeit nach ihrer Nützlichkeit und Ergiebigkeit für die Volkswirtschaft,
die, marktmäßige Organisation dieser Bewertung und der durch sie zu bewirkenden
‑‑ wie wir heute sagen würden:
‑ „Allokation" der
„Empfangsscheine". Es sind jedoch auch Unterschiede sichtbar, die es
unwahrscheinlich machen, dass Proudhon Gray plagiiert hat (7), zumal Proudhon
sich auch sonst nicht scheut, Vorgänger beim Namen zu nennen.
Die dritte Salve der Kritik steckt im dritten Band des
Kapital sowie in einem von Marx selbst als „Episode" bezeichneten
Manuskript, das als Beilage zu den Theorien über den Mehrwert publiziert wurde
(8). Dieser dritte Komplex einer Kritik richtet sich speziell gegen Proudhons
Lehre des Geldes und des Kredits. Er betrifft den Gegenstand, mit dem wir es
auch hier zu tun haben: den Mehrwert und seinen Ursprung in der Zirkulation
oder in der Produktion. Und was kritisiert Marx jetzt an Proudhon? Er wirft ihm
vor, bei ihm werde das „surplus" zum „surcharge". (9)
Was sagt dieser Vorwurf: bei Proudhon werde „das surplus
surcharge"? Nun: „Surplus" meint „surplus value", und „surplus
value" ist der Mehrwert im Sinne des wirtschaftlichen Wertes, der jemanden
kein Äquivalent, keine Gegenleistung gekostet hat. Für Marx entsteht dieser
Mehrwert, der dem Kapitalisten zuwächst, ohne daß er dafür eine äquivalente
Leistung erbringt, im Produktionsprozeß, wo das Kapital als „wirkliches
Kapital" eingesetzt wird und Profit abwirft.
Marx sucht, entdeckt und behandelt den Mehrwert als eine
Erscheinung der Produktionssphäre: Mehrwert ist der Profit von Realkapital. Der
Zins für Geldkapital erscheint als eine bloße Ableitung des Profits von
Realkapital: „Das zinstragende Kapital bewährt sich nur als solches, soweit das
verliehene Geld wirklich in Kapital verwandelt wird und ein surplus produziert,
wovon der Zins ein Teil (ist). (...) Und so (beweist) das Kapital seine
zinsschaffende Kraft nur, indem es übergeht in den Produktionsprozeß
(10)." Im Zins und in der Rente wird der wirkliche Mehrwert nur
„antizipiert (11)". Wer den Mehrwert erfassen will und sich zu diesem
Zwecke mit dem Zins für Geldkapital beschäftigt, statt mit dem Profit von
Realkapital, bekommt in den Augen von Marx also nur das Symptom zu fassen,
nicht die Sache selbst.
Soweit zum „surplus". Was bedeutet nun, bei Proudhon
werde das "surplus" zum „surcharge"? Nun: „Surcharge" ist
der Aufschlag auf den Preis beim (Tausch‑) Geschäft. Tauschgeschäfte und
Kreditgeschäfte, in denen der Zins vorkommt, sind Erscheinungen der
Zirkulationssphäre. Proudhon sucht, entdeckt und behandelt den Mehrwert mithin
als eine Sache der Zirkulation, nämlich, des Geldes und des Kredites, und nicht
als eine Sache der Realkapitalien und der Produktion. Dabei verfährt er nicht
einfach so, wie die Physiokraten, die den Mehrwert ‑ in den Worten von
Marx ‑. „rein aus dem Austausch, dem Verkauf der Ware über ihren
Wert" erklärt haben. Proudhon sieht vielmehr die Besitzer von Geld im
Tauschvorteil gegenüber den Anbietern von Waren oder Arbeit. Er sieht sie im
Vorteil wegen derjenigen Eigenschaften des Geldes, die das Geld als das einzige
allgemeine Zirkulationsmittel vor allen anderen Waren und vor der Arbeit
auszeichnen. Mit dem Zins werden nach Proudhon Vorrechte honoriert, die das
Zirkulations‑ und Tauschmittel Geld als eine Art König des Marktes seinem
Inhaber bietet. (12) Wie ein König die Wege, so könne der Geldinhaber den
Tauschverkehr sperren und eine Abgabe erheben. So werde das Geld nicht zum
Schlüssel, sondern zum Riegel des Marktes (13).
Was Marx als den wirklichen Produktionsprozeß des
Kapitals bezeichnet, darin ist selbstverständlich eine ganz erhebliche Portion
„Zirkulation" miteinbegriffen: „Obgleich der Überschuß des Wertes der Ware
über ihren Kostpreis im unmittelbaren Produktionsprozeß entsteht, wird er erst
realisiert im Zirkulationsprozeß, und erhält um so leichter den Schein, aus dem
Zirkulationsprozeß zu entspringen, als es in der Wirklichkeit, innerhalb der
Konkurrenz, auf dem wirklichen Markt, von den Marktverhältnissen abhängt, ob
oder nicht, und zu welchem Grad, dieser Überschuß realisiert wird." (14)
Diese Öffnung des Reproduktionsprozesses von Realkapitalien in Richtung auf den
Markt betrifft jedoch nur die Absatzmärkte des Unternehmens, wohl auch noch die
Zuliefermärkte und den Arbeitsmarkt, deren Preise, den „Kostpreis" der
Ware mitbestimmen. Sie betrifft jedoch gerade nicht den Geld‑ und
Kapitalmarkt, auf dem sich der „wirkliche", der „industrielle
Kapitalist" vom bloßen Geldkapitalisten die Geldmittel borgt, die er
danach in „wirkliches Kapital" verwandelt. Für diesen Marktsektor bleibt
es für Marx dabei: Nicht der Geldmarkt gibt mit dem Zins einen Kostenfaktor
vor, der durch die Kalkulation im Unternehmen hindurchläuft und dadurch den
Mehrwertverdacht von dem „industriellen Kapitellisten" ab‑ und auf
den Geldkapitalisten hinlenkt. Vielmehr erscheint der Zins für Geldkapitalien
als eine Funktion des „wirklichen" Mehrwertes, der mit Realkapitalien
erwirtschaftet wird. Nicht weil Geldkapitalien Zinsen einbringen, muß sich auch
Realkapital rentieren; sondern weil Realkapital sich rentiert, bringt auch
Geldkapital einen Zins. Proudhon sieht es genau umgekehrt: Weil und soweit
Geldkapital Zinsen bringt, muß sich auch Realkapital rentieren.
Aus dem Unterschied in der Diagnose des Mehrwertsyndroms
ergeben sich auch die Unterschiede in den Plänen für die Therapie: Für Marx
entspringt der Mehrwert der Produktionssphäre, weil dem Kapitalisten als dem
Kapitaleigentümer der Mehrwert zuwächst, den die Arbeiter durch den unbezahlten
Teil ihrer Arbeit erzeugen: Soll den Arbeitern der volle Wert ihrer Arbeit
zuwachsen und damit der Mehrwert verschwinden, dann muß nach Marx folgerichtig
die Ordnung der Produktionsverhältnisse revolutioniert werden: Es gilt, die
Eigentumsverhältnisse umzustürzen. Gehören den Arbeitern erst die Produktionskapitalien,
dann wächst ihnen der Mehrwert ihrer Arbeit unverkürzt zu. Der Mehrwert ist
verschwunden.
Für Proudhon
entspringt der Mehrwert der Zirkulationssphäre und hat seine Ursache in
denjenigen Eigenschaften des Geldes, die den Geldbesitzer zum König des Marktes
machen. Also muß nach Proudhon die Zirkulationssphäre verändert werden, wenn
der Mehrwert verschwinden soll... Eine Revolutionierung „bloß" der
Eigentumsverhältnisse würde nicht nur am falschen Ende ansetzen, sondern
darüberhinaus auch nur das Symptom treffen, ohne die Ursache zu beseitigen.
Also versucht Proudhon, die Tauschgleichgewichtigkeit
zwischen Geldbesitzern und Besitzern von Arbeit und Waren herzustellen, indem
er die Waren mit Hilfe einer Tauschbank liquide machen will wie das Geld. Auch
dafür gab es, wie gesagt, Vorläufer, und Marx hatte Proudhon schon 1847 in
seiner Schrift „Misere de la philosophie" auf die „Equitable Labour‑Exchange‑Bazaars"
hingewiesen, (15) die von Anhängern von Gray und Bray gegründet worden waren
und Bankrott gemacht hatten: „Man hat den Geschmack daran für immer verloren:
Warnung für Herrn Proudhon!" Friedrich Engels (16) kann daher später
spöttisch feststellen: „Man weiß; daß sich Proudhon diese Warnung nicht zu
Herzen genommen hat: Im Jahre 1849 versuchte er selbst eine neue Tauschbank in
Paris. Sie scheiterte aber schon, ehe sie ordentlich in Gang gekommen war; eine
gerichtliche Verfolgung Proudhons mußte zur Deckung ihres Zusammenbruches
vorhalten."
Allem Anschein nach widerlegen die praktischen Fehlschläge,
die Proudhons Tauschbank und ihre Vorgänger erlebt haben, sein Konzept,
jedenfalls; was seine Therapievorschläge angeht. Ist aber damit auch schon
Proudhons Analyse und Diagnose widerlegt, daß der Mehrwert seine Ursache im
Zins habe? ‑ und ist damit auch schon die Analyse und Diagnose von Marx
bestätigt, daß der Mehrwert im Profit des Realkapitals wurzele? ‑ Die
Frage bleibt offen. Doch bevor der gescheite Außenseiter hier zu Worte kommen
soll, der sich als nächster in sehr origineller Weise mit dem Geld und mit dem
Zins, mit dem Recht auf vollen Arbeitsertrag und mit Therapievorschlägen
beschäftigt hat, empfiehlt es sich, noch einen etwas genaueren Blick auf Karl
Marx und seine Kritik an Proudhon zu werfen. Denn diese Kritik hinterläßt schon
als solche in einem ganz bestimmten Punkt einen widersprüchlichen Eindruck.
Marx wirft Proudhon vor, er habe bei der Bestimmung des
Wertes von Waren die Nachfrageseite vernachlässigt (17). Marx paukt Proudhon
ein: Nicht nur die Arbeit bestimme den Wert der Ware; sondern auch die
Nützlichkeit der Arbeitsprodukte im Hinblick auf die Bedürfnisse, die zu
befriedigen sie geeignet ist. „Das Produkt, welches man anbietet, ist nicht das
nützliche an und für sich. Der Konsument bestimmt seine Nützlichkeit.
(18)" „Es widerspricht somit den ökonomischen Tatsachen, den Wert der
Lebensmittel durch den Wert der Arbeit zu messen; das hieße, sich in einem
fehlerhaften Kreislauf bewegen, den relativen Wert durch einen relativen Wert
bestimmen, der seinerseits erst wieder bestimmt werden muß.“ (19) „Etwas
vereinfacht: Marx hält hier ‑ bei der Bestimmung des Warenwertes ‑
dem Theoretiker des Tausches, dem Theoretiker der Mutualität und dem
Theoretiker der Zirkulation vor, zu wenig Theoretiker des Tausches, der
Zirkulation und der Wechselwirkungen innerhalb des Tausches zu sein. Marx
hämmert dem guten Proudhon ein: Dort auf dem Markt, wo die Waren ihre
Nützlichkeit zu beweisen hätten, entscheide sich auch die Frage nach dem Wert
der auf die Waren verausgabten menschlichen Arbeit. „Was der Wert für den
wirklichen Ökonomen, ist der Marktpreis für den praktischen Kapitalisten: das
jedesmalige Prius der ganzen Bewegung. (20)“
Wenn aber Proudhon dann tatsächlich einmal nach dem
Marktpreis für verliehene Gegenstände im allgemeinen und vor allem nach dem
Marktpreis für verliehenes Geld im besonderen fragt, ‑ wenn er also im
Bereich von Geld- und Realkapital bei dem „jedesmaligen Prius der ganzen
Bewegung" ansetzt und mit der Nützlichkeit des Geldes als solchem und
ihrem Marktpreis zu tun bekommt, dann ist das dem guten Marx auch wieder nicht
recht: Wird Geld am Markt verliehen, damit es Zinsen bringe, dann soll gerade
nicht der Marktpreis der theoretisch und praktisch entscheidende Anfang der
ganzen Bewegung sein. Vielmehr konstituiert nach Marx erst der
Produktionsprozeß, den der Empfänger des Darlehens später mit dem Geld in Gang
bringt, den Mehrwert. Dieser Mehrwert wird im Zins nur „antizipiert". Im
Zusammenhang mit diesem Mehrwert stellen der Geldverleih und die Zinszahlung
nur eine unbedeutende, vorweggenommene und nachgeschobene Form des Mehrwertes
dar.
Man traut fast den eigenen Augen nicht: Marx, der sich
selbst für einen Vollblutökonomen hält, welcher anderen die ökonomische
Funktion des Marktes einpauken muß, weil der Marktpreis das „jedesmalige Prius
der ganzen Bewegung“ sei, ‑ dieser Marx verharmlost und verniedlicht das
Geschehen am Kapitalmarkt zur wirtschaftlich blutleeren, bloß juristischen
Konstruktion: „Die erste Verausgabung, die das Kapital aus der Hand des
Verleihers in die des Anleihers überträgt, ist eine juristische Transaktion,
die mit dem wirklichen Reproduktionsprozeß des Kapitals nichts zu tun hat, ihn
nur einleitet. Die Rückzahlung, die das zurückgeflossene Kapital wieder aus der
Hand des Anleihers in die des Verleihers überträgt, ist eine zweite juristische
Transaktion, die Ergänzung der ersten; die eine leitet den wirklichen Prozeß
ein, die andere ist ein nachträglicher Akt nach demselben. Ausgangspunkt und
Rückkehrpunkt, Weggabe und Rückgabe des verliehenen Kapitals erscheinen also
als willkürliche, durch juristische Transaktionen vermittelte Bewegungen, die
vor und nach der wirklichen Bewegung des Kapitals vorgehen und mit ihr selbst
nichts zu tun haben. Für diese wäre es gleichgültig, wenn das Kapital von
vornherein dem industriellen Kapitalisten gehörte und als sein Eigentum daher
nur zu ihm zurückflösse. (21)"
Ob es für den „praktischen Kapitalisten", den Marx
hier beschwört, in bezug auf die von ihm erzeugte „wirkliche Bewegung des
Kapitals" tatsächlich gleichgültig ist, ob er mit Eigen‑ oder
Fremdkapital arbeitet, mag hier dahinstehen. Jedenfalls wird der Marktpreis für
die Geldform der Ware, der Zins, und wird die Macht des Marktes ökonomisch
nicht ernst genommen, sondern hinter Formeln von „juristischen Transaktionen"
verschleiert.
Marx sieht im Geldverleih und im Zins, der dafür
gefordert und gezahlt wird, ein bloß juristisches Vorgeplänkel zum wirklichen
ökonomischen Reproduktionsprozeß des Kapitals. Im Zins wirft der wirkliche
Mehrwert nur seine Schatten voraus. Also erwartet Marx auch gar nicht, den
Gegenwert des Darlehens, für den am Markt der Zins gezahlt wird, dort zu
entdecken, wo das Geld als solches angeboten, wo es als solches nachgefragt und
wo es schließlich als solches gegen Zins vorübergehend zur Verfügung gestellt
wird, ‑ sondern er sucht diesen Gegenwert des Zinses in der nachfolgenden
Reproduktionsphase des Kapitals. Das Äquivalent, für das am Markt der Zins
gezahlt wird, erscheint daher für Marx gerade nicht als eine Eigenschaft der
tatsächlich angeboten und der tatsächlich nachgefragten flüssigen Geldmittel
als solcher, sondern als eine Eigenschaft des erst danach in „wirkliches
Kapital" verwandelten Geldes: „Was gibt der Geldkapitalist dem Anleiher,
dem industriellen Kapitalisten? Was veräußert er in der Tat an ihn? ( . . .)
Was ist der Gebrauchswert, den der Geldkapitalist für die Zeit des Ausleihens
veräußert und an den produktiven Kapitalisten, den Borger, abtritt? Es ist der
Gebrauchswert, den Geld dadurch erhält, daß es in Kapital verwandelt wird, daß
es als Kapital fungieren kann, und daß es daher einen bestimmten Mehrwert, den
Durchschnittprofit, ( . . .) in seiner Bewegung erzeugt, außerdem, daß es seine
ursprüngliche Wertgröße wahrt ( . . .). Diesen Gebrauchswert des Geldes als
Kapital ‑ die Fähigkeit den Durchschnittsprofit zu erzeugen ‑
veräußert der Geldkapitalist an den industriellen Kapitalisten. (22)"
Danach ist der mittellose Jungunternehmer, der sich
Betriebsmittel vom Kapitalisten besorgen muß, der eigentliche Kapitalist,
während der Geldkapitalist im Hintergrund bloß durch juristische Konstruktion
„willkürlich" mit dem Mehrwert aus dem Produktionsprozeß verbunden
erscheint und sonst „nichts zu tun" hat. Für Proudhon dagegen kann der
mittellose Jungunternehmer seine unternehmerische Arbeitskraft nicht loswerden
ohne Produktionsmittel und gerät dadurch selbst in die Abhängigkeit vom
Geldkapitalisten; denn der Geldkapitalist verlangt wenigstens das von ihm, was
der Geldkapitalist am Markt sonst geboten erhält für die Überlassung des Gebrauchswertes,
den das Geld für welche Zwecke auch immer hat. Diesen mittellosen
Jungunternehmer, der vom Geldkapitalisten abhängig ist und ihm den Zins
schuldet, als den eigentlichen „industriellen Kapitalisten" zu betiteln
und zu behandeln, das ist ‑ aus der Sicht Proudhons ‑ Hohn und
Spott: Macht doch Marx den Bock zum Gärtner; definiert er doch den
Ausgebeuteten zum Ausbeuter; verruft er doch denjenigen als den Dieb, der nach
der Formel: „Eigentum ist Diebstahl", selbst bestohlen wird.
Die Geldkapitalisten müßten dem guten Marx für ein
solches Leumundszeugnis, das sie vom Mehrwertverdacht entlastet, wahrhaftig
dankbar sein bis zum jüngsten Tag. Bringt doch der Zins, den der Unternehmer
als Borger zahlen muß, ihn um einen Teil des Gewinnes, den er durch seine
unternehmerischen Anstrengungen erwirtschaftet hat; muß er doch über das, was
er für sich erwirtschaften kann, selbst noch unternehmerische „surplus‑Arbeit"
leisten, um die Zinsforderungen des Geldkapitalisten zu befriedigen, soweit er
nicht den Druck, der auf ihm lastet, auf die Arbeiter abwälzen kann.
Entspringt aber
der Mehrwert nicht der Produktionssphäre, sondern der Zirkulationssphäre,
genauer: dem Geld‑ und Kapitalmarkt, dann haben auch die Renditen von
(vermehrbaren) Realkapitalien ihre mittelbare Ursache im Zins des Geldes, und
mit diesen entscheidenden Überlegungen hat Proudhon auf der ganzen Linie recht
behalten: Der Geldanleger steht vor der Qual der Wahl, ob er sein Geld in
verzinsliche Geldforderungen stecken soll (Obligationen u. ä.) oder in ein
Unternehmen, in Häuser oder Aktien (Realkapitalien). Sieht man hier der
Einfachheit halber einmal von portfolio‑theoretischen Verfeinerungen der
Problematik ab (Risiko‑Überlegungen und Ähnlichem), dann gilt: Der
Anleger schiebt seine Liquidität dorthin; wo er sich die höheren Erträge
erhofft. Sein Geld steht für die Vermehrung von Realkapitalien nur dann zur
Verfügung, wenn er erwarten kann, daß ihre Rendite höher ist als die Zinsen,
welche bei einer Anlageg in Obligationen in Aussicht stehen.
Deshalb werden Realkapitalien, die nicht wenigstens den
Zins des Geldes erwarten lassen, gar nicht erst geboren. Das wissen spätestens
seit Keynes die ABC‑Schützen der Volkswirtschaftslehre: Der Grenznutzen
des Geldkapitals setzt den Standard für den Grenznutzen von Realkapital; der
Zinsfuß begrenzt die Wachstumsrate von Realkapital.
Mit anderen
Worten: Das Hindernis für eine Volkswirtschaft auf dem Weg in den wirklichen
Reichtum ist der Zins des Geldes: Die Entstehung von realen Kapitalien, sei es
in Form von Produktionsanlagen, sei es in Form von Kostbarkeiten; die als
Kapitalanlage fungieren können; wird gebremst und verhindert, wenn und soweit
sie sich nicht rentieren, ‑ also die Konkurrenz mit dem Zins des Geldes
nicht gewinnen können.
So verschieden
also sieht die wirtschaftliche Welt aus, je nachdem, ob man sie durch die
Marxsche oder die Proudhonsche Mehrwert‑Brille betrachtet.
Nach allem bleibt
immer noch die Frage: Worin liegt der ganz besondere Gebrauchswert des Geldes
tatsächlich, für den der „Geldkapitalist" den Zins fordern kann? Worin
liegt er, wenn er nicht in der eigenartigen Fähigkeit von Realkapital liegen
sollte, den Durchschnittsprofit zu erzeugen? ‑ Seit John Maynard‑Keynes
kennen wir auf diese Frage eine weitgehend akzeptierte Antwort, auf die später
noch wiederholt zurückzukommen sein wird. Marx ist übrigens an dieser Antwort
sehr nahe vorbeigegangen, als er in seiner „Episode" über „Revenue and its
Sources" in etwas anderem Zusammenhang aus Francis William Newman,
Lectures on political economy, London 1851; zitierte: „Der große Vorteil, der
mit dem Besitz von Gold und Silber verbunden ist, da er die Möglichkeit gibt,
die günstigsten Momente des Kaufes auszuwählen ( ...)“ (23)
Hinter der Überzeugung von Marx; daß der Mehrwert der
Produktion entspringe und nicht der Zirkulation, steht zum einen der große
Gedanke, den auch die Klassiker der Ökonomie z. T. vertraten: Der Mehrwert
könne schwerlich an anderer Stelle entstehen als dort, wo überhaupt Werte
produziert würden, und neue Werte könnten eben letztlich nur durch Arbeit
geschaffen werden. Hinter der Überzeugung von Marx steht jedoch noch eine
andere These, die die Logik des ersten Gedankens zu bestätigen scheint und die
Überzeugungen von seiner Richtigkeit befestigte: Der Tausch schaffe keine
wirtschaftlichen Werte, also auch kein Mehrwert: „Man mag sich drehen und
wenden, wie man will, das Fazit bleibt dasselbe. Werden Äquivalente
ausgetauscht, so entsteht kein Mehrwert, und werden Nicht‑Äquivalente
ausgetauscht, so entsteht auch kein Mehrwert. Die Zirkulation oder der
Warentausch schaffen keinen Wert (Mehrwert)." (24)
Die Frage nach
der Schöpfung des Mehrwertes, der ja keine „Schöpfung aus dem Nichts (25)"
sein könne, bereitete in der Tat den Ökonomen vor Marx sowie Marx selbst
erhebliche Mühe: „Der Profit kann nicht aus der Produktion herkommen, sagt
Torrens, denn sonst wäre er ja schon in den Kosten der Produktion enthalten,
also kein Überschuß über diese Kosten. Der Profit kann nicht aus dem
Warenaustausch herkommen, antwortet ihm Ramsay, wenn er nicht bereits im
Warentausch vorhanden war. Die Wertsumme der ausgetauschten Produkts ändert
sich offenbar nicht durch den Austausch der Produkte, deren Wertsumme sie ist.
Sie bleibt dieselbe nach wie vor dem Austausch. (26)" So muß er für Marx
letztlich doch aus der Produktion kommen, wo der „Überschuß des Werts der Ware
über ihren Kostenpreis" entsteht, auch wenn dieser überschießende Wert
erst in der austauschenden Zirkulation „realisiert" werden kann.
Wenn aber der Mehrwert aus dem Überschuß des Werts der
Ware über ihren Kostenpreis herrührt, dann sind es die niedrigen Lohnkosten,
die den Ausschlag geben, und die wiederum sind bedingt durch den Arbeitsmarkt,
so daß die Frage nach dem Mehrwert auch wieder von der Produktion hätte
abgelenkt werden müssen auf den Markt: Woher kommt die Marktmacht des
Kapitalisten, die ihn befähigt, am Markt mehr Arbeit einzukaufen, als er
bezahlt? Offenbar werden auf dem Arbeitsmarkt doch keine Äquivalente
ausgetauscht.
Für die weiteren Überlegungen wird es also darauf
ankommen, die alles entscheidende Grundthese von Marx noch einmal zu
überprüfen, daß im Warenaustausch kein Wert und daher auch kein Mehrwert
entstehen könne und daß insbesondere beim Geldverleih kein Mehrwert entspringe,
sondern nur vorweggenommen werde. Immerhin ist auch denkbar, daß der Mehrwert
gerade nicht (wie wirtschaftliche Werte sonst in den meisten .Fällen durch
Produktivität) erzeugt, sondern bei Gelegenheit ungleicher Tauschgeschäfte ohne
äquivalente Gegenleistung einfach abgezweigt wird.
Da der Mehrwert von Marx selbst definiert wird als ein
(wirtschaftlicher) Wert, für den kein Äquivalent eingesetzt worden ist:
„surplus value" als „value", der kein Äquivalent gekostet hat (27),
scheint es, als lasse sieh das Problem nur erklären, wenn man dem
"Äquivalent" auf den Grund geht. Auf welche Fragen man dabei stößt,
läßt sich am besten mit einer kleinen Geschichte verdeutlichen, die auf moderne
Ansätze zur Lösung der Probleme von "Wert und Preis" (28)
zugeschnitten ist.
Max und Moritz wollten von verschiedenen Seiten durch die
Wüste fahren und sich in einer bestimmten Oase treffen, um den Geburtstag von
Wilhelm Busch zu feiern. Für ihre Safari bestens gerüstet, fragten sie zuletzt
noch eine Seherin, was vielleicht noch zu tun sei: „Jeder von euch,"
sprach sie, „nehme noch ein Ersatzteil für sein Fahrzeug mit, und zwar ein
Solches, von dem man am wenigsten erwarten sollte, daß es unterwegs gebraucht
wird!" Sie taten, was ihnen die Seherin aufgetragen hatte, brachen mit
ihren beiden Geländefahrzeugen gleicher Bauart und mit je einem unnützen Teil
an Bord auf:
Alles ließ sich vorzüglich an. Pünktlich zum Vorabend des
geplanten Zusammentreffens konnte Max am Horizont schon eine Staubwolke sehen,
die wohl von Moritz stammte, und Moritz sah ein Wölkchen, als dessen Urheber er
seinen Freund Max vermutete. Dann aber hatte die wissenschaftliche Vorsehung
für sie beide noch eine Panne eingeplagt: Am Fahrzeug von Max fiel das Teil
aus, das Moritz auf Anraten der Seherin noch mitgenommen hatte; und am Fahrzeug
des Moritz versagte das Teil, welches Max noch eingepackt hatte. Beide machten
sich nun zu Fuß auf den Weg zur Oase, um noch rechtzeitig zur Geburtstagsfeier
zu kommen und um mit dem jeweils anderen weiterzufahren. Ich brauche die
verdutzten Gesichter der beiden nicht zu beschreiben, die sie machten, als sie
einander zu Fuß kommen sahen, auch nicht ihre Dankbarkeit gegenüber der
Seherin, als sie sich von ihrem Pech berichteten und feststellten, daß die
Ersatzteile paßten, wenn sie sie nur austauschten.
Als jedoch Max ganz vergnügt bemerkte, jetzt würden sie
sogar jeder noch ein vorzügliches Tauschgeschäft machen, sah Moritz die
Gelegenheit gekommen, seinem Fremd eine Lehre erteilen. Max und Moritz nämlich
hatten sich vor ihrer Reise schon nächte lang über den Mehrwert gestritten, und
der gute Max hatte sich dabei als geschliffener Theoretiker der marxistischen
Kritik der politischen Ökonomie erwiesen. Also sagte Moritz jetzt ebenso
vergnügt und leichthin: „Tauschen willst du? Warum tauschen?"
Max, nichts ahnend, ließ sich auf das Spielchen ein:
„Mein lieber Freund! Zwar ist schwer einzusehen, warum wir unsere Teile
tauschen sollten, besonders für jemanden wie dich, der gerade einige Stunden
durch die Wüstensonne marschiert ist und der jetzt die eine oder andere Fata
Morgana für eine Wirklichkeit und eine ökonomische Wirklichkeit bloß für eine
Fata Morgana halten mag: Hast du nicht ein Ersatzteil, das für dich so gut wie
wertlos, für mich aber sehr wertvoll ist? ‑ und habe ich nicht ein
Ersatzteil, das für mich so gut wie wertlos, für dich aber von
außerordentlichem Nutzen ist? Wenn wir nun die Teile tauschen, stehen wir uns
dann nicht beide um so viel besser, wie die Brauchbarkeit der eingetauschten
Teile die vorherige Nutzlosigkeit der hinweggegebenen Teile übersteigt? Sollte
ich mir also dieses Geschäft ‑ solltest du also dir diesen Gewinn
entgehen lassen?"
„Ich will ihn mir durchaus nicht entgehen lassen! Aber
daß du, lieber Max, den ich als einen prinzipientreuen Menschen kennengelernt
habe, mir jetzt einen Warentausch vorschlägst mit der Begründung, hinterher
stünden wir uns offensichtlich besser und besäßen wertvollere Teile als vorher:
das will mir nicht in den Kopf. Hast du mir nicht immer wieder eingehämmert:
„Der Warentausch schafft keinen Wert, schafft keinen Mehrwert!"? Wenn du
mit dieser These recht hast: Warum dann willst du jetzt tauschen? Was ist es,
das der Warentausch in diesem Falle erzeugt und was dich zum Tauschen treibt?
Und weiter: Wenn sich, wie du mir immer wieder versichert hast, die Wertsumme
der ausgetauschten Produkte durch den Austausch der Produkte, deren Wertsumme
sie ist, nicht ändert, ‑ warum tauschen wir dann? Warum sollte sich
jemand der Mühe des Tausches unterziehen und womöglich noch Transaktionskosten
in Kauf nehmen, wenn er danach nicht wenigstens ein wenig reicher geworden ist?
Und weil wir beide ganz offenbar durchaus tauschen wollen, um jeder hinterher
nicht nur ein wenig, sondern ganz erheblich reicher zu sein, wächst dann nicht
auch unser gemeinsamer Reichtum durch den Tausch nicht nur ein wenig, sondern
ganz erheblich? Sagt nicht auch dein großer Marx, der Wert der Ware hänge nicht
nur von der Arbeit ab, die der eine hineinsteckt, sondern auch von der
Nützlichkeit, die sie für den anderen hat? Schafft dann nicht gerade der Tausch,
wenn auch nicht gleich einen Mehrwert, so doch jedenfalls Werte, weil er jedem
etwas gibt, das gerade ihm nützlicher ist als das, was er weggibt? Lassen sich
Werte einfacher und vergnüglicher und sozialer und freiheitlicher ,schaffen`
als auf diesem Wege des Tausches? Warum, frage ich dich, stößt man nach
erfolgreichem Vertragsabschluß nicht selten auf den Abschluß mit einem Glas
Champagner an? Mir scheint, daß du mitten in der Wüste unseres praktischen
Lebens sehr viel vernünftiger zu handeln wünschst, als du in den reinen
Gefilden deiner Theorie denken darfst!"
Max merkte wohl, daß er in eine Falle gelaufen war.
Moritz jedoch bohrte nicht weiter: Er setzte auf die stille und
widerstandslosere Wirkung einmal bewußtgemachter und dadurch in Gang gebrachter
innerer Widersprüche. Er beredete daher sofort, daß man zuerst das leichtere
Ersatzteil aus seinem Fahrzeug holen und in das von Max einbauen sollte, um
dann mit dessen Wagen zu seinem Wagen zu fahren . . .
Der gute Max aber konnte von Stund an seine Safari gar nicht mehr so richtig genießen. Denn in ihm rief eine Stimme beständig: „Der Warentausch schafft keinen Wert, keinen Mehrwert!" Und in ihm fragte eine andere Stimme ebenso beharrlich: „Warum hast du dann Waren getauscht?" Zu allem Übel befiel den guten Max, kaum von der Reise zurück, auch noch ein böses Fieber. Jetzt wuchsen sich seine inneren Stimmen zu einem fürchterlichen Alptraum aus. Es schallte aus allen Radios, Fernsehgeräten und Lautsprechern; daß der Weg zum Mehrwert nicht über den Tausch führe, sondern durch die Produktion. Gleichzeitig tönten aus allen Radios, Fernsehgeräten und Lautsprechern die Stimmen verzweifelter Bürger und ihrer Makler, die bestimmte Waren gegen bestimmte Waren zu tauschen wünschten und nach Tauschpartnern suchten. Die unzufriedenen und daher aufrührerischen Tauschwilligen hatten dem armen Max schon eine Schlinge um den Hals gelegt und drohten, ihn zu lynchen, wenn er ihnen nicht sofort anwortete: Was schafft der Warentausch? Was schafft der Warentausch? Was schafft der Warentausch?
Diese kleine Geschichte zeigt: Der Tausch bringt für die
Tauschpartner durchaus so etwas wie einen Mehrwert mit sich, nämlich insofern
das, was sie bekommen, ihnen mehr wert ist als das, was sie hinweggeben.
Diese Einsicht spielt eine entscheidende Rolle bei der
Frage nach der Tauschgerechtigkeit; denn nur dann, wenn der Vorteil beider
Tauschpartner etwa gleich groß ist, ist der Tausch gerecht. Aber zur
unmittelbaren Erklärung des Mehrwertes, den Marx im Auge hatte, trägt die
Einsicht noch nicht bei. Da bietet sich vielmehr ein zweiter, monetärer
Einstieg und Ansatz an, der zum Kern des Problems hinführt: Wenn damit das
Mehrwertproblem im folgenden Kapitel weitgehend geklärt sein wird, wird es auch
leichter fallen, das Problem der Tauschgerechtigkeit bei Geschäften unter
Verwendung von Geld im 3. Kapitel genauer zu fassen.