Inhaltsverzeichnis: „Geld ohne Mehrwert“
Ich habe mich sehr bemüht, dieses Buch so zu schreiben,
daß jeder es verstehen kann, der nur genügend Neugierde für die Sache mitbringt
und auch entschlossen ist, hier oder dort einmal eine kleine Anstrengung beim
Lesen auf sich zu nehmen, wenn eine ungewohnte Einsicht nicht auf Anhieb
plausibel anmutet. Es soll zudem in den folgenden Kapiteln meistens nicht nur
abstrakt und wissenschaftlich trocken zugehen, sondern möglichst anschaulich
und auch nicht ganz ohne Schmunzeln.
Den Fachökonomen bitte ich zum einen um Nachsicht und
Geduld: Erstens muß er annehmen, daß die Grenze zwischen ernst zu nehmenden
Überlegungen und Scharlatanerie überschritten wird, wenn ein gelernter Jurist
und Rechtsphilosoph über nichts Geringeres schreibt als „Geld ohne Mehrwert".
Zweitens wird ‑ vor allem im dogmenhistorischen Teil ‑ vieles
erzählt, was dem Mann vom Fach vertraut ist. Daher kann ihm manches, so wie ich
es zunächst bringe, als banal oder als überflüssig erscheinen.
Den Fachökonomen bitte ich zum anderen aber auch um
geschärfte Aufmerksamkeit und gesteigerte Aufnahmebereitschaft: Dort nämlich,
wo es um den Kern der Sache geht, lasse ich es an genauen Definitionen und
Erklärungen nicht fehlen. Jeder Routinier kann sie in seiner Fachsprache
nachvollziehen; jeder Kenner kann sich seine exakten Formeln hinzudenken. Aber
er stößt auf Ungewohntes. Also muß auch er den Willen mitbringen, sich auf
meine Überlegungen gerade deshalb einmal einzulassen, weil er zunächst geneigt
sein dürfte, sie innerlich abzuwehren. Ein aufgeschlossener Könner mag sich
dann sogar die Lektüre dieses Büchleins ersparen, wenn er nur meine Kernthese
prüft, um dann für sich die praktischen Konsequenzen dieser Einsichten kritisch
zu analysieren und Anknüpfungspunkte für geldordnungspolitische Verbesserungen
zu finden. Für solche Fachleute, die schneller und selbständiger zum Ziel
kommen wollen, werde ich daher den Kern meiner Überlegungen hier kurz
darstellen. Die übrigen Leser mögen mir diesen Vorgriff, dessen Sätze ihnen
noch nicht ohne weiteres nachvollziehbar sein dürften, verzeihen. Sie können
gleich zum Anfang des ersten Kapitels hinspringen.
Geld fungiert zunächst einmal als Tausch‑ und
Schuldtilgungsmittel. Es wird für Waren und Dienstleistungen bezahlt. Dabei
verkörpert es Kaufkraft, die in Währungseinheiten gemessen wird und z. B. in
Form von Banknoten von Hand zu Hand geht.
Geld geht jedoch nicht nur von Hand zu Hand. Es wird von
seinen Besitzern auch in der Kasse bereitgehalten, soweit sie jederzeit
zahlungsfähig sein wollen. Das ist dann das Geld in seiner Funktion als
Liquiditätsmittel. Die Liquidität ist nämlich ein wirtschaftlicher Vorteil, den
das Geld bietet, solange es gerade noch nicht ausgegeben, sondern nur
bereitgehalten wird. Diesen zusätzlichen Wert, den das Geld in der Kasse
bietet, honoriert der Markt mit Zinsen: Wer jemandem anderen Liquidität zur
Verfügung stellt, bekommt dafür die Liquiditätsprämie. Genau genommen handelt
es sich allerdings um eine Prämie dafür, daß er sich auf Zeit seiner Liquidität
begibt, also um eine Liquiditätsverzichtsprämie.
Wer Geld verleiht, der verkauft die wirtschaftlichen
Vorteile, die mit Liquidität verbunden sind, und zwar pro Zeiteinheit. Während
dieser Zeit behält der Verleiher die Kaufkraft des Geldes selbst in der Hand
und bucht sie auf der Aktivseite seiner Konten: Er behält sie in Gestalt der
Valuta seines Rückzahlungsanspruchs aus dem Darlehen, meist gut gesichert durch
Hypotheken, Bürgschaften oder andere „Sicherheiten". Worauf er gegen
Entgelt verzichtet, das ist nur seine monetäre Liquidität.
Was ist nun der eigenartige Vorteil des in der Kasse
bereitgehaltenen Geldes? Was ist der begehrte wirtschaftliche Vorteil der
Liquidität? Der Vorteil besteht darin, daß das Geld ein generalisiertes
Tauschmedium ist: Während man für bestimmte Waren oder Leistungen auch
bestimmte Abnehmer braucht, kann man mit Geld praktisch überall und jederzeit,
gegenüber jedermann und für jede wirtschaftliche Leistung zahlen. Das Geld
spielt unter den Waren und Diensten eine gleiche Rolle wie der Joker in einem
Kartenspiel, in dem der Joker jede andere Karte vertritt, oder wie die Buben im
Skat. Spieltheoretisch dürfte dieser Vorteil des Geldes als eines
generalisierten Mediums leicht und exakt faßbar sein.
Der wirtschaftliche Wert der Liquidität zeigt sich dort,
wo sie vermarktet wird: auf dem Kapitalmarkt, insoweit er Liquiditätsmarkt ist.
Man kann an der Liquiditätsprämie regelrecht ablesen, was Liquidität kostet, ‑
also auch, wieviel Geld, das in der Kasse bereitgehalten wird, mehr wert ist
als der Betrag des bereitgehaltenen Geldes selbst. Der Vorteil, den Liquidität
bietet, ist wirtschaftlich meßbar, und der Zins (ohne Risiko‑ und
Inflationsausgleichsprämie) ist der Zeiger, an dem mit dem Preis auch der
Marktwert der Liquidität abgelesen werden kann.
Auf dem Kapitalmarkt hat das Geld mithin über seinen
Kaufkraft-Nennwert hinaus einen Liquiditätswert. Das Geld, das auf dem
Kapitalmarkt verliehen wird, ist mit dem Ablauf von Zeit mehr wert als das
Geld, das auf anderen Märkten ausgegeben wird. Die Differenz zwischen dem
Nennwert dieses ausgegebenen Geldes und dem auf dem Geldmarkt verliehenen Geld
ist der Mehrwert von Geld. Geld ist mehr wert als Geld. Geld hat einen nach
Märkten gespaltenen Wert: Zum einen hat es seinen Kaufkraft‑Nennwert. Zum
anderen hat es seinen Liquiditätspreis pro Zeiteinheit. Bei diesem Preis der
Liquidität handelt es sich geldtheoretisch nicht um einen „einfachen"
Kaufpreis, gemessen in „DM", sondern um einen
"Bestandhaltepreis", gemessen in „DM pro Zeitspanne". Der
Nennwert des Geldes und sein Bestandhaltepreis werden kommensurabel, wenn der
Liquiditätspreis kapitalisiert wird. Also darf man formulieren: Der Mehrwert
des nach Märkten gespaltenen Wertes von Geld ist gleich dem kapitalisierten
Preis seiner Liquidität.
Das verliehene Geld ist um den Mehrwert mehr wert als
ausgegebenes Geld. Die Kaufkraft verliehenen Geldes wächst der Kaufkraft des
ausgegebenen oder zurückbehaltenen Geldes davon, und zwar mit linearem Wachstum
oder sogar, wenn Zinseszinseffekte hinzukommen, mit exponentiellem Wachstum. So
öffnet sich zwischen den beiden Werten des Geldes mit dem Ablauf von Zeit eine
monetäre Schere.
Als Joker unter den Tauschobjekten wirkt das Geld
privilegierend im Wirtschaftsverkehr, und der Zins, soweit er Liquiditätsprämie
ist, sprudelt als Pfründe aus diesem Privilegium. Daher kann nicht die Rede
davon sein, das Geld wirke im Tauschverkehr neutral. Die gerade nicht neutrale
Wirkung, die das Geld bei einfachen Tauschgeschäften zeitigt, schlägt sich
anschaulich ablesbar nieder bei Kreditgeschäften jeder Art, besonders typisch
beim transtemporalen Kaufkraftaustausch, wie er im Zusammenhang mit
Darlehensverträgen stattfindet. Weil die Liquiditätsprämie dafür sorgt, daß
verliehene Kaufkraft der ausgegebenen Kaufkraft davonwächst, bringt sie die
transtemporalen Preisgefüge aus dem Gleichgewicht. Sie behindert dadurch aber
nicht nur den transtemporalen Leistungsaustausch, sondern den hinter
Kreditgewährungen steckenden doppelten Austausch von Kaufkraft zwischen
Wirtschaftssubjekten überhaupt; denn was für den einen ein Transfer seiner
Kaufkraft in die Zukunft ist (heute sparen und weggeben, um morgen verbrauchen
zu können), das ist für die Volkswirtschaft ein zweifacher Transfer von
Kaufkraft zwischen den Betroffenen (heute Auszahlung von A an B, morgen
Rückzahlung von B an A). Gehemmt wird schließlich die Bildung von
Realkapitalien wie z. B. Produktionsanlagen und Arbeitsplätzen, Mietwohnungen
und Kostbarkeiten von Kunst und Kultur: nämlich immer dann, wenn ihre Rendite
bzw. Wertsteigerung den Wettbewerb nicht bestehen kann mit dem Zins des Geldes.
Weil das Geld auf den Kapitalmärkten „mehr wert" ist
als auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen, ziehen die Kapitalmärkte
Kaufkraft, die die Wirtschaftssubjekte zur Zeit entbehren können, besonders
stark an. So wird sie von den übrigen Märkten weggesogen. Je reicher die
Wirtschaftssubjekte einer Marktwirtschaft werden, über desto mehr solcher
marginaler Kaufkraft verfügen sie. Desto nachhaltiger also wirkt sich auch der
Sog aus, den der Mehrwert ausübt, mit dem auf den Kapitalmärkten gewunken wird.
Desto weniger Geld kommt noch direkt als wirksame Nachfrage auf den Märkten für
Waren und Dienstleistungen, Investitionsgüter und Kostbarkeiten an. Auf diesen
Märkten jedoch müssen mit realen Leistungen die Profite erwirtschaftet werden,
aus denen der verführerische Mehrwert bezahlt werden soll: der Mehrwert, den
die Wirtschaftssubjekte erwarten, welche ihre marginale Kaufkraft anlegen, um
Zinsen oder Kapitalrenten einzustreichen. Dabei gilt das Gesetz vom abnehmenden
Grenznutzen nicht für die Befriedigung der Lust an der Vergrößerung des
Vermögens durch Zinsen und Renten. Eher kommt und steigt der Appetit auf den
Mehrwert mit dem Essen, und mit dem Essen wiederum steigen die Möglichkeiten,
noch mehr Mehrwert zu sich zu nehmen. Diese Asymmetrie der Märkte, nicht
gedämpft durch abnehmenden Grenznutzen, kann auf die Dauer nicht gut gehen. Der
Wohlstand erstickt dann an seiner Nachfrage nach Mehrwert, die als Nachfrage
nach Waren und Dienstleistungen fehlt.
Bei alledem handelt es sich um Erkenntnisse, die vor
allem von Keynes und seit Keynes recht genau diagnostiziert worden sind, ‑
freilich nicht unter Stichworten wie Mehrwert, gespaltener Geldwert, monetäre
Schere und mangelhafte Neutralität des Geldes, sondern im Zusammenhang mit der
„wirksamen Nachfrage" und im Zusammenhang mit der spätestens seit Keynes
offiziell anerkannten, heute allerdings portfoliotheoretisch verfeinerten
Erkenntnis, daß der Zinssatz von Geldkapital den Standard setzt für die Grenzleistungsfähigkeit
von Realkapital.
Seit Keynes liegen auch die wichtigsten Formeln und
Ansätze auf dem Reißbrett der Fachökonomen, mit deren Hilfe man nicht mehr nur
die Symptome bekämpfen, sondern den Ursachen der Unausgeglichenheiten beikommen
kann. Damit meine ich allerdings gerade nicht die zwiespältigen Instrumentarien
dessen, was heute unter der Flagge des Keynesianismus segelt, sondern
elementare Einsichten der „General Theory", die langfristig nicht für,
sondern gegen den landläufigen Keynesianismus sprechen. Denn der Keynesianismus
erreicht nur die Symptome. Die General Theory jedoch hat es mit den Ursachen zu
tun.
Es geht hier um eine keynesianische Alternative zum
Keynesianismus: um die marktkonforme und marktbefreiende Abschöpfung des
monetären Mehrwertes. Ich glaube, daß damit eine ganze Reihe von entscheidenden
Problemen unserer Marktwirtschaft zugleich beeinflußt und entschärft werden
kann. Aber um ein Allheilmittel zum Kurieren aller denkbaren Krankheiten,
Wunden und Infektionen der Wirtschaft handelt es sich freilich nicht.
Mein Monetarismus unterscheidet sich von dem der
Chicagoer Schule in dem entscheidenden Punkt, daß er auf Ausgleich und
Abschöpfung des Mehrwertes zielt. Während die Chicagoer Schule der Sache nach
einen durch und durch kapitalistischen Monetarismus vertritt, könnte man das
Konzept hinter diesem Buch am ehesten kennzeichnen als einen
postkapitalistischen Monetarismus.
Augsburg, den 18. Mai 1983: im Jahr des 100. Todestages
von Karl Marx und des 100. Geburtstages von John Maynard Keynes.
Dieter Suhr