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Inhaltsverzeichnis: „Geld ohne Mehrwert“

 

 


 

 

 

 

(Jobst von Heynitz, der mich auf die Spur gesetzt hat. D.S.)

 

 

 

An den Leser

 

Ich habe mich sehr bemüht, dieses Buch so zu schreiben, daß jeder es verstehen kann, der nur genügend Neugierde für die Sache mitbringt und auch entschlossen ist, hier oder dort einmal eine kleine Anstrengung beim Lesen auf sich zu nehmen, wenn eine ungewohnte Einsicht nicht auf Anhieb plausibel anmutet. Es soll zudem in den folgenden Kapiteln meistens nicht nur abstrakt und wissenschaftlich trocken zugehen, sondern möglichst anschaulich und auch nicht ganz ohne Schmunzeln.

Den Fachökonomen bitte ich zum einen um Nachsicht und Geduld: Erstens muß er annehmen, daß die Grenze zwischen ernst zu nehmenden Überlegungen und Scharlatanerie überschritten wird, wenn ein gelernter Jurist und Rechtsphilosoph über nichts Geringeres schreibt als „Geld ohne Mehrwert". Zweitens wird ‑ vor allem im dogmenhistorischen Teil ‑ vieles erzählt, was dem Mann vom Fach vertraut ist. Daher kann ihm manches, so wie ich es zunächst bringe, als banal oder als überflüssig erscheinen.

Den Fachökonomen bitte ich zum anderen aber auch um geschärfte Aufmerksamkeit und gesteigerte Aufnahmebereitschaft: Dort nämlich, wo es um den Kern der Sache geht, lasse ich es an genauen Definitionen und Erklärungen nicht fehlen. Jeder Routinier kann sie in seiner Fachsprache nachvollziehen; jeder Kenner kann sich seine exakten Formeln hinzudenken. Aber er stößt auf Ungewohntes. Also muß auch er den Willen mitbringen, sich auf meine Überlegungen gerade deshalb einmal einzulassen, weil er zunächst geneigt sein dürfte, sie innerlich abzuwehren. Ein aufgeschlossener Könner mag sich dann sogar die Lektüre dieses Büchleins ersparen, wenn er nur meine Kernthese prüft, um dann für sich die praktischen Konsequenzen dieser Einsichten kritisch zu analysieren und Anknüpfungspunkte für geldordnungspolitische Verbesserungen zu finden. Für solche Fachleute, die schneller und selbständiger zum Ziel kommen wollen, werde ich daher den Kern meiner Überlegungen hier kurz darstellen. Die übrigen Leser mögen mir diesen Vorgriff, dessen Sätze ihnen noch nicht ohne weiteres nachvollziehbar sein dürften, verzeihen. Sie können gleich zum Anfang des ersten Kapitels hinspringen.

Geld fungiert zunächst einmal als Tausch‑ und Schuldtilgungsmittel. Es wird für Waren und Dienstleistungen bezahlt. Dabei verkörpert es Kaufkraft, die in Währungseinheiten gemessen wird und z. B. in Form von Banknoten von Hand zu Hand geht.

Geld geht jedoch nicht nur von Hand zu Hand. Es wird von seinen Besitzern auch in der Kasse bereitgehalten, soweit sie jederzeit zahlungsfähig sein wollen. Das ist dann das Geld in seiner Funktion als Liquiditätsmittel. Die Liquidität ist nämlich ein wirtschaftlicher Vorteil, den das Geld bietet, solange es gerade noch nicht ausgegeben, sondern nur bereitgehalten wird. Diesen zusätzlichen Wert, den das Geld in der Kasse bietet, honoriert der Markt mit Zinsen: Wer jemandem anderen Liquidität zur Verfügung stellt, bekommt dafür die Liquiditätsprämie. Genau genommen handelt es sich allerdings um eine Prämie dafür, daß er sich auf Zeit seiner Liquidität begibt, also um eine Liquiditätsverzichtsprämie.

Wer Geld verleiht, der verkauft die wirtschaftlichen Vorteile, die mit Liquidität verbunden sind, und zwar pro Zeiteinheit. Während dieser Zeit behält der Verleiher die Kaufkraft des Geldes selbst in der Hand und bucht sie auf der Aktivseite seiner Konten: Er behält sie in Gestalt der Valuta seines Rückzahlungsanspruchs aus dem Darlehen, meist gut gesichert durch Hypotheken, Bürgschaften oder andere „Sicherheiten". Worauf er gegen Entgelt verzichtet, das ist nur seine monetäre Liquidität.

Was ist nun der eigenartige Vorteil des in der Kasse bereitgehaltenen Geldes? Was ist der begehrte wirtschaftliche Vorteil der Liquidität? Der Vorteil besteht darin, daß das Geld ein generalisiertes Tauschmedium ist: Während man für bestimmte Waren oder Leistungen auch bestimmte Abnehmer braucht, kann man mit Geld praktisch überall und jederzeit, gegenüber jedermann und für jede wirtschaftliche Leistung zahlen. Das Geld spielt unter den Waren und Diensten eine gleiche Rolle wie der Joker in einem Kartenspiel, in dem der Joker jede andere Karte vertritt, oder wie die Buben im Skat. Spieltheoretisch dürfte dieser Vorteil des Geldes als eines generalisierten Mediums leicht und exakt faßbar sein.

Der wirtschaftliche Wert der Liquidität zeigt sich dort, wo sie vermarktet wird: auf dem Kapitalmarkt, insoweit er Liquiditätsmarkt ist. Man kann an der Liquiditätsprämie regelrecht ablesen, was Liquidität kostet, ‑ also auch, wieviel Geld, das in der Kasse bereitgehalten wird, mehr wert ist als der Betrag des bereitgehaltenen Geldes selbst. Der Vorteil, den Liquidität bietet, ist wirtschaftlich meßbar, und der Zins (ohne Risiko‑ und Inflationsausgleichsprämie) ist der Zeiger, an dem mit dem Preis auch der Marktwert der Liquidität abgelesen werden kann.

Auf dem Kapitalmarkt hat das Geld mithin über seinen Kaufkraft-Nennwert hinaus einen Liquiditätswert. Das Geld, das auf dem Kapitalmarkt verliehen wird, ist mit dem Ablauf von Zeit mehr wert als das Geld, das auf anderen Märkten ausgegeben wird. Die Differenz zwischen dem Nennwert dieses ausgegebenen Geldes und dem auf dem Geldmarkt verliehenen Geld ist der Mehrwert von Geld. Geld ist mehr wert als Geld. Geld hat einen nach Märkten gespaltenen Wert: Zum einen hat es seinen Kaufkraft‑Nennwert. Zum anderen hat es seinen Liquiditätspreis pro Zeiteinheit. Bei diesem Preis der Liquidität handelt es sich geldtheoretisch nicht um einen „einfachen" Kaufpreis, gemessen in „DM", sondern um einen "Bestandhaltepreis", gemessen in „DM pro Zeitspanne". Der Nennwert des Geldes und sein Bestandhaltepreis werden kommensurabel, wenn der Liquiditätspreis kapitalisiert wird. Also darf man formulieren: Der Mehrwert des nach Märkten gespaltenen Wertes von Geld ist gleich dem kapitalisierten Preis seiner Liquidität.

Das verliehene Geld ist um den Mehrwert mehr wert als ausgegebenes Geld. Die Kaufkraft verliehenen Geldes wächst der Kaufkraft des ausgegebenen oder zurückbehaltenen Geldes davon, und zwar mit linearem Wachstum oder sogar, wenn Zinseszinseffekte hinzukommen, mit exponentiellem Wachstum. So öffnet sich zwischen den beiden Werten des Geldes mit dem Ablauf von Zeit eine monetäre Schere.

Als Joker unter den Tauschobjekten wirkt das Geld privilegierend im Wirtschaftsverkehr, und der Zins, soweit er Liquiditätsprämie ist, sprudelt als Pfründe aus diesem Privilegium. Daher kann nicht die Rede davon sein, das Geld wirke im Tauschverkehr neutral. Die gerade nicht neutrale Wirkung, die das Geld bei einfachen Tauschgeschäften zeitigt, schlägt sich anschaulich ablesbar nieder bei Kreditgeschäften jeder Art, besonders typisch beim transtemporalen Kaufkraftaustausch, wie er im Zusammenhang mit Darlehensverträgen stattfindet. Weil die Liquiditätsprämie dafür sorgt, daß verliehene Kaufkraft der ausgegebenen Kaufkraft davonwächst, bringt sie die transtemporalen Preisgefüge aus dem Gleichgewicht. Sie behindert dadurch aber nicht nur den transtemporalen Leistungsaustausch, sondern den hinter Kreditgewährungen steckenden doppelten Austausch von Kaufkraft zwischen Wirtschaftssubjekten überhaupt; denn was für den einen ein Transfer seiner Kaufkraft in die Zukunft ist (heute sparen und weggeben, um morgen verbrauchen zu können), das ist für die Volkswirtschaft ein zweifacher Transfer von Kaufkraft zwischen den Betroffenen (heute Auszahlung von A an B, morgen Rückzahlung von B an A). Gehemmt wird schließlich die Bildung von Realkapitalien wie z. B. Produktionsanlagen und Arbeitsplätzen, Mietwohnungen und Kostbarkeiten von Kunst und Kultur: nämlich immer dann, wenn ihre Rendite bzw. Wertsteigerung den Wettbewerb nicht bestehen kann mit dem Zins des Geldes.

Weil das Geld auf den Kapitalmärkten „mehr wert" ist als auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen, ziehen die Kapitalmärkte Kaufkraft, die die Wirtschaftssubjekte zur Zeit entbehren können, besonders stark an. So wird sie von den übrigen Märkten weggesogen. Je reicher die Wirtschaftssubjekte einer Marktwirtschaft werden, über desto mehr solcher marginaler Kaufkraft verfügen sie. Desto nachhaltiger also wirkt sich auch der Sog aus, den der Mehrwert ausübt, mit dem auf den Kapitalmärkten gewunken wird. Desto weniger Geld kommt noch direkt als wirksame Nachfrage auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen, Investitionsgüter und Kostbarkeiten an. Auf diesen Märkten jedoch müssen mit realen Leistungen die Profite erwirtschaftet werden, aus denen der verführerische Mehrwert bezahlt werden soll: der Mehrwert, den die Wirtschaftssubjekte erwarten, welche ihre marginale Kaufkraft anlegen, um Zinsen oder Kapitalrenten einzustreichen. Dabei gilt das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen nicht für die Befriedigung der Lust an der Vergrößerung des Vermögens durch Zinsen und Renten. Eher kommt und steigt der Appetit auf den Mehrwert mit dem Essen, und mit dem Essen wiederum steigen die Möglichkeiten, noch mehr Mehrwert zu sich zu nehmen. Diese Asymmetrie der Märkte, nicht gedämpft durch abnehmenden Grenznutzen, kann auf die Dauer nicht gut gehen. Der Wohlstand erstickt dann an seiner Nachfrage nach Mehrwert, die als Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen fehlt.

Bei alledem handelt es sich um Erkenntnisse, die vor allem von Keynes und seit Keynes recht genau diagnostiziert worden sind, ‑ freilich nicht unter Stichworten wie Mehrwert, gespaltener Geldwert, monetäre Schere und mangelhafte Neutralität des Geldes, sondern im Zusammenhang mit der „wirksamen Nachfrage" und im Zusammenhang mit der spätestens seit Keynes offiziell anerkannten, heute allerdings portfoliotheoretisch verfeinerten Erkenntnis, daß der Zinssatz von Geldkapital den Standard setzt für die Grenzleistungsfähigkeit von Realkapital.

Seit Keynes liegen auch die wichtigsten Formeln und Ansätze auf dem Reißbrett der Fachökonomen, mit deren Hilfe man nicht mehr nur die Symptome bekämpfen, sondern den Ursachen der Unausgeglichenheiten beikommen kann. Damit meine ich allerdings gerade nicht die zwiespältigen Instrumentarien dessen, was heute unter der Flagge des Keynesianismus segelt, sondern elementare Einsichten der „General Theory", die langfristig nicht für, sondern gegen den landläufigen Keynesianismus sprechen. Denn der Keynesianismus erreicht nur die Symptome. Die General Theory jedoch hat es mit den Ursachen zu tun.

Es geht hier um eine keynesianische Alternative zum Keynesianismus: um die marktkonforme und marktbefreiende Abschöpfung des monetären Mehrwertes. Ich glaube, daß damit eine ganze Reihe von entscheidenden Problemen unserer Marktwirtschaft zugleich beeinflußt und entschärft werden kann. Aber um ein Allheilmittel zum Kurieren aller denkbaren Krankheiten, Wunden und Infektionen der Wirtschaft handelt es sich freilich nicht.

Mein Monetarismus unterscheidet sich von dem der Chicagoer Schule in dem entscheidenden Punkt, daß er auf Ausgleich und Abschöpfung des Mehrwertes zielt. Während die Chicagoer Schule der Sache nach einen durch und durch kapitalistischen Monetarismus vertritt, könnte man das Konzept hinter diesem Buch am ehesten kennzeichnen als einen postkapitalistischen Monetarismus.

 

Augsburg, den 18. Mai 1983: im Jahr des 100. Todestages von Karl Marx und des 100. Geburtstages von John Maynard Keynes.

 

 

Dieter Suhr