Die Positivismustheorie Gustav Radbruchs
A. Zur positivistischen These 'Gesetz ist Gesetz'
"Der rechtswissenschaftliche Positivismus des
19. Jahrhunderts gehört in den großen geisteswissenschaftlichen
Zusammenhang seiner Zeit und hat daher sowohl mit dem
von Auguste Comte begründeten philosophischen
Positivismus, wie auch mit dem Positivismus der Naturwissenschaften
manche Berührung und auch Verwandtschaft."
(Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 31;vgl. dazu insgesamt: Tripp, Der Einfluß
des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen
Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert)
Carl Schmitt meint, daß es im Entstehungsakt des
Rechts einen >>faktischen Punkt<< gibt.
In diesem faktischen Punkt berührt sich der philosophische
Positivismus mit dem Gesetzespositivismus; denn für
beide stellt sich die Frage, wie das Faktische zu fassen
ist, und was im besonderen die Rechtstatsache ausmacht:
"Nun ist eine Tatsache, ein 'bloßes Faktum',
natürlich keine Rechtsquelle, und die rechtswissenschaftliche
Frage richtet sich eben darauf, wie dieser nur faktische
Punkt der Wille des Gesetzes, oder der Augenblick
des wirklichen Geltens an den der Positivist sich
hält, juristisch aufzufassen ist, ob als Norm
oder als Entscheidung oder als Teil einer Ordnung."
(Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 36)
I. Zum philosophischen Positivismus
1. Erster Definitionsversuch
Positivismus ist eine Haltung in der (Natur-) Wissenschaft
und Philosophie, die sich mit der Feststellung des
unmittelbar Gegebenen, Tatsächlichen begnügt
(empirische Erkenntnis), und jede metaphysische Hinterfragung
als sinnlos ablehnt.
2. Entstehung im 19. Jahrhundert
Das gesamte geistige Klima des 19. Jahrhundert ist geprägt
durch eine Reihe auch heute noch bedeutender naturwissenschaftlichtechnischer
Erfolge, die im Zuge ihrer ökonomischen Verwertung
zur industriellen Revolution führten.
Von etwa 1830 bis 1870 verläuft eine Phase des
technischen Aufbruchs, in der zum Beispiel die ElementarAnalyse
(1831 durch Liebig), die Elektrizität (1831 durch
Faraday), die Telegrafie (1837 durch Morse), die Fotografie
(1839 durch Daguerre) und die Evolutionstheorie (1859
durch Darwin) entwickelt wurden. (zusammengestellt nach:
dtvAtlas zur Weltgeschichte, S. 65)
Diese Anfangserfolge führten zu einem (Selbst-)
Bewußtsein der Naturwissenschaften, in deren
Folge sie das gesamte theoretische Fundament der Geisteswissenschaften
herausforderten und ein Klima der wissenschaftlichen
Konkurrenz schufen. Ihre Erkenntnismethode war nicht
der Rationalismus, der Wissen aus etwas Unbezweifelbaren
(Annahmen, die meist in der Vernunft gesucht wurden
und somit außerordentlich spekulativ waren) deduktiv
herleiten wollte, sondern die empirische Schau der
Dinge (Beschreibung), Systematisierung und die zurückhaltende
Hypothesenbildung durch induktive Schlüsse versuchten.
Erstes Ergebnis bildete die allgemeine Vernaturwissenschaftlichung
des Denkens.
In einer zweiten Phase des naturwissenschaftlichen Fortschritts
(>>Boomphase der Technik<<) von etwa 1870
bis 1895 werden aus heutiger Sicht grundlegende Entdeckungen
gemacht, wie zum Beispiel das Periodensystem der Elemente
(1869 durch Meyer/Mendelejeff), das Telefon (1876 durch
Bell/Gray), das Auto (1885 durch Daimler/Benz), der
Elektromagnetismus (1888 durch Hertz), die Röntgen-Strahlen
(1895 durch Röntgen) und der Kinematograph (1895
durch Lumière). (zusammengestellt nach: dtvAtlas
zur Weltgeschichte, S. 65) Ebenso etablierten sich neue
Wissenschaften wie die Soziologie und die Psychologie.
Der Aufstieg der Naturwissenschaften und Technik begründete
den optimistischen Glauben an eine fast unbegrenzte
Gestaltbarkeit der Welt durch den Menschen (Fortschrittsglaube):
1.Gott ist tot; die Welt wird durch die Naturwissenschaft
erklärt.
2.Die Welt ist entdeckt; sie ist über das rein
menschlichsinnliche Wahrnehmungsvermögen hinaus
verständlich.
3.Geschichte und Gesellschaft scheinen geordnet und
erklärbar, vielleicht sogar steuerbar.
a) Abkehr vom metaphysischen Idealismus
aa) Historismus als tatsächlicher Überwinder
des Vernunftrechts
Nach dem Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1831) und
dem Ende der spekulativen Philosophie des deutschen
Idealismuses, die Erkenntnis und Handlungsanweisung
in der Vernunft sucht (für letzteres seien der
kategorische Imperativ bei Kant, die Denkgesetze bei
Fichte und der Weltgeist Hegels angeführt), scheinen
sich die Methoden der exakten Tatsachenforschung auch
auf die Geschichtswissenschaft auszudehnen:
"Schon zur Zeit der Berliner Wirksamkeit Hegels
macht sich die Opposition der sogenannten 'historischen
Schule', eines Savigny etwa, gegen die konstruktive
Art der Hegelschen Geschichtsbetrachtung und die gewaltsam
in den Geschichtsablauf hineingedeutete Teleologie
geltend. Wenn auch diese Teleologie nicht wie Fichtes
Geschichtsmoralismus von außen einen Gesichtspunkt
und Maßstab der Beurteilung an das Geschehen
herantrug, sondern aus der Geschichte selbst das innere
Gesetz ihres Werdens abzuleiten versuchte, so vermißte
man doch die Ehrfurcht vor der reinen historischen
Tatsächlichkeit, den Sinn und das Interesse für
ihre exakte Feststellung wie sie der Meister der aus
der 'historischen Schule' stammenden Geschichtsschreibung,
L. v. Ranke, in der Wendung zum Ausdruck brachte, er
möchte sein Ich auslöschen, um die Dinge
zu sehen, wie sie wirklich gewesen sind." (v. Aster,
S. 358)
Diese beschriebene Abkehr vom ideologischen zum methodologischen
Historismus verdankt seine Entwicklung also ebenfalls
dem Bemühen um die Verwissenschaftlichung der
Geschichtsschreibung nach dem Vorbild der Naturwissenschaften.
Die Historische Rechtsschule Savignys vermochte, das
rationalistische Naturrecht Hugo Grotius (1583-1645)
und Christian Wolffs (1679-1754) zwar tatsächlich
zu verdrängen, die versucht hatten aus wenigen
apriorischen Obersätzen, z.B. "pacta sunt
servanda", rein deduktiv alle weiteren Rechtssätze
(Vernunftrecht) ableiten zu können, ohne Rücksicht
auf die empirische Wirklichkeit, auf die räumlichen
und zeitlichen Umstände. Dies gelang, indem sich
die Rechtsschule (z.B. >>Vom Beruf unserer Zeit
für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft<<,
Savigny 1814) dem jeweiligen unterschiedlich gewachsenen
Recht der Völker empirisch näherte und damit
der einen bedeutenden Zeitströmung, der Romantik,
eher entsprach. (Kaufmann, S. 66 f.)
bb) Wissenschaftliche Widerlegung des Vernunftrechts
durch den Kritizismus
Erkenntnistheoretisch wurde dagegen das Vernunftrecht
durch die andere Zeitströmung, den Kritizismus
Immanuel Kants (1724-1804), widerlegt.
Kant wollte wissen, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich
sei. Für ihn bedeutete dies im wesentlichen, ob
es synthetische Urteile a priori in der Metaphysik
gebe, das heißt solche allgemeingültige,
unser Wissen erweiternde (also nicht bloß analytische)
Erkenntnisse aus reiner Vernunft. Als Beweis galt ihm
die Mathematik, die nicht empirisch ist, das heißt
Erkenntnis unabhängig von jeder sinnlichen Erfahrung
ermöglicht (a priori); synthetische Urteile sind
der Mathematik zum Beispiel deswegen möglich,
da A+B=C (7+5=12) gelten kann und weder A noch B in
C vorhanden sind.
Eigentliche Wissenschaft konnte demnach für Kant
nur sein, insofern in ihr mathematische Methoden Anwendung
finden.
Unsere Erkenntnis setzt aber nach Kant Anschauung und
Begriffe voraus (durch jene wird ein Gegenstand gegeben,
durch diese wird er gedacht). Die Anschauung ist nun
immer empirisch, da unsere Natur es mit sich bringt,
daß die Anschauung niemals anders als sinnlich
sein kann. Der Verstand ist einer Anschauung dagegen
nicht fähig; er ist einzig "das Vermögen,
den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken".
Wenn nun aber der Verstand nichts anzuschauen vermag
und die Sinne nichts zu denken, enthält Kants
"Kritik der reinen Vernunft" die Regel der
Sinnlichkeit überhaupt, daß heißt
reine Anschauung enthält die Form, unter welcher
etwas angeschaut wird, und reiner Begriff allein die
Form des Denkens.
Das heißt aber, der Verstand ist auf die Erkenntnis
der Gegenstände möglicher Erfahrung und die
mathematischen Naturwissenschaften beschränkt.
Der Verstand ist also nicht in der Lage, die Dinge
"an sich" zu erkennen (wie sie wirklich sind),
sondern nur wie sie, vermittelt der Sinnlichkeit, erscheinen;
er ist also nur in der Lage, das, was ihm durch die
Sinne vermittelt wird (empirische Erkenntnis), nämlich
die Erscheinungen, zu verarbeiten und zu formen.
"Die transzendentale Analytik hat demnach dieses
wichtige Resultat: daß der Verstand a priori
niemals mehr leisten könne, als die Form einer
möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren,
und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein
Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die
Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb deren uns allein
Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten
könne. Seine Grundsätze sind bloße
Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der
stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt,
von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnis a
priori in einer systematischen Doktrin zu geben, muß
dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen
Verstandes Platz machen." (Kant, Kritik der reinen
Vernunft, S. 229)
Der Inhalt des Verstandes ist also nicht a priorisch
zu gewinnen (er enthält in seiner Reinheit nur
die Form des Denkens); es bedarf vielmehr der empirischen
Anschauung. Eine inhaltliche Metaphysik kann also im
Sinne Kants niemals allgemeingültig und mathematisch
exakt sein.
Kant versuchte also eine Einheit zwischen Empirismus
und Rationalismus, wobei er bestrebt war, letzteren
auf eine höhere Stufe zu stellen. So beschäftigte
er sich folgerichtig vornehmlich mit der Bedingung
möglicher Erkenntnis, das heißt mit ihrer
reinen Form. So ist für ihn das Grundprinzip des
Rationalismus das synthetische Urteil a priori, d.
h. die Bedingung der Möglichkeit einer sich selbst
begreifenden Vernunft.
Dabei sollte an dieser Stelle genauer zwischen Verstand
und Vernunft unterschieden werden: Während Kant
dem Verstand die Gewinnung und Ordnung der Erfahrung
aufgrund der Sinneseindrücke und der Denkformen
(Kategorien) zuschrieb, soll die Vernunft als das >>obere
Erkenntnisvermögen<< die Verstandesbegriffe
zu einem in sich geschlossenen Ganzen der Erkenntnis
verbinden, was nur durch Überschreiten der Erfahrung
möglich ist:
"Der Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft
den reinen Verstand einschränkt, erfüllt
nicht ihre eigene ganze Bestimmung. Jede einzelne Erfahrung
ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes;
das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist
aber selbst keine Erfahrung und dennoch eine notwendiges
Problem für die Vernunft, zu dessen bloßer
Vorstellung sie ganz andere Begriffe nötig hat
als jene reinen Verstandesbegriffe, deren Gebrauch
nur immanent ist, d. i. auf Erfahrung geht, soweit
sie gegeben werden kann, indessen daß Vernunftbegriffe
auf die Vollständigkeit, d.i. die kollektive Einheit
der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über
jede gegebene Erfahrung hinausgehen und transcendent
werden." (Kant, Prolegomena, S. 89)
Im Bereich der praktischen Philosophie beschäftigte
sich Kant mit der reinen Form des (guten) Willens:
der Pflicht:
"Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe,
die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen
könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit
der Handlungen überhaupt übrig, welche allein
dem Willen zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals
anders verfahren als so, daß ich auch wollen
könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz
werden." (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, S. 20)
Zurück zum Vernunftrecht: als rationales Naturrecht
ist es nicht in der Lage, seine apriorischen Annahmen
mathematisch exakt zu deduzieren und mit (reinem) Leben
zu füllen, da Vernunft, wie Kant gezeigt, nur
die reine Form, das heißt die Möglichkeit
der Erkenntnis synthetischer Urteile a priori zu bestimmen
vermag. (Kaufmann, S. 68 ff.)
Der Inhalt des Rechts stammt also aus der Empirie; dazu
später mehr.
cc) Hegels dialektischer Blick auf die Geschichtlichkeit
Kants hauptsächliches Interesse an der reinen Form
ließ ihm einen weitern Gesichtspunkt der Empirie
unberücksichtigt: das Moment der Geschichtlichkeit
des Menschen und, darin eingeschlossen, auch der Geschichtlichkeit
des Rechts.
Die historische Rechtsschule hat diese Lücke zwar
rein tatsächlich ausgefüllt, aber ebenfalls
die Geschichtlichkeit als eine Strukturform des menschlichen
Seins unberücksichtigt gelassen.
Die Frage, die sich für die Rechtswissenschaft
auftat, lautete also:
"Kann eine Rechtsordnung, auch wenn sie nicht immer
und überall verbindlich ist, doch wenigstens hier
und jetzt verbindlich, d. h. die gesollte Ordnung dieser
Zeit und dieses Kulturkreises sein?" (Kaufmann,
S. 76)
Kant hätte aus seiner skeptizistisch-rationalistischen
Sicht diese Frage kategorisch verneinen müssen,
dagegen nahm Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831)
diese Fragestellung als erster an. Er überwand
die strikte dualistische Philosophie Kants (>>Zweiweltentheorie<<,
Trennung von Natur und Geist, Sein und Sollen) und
formulierte seine Identitätsphilosophie als Erklärung
der Bewegung in der Welt, als Synthese im Weltgeist.
"Das Geniale an Hegels Konzept ist nun, daß
er das Gesetz der Entwicklung als in der Idee selbst
anlegt, als dem Geist entstammend verstand. Alles Geistige
vollzieht sich nach einem bestimmten, ständig
fortschreitenden Schema, nach dem Schrittmaß
von Thesis, Antithesis und Synthesis, kurz: nach der
berühmten hegelschen Dialektik." (Kaufmann,
S. 77)
Allerdings beweist sich Hegel hier noch als Vertreter
des Deutschen Idealismus, das heißt, der dialektische
Wandel der Geschichte vollzieht sich logischnotwendig
nach dem Gesetz der Vernunft (Idealistische Geschichtsauffassung).
Das Vernünftige ist für Hegel nicht irgendein
Volksgeist, sondern der Staat, so Hegel 1821:
"Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen
Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen
besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für
sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit
ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die
Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, sowie
dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen
hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder
des Staates zu sein." (Hegel, S. 208)
Fraglich war und blieb dies: Ist der Staat die Wirklichkeit
der sittlichen Idee a priori und sind seine Gesetze
mit zwingender Notwendigkeit das richtige Recht der
Vernunft?
dd) Materialistische Abkehr vom idealistischen Weltbild
Die Gegenbewegung zum Weltbild der Ideen (zur Metaphysik
der Vernunft), die uns auch zur positivistischen Kehrtwende
bringt, da sie das Ende des idealistischen Zeitalters
bedeutete, kam in der Form der materialistischen Geschichtsauffassung
von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895).
Schon der Wegbereiter des Materialismus, Ludwig Feuerbach
(1804-1872), verwirft die idealistische Vernunfterkenntnis
zugunsten eines radikalen Sensualismus:
"Die Sinne und nur die Sinne sind die Grundlage
aller Erkenntnis, in dem Zeugnis der Wahrnehmung tritt
uns die reale Welt entgegen, die ihrem Wesen nach Körper,
Natur ist. Der Mensch ist ein Glied der Natur, als
solches ihn zu begreifen Aufgabe der Philosophie, die
danach auf die Naturwissenschaft sich stützende
Anthropologie ist. Hegel will vom menschlichen Geist
zum Naturverständnis, Feuerbach von der Erkenntnis
der Natur zu der des menschlichen Geistes einen anderen
>>Geist<< gibt es nicht gelangen."
(von Aster, S. 361)
Auch Marx fand, daß Hegel die Dinge auf den Kopf
gestellt hat und daß sie darum umgedreht und
wieder auf die Beine gestellt werden müssen, allerdings
unter ausdrücklicher Beibehaltung der dialektischen
Methode. Das Entscheidende, Ursprüngliche für
Marx sind die Lebensbedingungen der Menschen, nicht
das Ideelle:
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens
gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem
Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse,
die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen
Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser
Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische
Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf
sich ein juristischer und politischer Überbau
erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen
entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens
bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß
überhaupt. Es ist nicht so das Bewußtsein
der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches
Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer
gewissen Stufe der Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch
mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder,
was ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den
Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich
bisher bewegt hatten." (Marx, Zur Kritik der politischen
Ökonomie, MEW Bd. XIII, S. 8 f.)
Für die materialistische Geschichtsauffassung bedeutet
das, daß die Geschichte eine Abfolge von Klassenkämpfen
ist, die notwendig dann auftreten, wenn die jeweiligen
Produktionsverhältnisse (Sein) nicht mehr dem
juristischpolitischen Überbau (Bewußtsein)
entsprechen. Dieser dialektische Prozeß setzt
also immer dann ein, wenn eine herrschende Klasse zu
wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit, zu einer nur noch
konsumierenden, nicht mehr produzierenden Schicht verkommt,
ihre Herrschaft nur noch als politische besteht und
damit ein Hemmnis der ökonomischen Entwicklung
wird.
Dieses materialistische Denken setzt am Empirischen,
an der exakten Beobachtung der Dinge, der Verhältnisse
an. Es ist in diesem Sinne quasi mathematisch nicht
im Sinne Kants, denn es verzichtet gerade auf die Erkenntniswerkzeuge
der reinen Vernunft es ist naturwissenschaftlich,
positivistisch.
"Von dem um die Mitte des Jahrhunderts, zugleich
mit der Auflösung der Hegelschen Schule, einsetzenden
Rückgang des philosophischen, dem Überwiegen
des naturwissenschaftlichen Interesses war schon die
Rede. Das Ideal exakter Tatsachenerkenntnis regiert
die Stunde, ein Ideal, das sich mit der positivistischen
Richtung, die die Philosophie in Frankreich und England
eingeschlagen hatte, jedenfalls besser vertrug als
mit den spekulativen Systemen eines Fichte, Schelling
und Hegel." (von Aster, S. 364)
Der einschneidende Schritt vom Idealismus zu dem naturwissenschaftlichen
Denken war vollzogen. Der verdeutlichte Glaube an Fortschritt
und Naturwissenschaft ist somit verantwortlich für
den Relativismus, der das Erkennen abhängig macht
vom Stand der Forschung oder der geschichtlichen Situation.
b) Positivismus im naturwissenschaftlichen Zeitalter
Wie schon mehrfach und nicht zufällig bemerkt,
geht es dem Positivismus um die exakte naturwissenschaftliche
Methode.
In einer Zeit also, in der sich Marx mit Hegel und der
metaphysischen Tradition auseinandersetzt, ist die
Lage der Philosophie schon bestimmt durch die Parole
in allen Wissenschaften: Erfahrungstatsachen statt
spekulativer Begriffe. In den Naturwissenschaften lautet
sie: Beobachtung und Experiment, in den historischen
Wissenschaften: Studium der Quellen.
Dies ist die Parole des Positivismus, der als Begriff
durch den Franzosen Auguste Comte (17981857) eingeführt
und durch seinen englischen Anhänger und Freund
John Start Mill (18061873) europäische Verbreitung
gefunden hatte. (Riedel, S. 266)
aa) Comte und das Drei-Stadien-Gesetz
Auguste Comte besuchte bis 1816 als Schüler die
noch junge Pariser École Politechnique, die
seit 1794 versuchte, eine mathematische Methode, >>Géometrie
descriptive<< des Gaspard Monge, zu verallgemeinern,
auf die Ingenieurwissenschaften als Prinzip der technischen
Weltbeherrschung anzuwenden und als didaktisches Konzept
auf das gesamte psychische und soziale Leben zu übertragen,
bevor die eigentliche Industrialisierung überhaupt
eingesetzt hatte. (Blankertz, S. 67 ff. und 216; vgl.
auch Poggi/Röd, S. 23 ff.) Comte entwickelte in
seinem Hauptwerk >>Cours de philosophie positive<<
(18301842) die Grundtendenzen der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte:
der Zug zum >>Positiven<< und zum >>Relativen<<.
Der Ausdruck >>positiv<< bezeichnet nicht
nur, wie die vulgärwissenschaftliche Parole nahelegen
könnte, das tatsächlich Gegebene, die Tatsachen
als das in Beobachtung, Experiment und metrischer Darstellung
Bestimmbare und/oder als das durch den Rückgang
auf die Quellen rekonstruierbare Geschehen; er bezeichnet
zugleich das >>Gesetz<<, verstanden als
eine konstante Tasache der Natur. (Riedel, S. 267) Wobei
das Positive mit dem Nützlichen und Entscheidbaren,
das heißt also auch mit dem Bewußtsein
der Menschen identisch sein und ihm somit auch eine
ethische Bedeutungsqualität beikommen kann. Die
Wirklichkeitswissenschaft (Tatsachen sind also das
Wirkliche im Sinne dessen, was ist) kann weder absolut
gedacht noch metaphysisch Begründet werden.
Dies ist auch der Ansatzpunkt für die Relativität
der positiven Wissenschaft, da die Beschränkung
des Wissens auf das, was ist, den Verzicht auf Ursprungs-
und Gründewissen voraussetzt; Riedel, S. 268 ebenso
muß die Beobachtung der Phänomene stets
zu der Lage und Organisation des Menschen relativ bleiben.
(Riedel, S. 282)
Genauso wie bestimmte Fragestellungen der Einzeldisziplinen,
die sich aufgrund eines mehr oder weniger konsolidierten
Wissens schlechterdings nicht bestreitbar, als Scheinprobleme
auflösen lassen sollten, sollte die Metaphysik
als große Ansammlung von Scheinproblemen auf
dem Hintergrund der gesamten theoretischen Wissenschaften
abgetan werden können. (v. Kempski, S. 23)
"Als Scheinproblem sollte im wissenschaftlichen
System ein Problem gelten, das aus dem Wesen der wissenschaftlichen
Untersuchungsmethode der betreffenden Disziplin heraus
und nicht nur aufgrund eines derzeitigen Wissens und
Könnens der wissenschaftlichen Untersuchung unzulänglich
sei." (v. Kempski, S. 20)
Warum nun aber der Vorzug der positiven vor der metaphysischen
Philosophie besteht, erklärt Comte in seinem Drei-Stadien-Gesetz:
In seinem Verhältnis zur Wirklichkeit durchläuft
der menschliche Geist nacheinander drei Stadien: Im
ersten Stadium, dem theologischen oder fiktiven Zustand,
sucht der Mensch nach dem letzten Grund der Dinge und
deutet alle Erscheinungen der Welt als Ausdruck des
Wirkens übernatürlicher Wesen. Seine Vollendung
erfährt dieser Zustand in Gestalt des Monotheismus,
der alle Phänomene auf ein einziges göttliches
Wesen zurückführt. Im zweiten Stadium, dem
metaphysischen oder abstrakten Zustand, werden die
Ursachen aller Erscheinungen in ewigen metaphysischen
Gesetzen gesucht, die die Vorstellung von einem die
Welt beherrschenden launenhaften Gott ersetzen. Im
dritten und letzten Stadium schließlich, dem
wissenschaftlichen oder positiven Zustand, wird die
Unmöglichkeit absoluter Erkenntnis eingesehen,
und die Fragestellung des Menschen wendet sich von
der Ergründung der Ursachen (dem Scheinproblem
des >>Warum?<<) ab, um sich nur noch auf
die Erforschung der innerweltlichen Verhältnisse
und ihrer Gesetzmäßigkeiten (auf das >>Wie?<<)
zu konzentrieren. (Poggi/Röd, S. 29 ff.)
Comtes Widersacher behaupteten, daß dieses allgemeine
Gesetz der Universalgeschichte nicht durch die positive
Wissenschaft, sondern nur durch Geschichtstheologie,
also durch Metaphysik selbst zu erkennen sei. Dem würde
er entgegenhalten, daß die Notwendigkeit seines
Gesetzes aus Beobachtung der Natur selbst entspringt:
"Die Notwendigkeit, soweit Comte eine solche dem
Dreistadiengesetz zuschreibt, folgt aus der Natur der
Sache, ja aus der Sache der Natur, die Natur erzwingt
den Ablauf im Sinne Comtes, wenn sie einmal zum Gegenstand
der Analyse geworden ist, aber diese Analyse ist möglich
nur durch die Spontanität der menschlichen Intelligenz."
(v. Kempski, S. 18)
Innerhalb der Wissenschaften, die schon das Stadium
der Positivität erreicht haben, stellt Comte eine
Rangfolge auf, an deren Spitze die Mathematik steht.
Entscheidend wichtig waren ihm die organischen Wissenschaften,
da sie sich mit der Erforschung ganzer Organismen beschäftigen,
obwohl hier bisher nur die Biologie das dritte Stadium
erreicht hat. Als organische Wissenschaft spielte die
Soziologie für Comte eine ganz besondere Rolle:
Comte, der den Begriff Soziologie prägte, wollte
mit ihrer Hilfe, da sie doch die Wissenschaft von der
Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse ist (Gesellschaft
als Organismus), exakt formulierte Gesetze finden,
durch die die Beherrschung über die geschichtlichpolitisch
Welt ebenso möglich werden sollte wie die über
die Natur mit Hilfe der quantifizierend vorgehenden
Naturwissenschaft. Die Sozialtheorie sei notwendig,
aber auch hinreichend für die Reorganisation der
Gesellschaft, das heißt zur Vollendung der revolutionären
Idee der Egalité. (Blankertz, S. 216; Poggi/Röd,
S. 25 ff.) Um die Idee der Steuerbarkeit der Gesellschaft
zu erreichen, müßte sich nach Comte die
Soziologie allerdings erst zur positiven Wissenschaft,
unter Übertragung der naturwissenschaftlichen
Methode auf diese geisteswissenschaftliche Disziplin,
entwickeln.
Den Begriff >>Wissenschaft<< in diesem gesellschaftlichen
Zusammenhang zu verwenden, war zu seiner Zeit durchaus
etwas ungewöhnliches. War doch bisher alle Wissenschaft
Philosophie (als umfassende Wissenschaft). Umso ungewöhnlicher
scheint der Begriff >>Geisteswissenschaft<<;
sollte er doch andeuten, daß Philosophie und
Naturwissenschaften getrennt und die Philosophie sich
der naturwissenschaftlichen Methode zu bedienen habe.
"Im Jahre 1843 hatte einer der bedeutendsten englischen
Positivisten, der Philosoph, Soziologe und liberale
Politiker John Stuart Mill, eine Logik veröffentlicht.
In diesem Werk kam das Wort "moral science"
häufig vor und zwar weil "science"
Wissenschaft im Sinne von Naturwissenschaft hieß
in einem erfahrungswissenschaftlichen Sinne. Der deutsche
Übersetzer wählte dafür den Begriff
"Geisteswissenschaften" und nahm direkt den
Plural, um die Analogie zu den Naturwissenschaften
noch mehr zu betonen.Die Stellung der Geisteswissenschaften
zu den Naturwissenschaften war also zunächst die
der methodologischen Analogie, während die Stellung
zur Philosophie sich als thematische Ausgliederung
darstellte." (Blankertz, S. 216)
bb) Der englische Empirismus und Positivismus des John
Stuart Mill
Mill nahm die Gedanken Comtes auf, und versuchte, eine
einheitliche wissenschaftliche Methode zu entwickeln.
Auf dem Gebiet der Ethik übernahm er von seinem
Vater, James Mill (1773-1836), und von Jeremy Bentham
(1748-1832) die Idee des Utilitarismus (>>Utilitarianism<<,1863):
die Moral habe sich am Ziel des größtmöglichen
Glücks der größtmöglichen Zahl
von Menschen zu orientieren. John Stuart Mill konzentrierte
sich dabei auf die Anwendung ethischer Grundsätze.
"Der Gedanke, daß der Nutzen des Einzelnen
in Verbindung mit anderen Grundlage aller Tugend sei,
galt ihm als evident." (Poggi/Röd, S. 41)
In seinem Hauptwerk, >>A System of Logic, Ratiocinative
and Inductive<< (>>Ein System der deduktiven
und induktiven Logik<<, 1843), entwickelt Mill
eine Wissenschaftstheorie, die bestrebt ist, eine allgemeine
und einheitliche Methodologie für alle Wissenschaften
zu begründen. Die von ihm dabei entwickelte induktive
Logik schließt von der Analyse in der Erfahrung
gegebener, regelmäßig wiederkehrender Ereignisse
auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Mill nennt
sie auch experimentelle Methode, weil sie entscheidende
Bedeutung für die Experimentalphysik der Neuzeit
hat. Riedel, S. 289 Dabei ging es ihm darum, "mit
strenger Logik 'Widerstand gegen jeden Versuch einer
Erklärung irgendeines Phänomens mittels lächerlicher
metaphysischer Entitäten' zu leisten" (Poggi/Röd,
S. 43)
Nun aber zur Erläuterung der induktiven Methode:
Wie Mill selbst festgestellt hat, läuft die Erörterung
des Problems der Induktion darauf hinaus zu prüfen,
wie in der Wissenschaft empirische Generalisation vorgenommen
werden kann. "Er wollte die Prinzipien jener Methoden
angeben, 'durch welche so viele wichtige und verborgene
Naturgesetze in den verschiedenen Wissensgebieten dem
Vorrat menschlicher Kenntnis hinzugefügt werden."
(Poggi/Röd, S. 45)
Es sind vier "Kanones", die die Induktion
regeln, von denen zwei für die Wissenschaftstheorie
des positiven Zeitalters von erheblicher Bedeutung
geworden sind: "Den zweifachen Charakter der Untersuchung
von Gesetzlichkeiten in den Phänomenen vorausgesetzt
es handelt sich nämlich um Untersuchungen, die
entweder die Ursache einer gegebenen Wirkung oder aber
die Wirkungen bzw. die Eigenschaften einer gegebenen
Ursache betreffen , formulierte Mill den ersten Kanon,
den der Methode der Übereinstimmung (Method of
Agreement). Ihm zufolge gilt: 'Wenn zwei oder mehr
Instanzen des zu erforschenden Phänomens nur einen
einzigen Umstand gemeinsam haben, dann ist der Umstand,
in dem allein alle Instanzen übereinstimmen, die
Ursache (oder die Wirkung) des gegebenen Phänomens.'Ein
im Vergleich mit der Methode der Übereinstimmung
noch leistungsfähigeres Instrument ist die Differenzmethode
(Method of Difference), deren Kanon besagt: 'Wenn eine
Instanz, in der das zu erforschende Phänomen eintritt,
und eine Instanz, in der es nicht eintritt, alle Umstände
bis auf einen, der nur in der ersteren vorkommt, gemeinsam
haben, dann ist der Umstand, durch den allein sich
die beiden Instanzen unterscheiden, die Wirkung oder
die Ursache des Phänomens.'" (Poggi/Röd,
S. 46)
Folgerichtig sind für Mill auch die sogenannten
strengen oder deduktiven Wissenschaften (Geometrie,
Arithmetik, formale Logik) ohne Ausnahme induktive
Wissenschaften, deren Axiome Verallgemeinerungen aus
der Erfahrung darstellen.
Bedeutsamer ist in unserem Zusammenhang aber, daß
Mill, noch deutlicher als Comte, der die wissenschaftliche
Methode noch eng mit der wissenschaftlichen Doktrin
(mit der Teildisziplin) verknüpft sah, (Poggi/Röd
S. 44) die Idee der Einheit der wissenschaftlichen Methode
im Sinne einer Logik der Geistes- und Sozialwissenschaften,
welche die Methode der Naturwissenschaft als idealen
Standard übernimmt (methodologischer Monismus)
und außer der kausalen Erklärung (Subsumption
eines Einzelfalles unter ein allgemeines Gesetz) keine
andere Form der Erklärung (z.B. der Hermeneutik)
anerkennt, vollendet. (Lothar Waas in Lexikon der philosophischen
Werke, S. 691)
3. Abkehr vom Positivismus in den Geistes- und Kulturwissenschaften
a) Vom entleerten Sinn zur Lebensphilosophie
Der Positivismus war also der Versuch, die naturwissenschaftliche
Methode zur wissenschaftlichen Methode schlechthin
zu machen und selbst die Geisteswissenschaften in Analogie
zur wissenschaftliche Methode nur auf durch die Erfahrung
belegbare Tatsachen zu stützen. Diese Übertragung
der naturwissenschaftlicher Methoden auf die Geistes-,
Kultur- und Sozialwissenschaften war aber mit einem
hohen Preis erkauft worden: Sinn- und Wertfragen hatten
keinen Platz mehr in den Wissenschaften. Hinter all
dem Tatsachenwissen war der Sinn des Ganzen verloren
gegangen. Das galt mehr oder weniger für alle
Erscheinungsformen des wilhelminischen Zeitalters,
also des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts.
In der Schule war der Unterrichtsstoff zum Selbstzweck
geworden. Fortan galt es nur noch, einen bestimmten,
von der Unterrichtsverwaltung festgelegten Stoff im
Rahmen einer als unverrückbar geltenden Hierarchie
der Fächer in bestimmten Pensen zu bewältigen,
ohne weiter nach dem Sinn dieser Stofffresserrei zu
fragen. Bildung war auswendig zu lernen. Der Positivismus
war also nicht in der Lage, kulturelle Neuerungen zu
schaffen, schlimmer, er führte zur geistigen Lähmung,
beschäftigte er sich doch vornehmlich mit der
exakten Analyse bestehender Phänomene.
Mit der Verbannung der Sinnfrage mußte sich früher
oder später die Frage nach dem Sinn von Wissenschaft
überhaupt stellen. So blieb es auch nicht aus,
daß die Hohlheit, Formelhaftigkeit, Fassadenhaftigkeit
dieser Zeit, der wilhelminischen, ihres Schul- und
Wissenschaftsbetriebes bald durchschaut wurden.
Das Versagen der positivistischen Methode, zumindest
auf dem Gebiet der Geistes- und Kulturwissenschaften,
die offensichtlich das Stellen von Sinn- und Wertfragen
erforderten, wurde somit in der Folgezeit stärker
zum Gegenstand der Betrachtung. Die Kritik am Positivismus
wurde zur Kritik an der Zeit überhaupt. Alle Spielarten
dieser Kritik zusammenfassend, spricht man von Kulturkritik.
Ihr schärfster und bedeutendster Verfechter war
Friedrich Nietzsche (1844-1900). Man nennt ihn auch
neben, Henri Bergson (1859-1941), Max Scheler (1874-1928)
und Georg Simmel (1858-1918) einen Vertreter der Lebensphilosophie.
"Nietzsches Lebensphilosophie reißt das 'Leben'
heraus aus der deterministischen Zwangsjacke des späten
19. Jahrhunderts und gibt ihm seine eigentümliche
Freiheit zurück. Es ist die Freiheit des Künstlers
seinem Werk gegenüber. 'Ich will der Dichter meines
Lebens sein', verkündet Nietzsche, und es ist
bekannt, welche Folgen das gehabt hat für den
Begriff der Wahrheit. Wahrheit im objektiven Sinne
gibt es nicht. Wahrheit ist die Art der Illusion, die
sich als lebensdienlich erweist. Das ist Nietzsches
Pragmatismus, der aber anders als der angelsächsische
auf einen dionysischen Lebensbegriff bezogen ist. Nietzsche
verabscheut das darwinistische Dogma von 'Anpassung
und Selektion' als Gesetz der Lebensentwicklung. Für
ihn sind das Projektionen einer utilitaristischen Moral.
So stellt sich der Spießer eine Natur vor, in
der angeblich auch die Anpassung mit einer Karriere
belohnt wird." (Safranski, S. 69)
Mit der Lebens- und Sinnfrage war das handelnde Subjekt
wieder in den Mittelpunkt getreten, der einzelne Mensch,
der fragt, welche Bildung muß ich haben, welche
Wissenschaft, um mein eigenes Leben aktiv und schöpferisch
zu bewältigen. Bildung und Wissenschaft wurden
also danach befragt, inwieweit sie zur subjektiven
Lebensbewältigung taugten und Selbstverwirklichung
nicht behinderten. Damit war nun allerdings die Gefahr
gegeben, in das andere, dem Positivismus entgegengesetzte
Extrem zu verfallen, in einen reinen Subjektivismus,
der am Ende auf individuelle Willkür, auf Glaubensgewißheiten,
Weltanschauungen und bloßem Dezisionismus hinauslief.
Mit der Überwindung des Positivismus war ein Problem
gelöst, aber, wie immer, ein neues entstanden.
Bedeutet der Verzicht auf die Analogie zur naturwissenschaftlichen
Methode in den Geistes- und Kulturwissenschaften den
Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Methode überhaupt?
Das war vollkommen unwahrscheinlich, ja unmöglich.
Denn trotz Subjektivismus, Geniekult und bekenntnishaft
vorgetragener Glaubensgewißheiten der Zeitgenossen
blieb die Wissenschaft eine unverzichtbare Grundlage
des europäischabendländischen Kulturkreises.
b) Abkehr vom Positivismus in der Geschichtswissenschaft
Die den Naturwissenschaften entlehnte Methode des Positivismus
war offensichtlich in Bezug auf die Geistes- und Kulturwissenschaften
unzulänglich, streckenweise untauglich geblieben.
Also mußte eine neue, andere Methode her, die
sich für diese Disziplinen besser eignete. Dabei
zeigte sich, daß die positivistische Wissenschaftstheorie
eine Lücke enthielt. Sie handelte nämlich
nur von einem Teilgebiet der Erfahrung, ohne etwas
über das Konstitutionsproblem des Gegebenen (Was
ist das Gegebene, wie und warum wird es zum Gegenstand
der Untersuchung?) für die andere große
Gruppe von Erfahrungswissenschaften (hier vorallem
die Geschichtswissenschaft) aussagen zu können,
die in der historischen Schule des 19. Jahrhunderts
(Niebuhr, Savigny, Ranke, Droysen) neben den Naturwissenschaften
entstanden waren. Das Fazit der historischen Schule
war ein Relativismus, der sich selbst als Historismus
verstand, für den alle Tatsachen, einschließlich
der Normen, Institutionen und Werte, relativ zu einer
Zeit, einem Volk, einer Kultur gegeben sind. Damit
war das Bewegungsprinzip der Geschichte nur noch wertfreie
Veränderung, nicht mehr sinnvoller Fortschritt.
Die Geschichtswissenschaft war bloße, auf die
Vergangenheit gerichtete strenge Tatsachenwissenschaft
geworden. Als solche mußte sie auf den Anspruch
verzichten, die Vergangenheit wertend zu richten und
die Mitwelt zu ihrem künftigen Nutzen zu belehren.
Aus der Geschichte ließ sich nichts mehr für
die Zukunft lernen. Nur wissen konnte man immer genauer,
wie etwas gewesen war.
Die zeitgenössische Erkenntnistheorie stand also
vor der Aufgabe, die Theorie der naturwissenschaftlichen
Erfahrung um eine Theorie der geisteswissenschaftlichen
Erfahrung zu ergänzen. (Riedel, S. 330 f.)
c) Eine geeignete Methode für die Geisteswissenschaft:
die Hermeneutik Diltheys
Heinrich Rickert (1863-1936), Schüler der Südwestdeutschen
Schule des Neukantianismus, führte zu diesem Zweck
die methodologische Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften
wieder ein:
Naturwissenschaft ist nomothetisch und sucht allgemeine
Gesetze, die Geisteswissenschaft ist idiographisch
und sucht die jeweils besonderen Tatsachen, vor allem
die historischen.
"Nach positivistischem Vorbild orientiert der südwestdeutsche
Neukantianismus das erkenntnistheoretische Problem
am Begriff der historischen Tatsache. Tatsachen werden
als Gegenstand der Erkenntnis konstituiert in den Naturwissenschaften
durch Methoden der Generalisierung des Gegebenen (nomothetisches
Verfahren), die es auf allgemeine Gesetze zurückführen.
Der Einzelfall interessiert hier niemals für sich
selbst, im Unterschied zur Geschichtswissenschaft,
die sich gerade mit Einzelnem befaßt, mit dem
Zeitalter des Barock, mit Napoleon, mit dem neuzeitlichen
Naturrecht usf. Die historische Tatsache, der Erkenntnisgegenstand
der Geschichtswissenschaft, muß auch erst konstituiert
werden. Das geschieht durch eine der naturwissenschaftlichen
Generalisierung logisch entgegengesetzte Methode, der
Individualisierung (idiographische Methode). Unter
den vielerlei Tatsachen, die dem Historiker beispielsweise
für das 19. Jahrhundert gegeben sind, trifft er
eine Auswahl, und das Auswahlprinzip ist der Begriff
der Kulturbedeutsamkeit oder des Wertes. Natur ist
das Sein von Tatsachen unter Gesetzen, Kultur das Sein
von Tatsachen unter Werten." (Riedel, S. 331)
Wilhelm Dilthey (1833-1911) setzt unmittelbar an den
Problemstellungen Comtes und Mills an. Er ist insofern
ebenso Positivist, als er eine Metaphysik als beweisbare
Wissenschaft ablehnt. In seinem Werk >>Einleitung
in die Geisteswissenschaften<< (1883) gibt er
einen Überblick über die Philosophiegeschichte.
"An die Stelle der Metaphysik in dem Streben nach
Totalität der Erkenntnis aber tritt für ihn
etwas anderes: die Universalgeschichte als Geschichte
des menschlichen Geistes in seinen Stellungen zur Welt
und als Weg zum Verständnis der verschiedenen
möglichen Arten des Welterlebens. Der Mensch ist
der eigentliche letzte Gegenstand der Philosophie,
den Menschen aber lernen wir kennen aus einer psychologisch
unterbauten Geschichte." (von Aster, S. 376)
Mit Rickert lehnt Dilthey die Übertragung der naturwissenschaftlichen
Methode auf die Geschichtswissenschaft ab; im Gegensatz
zu Rickert beruht bei ihm die historische Methode auf
einer zu schaffenden Psychologie, die das Seelenleben,
so wie es ist, beschreibt und in Typen gliedert, also
versteht. Der psychologische Versuch, die Einstellung
der Menschen zur Welt zu typisieren und dabei immer
wiederkehrende Weltanschauungen festzustellen, führt
Dilthey zu den Grundtypen: Naturalismus (Materialismus,
Sensualismus, naturwissenschaftlicher Positivismus),
des >>Idealismus der Freiheit<< (die Welt
als Kampf zwischen Geist und Materie) und des >>objektiven
Idealismus<< (die Welt als Geist, als Gott, als
Wort). Im Gegensatz zur positivistischen Methode vertritt
Dilthey, "daß es wenigstens im Gebiet der
Geisteswissenschaften eine 'voraussetzungslose', das
heißt eine Wissenschaft ohne weltanschauliche
Grundlage bestimmter Art, also auch ohne metaphysischen
Aspekt, überhaupt nicht gibt, daß die Ausschaltung
des Weltanschaulichen der geistigpersönlichen
Färbung eine Unmöglichkeit sei." (von
Aster, S. 377) Dilthey war also der Meinung, daß
der Mensch als Erkenntnissubjekt in den Geisteswissenschaften
nicht vom Gegenstand der Erkenntnis abgehoben werden
kann, weil er selbst integraler Bestandteil eben dieses
Gegenstandes ist, nämlich Teil der geschichtlichen
Wirklichkeit als Komplex menschlicher Handlungszusammenhänge.
Diese Handlungszusammenhänge bilden also gerade
keine Gesetzmäßigkeiten im Sinne der Naturwissenschaften.
Das Instrument ihres Verstehens ist die Hermeneutik:
Hermeneutik bedeutet ursprünglich nur die Kunstlehre
der sachgerechten Interpretation schriftlicher Dokumente,
insbesondere der Bibel und des römischen Rechts.
Dilthey wandte die Hermeneutik nun auf alle geschichtlich
in Erscheinung getretenen Lebensäußerungen
an. Menschliche Haltungen genauso wie die von Mneschen
erbrachten Leistungen in Politik und Kunst, Wissenschaft
und Bildung, Glaube und Sitte, Wirtschaft und Technik
sollten alle im übertragenen Sinne als >>Text<<
anzusehen sein. "Dann würden sie verstehbar
sein über Kategorien wie Bedeutung, Entwicklung
und Struktur. Solche Kategorien hielt Dilthey weder
für a priori gegeben ... noch durch die Wissenschaft
hervorgebracht..." (Blankertz, S. 219), sie müßten
vielmehr aufgesucht, indem sie in einen reflektierenden
Zusammenhang gestellt werden.
"Diese Verfahren ist kein lineares, von Einsicht
zu Einsicht weiterschreitendes Forschen, sondern muß
als ein kreisendes Verfahren gedacht werden, da es
die Geschichtlichkeit des Interpreten berücksichtigen
muß: Das vorverstandene Ganze des jeweiligen
Sinnes wird durch die begriffenen Einzelheiten erläutert,
während umgekehrt die Bedeutung der Einzelteile
durch den schon vorweggenommenen Sinn des Ganzen verstanden
wird. Dilthey nannte das den >>hermeneutischen
Zirkel<<." (Blankertz, S. 219)
Die Frage nach dem Sinn, dem Wozu? (im Gegensatz zum
'sinnlosen' Warum der Naturwissenschaften), muß
also integraler Bestandteil der geisteswissenschaftlichen
Methode sein, denn das Vorverständnis, das VorUrteil,
bezogen auf Phänomene des Menschen, kann der Mensch
bei der Erkenntnis derselben nicht hinwegdenken.
II. Zum Rechtspositivismus
Als eine allgemeine (europäische) Geistesbewegung
hat der Positivismus spätestens im Verlauf der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland
alle Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften mehr
oder weniger erfaßt, so auch die Rechtswissenschaft.
Der Positivismus verstand sich als Gegenbewegung sowohl
gegen das rationaldeduktive Naturrecht wie gegen die
metaphysische Grundeinstellung des Deutschen Idealismus,
aber auch gegen die Romantik und die ältere Historische
Schule. (Larenz, S. 36)
Im Gegensatz zu Karl Larenz verneint Franz Wieacker
eine weitgehende Entsprechung von >>rechtswissenschaftlichem
Positivismus<< Allerdings muß angemerkt
werden, daß Wieacker diesen Begriff für
die Methode der Begriffsjurisprudenz eingeführt
hat (fraglich bleibt inwieweit ihre Methode positivistisch
ist). (Wieacker, S. 430 ff.; vgl. Kaufmann, Einführung
in Rechtsphilosophie, S. 87 und dem Positivismus, etwa
eines Comtes und Mills. Wieacker, S. 431 f).Dies wird
zur Folge haben, daß die Bezeichnung Rechtspositivismus
historisch unterschiedlich eingeordnet wird. Wieacker
spricht schon den Begriffsjurisprudenten der Historischen
Rechtsschule, Puchta und Windscheid, die Methode des
>>rechtswissenschaftlichen Positivismus<<
zu, (Wieacker, S. 430 f.) während Larenz noch deren
Nähe zu einer überpositiven Grundlage betont.
(Larenz, S. 22 f.) Einig sind sie sich aber darin, daß
eine nachwirkende rechtsethische Fundierung bei Puchta
und Windscheid, eine unmittelbare Übernahme des
naturwissenschaftlichen Positivismus nicht zuließ.
(Wieacker, S. 432) in der Fußnote 7Richtig erscheint
insbesondere letztere Einsicht; Exaktheit in der Methode
kann den Pandektisten um Puchta und Windscheid dennoch
nicht abgesprochen werden, sind sie doch von der ausführlich
dargestellten Vernaturwissenschaftlichung ihrer Zeit
zwangsläufig geprägt.
Die Gemeinsamkeit des rechtswissenschaftlichen mit dem
(natur-) wissenschaftlichen Positivismus lag in der
Ablehnung einer metaphysischen Begründung (Verbannung
der unbeantwortbaren Frage nach dem ethisch Richtigen,
nach Werten oder Gültigem) und eine Anerkennung
der wissenschaftlichen Methode, der exakten Tatsachenforschung
(dies gilt zumindest für den empirischen Rechtspositivismus;
dazu später mehr).
"Er [der Positivist] leugnet z.B. nicht, daß
die Forderung der Gerechtigkeit für das sittliche
Bewußtsein des einzelnen Geltung hat, er ist
aber der Meinung, daß sie wissenschaftlicher
Erkenntnis nicht zugänglich und daher auch kein
mögliches Prinzip einer positiven Rechtswissenschaft
ist. Äußerstenfalls vermag er das 'Gerechtigkeitserlebnis'
als eine 'anthropologische Tatsache' anzuerkennen,
die als solche 'niemals aus dem juristischen Denken
eliminiert werden kann' dagegen ist ihm die Gerechtigkeit
kein in der Erkenntnis objektivierbares, allgemeingültiges
Prinzip, das als solches für die Erkenntnis des
positiven Rechts von Bedeutung sein könnte."
(Larenz, S. 37)
1. Historischer Hintergrund
a) Juristischer Positivismus der Begriffsjurisprudenz
im 19. Jahrhundert
Die Historische Rechtsschule beschäftigte sich
vorallem mit dem Aufbau einer systematischen Zivilrechtswissenschaft
aus den Rechtslehren des corpus juris civilis, sie
betrieb Pandektenwissenschaft. Die Methode (eines Friedrich
Carl v. Savigny und Paul Johann Anselm Feuerbach) war
die der System- und Begriffsbildung des jungen Vernunftrechts,
übertragen auf den gemeinrechtlichen Stoff. (Wieacker,
S. 430)
aa) Georg Friedrich Puchta (1798-1846)
Puchta rechtfertigte dieses Verfahren für die gegenwärtige
Periode der >>Wissenschaftlichkeit<< der
Rechtswissenschaft und wies dem von ihr ausgebildeten
Juristen ein Monopol der Rechtsanwendung- und Fortbildung
zu. Konsequenterweise war er es auch, "der neue
Rechtssätze aus der >>Entwicklung<<
des logischen Begriffs ableitete und damit das Verfahren
der >>rechtsschöpferischen<< Konstruktionsjurisprudenz
legitimierte. In der Folgezeit bauten vor allem Jhering,
Gerber und Laband die konstruktive Methode der Pandektenwissenschaft
weiter aus..." (Wieacker, S. 430 f.)
Die Methode dieser Rechtswissenschaft war der rechtswissenschaftliche
Positivismus, der "die Rechtssätze und ihre
Anwendung ausschließlich aus System, Begriffen
und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft ableitet,
ohne außerjuristischen, etwa religiösen,
sozialen oder wissenschaftlichen Wertungen und Zwecken,
rechtserzeugende oder rechtsändernde Kraft zuzugestehen.
(Wieacker, S. 431)
"'Ethische, politische oder volkswirtschaftliche
Erwägungen sind nicht Sache der Juristen als solchen',
sagte noch [oder vielleicht doch erst] 1884 ein Klassiker
dieses Positivismus wie Windscheid..." (Wieacker,
S. 431)
Die sittliche Begründung dieser Überzeugung
entnahmen Savigny und seine Zeitgenossen der Rechtslehre
Kants, nach der die Rechtsordnung Sittlichkeit nicht
ist, sondern ermöglicht und daher ein 'selbständiges
Daseyn' hat." (Wieacker, S. 431) Dieses enge Verhältnis
der Sittlichkeit zur Rechtsordnung scheint aber gerade
für die Begriffsjurisprudenz noch deutlich betont
werden zu müssen.
Puchta entwickelte eine Begriffspyramide, an deren Spitze
ein höchster Begriff steht, aus dem zunächst
sehr abstrakte und allgemeine Begriffe, aus diesen
dann konkretere und inhaltlichere usw. abgeleitet werden.
Am vollkommensten ist dieses logische System, wenn
an seiner Spitze ein allgemeinster Begriff steht, unter
den sich alle übrigen Begriffe subsumieren lassen
(>>Genealogie der Begriffe<<). Die Deduktion
von Rechtssätzen aus bloßen Begriffen, erinnert
stark an die Methode des rationalistischen Naturrechts:
der rechtswissenschaftliche "Positivismus"
Puchtas und das Naturrecht meinen, das Recht aus einem
höchsten Sollen ableiten zu können. (Kaufmann,
S. 141) Fraglich ist nur, woher der Inhalt des höchsten
Begriffs stammt. Die Beeinflussung Puchtas durch die
idealistische Philosophie ist dabei nicht zu übersehen,
beschränkt sich eben aber auch auf die inhaltliche
Bestimmung seiner Grundbegriffe. Larenz, S. 22 f.
bb) Bernhard Windscheid (1817-1892)
Auch für Windscheid ist das Gesetz nicht einfach
der Machtanspruch des Gesetzgebers, der es von jeder
ethischen Bindung endgültig lösen würde,
"sondern 'die Weisheit der Jahrhunderte, die vor
uns gewesen sind'; was im Gesetz als Recht ausgesprochen
ist, das hat die Rechtsgemeinschaft zuvor 'als Recht
erkannt'." Larenz, S. 28 Quelle des positiven
Rechts ist somit auch nicht der Wille des Gesetzgebers,
sondern die Vernunft der Völker, vielmehr die
Vernunft der Rechtsgeschichte. Kaufmann, S. 142 Dabei
wird das Recht "im wesentlichen zwar mit dem Gesetz
gleichgesetzt, dieses aber als Ausdruck nicht der bloßen
Willkür, sondern des von vernünftigen Erwägungen
geleiteten, auf vernünftigen Einsichten beruhenden
Willens des historischen, aber zugleich auch idealisierten
Gesetzgebers verstanden."( Larenz, S. 28 f.)
cc) Rudolf v. Jhering (1812-1892)
Als deutlichster Vertreter der naturwissenschaftlichen
Methode in der Begriffsjurisprudenz gilt der junge
Jhering, der rein induktiv, gleichsam wie ein Chemiker,
einen gegebenen Rohstoff (Rechtsregeln) durch logische
Analyse und Abstraktion zu juristischen Körpern
(einfache Grundbegriffe) umwandeln will (>>naturhistorische
Methode<<). (Larenz, S. 27) Diese Methode hatte
merkwürdiges zur Folge: "'Die Begriffe sind
produktiv, sie paaren sich und zeugen neue. Oder er
kennzeichnete diese Konstruktionsjurisprudenz so: sie
führe zur Entdeckung neuer Rechtssätze, die
existieren, weil sie 'nicht nicht existieren können'."
(Kaufmann, S. 1441) Diese bedingungslose Anlehnung an
die Naturwissenschaften hat der spät
ere Jhering
selbst mit beißendem Spott bedacht.
dd) Folgerungen aus der Begriffsjurisprudenz
Nun aber noch einmal zurück zur eigentlichen Methode
des rechtswissenschaftlichen Positivismus, der Begriffsjurisprudenz,
und deren Folgerungen: zusammengestellt nach (Wieacker,
S. 433 ff.):
1. Wenn eine gegebene Rechtsordnung "ein geschlossenes
System von Institutionen und Rechtssätzen, und
zwar unabhängig von der sozialen Realität
der durch die Institutionen und Rechtssätze geregelten
Lebensverhältnisse", ist, ist es "prinzipiell
möglich, alle anstehenden Rechtsfälle allein
durch eine logische Operation richtig zu entscheiden,
welche den Fall unter das hypothetische Urteil subsumiert,
das in einem allgemeinen dogmatischen Lehrsatz enthalten
ist. Die Erwartung, daß ein solches Verfahren
auch zu einer gerechten Entscheidung führe",
beruht dabei darauf, daß sich in den anerkannten
Rechtsbegriffen "zeitlos gültige Aussagen
über richtiges Recht derart verselbständigt"
haben, "daß ihre logische Anwendung (wie
die eines mechanischen Satzes oder einer richtigen
physikalischen Formel) notwendig auch wieder zur richtigen
(d.h. zur gerechten) Entscheidung führen muß."Fraglich
ist nur, ob hier nicht Rechtssätze, die einen
Normbefehl enthalten, also eine präskriptive Aussage,
fälschlicher Weise zu einem gegenständlichen
Sein gemacht werden.
2. Das System des rechtswissenschaftlichen Positivismus
beansprucht Lückenlosigkeit, es ist ein geschlossenes
System. Bestehende Lücken im System der positiven
Rechtssätze (gesetztes Recht einer staatlichen
Instanz) können [nach ihrer Überzeugung]
immer durch die Ableitung aus dem Stellenwert der Begriffe
in der Begriffspyramide und dem logischen Systemzusammenhang
produktiv geschlossen werden. Ist dieses Ausfeilen
und Zuschleifen der rechtswissenschaftlichen Begriffe
zum Ziel gelangt [Welches Ziel eigentlich? Gibt es
nicht einen permanenten Wandel der juristischen Begrifflichkeit?],
"muß logische Subsumption unter einen Lehrsatz
oder Begriff bei jeden erdenklichen Rechtsfall möglich
und ausreichend sein". Dann verkümmert die
richterliche Rechtsfindung auf den Akt der logisch
richtigen Subsumption. Der Richter wird zum >>Subsumptionsautomaten<<.
"Auch bei scheinbaren 'Rechtslücken' (wie
sie freilich eine tüchtige Theorie erst gar nicht
aufkommen läßt) schafft der Richter nicht
etwa neues Recht; wo er es zu tun scheint hat er in
Wahrheit die schon latent im System enthaltene Lösung
ans Licht gebracht."
3. Zur Garantie dieser Ableitungen wird die richterliche
Bindung an die wissenschaftliche Lehre des juristischen
Positivismus durch ihr fachliches Programm der Juristenausbildung.
Dieses Programm wird eine spätere strengere Variante
des Rechtspositivismus wieder aufgreifen.
Insbesondere für die begriffsjuristische Auffassung
Winscheids, aber eigentlich noch für alle Rechtslehren
des 19. Jahrhundert galt, "daß man alles
Recht zwar als Ergebnis der historischen Entwicklung
und daher als 'positiv', das 'positive Recht' selbst
aber als eine 'vernünftige' Ordnung betrachtete,
die eben darum der begrifflichen Erfassung und Systematisierung
zugänglich sei... Der Glaube an die innere Vernünftigkeit
oder Rationalität des positiven Rechts unterscheidet
diese Auffassung deutlich genug vom pseudonaturwissenschaftlichen
und vom soziologischen Positivismus, für den das
einzelne Gesetz lediglich ein empirisches Faktum ist,
das als solches aus den gegebenen Bedingungen seiner
Entstehungszeit 'kausalwissenschaftlich' erklärt,
nicht aber darüber hinaus als Ausdruck einer eigentümlichen
Rechtsvernunft 'gedeutet' werden kann." (Larenz,
S. 32) Dennoch blieb das Ziel dieser Konzeptionen, durch
logische und systematische Auslegung, Begriffsbildung
und juristische Konstruktion den empirischen Willen
des historischen Gesetzgebers zu ermitteln.
ee) Die objektive Auslegungstheorie
Die objektive Auslegungstheorie entstand in den Jahren
1885 und 1886 durch: Karl Binding (1841-1920), Joseph
Kohler (1849-1919) und Adolf Wach. (Larenz, S. 32) Sie
richtete sich gegen die formalistische Begriffsjurisprudenz,
die im Verlaufe ihres Wirkens zu einer immer größeren
Sinnentleerung geführt hatte, hatte sie doch dem
empirischhistorischen Willen gegenüber einem vernünftigen
Willen des Gesetzgeber, der Rechtsvernunft, den Vorrang
gegeben. (vgl. Kaufmann, S. 142)
Dem entsprechend besagt die objektive Auslegungstheorie,
daß nicht die vom Urheber gemeinte, sondern eine
unabhängig davon zu ermittelnde objektive, dem
Gesetz immanente Bedeutung die rechtlich maßgebende
sei. "Denn das Gesetz sei 'vernünftiger'
als seine Urheber, und, einmal in Kraft getreten, stehe
es gleichsam für sich selbst." (Larenz, S.
33) Das Recht bildet seinem Wesen nach eine vernünftige
Ordnung. "Daher, so folgert man [Kohler], komme
es nicht darauf an, 'was der Verfasser des Gesetzes
will', sondern darauf, was 'das Gesetz will'."
zitiert nach: (Larenz, S. 33)
Entscheidend ist also der vernünftige Rechtswille,
der auch die beginnende Abkehr von der formalen Begriffsjurisprudenz
ausmacht, denn die Rechtsvernünftigkeit ist nicht
nur in einem formalen Sinne, sondern "zugleich
in einem materiellen Sinne als Vernünftigkeit
der Zwecke, also als immanente Teleologie zu verstehen"
(Larenz, S. 33).
Hierin sahen die Begründer der objektiven Auslegungstheorie
im Vergleich zu den Methoden der Begriffsjurisprudenz,
anders als vor allem der spätere Jhering und die
Anhänger der Interessenjurisprudenz, allerdings
noch keinen prinzipiellen Gegensatz. So blieb die grundlegende
Kritik an der rein begrifflichlogischen Denkweise der
aufkommenden empiristischen Richtung vorbehalten, die
der späte Jhering eingeleitet hatte. (Larenz, S.
35)
"Diese [empiristische Richtung] erwuchs auf einem
ganz anderen geistigen Boden als die im Gewande des
Historismus durchweg 'rationalistische' Rechtswissenschaft
des 19. Jahrhunderts, die uneingestandenermaßen
dadurch, daß sie das 'positive' Recht als einen
'vernünftigen Organismus' betrachtete und zu verstehen
suchte, doch einiges von der 'naturrechtlichen' Denkweise
bewahrt hatte. Diese neue Geistesrichtung, die sich
bemühte, mit allen naturrechtlichen 'Rückständen'
radikal 'aufzuräumen', war der Positivismus."
(Larenz, S. 35)
b) Der empirische Rechtspositivismus unter dem Einfluß
des positivistischen Wissenschaftsbegriffs
aa) Überleitung
Die objektive Auslegungstheorie wollte den Rechtsbegriffen
eine ihnen eigene Bedeutung und Vernunft beimessen.
Aber kommt Bedeutung und Vernunft wirklich schon aus
der "Paarung der Begriffe" aus dem Recht
selbst? Dieser Versuch führte weitgehend zur Sinnentleerung
des Rechts. (vgl. Kaufmann, S. 143)
Das Erklärungsmuster des rationalistischen Naturrechts
kam für die Juristen um die Jahrhundertwende nicht
mehr in Frage. (vgl. Radbruch, S. 174)
Daher sollte nun die Rechtswissenschaft, ganz im Sinne
des Positivismus eines Comtes und Mills, die wahrnehmbaren
und unzweifelbaren Fakten, mitsamt der an ihnen hervortretenden,
im Experiment zu erhärtenden Gesetzlichkeiten
gleich einer Naturwissenschaft ergründen. vgl.
Ott, S. 28 Aber wo finden sich diese Fakten, wenn nicht
im Recht selbst? Im Recht eben nicht, sie müssen
für das Recht etwas äußerliches sein.
Entsprechend bestimmen alle Rechtspositivisten (im
strengeren Sinne) ihren Begriff des Rechts unter Bezugnahme
auf physische Wirklichkeiten, das heißt Tatsachen
der raumzeitlichen Außenwelt, oder auf psychische
Wirklichkeiten, das heißt Tatsachen der seelischen
Innenwelt. Das hat erstens zur Folge, daß Recht
nur etwas sein kann, das auf eine der angeführten
Weise >>positiv<<, wirklich geworden ist.
Zweitens ist das Recht, so wie es nun einmal existent
geworden ist (faktische Geltung im weiten Sinne), scharf
zu trennen vom Recht wie es sein sollte (Verbindlichkeit,
d.h. philosophische Geltung). Nach der positivistischen
Auffassung kann vorläufig festgestellt werden,
daß eine Norm ihren Rechtscharakter nicht dadurch
verlieren kann, daß sie von einem höheren
Standpunkt als unmoralisch bezeichnet werden muß.
(Ott, S. 27)
Um die Abgrenzung zur deutschen Begriffsjurisprudenz
des 19. Jahrhunderts noch einmal in den Blickpunkt
zu rücken, kann hier schon die relativistische
Tendenz der rechtspositivistischen Theorien festgestellt
werden: "Sie stellen nämlich nicht auf konstant
bleibende Merkmale, sondern auf variable Größen
ab, nämlich etwa darauf, was der jeweilige Souverän
setzt [etatistischer Positivismus], oder was die Mehrheit
der Bürger der jeweiligen Sozietät anerkennt
[psychologischer Positivismus], bzw. auf die jeweiligen
Verhaltensweisen bestimmter Personen in einem Verband
[soziologischer Positivismus]. Dies führt natürlich
zu einer Relativierung des Rechtsinhaltes." Ganz
im Sinne der These von Larenz ergibt sich daraus, "daß
die deutsche Begriffsjurisprudenz nicht als positivistisch
in diesem Sinne angesehen werden kann, weil sie nicht
relativistisch eingestellt gewesen ist" (Ott, S.
27 f.).
bb) Der Geltungsbegriff
Die Frage danach, wodurch eine Norm >>positiv<<
geworden ist, ist die Frage nach ihrer Geltung (und
gleichzeitig, die Frage nach der entsprechenden positivistischen
Theorievariante). So muß sie nach einer der folgenden
Methoden Geltung erlangt haben, das heißt wirklich
(tatsächlich existent) geworden sein. Die tatsächliche
Existenz einer faktisch geltenden Rechtsregel kann
also bestehen in (Ott, S. 19 ff.):
1. der Positivität im engeren Sinne, das heißt
einer durch soziale Autorität (meist Staat) gesetzten
Norm
2. der soziologischen Wirksamkeit
3. der psychologischen Wirksamkeit
4. einer Kombination.
Zur Klärung der verwendeten Begrifflichkeit ein
schematischerÜberblick nach Walter Ott (Ott,
S. 23)
cc) Der psychologische Positivismus
Der psychologische Positivismus erblickt die Positivität
des Rechts in bestimmten Gefühls- und Bewußtseinsinhalten.
(Ott, S. 59) Psychologisch wirksam (faktische Geltung
im engeren Sinne) ist eine Rechtsregel, wenn sie als
bindend oder verpflichtend erfahren wird. Ott, S. 21
Diesbezüglich sind zwei Anerkennungstheorien zu
unterscheiden: die individuelle (Ernst Rudolf Bierling,
1841-1919; Rudolf Launs), die auf die Anerkennung jedes
einzelnen Normadressaten abstellt, und die generelle
(Adolf Merkel, 1836-1896; Georg Jellinek, 1851-1911),
die sich mit der Anerkennung der Mehrheit der Normadressaten
begnügt. (Ott, S. 25 und 60)
Da die Gefühls- und Bewußtseinsinhalte natürlicher
Weise dazu neigen, sich auch in einem äußeren
Verhalten der Rechtsunterworfenen und des Rechtsstabes
(alle an der Rechtsanwendung und -vollstreckung beteiligten
Organe) (Ott, S. 20) in Fußnote 1 auszudrücken
(nämlich in der Befolgung bzw. Anwendung des Rechts),
läßt sich eine scharfe Grenze zum später
darzustellenden soziologischen Rechtspositivismus nicht
ziehen. (Ott, S. 59 f.)
Nach der individuellen Anerkennungstheorie ist Recht
das, was von den Rechtsunterworfenen als solches anerkannt
wird. Anerkennung sei nach Bierling ein dauerhaftes
habituelles Verhalten, entsprechend genüge auch
indirekte Anerkennung. Fraglich bleibt trotzdem, ob
das Recht auch gegenüber demjenigen gilt, der
sich bewußt außerhalb der Rechtsordnung
verhält. (vgl. Kaufmann, S. 143)
Dagegen vertritt Merkel, der, nach Kaufman (Kaufmann,
S. 92) auch als Begründer der >>Allgemeinen
Rechtslehre<< gilt, in seiner generellen Anerkennungstheorie,
daß das Recht eine Doppelnatur aufweist:
Das Recht ist auf der einen Seite Macht, es nötigt
zu einem Müssen, auf der anderen Seite enthält
es aber auch eine moralische Dimension, eine moralische
Nötigung, die zu einer freiwilligen Befolgung
führt. Das Recht ist also ebenso von ethischen
Werturteilen abhängig, "welche sich bei einem
gegebenen Volk zu einer gegebenen Zeit als die herrschenden
erweisen". (Ott, S. 67)
"Sie [die verpflichtende Kraft der Rechtsvorschriften]
liegt nach Merkel darin, daß das Recht der Unterstützung
seitens des Pflichtgefühls der Normadressaten
teilhaftig wird; sie ist nichts als 'das Bündnis
mit den im Volke lebenden moralischen Kräften,
kraft dessen von den Letzteren eine Nötigung zur
Erfüllung der Rechtsgebote ausgeht'." (Ott,
S. 66 f.)
Die Anerkennung geht also aus der verpflichtenden Kraft
der Rechtsordnung hervor. (Ott, S. 67)
Nach Jellinek ist das Recht eine subjektive, innermenschliche
Erscheinung, "ein Teil der menschlichen Vorstellungen,
es existiert in unseren Köpfen, und die nähere
Bestimmung des Rechtes hat dahin zu gehen, welcher
Teil unseres Bewußtseinsinhaltes als Recht zu
bezeichnen ist" (Ott, S. 68). Zu einer Rechtsordnung
gehören entsprechend diejenigen Normen, die das
äußere Verhalten der Menschen zueinander
regeln, von einer anerkannten äußeren Autorität
ausgehen und deren Verbindlichkeit durch äußere
Mächte garantiert ist. "Die Positivität
des Rechts beruht daher in letzter Linie auf einem
rein subjektiven Element, auf einer psychologischen
Tatsache, nämlich auf der Überzeugung von
seiner Gültigkeit... Dabei ist die maßgebende
Überzeugung diejenige des 'Durchschnitts eines
Volkes'." Ott. S. 68 Die Gültigkeit eines
Rechtssatzes beruht also hier nicht auf einer individuellen
Anerkennung.
dd) Der soziologische Positivismus
Für den soziologische Positivismus besteht die
Positivität des Rechts in einer gesellschaftlichen
Realität, nämlich in bestimmten beobachtbaren
menschlichen Verhaltensweisen (der Rechtsunterworfenen
und des Rechtsstabes). Hier wird das Blickfeld auf
Vorgänge der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit
beschränkt, um zu intersubjektiv nachprüfbaren
Behauptungen über das Recht zu gelangen. Dadurch
sollen Sätze der Rechtswissenschaft im Sinne der
Rechtssoziologie von der Erfahrung her verifiziert
bzw. falsifiziert werden können. "Die soziologische
Betrachtungsweise führt damit notwendigerweise
zu einer Eliminierung der ideellen und metaphysischen
Dimensionen des Rechts, insoweit diese nicht gesellschaftlich
wirksam geworden sind. Auch der soziologische Positivist
versteht unter Geltung des Rechts die faktische Geltung
des Rechts im Sinne seiner tatsächlichen Existenz,
wobei er aber andere Kriterien als der psychologische
Positivist heranzieht." (Ott, S. 76 f.) Die tatsächliche
Existenz kann sich hier einerseits aus der Anwendung
des Rechts durch den Rechtsstab ergeben, andererseits
aus der Befolgung durch die Rechtsunterworfenen.
Für Eugen Ehrlich (1862-1922), der als Begründer
der modernen Rechtssoziologie gilt, liegt der Schwerpunkt
der Rechtsentwicklung weder in der Gesetzgebung noch
in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft
selbst. Die Positivität des Rechts liegt nicht
in der Gesetzgebungsgewalt, sondern in der sozialen
Realität. (Ott, S. 77; Rottleuthner, Einführung
in die Rechtssoziologie, S. 25)
Mit dieser These wandte sich Ehrlich auch gegen das
Lückenlosigkeits- und Widerspruchslosigkeitsdogma
der pandektistischen Begriffsjurisprudenz: "die
kodifizierte Rechtsordnung ist nicht lückenlos,
die Entscheidung des Einzelfalls stellt keine logische
Ableitung aus allgemeinen Normen dar, sondern ist ein
schöpferische Akt" (Rottleuthner, Einführung
in die Rechtssoziologie, S. 25) Fraglich ist also, inwieweit
Gesetze und Gerichtsentscheidungen überhaut effektiv
sind und welchen Gebrauch die Rechtsunterworfenen von
der Normen machen. Also an welche Tatsachen knüpft
der menschliche Geist gewisse Regeln. Nach Ehrlich
sind die Regeln des Handelns, die Rechtstatsachen:
die Übung, die Herrschaft, der Besitz und die
Willenserklärung (insbesondere Satzung, Vertrag
und letzwillige Anordnung).
Das Recht selbst zerfällt für Ehrlich in drei
verschiedene Normenkomplexe: Der erste (lebendes Recht)
besteht aus dem "in der Gesellschaft selbsttätig
entstandenen Organisationsrecht der menschlichen Verbände"
(Ehrlich, S. 47). Dessen Regeln sind aus den erwähnten
Rechtstatsachen unmittelbar hervorgegangen. (Ott, S.
78) Das Recht besteht hier in erster Linie nicht aus
staatlichen Entscheidungsnormen, sondern aus Regeln,
nach denen sich die Menschen tatsächlich verhalten,
und zwar letzlich aufgrund einer inneren Anerkennung,
aus dem Gefühl der opinio necessitatis (in dem
durch den Rechtsbruch ausgelösten Gefühl
liegt auch das Unterscheidungskriterium zu anderen
gesellschaftlichen Regeln, wie z.B: Sitte, Religion,
Mode); wodurch die Nähe zum psychologischen Positivismus
auffällig wird. Staatliche Sanktion ist in diesem
Bereich kaum nötig. (Ott, S. 78 f.)
Weiterhin werden das Juristenrecht (vornehmlich Entscheidungsnormen
der Gerichte, die zu Rechtssätzen abstrahiert
werden können) und das staatliche Recht (Rechtssätze,
die vor allem als Organisationsnormen des Staates fungieren)
unterschieden. (Rottleuthner, Einführung in die
Rechtssoziologie, S. 25 f.; vgl. Ott, S. 78 f.)
Max Webers (1864-1920) Rechtssoziologie versteht sich
als einen Teil einer universell orientierten Gesellschaftslehre,
"mit der die großen Evolutionstheorien des
19. Jahrhunderts zu einem Ende kommen" (Rottleuthner,
Einführung in die Rechtssoziologie, S. 22).
Die Rechtsordnung kann bei Weber in einem juristischen
Sinne verstanden werden, als Kosmos logisch richtig
erschließbarer Normen, und in einem hier entscheidenden
soziologischen Sinne (da die Beschreibung des ideellen
Geltensollens noch nichts mit dem realen Geschehen
bei Weber die Wirtschaftsordnung zu tun hat). Die
Rechtsordnung im soziologischen Sinne soll dabei als
ein Komplex faktischer Bestimmungsgründe realen
menschlichen Handelns bestimmt werden. (Ott, S. 80) Weber
unterscheidet also genau zwischen dem normativen Sinn,
"der einer Rechtsnorm 'logisch richtigerweise
zukommen sollte', und dem, was 'faktisch' innerhalb
einer Gemeinschaft 'um deswillen geschieht, weil die
Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte
Menschen ... bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv
ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln
an ihnen orientieren'. 'Empirisches Gelten' heißt
demnach, daß bestimmte Einzelpersonen 'berechenbare
Chancen' haben, 'ökonomische Güter in ihrer
Verfügung zu behalten oder künftig ... zu
erwerben', was aber 'die Hilfe eines dafür bereitstehenden
Zwangsapparates' voraussetzt." (Kaufmann, Einführung
in Rechtsphilosophie, S. 149)
Vorher unterscheidet Weber aber noch den soziologischen
Begriff des Rechts von den anderen Sozialordnungen
der Sitte und der Konvention, die ohne Zwangsapparat
auskommen:
"Unter der Sitte will Weber den Fall eines typisch
gleichmäßigen Verhaltens, welches lediglich
durch seine Gewohnheit und unreflektierte Nachahmung
in den überkommenden Geleisen gehalten wird. Die
Fortsetzung diese Massenhandelns wird aber den Einzelnen
von niemanden in irgendeiner Weise zugemutet. Sitte
ist demnach für Weber nur eine faktische Verhaltensregelmäßigkeit."
(Ott, S. 80 f.)
Unter Konvention versteht Weber die Ordnung, deren Geltung
"äußerlich garantiert ist durch die
Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises
auf eine allgemeine und praktisch fühlbare Mißbilligung
zu stoßen..." (Weber, S. 17) Konvention ist
also schon etwas normatives; ein Verstoß gegen
die Konvention führt zu einer Reaktion der Umwelt,
die sich allerdings auf Mißbilligung beschränkt.
(Ott, S. 81)
Bei der Rechtsordnung tritt nun der erzwingende "Menschenstab"
hinzu. Entsprechend soll eine Ordnung dann Recht heißen,
"wenn sie äußerlich garantiert ist
durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges
durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung
der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf
eingestelltem Stabes von Menschen" (Weber, S. 11).
Die Geltung des Rechts liegt also im soziologischen
Sinne für Weber in der Wahrscheinlichkeit des
Eintritts von Zwang durch einen auf die Rechtsverletzung
eingestellten Zwangsapparates. Dieser, in der Rechtssoziologie
heute herrschende Begriff vom Recht, sieht also nicht,
wie Ehrlich, das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal
des Rechts im Vergleich zu den übrigen Sozialordnungen
in der opinio necessitatis, sondern in seiner Zwangsandrohung.
(Ott, S. 82) Recht wird also letzten Endes auf Macht
gegründet: die Imperiumstheorie. (Kaufmann, S.
149)
Daß eine Norm gilt (>>Sein<<), ergibt
sich für Weber aus der Chance ihrer Durchsetzung.
Warum aber eine Norm gelten soll (>>Sollen<<
normativer Gehalt), ist damit noch nicht hinreichend
geklärt.
Die Rechtssoziologie hatte sich noch bis zur Mitte unseres
Jahrhunderts als die eigentliche Wissenschaft vom Recht
verstanden, und zwar weil sie empirisch, nach der Methode
der Naturwissenschaften verfuhr. "Was dabei herauskommen
konnte, zeigt zum Beispiel Franz v. Liszts (1851-1919)
"wissenschaftliche" Definition der Beleidigung
als einer Reihe von Kehlkopfbewegungen, Schallwellenerregungen,
Gehörreizungen und Gehirnvorgängen selbstverständlich
wußte v. Liszt, daß das 'Wesen' der Beleidigung
in einer Ehrkränkung besteht, aber dieser normative
Gehalt sei 'wissenschaftlicher' Erkenntnis eben nicht
zugänglich." (Kaufmann, S. 149 f.) Recht wurde
also zu einem rein Tatsächlichen, Beobachtbaren,
Betrachteten: das Recht wurde auf bloße Regelmäßigkeiten
des äußeren Verhaltens zurückgeführt;
dies vernachlässigt aber den Unterschied zwischen
Sollen und Sein, zwischen Richtigkeit und Wahrscheinlichkeit.
(Zippelius, S. 9) Folglich wurde in entschiedener Wendung
gegen diese Methode des philosophischen Positivismus
die Unterscheidung zwischen Sollen und Sein wieder
aufgegriffen: Rechtsnormen beschreiben nicht, sondern
schreiben vor. (Zippelius, S. 11)
Dennoch wird die Frage, ob der materielle Gehalt des
Rechts der Erkenntnis der Rechtswissenschaft zugänglich
ist, auch in der Wendung zur präskriptiven Funktion
der Rechtsordnung letzlich nicht beantwortet werden
können. Auch wenn Gustav Radbruch 1946 diesen
Versuch unternehmen wird, geht es letztlich um juristischen
Pragmatismus, um politische Ziele und nicht um richtiges
Recht.
c) Der etatistische (Ott, S. 32 ff.) und logische Rechtspositivismus
Die hier dargestellten Theorien stimmen darin überein,
daß sie die Positivität des Rechts in der
Setzung von Vorschriften durch eine soziale Autorität,
und zwar ganz überwiegend durch eine staatliche
Instanz, erblicken, sogenannte Setzungstheorien. (Ott,
S. 32) Hier wird also die Positivität des Rechts
im engeren Sinne untersucht.
Ebenso stimmen die Theorien darin überein, den
normativen Anspruch (>>Sollen<<) in den
Blickpunkt zu rücken, das heißt, die formalen
Strukturen des Rechts zu ergründen. So ist es
ist kein Wunder, daß die vom Neukantianismus
beeinflußten Rechtsdogmatiker um Karl Bergbohm,
Hans Kelsen und in gewisser Hinsicht auch Gustav Radbruch
die Reinheit, die formale Seite des Rechts zu ihrer
Lehre gemacht haben.
Entsprechend verzichten die nachfolgenden Theorien ganz
bewußt auf eine inhaltliche, materielle Bestimmung
des "richtigen" Rechts und überlassen
dies weitgehend der Politik. Hierin, in der Scheu der
Bestimmung des materiellen Gehalts, scheint eine der
deutlichsten und auch fragwürdigsten Übereinstimmungen
der modernen rechtspositivistischen Auffassungen (unter
Ausgrenzung der Begriffsjurisprudenz) zu liegen.
aa) Die analytische Rechtstheorie John Austins
Die sogenannte analytische Rechtstheorie wurde unter
dem maßgeblichen Einfluß von Jeremy Bentham
(1748-1832) durch John Austin (1790-1859) begründet.
(Ott, S. 33)
Bentham sieht die Aufgabe der Rechtslehre darin festzustellen,
was geltendes Recht ist und was Recht sein sollte.
Das letztere ist die Kunst der Gesetzgebung. In beiderlei
Hinsicht ist die Rechtslehre an ein gegebenes, positives
Rechtssystem gebunden und kann daher keine allgemeinen
Aussagen machen. "Eine allgemeine Rechtslehre
(universal jurisprudence) ist daher nur insoweit möglich,
als Fragen der allgemeinen Terminologie in Angriff
genommen werden können" (Coing, S. 64), das
heißt, wenn der Inhalt der Rechtsordnung relativ
ist, kann die Rechtslehre nur noch allgemeine Aussagen
über die formale Begrifflichkeit machen. Auch
Austins Theorie ist insofern begriffsanalytisch, "als
sie die Rechtsbegriffe in ihrer gegenseitigen logischen
Abhängigkeit untersucht und die dabei aufgefundenen
Ergebnisse in einem System zusammenstellt" (Ott,
S. 34) Im Gegensatz zu den deutschen Begriffsjurisprudenten
geht er dabei weniger deduktiv, sondern vielmehr streng
empirisch vor.
Entscheidend für das Verständnis ist hier
und für den Rechtspositivismus insgesamt die Trennungsthese.
Austin formuliert sie folgendermaßen: "Das
Vorhandensein einer Rechtsnorm ist eine Sache; ihre
Richtigkeit oder Unrichtigkeit eine andere. Ein bestehendes
Gesetz ist auch dann Gesetz [>>Gesetz ist Gesetz<<],
wenn es uns nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium
abweicht, an dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung
orientieren." Austin zitiert nach: (Ott, S. 34)
Entsprechend unterscheidet Austin die Rechtslehre in
>>jurisprudence<<, in das positive Recht,das
keine Rücksicht auf dessen Wert oder Unwert nimmt,
und in >>science of legislation<<, die
sich fragt, wie das positive Recht beschaffen sein
sollte. Für das Recht im letzteren Sinne sind
die maßgebenden Grundsätze das (geoffenbarte)
Gesetz Gottes und das (nichtgeoffenbarte) Utilitaritätsprinzip,
wie es Bentham aufgestellt hatte. (Ott, S. 35) Interessanterweise
kann für Austin aus dem Utilitaritätsprinzip
folgen, daß ein positives Recht (Sphäre
der >>jurisprudence<<) derart in Widerspruch
zum Nützlichkeitsprinzip (Sphäre der >>science
of legislation<<) gerät, daß es seine
präskriptive Qualität einbüßt.
Mit der Feststellung, daß ein Gesetz positives
Recht sei, ist also noch nicht über die Frage
entschieden, ob ihm auch Gehorsam geleistet werden
soll. (Ott, S. 36)
"An diesem Gedankengang scheint uns folgendes bemerkenswert:
Das Beispiel Austin läßt erkennen, daß
der Rechtspositivismus nicht wie dies häufig
unterstellt wird mit einem ethischen Relativismus
in der überpositiven Sphäre einhergehen muß.
Der Rechtspositivist kann 'durchaus ein frommer Christ,
ein eifriger Utilitarier oder ein Fanatiker der Gleichheit
sein, der auf die Frage, welche Normen erlassen werden
sollen und welche nicht, eine bestimmte Antwort geben
würde'." (Ott, S. 36)
Allerdings darf hier nicht die strikte Trennung, zwischen
dem Recht wie es sein soll (das eben kurz betrachtet
wurde) und dem Recht wie es ist, aus dem Blickwinkel
verloren gehen. Entscheidend bleibt die Analyse des
positiven Rechts.
Recht (also nicht nur positives Recht) und Moral sind
für Austin Befehle eines Mächtigeren gegenüber
einem Untergeordneten, die mit Sanktionen ausgestattet
sind. Positives Recht muß also erstens, im Gegensatz
zum göttlichen Recht, durch die Person des Befehlenden
bestimmt werden; es ist also menschliches Recht. Zweitens
muß positives Recht zur positiven Moral (Austin
trennt zwischen der positiven = menschlichen Moral
und der Moral an sich = Gesetz Gottes) abgegrenzt werden;
es ist also staatliches Recht. (Ott, S. 36 f.)
Ein solcher (positiver) Rechtsbefehl ist nun Ausdruck
eines Wunsches der sich äußernden Person,
die bei Ungehorsam des Adressaten in der Lage ist,
dem Wunsch durch Hinzufügung eines Übels
Nachdruck zu verschaffen. Die Kehrseite des Wunsches
ist für Austin die Pflicht. "Jeder mit einer
Zwangsordnung versehene Befehl erzeugt demnach eine
Pflicht; die Pflicht ist nichts anderes als die Möglichkeit
eines Übels im Falle des Ungehorsams gegenüber
dem Befehl." (Ott, S. 37)
Hinzu kommt, daß es sich beim Rechtsbefehl um
einen inhaltlich generellen Befehl handeln und daß
dieser dem Willen der höchsten, rechtlich nicht
gebundenen Macht in einer unabhängigen politischen
Gesellschaft entspringen muß. Für seinen
Begriff von Souveränität reicht es, wenn
die Mehrheit der Untertanen der höchsten Obrigkeit
gewöhnlich gehorcht und wenn nach außen
die Obrigkeit gewöhnlich nicht die Befehle anderer
Herrscher befolgt. (Ott, S. 37)
Die Rechtswirklichkeit scheint durch das einfache Schema
von Befehl, Sanktion und Souverän allerdings nicht
hinreichend erklärt zu sein, so gibt es zum Beispiel
Normen, die keine Sanktionen als Rechtsfolge vorsehen
und die trotzdem zum positiven Recht gezählt werden.
"Austin gibt hier freimütig zu, daß
es sich um Ausnahmen handelt, die nicht in sein Befehlsschema
passen und die folglich nicht als Rechtsregeln im eigentlichen
Sinne des Wortes angesehen werden können."
(Ott, S. 38) Im internationalen Bereich führt das
Fehlen einer souveränen Zwangsmacht entsprechend
zur Verwerfung der Rechtsnatur des Völkerrechts.
Völkerrecht und auch Gewohnheitsrecht (solange
es nicht vom Souverän direkt oder durch die Gerichte
stillschweigend zum positiven Recht erhoben ist) zählt
Austin zur positiven Moral. (Ott, S. 38)
So führte auch Bergbohm dieses Problem zutreffend
aus: "Daraus ergibt sich z.B: welche Bedeutung
der Frage zukommt, ob der 'Zwang' ein begriffliches
Merkmal des Rechts sei oder nicht. Läßt
man ihn weg, so öffnet man den bloßen Sitten-
und allen möglichen anderen Regeln das Einfallstor
in das Rechtsgebiet; nimmt man ihn unter die essentialen
Merkmale des Rechts auf, so darf man, scheint es, große
Partien des Kirchenrechts, Staatsrechts und vielleicht
das ganze Völkerrecht durchaus nicht mehr als
Recht ansehen, eine schlimme Alternative, die darauf
hinweist, daß in dem 'Zwang' eben ein noch ungelöstes
Problem sitzt." (Bergbohm, S. 73)
Bemerkenswerter Weise sieht Austin in der richterlichen
Interpretation eines Gesetzes eine rechtsschöpferische
Tätigkeit. Nur bei enger grammatischer Auslegung
von Rechtsausdrücken würde er sich auf den
Willen des dahinter stehenden Gesetzgebers beschränken;
schon bei einer extensiven oder restriktiven Interpretation
fungiert der Richter in Wirklichkeit als Gesetzgeber.
(Ott, S. 39)
"In dieser realistischenEinschätzung des richterlichen
Entscheidungsprozesses hebt sich Austins analytical
jurisprudence vorteilhaft ab von der Spielart des etatistischen
Positivismus, der wir uns nunmehr zuwenden wollen,
nämlich vom Gesetzespositivismus." (Ott, S.
39)
bb) Der Gesetzespositivismus
Am Anfang soll auch hier nocheinmal, anders gewendet,
der Bezug zum philosophischen Positivismus aufgezeigt
werden (vgl. S. 1 ff u. insbesondere S. 10 ff.). Der
philosophische Positivismus, ebenso wie der psychologische
und soziologische Rechtspositivismus, untersucht mannigfaltige,
irgendwie in Erscheinung getretene Tatsachen; der Gesetzespositivismus
kennt nur einen >>faktischen Punkt<<, den
Entstehungsakt des Rechts. Tatsache ist in diesem Sinne
also nur der Ursprung des Rechts. Wie schon bei Austin
gezeigt, ist die Rechtsordnung für die Gesetzespositivisten
ein Gebilde von generellen Anordnungen, das auf die
tatsächliche Willensbildung- und Bekundung eines
Inhabers staatlicher (souveräner) Gewalt zurückgeführt
werden kann und sanktionsbewehrt ist. Die so entstandene
Norm wird als Imperativ durchaus in ihrem präskriptiven
Sinn erfaßt. (Zippelius, S. 8 unter Berücksichtigung
der Fußnote 1 und 2)
(1) Die Schwierigkeit der begrifflichen und personellen
Faßbarkeit des Gesetzespositivismus zwischen
Neukantianismus und Allgemeiner Rechtslehre (vgl. hierzu:
Rottleuthner in Demokratie und Recht 1987, 373/375)
Auffällig an der gesetzespositivistischen Theorie
erscheint, daß sie in ihrer strengen Form von
wenigen eindeutig vertreten wird. Eigentlich hat sich
in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20.
Jahrhunderts nur Hans Kelsen selbst als Positivist
bezeichnet. Positivisten waren immer die anderen. So
sind alle Vertreter des Gesetzespositivismus "irgendwie"
auch Anhänger einer anderen juristischen Methode
oder philosophischen Richtung (z.B. Neukantianismus,
Phänomenologie, Neuhegelianismus, Kritizismus)
oder lassen deutliche Sprünge in ihrem eigenen
Gedankengebäude erkennen. Folglich stellt sich
die Frage, ob der Gesetzespositivismus im strengen
Sinne überhaupt eine Theorie beziehungsweise ein
rechtsphilosophisches System bildet. Diese skeptische
Haltung kann auch nicht verwundern; denn wenn alles
das Recht ist, was positiv gesetzt wurde, besteht kein
Handlungsraum für eine kritische Würdigung
seitens der Juristen oder Philosophen. (vgl. Kaufmann,
S. 92; vgl. Bergbohm, S. 3 ff.) So dient der Gesetzespositivismus
aber mindestens als Sammelbezeichnung für die
einfache Tatsache, daß der Staat Recht setzt;
konsequenterweise wurde er auch als >>Allgemeine
Rechtslehre<< (Coing, S. 64 f.; Kaufmann, S. 92
ff. und 108) bezeichnet, die Radbruch nur als >>Euthanasie
der Rechtsphilosophie<< (Radbruch, S. 110) erwähnen
wollte.
(2) Karl Bergbohm (1849-1927)
Das Programm der Allgemeinen Rechtslehre entwarf Bergbohm
in >>Jurisprudenz und Rechtsphilosophie<<,
1892. (Radbruch, S. 110) in der Fußnote 1 Die Allgemeine
Rechtslehre beschränkte sich auf die Herausarbeitung
apriorischer Grundbegriffe (z.B. Rechtsverhältnis,
Rechtssubjekt, Rechtsnorm) und Grundstrukturen (Kausalität,
Geltung, System). (Bergbohm, S. 17)
"Also: eine Anzahl Dogmen über die Entstehung
und Bildungsformen des Rechts, dazu einige Begriffsinvaliden
'Gewohnheitsrecht', 'subjektives Recht', der Rest Erbstücke
aus der naturrechtlichen Epoche das ist in Summa unsere
heutige allgemeine Rechtstheorie." (Bergbohm, S.
67)
Ganz im Sinne der Neukantianischen Schule lehnte die
Allgemeine Rechtslehre alle inhaltliche philosophische
Begründung des Rechts als spekulativ ab; der Inhalt
des Rechts, zumal das vom Sein völlig getrennte
Sollen, galt als wissenschaftlich unerkennbar. (Kaufmann,
S. 92) Inhalt des Rechts war für die Neukantianer
relativ, über Form des Rechtsbegriffs ließe
sich dagegen eine Bestimmung treffen.
"Der Rechtsinhalt, die maßgebenden Ideen
und Prinzipien der Rechte haben eine Geschichte der
Rechtsbegriff keine." (Bergbohm, S. 73)
(3) Rudolf Stammler (1856-1938)
Stammler, ebenso Neukantianer und ebenso auf der Suche
danach, "was das Recht seinem Begriffe nach sei"
(Zippelius, S. 13), meinte ganz im Sinne Bergbohms, "daß
'kein einziger Rechtssatz möglich ist, der in
der Besonderheit seines Inhalts absolut richtig feststände',
und dies eben darum, weil nach ihm das 'richtige Recht'
nicht anders ist als eine 'reine Denkform', eine 'formale
Methode', nur eine 'Fragestellung' in Richtung 'auf
die grundsätzliche Eigenschaft eines gegebenen
Rechtsinhalts'." (Kaufmann, S. 90)
(4) Felix Somló (1873-1920)
In die Reihe der vom Neukantianismus beeinflußten
Rechtspositivisten gehört auch Somló, der
sich auch mit den Erscheinungsformen des formalen Rechts
(Rechtsobjekt, -subjekt, -norm) und dem Verhältnis
von Staat und Recht in seinem Hauptwerk >>Juristische
Grundlehre<<, 1917, das auf Vermittlung von Kelsen
erschien, beschäftigte. Katalin Gönczi in
(Juristen, S. 575 f.)
(5) Gustav Radbruch (1878-1949)
Radbruchs philosophische Ausgangspunkte waren einerseits
ebenso der Neukantianismus der Südwestdeutschen
Schule, wobei vor allem der wertheoretische Ansatz
von Emil Lask von Einfluß war, und zum anderen
der Methodendualismus von Sein und Sollen. (Kaufmann,
S. 109)
Zur Klärung Radbruchs ambivalenten Verhältnisses
zum Gesetzespositivismus muß an dieser Stelle
näher auf seinen Lebensweg eingegangen werden.
Er trat 1918, beeinflußt durch die Kieler Matrosen-
und Arbeiteraufstände, in die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands ein, als deren Mitglied er von
1920 bis 1924 dem Reichstag angehörte und in den
Jahren 1921 bis 1922 und wieder 1923 Reichsjustizminister
war. 1922 brachte Radbruch den ersten amtlichen Entwurf
zum neuen StGB ins Kabinett ein, dessen Verabschiedung
er jedoch nicht mehr bewirken konnte. In der Reform
des Strafrechts sah er sein politisches Hauptwerk.
Er war in Kiel und Heidelberg Professor für Strafrecht
und Rechtsphilosophie. Schon 1945 gelangte er auf seinen
Lehrstuhl in Heidelberg zurück und übernahm
als Dekan die Reorganisation des Lehrbetriebs. (Wolf,
S. 734 ff.)
Die Revolution von 1918/1919 hatte nur eine begrenzte
gesellschaftliche Reichweite. Mit der Weimarer Reichsverfassung
wurde sehr spät versucht, die Werte westlicher
Demokratien, die maßgeblich durch die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die
Französischen Revolution von 1789 hevorgebracht
worden waren, auch in Deutschland zu verwirklichen.
Der Kaiser und seine Vasallen waren entmachtet, Richter
und Beamte blieben die des Bismarckreiches. Entsprechend
war von ihnen Mißtrauen und Widerstand gegen
die instrumentell eingesetzte Gesetzgebung der neuen
Republik, die im wesentlichen nur von Sozialdemokraten,
dem Zentrum und einigen Liberalen, der sogenannten
"Weimarer Koalition", getragen wurde, zu
erwarten. Daß der Justizminister Radbruch den
Wert der Rechtstreue in seinen Schriften und Taten
immer wieder betonen mußte, kann vor diesem Hintergrund
nicht verwundern, hätte man sich doch sonst die
Mühen der Sozialgesetzgebung ersparen können.
(Adomeit, S. 151)
Als Wertrelativist wollte er die Gesellschaft durch
das sichere, staatlich gesetzte Recht lenken und ordnen:
"Die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen
der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen
bleiben... Da aber nach relativistischer Ansicht Vernunft
und Wissenschaft diese Aufgabe zu erfüllen außerstande
sind, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen.
Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß
jemand festsetzen, was rechtens sein soll,..."
(Radbruch, S. 175) Radbruch unterscheidet aber deutlich
in "was rechtens sein soll" und in "was
richtig ist". Denn "die Rechtsetzungsbefugnis
des Machthabers kann eine bestimmte Rechtsansicht zwar
zur Grundlage der Rechtsordnung machen, aber nicht
als allgemeine Rechtswahrheit ausrufen". Über
die Rechtswahrheit soll im freien Meinungskampf gerungen
werden, den der Machthaber zu garantieren hat, "Legalität
des Verhaltens, aber auch Freiheit der Kritik und der
Propaganda". (Radbruch, S. 175) in der Fußnote
2 Seiner Ansicht nach hatte auch eine Revolutionsregierung
Ruhe und Ordnung zu garantieren. Das positive Recht
soll dabei Frieden im Handeln begründen während
des demokratischen Kampfes der Meinungen und Interessen.
(Adomeit, S. 150) Zur angedeuteten Verknüpfung von
Recht und Macht, der >>Normativität des
Faktischen<< später mehr.
Als strenger Gesetzespositivist wollte Radbruch auch
in seiner Schaffensphase vor 1933 nie bezeichnet werden;
dazu eine freundliche Stellungnahme Erik Wolfs:
"Auch in seinem >>Positivismus<< war
Radbruch insofern nicht vom Denken des späten
19. Jahrhunderts abhängig, als ihm die humanistische
Tradition des klassischen NaturGedankens immer vertraut
war und gegenüber der isolierten, entgeistigten
NaturVorstellung seiner Jugendzeit vorbildlich geblieben
ist. Dem im engeren Sinn physikalischbiologischen Naturbegriff
der Kausalwissenschaften stand sein Wesen von Grund
aus fern. Ebensowenig haben ihn empirischpsychologische
Probleme (...) angezogen, weit mehr die Fragen der
verstehenden Psychologie und Charakterologie. Geschichte
war für ihn immer Geistesgeschichte; an einem
Tatbericht oder an einem persönlichen Geschick
interessierten ihn weniger Daten und Fakten als deren
ideengeschichtlicher Hintergrund. Seine >>Teleologie<<
war weder der empirischökonomischen >>Interessenjurisprudenz<<
verpflichtet, noch der eklektizistischen >>Allgemeinen
Rechtslehre<< der Zeit. Sie bedeutet mehr als
eine naive >>jurisprudence<<, die aus Erfahrungssätzen
des common sence gebildet ist. Ihr eigenartiger >>relativistischer
Realismus<<, ihre Wendung zur >>Natur der
Sache<<, lag schon eher in der Richtung eines
Denkens, wie es durch die von Edmund Husserls Schülern
ausgegebene Losung >>zurück zu den Sachen!<<
philosophisch gefordert und seit Eugen Hubers Entdeckung
der >>Realien im Recht<< auch rechtspolitisch
wirksam geworden war." (Wolf, S. 731)
Die vom Neukantianismus geprägte Rechtstheorie
wählte, wie schon angedeutet wurde, verschiedene
Wege, um den Begriff des Rechts zu bestimmen. Stammler
fragte, welchen Begriff wir voraussetzen, wenn wir
etwas als Recht bezeichnen, Radbruch ging davon aus,
daß das Recht den Kulturerscheinungen zuzuordnen
sei, und Kelsen wird das Recht noch enger an den kategorialen
Unterschied zwischen Sollen und Sein knüpfen.
(Zippelius, S. 13)
(6) Die >>Reine Rechtslehre<< Kelsens
Hans Kelsen (18811973) unternahm es, mit seiner >>Reinen
Rechtslehre<< (1. Aufl. 1934, 2. Aufl. 1960)
die Rechtswissenschaft auch noch von letzten philosophischen
Elementen des Neukantianismus zu reinigen. Ziel der
Reinen Rechtslehre ist die Gewinnung einer Rechtswissenschaft,
die frei ist von naturwissenschaftlichen (einschließlich
soziologischen), ethischen und politischen Elementen.
Kelsen, S. 1 Kelsen geht im Anschluß an Kant
(vgl. dazu generell S. 4 ff.) und dem Neukantianismus
von der strikten Trennung der Sphären des "Seins"
und des "Sollens" aus, die dem Bewußtsein
unmittelbar gegeben sei, mit der Folge, daß aus
dem "Sein" kein "Sollen" abgeleitet
werden kann. (Kelsen, S. 4 f.) Sein ist hierbei das,
was mit den Mitteln der kausalwissenschaftlichen Disziplinen
erforscht und erklärt werden kann (vgl. S. 10
ff.)
Ein bestimmter Seinsakt erhält seine rechtliche
Bedeutung (seine Bedeutung als Rechtsakt) erst durch
seine Beziehung auf ein rechtliches Normensystem: der
Seinsakt muß erst normativ gedeutet werden, um
eine Rechtsakt zu sein; die Norm, die ihm die rechtliche
Bedeutung verleiht, ist sein Bedeutungsschema. (Kelsen,
S. 2 f.) Die Geltung dieser Rechtsnorm als eines Sollens
muß ihrerseits von einer anderen Norm hergeleitet
werden."Der Geltungsgrund einer Norm kann nur
die Geltung einer andern Norm sein." Kelsen, S.
196 Diese Herleitung ist keine inhaltliche Deduktion
der Norm aus einer sie umfassenden allgemeineren Norm,
wie dies das rationalistische Naturrecht (vgl. S. 3
f.) und in gewisser Weise auch noch der juristische
Positivismus Puchtas (vgl. S. 22 f.) versuchten, sondern
die Deutung eines bestimmten Seinsaktes als eines sie
die Norm setzenden Rechtsaktes. Kelsen, S. 201 f.
Die als Deutungsschema übergeordnete Norm regelt
also lediglich das Normsetzungsverfahren (unter Einschluß
der Normsetzungskompetenz); sie besagt inhaltlich demnach
nur, unter welchen tatsächlichen Umständen
ein Seinsakt ein rechtlicher Normsetzungsakt ist. (Kelsen,
S. 201 f.) Auf diese Art und Weise gelangt man zu einem
Stufenbau einer jeden Rechtsordnung, an deren Spitze
innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung die das Normsetzungsverfahren
regelnden Normen der Verfassung sei diese geschrieben
oder ungeschrieben stehen. (Kelsen, S. 201 f.) Für
das Deutungsschema des diese Normen der positiv rechtlichen
Verfassung setzenden Seinsaktes und damit für
ihren Geltungsgrund kann nun allerdings nicht mehr
auf eine Norm des positiven Rechts (einschließlich
des Gewohnheitsrecht) zurückgegriffen werden,
sondern es muß eine Norm vorausgesetzt werden,
die die Deutung des verfassungsgebenden Aktes als eines
entsprechenden Rechtsaktes ermöglicht; diese Norm
heißt Grundnorm oder die Verfassung im rechtslogischen
Sinne. (Kelsen, S. 201 f.)
Die Grundnorm ist der rechtslogisch notwendige Ausgangspunkt
des positiven Rechtserzeugungsverfahrens und Geltungsgrund
der Rechtsordnung. (Kelsen, S. 197 ff. und 219) "Eine
Norm gehört zu einer auf einer solchen Grundnorm
beruhenden Ordnung, weil sie auf die durch die Grundnorm
bestimmte Weise erzeugt ist und nicht, weil sie einen
bestimmten Inhalt hat. Die Grundnorm liefert nur den
Geltungsgrund, nicht aber auch den Inhalt der diese
System bildenden Normen." (Kelsen, S. 200) Auch
die Grundnorm regelt also bloß das Normsetzungsverfahren.
Wie das Recht inhaltlich sein soll, ist keine Frage
der Rechtswissenschaft mehr, sondern der Rechtspolitik.
Kelsen, S. 201 Deshalb gilt für die Rechtswissenschaft
und die rechtswissenschaftlich arbeitende Rechtsprechung:
"Keiner positiven Rechtsordnung kann wegen des
Inhalts ihrer Normen die Geltung abgesprochen werden."
Kelsen, S. 224 Grund dafür ist letztlich Kelsens
Festhalten an der Relativität der Werturteile.
vgl. (Kelsen, S. 50) "Das", so fährt Kelsen
fort, "ist ein wesentliches Element des Rechtspositivsmus;
und gerade in ihrer Theorie der Grundnorm erweist sich
die Reine Rechtslehre als positivistische Rechtslehre."
(Kelsen, S. 224)
Von der (juristischen) Geltung einer Norm im Sinne der
Grundnormlehre sei deren Wirksamkeit, also die Seinstatsache,
daß sie angewendet und befolgt wird, zu trennen.
(Kelsen, S. 48) Zwischen beiden bestehe eine Beziehung
dahingehend, daß eine Rechtsordnung als eine
Zwangsordnung nur dann als gültig angesehen werden
könne, wenn sie im wesentlichen wirksam sei. (Kelsen,
S. 48) "Nur wenn das tatsächliche Verhalten
der Menschen im großen und ganzen dem subjektiven
Sinn der auf dieses Verhalten gerichteten Akte entspricht,
wird dieser subjektive Sinn auch als ihr objektiver
anerkannt, werden diese Akte als Rechtsakte gedeutet."
(Kelsen, S. 48 Die Wirksamkeit ist eine Bedingung der
Geltung. Kelsen, S. 215 f.)
Kelsen reduziert damit im Ergebnis die Geltung auf die
soziologisch feststellbare Macht des Gesetzgebers,
die Befolgung der Norm zu erzwingen. (Messner, S. 270
ff.)
(7) Die inhaltliche Leere des Rechts
Wie gezeigt wurde, lassen sich die genannten Autoren
(mühsam) unter den Schulen der Allgemeinen Rechtslehre
oder des Neukantianismus zusammenfassen. Als Gesetzespositivisten
hätten sie sich selbst wohl alle nicht bezeichnet.
Meiner Ansicht nach müssen aber der Radbruch von
1932 (>>Rechtsphilosophie<<, 3. Aufl.)
entgegen der wohl überwiegenden Ansicht und Hans
Kelsen (>>Reine Rechtslehre<<, 1. Aufl.
1934 u. 2. Aufl. 1960) als solche genannt werden; dazu
später mehr.
Wählen Bergbohm, Stammler, Somló, Radbruch
und Kelsen auch verschiedene Ansatzpunkte, um den (formalen)
Begriff des Rechts zu klären, so stimmen sie dennoch
in der Überzeugung überein, daß der
Begriffsinhalt des Rechts leer ist. Dieser Werterelativismus
ist Ausgangspunkt für ein gesetzespositivistisches
Verständnis.
"Der Neukantianismus der Südwestdeutschen
Schule verstand sich selbst, verleitet durch sein formalistisches
Kantverständnis, als Erkenntnistheorie, und zwar
als eine Theorie der formalen Bedingungen der Aussagen
über rechtliches Sollen. Insofern er nicht die
materialen Kriterien der Gerechtigkeit und des überpositiven
Rechts untersuchte, sondern die logischen Bedingungen
der Aussagen über Sätze rechtlichen Sollens
schlechthin, verzichtete er auf die Rechtsmetaphysik
des älteren Naturrechts wie der klassischen Systeme...
Ein solcher Formalismus muß zu seiner inhaltlichen
Füllung meist auf vorgegebene idealistische, positivistische
oder naturalistische Rechtspostulate zurückgreifen.
Beim Verzicht auf solche Inhalte gelangte er folgerichtig
zu einem Werterelativismus. Im Ergebnis konnte also
der Neukantianismus das Gefäß verschiedener
Wertsysteme werden: er ist im letzten Grunde ein geisteswissenschaftlicher
Positivismus." (Wieacker, S. 588)
(8) Kodifikationsbewegung
Ist das Recht (a priori) inhaltlos, muß es mit
Inhalt angereichert werden. Dieser Aufgabe nahmen sich
dann auch die Staaten des Deutschen Bundes und später
das Deutschen Reich sowie seine Gliedstaaten seit Mitte
des 19. Jahrhunderts hingebungsvoll an. So sieht Wieacker
in aller Konsequenz in der Kodifikationsbewegung den
Kern des Gesetzespositivismus (vgl. auch Ott, S. 39):
"Auf die Dauer war indessen vorauszusehen, daß
der deutsche Territorial- oder Nationalstaat auf die
Kodifikation nicht verzichten würde. Seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts verkündeten mehrere
deutsche Staaten Strafgesetzbücher, das Königreich
Sachsen zu später Stunde 1863 gar ein Bürgerliches
Gesetzbuch, andere deutsche Staaten wenigstens Entwürfe;
seit 1848 setzte die liberale Einheitsbewegung auch
nach ihrer politischen Niederlage den Fortgang der
gemeindeutschen Kodifikationsarbeiten durch. An die
Stelle des rechtswissenschaftlichen Positivismus begann
der Gesetzespositivismus zu treten: ein im öffentlichen
Bewußtsein wenig bemerkter Sieg der Justiz über
die Rechtswissenschaft, der politischen Nation über
die Kulturnation. Denn zum erstenmal nach der Rezeption
machte sich in ganz Deutschland die staatliche Rechtssetzung
von der gelehrten Rechtsfortbildung unabhängig.
An ihre Stelle trat der Idee nach der im Gesetz sich
ausdrückende 'Volkswille', der freilich im konstitutionellen
Staat weder unmittelbar noch ungehemmt durch historische
und autoritäre Kräfte sich aussprach."
(Wieacker, S. 459; vgl. auch Ott, S. 212)
(9) Der Wandel von einem expressiven zu einem instrumentellen
Gesetzesverständnis (vgl. Rottleuthner, Einführung
in die Rechtssoziologie, S. 36 ff.)
Wieacker deutet hier noch einen entscheidenden Punkt
an, der die Problematik der (gesetzes-) positivistischen
These "Gesetz ist Gesetz" erhellt: die Abkehr
von einem expressiven hin zu einem instrumentellen
Verständnis der Gesetzgebung gegen Ende des 19.
Jahrhunderts. Zurückführend auf Savigny (vgl.
S. 3 f. u. 22), galt Gesetzgebung als Findung von zugrundeliegendem,
bereits in der Gesellschaft bestehendem Recht, das
nur noch der sublimierten Aufzeichnung bedurfte. Erst
mit der beginnenden Ausformung deutscher Nationalstaatlichkeit
werden Gesetze "nicht mehr als organischer Ausdruck
vorzufindender Verhältnisse, so wenig manipulierbar
wie die Sprache, angesehen, sondern als bewußt
einsetzbares Instrument der sozialen Reform und Steuerung"
(Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie,
S. 37). Dieser zunehmende Staatsinterventionismus zeigte
sich besonders im Arbeits- und Sozialrecht und blieb
übrigens auch nach 1933 ungebrochen. (vgl. Rottleuthner,
Einführung in die Rechtssoziologie, S. 39)
Dieser Wandel von einem feststellenden zu einem gestaltenden
Verständnis von Gesetzgebung macht also einen
Aspekt der >>Positivität des Rechts<<
(Luhmann, S. 190 ff.) aus. Aber Positivität des
Rechts bedeutet nicht nur, daß es (staatlich)
fixiert bzw. gesetzt und damit geschaffen wird, sondern
enthält für die Rechtssoziologen eine Reihe
verschiedenster Merkmale, die eine neue Qualität
der Rechtsentwicklung und Stufe der Gesetzgebung (Gesetzespositivismus)
ausmachen sollten (zusammengestellt nach: Rottleuthner,
Einführung in die Rechtssoziologie, S. 38 f.):
Die Geltung des Rechts beruht auf Entscheidungen, auf
der Auswahl bestehender Möglichkeiten, nicht mehr
auf höheren Werten.
Es bilden sich spezielle Verfahren der Gesetzgebung
heraus.
Recht wird als jederzeit änderbar empfunden.
Rechtsetzung wird zur Routine.
Gesellschaftlicher Wandel wird als durch Recht planbar
angesehen.
Recht wird als verbindlich erachtet, weil es nach bestimmten
Verfahrensregeln durch kompetente Organe zustande gekommen
ist (legale Legitimität)
(10) Die Verknüpfung von Macht und Recht
Wenn das Recht inhaltslos ist und der Gesetzgeber es
instrumentell mit Inhalt füllen darf und soll,
dann ist zumindestens jedes im verfassungsmäßigen
Verfahren (in formell korrekter Weise) zustande gekommene
staatliche Gesetz = Recht. Entsprechend existiert das
Recht nur in den Gesetzen; andererseits ist jedes Gesetz
eo ipso auch Recht. Das heißt, der staatliche
Gesetzgeber kann jeden beliebigen Inhalt in Form eines
Gesetzes zu Recht werden lassen; der Gesetzespositivismus
erklärt damit die juristische Allmacht des Gesetzgebers.
(Ott, S. 40)
Carl Schmitt (1888-1985) zieht aus dieser positivistischen
Unterwerfung unter die beliebige Entscheidung des Gesetzgeber
(Dezisionismus) zwei interessante Schlüsse:
1. Rechtssicherheit entsteht nicht durch einen normativen
Anspruch, sondern gerade durch die Unterwerfung unter
eine garantierende Macht ganz im Sinne Thomas Hobbes.
(Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 27 ff.)
2. Im Augenblick der(freien) Entscheidung des Gesetzgebers
zum Gesetz entsteht wiederum eine normative Verpflichtung
des Staates, dem Recht zu gehorchen. Dieser von den
Positivisten geforderten normativen Folge des Dezisionismus
steht Carl Schmitt allerdings skeptisch gegenüber:
"Er [der Positivist] unterwirft sich dezisionistisch
der Entscheidung des jeweilig im Besitz der staatlichen
Macht stehenden Gesetzgebers, weil dieser allein die
tatsächliche Erzwingbarkeit verschaffen kann;
aber er verlangt gleichzeitig, daß diese Entscheidung
fest und unverbrüchlich als Norm weitergelte,
d.h., daß auch der staatliche Gesetzgeber selbst
sich dem von ihm aufgestellten Gesetz und dessen Auslegung
unterwerfe. Nur dieses Legalitätssystem nennt
er 'Rechtsstaat', obwohl er gerade einen Gesetzesstaat
an Stelle eines 'Rechts'staates und das Interesse der
Rechtssicherheit an die Stelle der Gerechtigkeit setzt."
Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
(Denkens, S. 35)
Folgerichtig vertritt Carl Schmitt die Ansicht, daß
der Gesetzespositivist eher die dezisionistische als
die normative Seite des Rechts betont, eher die gesetzgeberische
Funktion des Staates als die eigene Sollenskraft des
Rechts, eher den Gesetzesstaat als den Rechtsstaat:
"Ein reiner Normativismus müßte die
positive Norm aus einer überpositiven Norm ableiten;
das konkrete Ordnungsdenken würde ebenfalls zu
einer überpositiven, umfassenden, totalen Ordnungseinheit
führen. Das dezisionistische Denken dagegen erlaubt
die positive Anknüpfung an einen bestimmten tatsächlichen
Zeitpunkt, an welchem aus einem vorangehenden Nichts
an Norm oder einem Nichts an Ordnung das positiv allein
beachtliche positive Gesetz hervorspringt, das dann
aber als positive Norm weitergelten soll." (Schmitt,
Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 37 f.)
Auch Radbruch beginnt ähnlich und beschreibt den
Staat durch seine Rechtsetzungs- und Erzwingungsmacht:
"Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit,
daß er Recht zu setzen berufen ist." (Radbruch,
S. 175) Radbruch verknüpft Macht und Recht zur
>>Normativität des Faktischen<< (Jellinek,
S. 341, 360, 371. vgl. Radbruch, S. 175 f.)
Dabei hat Georg Jellinek, der diesen Begriff prägte,
diese Verknüpfung für das Recht abgelehnt
und die normativistische These vertreten: "Alles
Recht ist Beurteilungsnorm und daher niemals mit dem
von ihm zu beurteilenden Verhältnissen zusammenfallend"
(Jellinek, S. 355). Die Politik sollte aus der allgemeinen
Staatslehre ausgeschlossen bleiben. (Jellinek, S. 23)
Darüber hinaus erscheint die Verknüpfung
von Faktischem und Normativem für einen Gesetzespositivisten
als reine Selbstverständlichkeit: Daß das
vom Gesetzgeber entschiedene Recht in seiner Gesetztheit
etwas Faktisches ist und daß von ihm ein Geltungs-
bzw. Sollensanspruch (Normativität) ausgeht, ist
für ihn Grundüberzeugung. Fraglich ist vielmehr,
ob von den faktischen Verhältnissen eine dezisionistische
Kraft auf den Gesetzgeber ausgeübt wird. vgl.
(Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 37) Radbruch formulierte seine Verknüpfung
wohl eher im letzteren Sinne.
Die Verknüpfung von Macht und Recht soll dann allerdings
bei Radbruch anders als bei Schmitt eine philosophische
Begründung bekommen: "Das Recht gilt nicht,
weil es sich wirklich durchzusetzen vermag, sondern
es gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag,
weil es nur dann Rechtssicherheit zu gewähren
vermag. Die Geltung des positiven Rechts wird also
gegründet auf die Sicherheit, die ihm allein zukommt,
oder wenn wir den nüchternen Ausdruck >>Rechtssicherheit<<
durch gewichtigere Wertformeln umschreiben wollen,
auf den Frieden, den es zwischen streitenden Rechtsanschauungen
stiftet, auf die Ordnung, die dem Kampfe aller gegen
alle ein Ende setzt." (Radbruch, S. 177)
Die Geltung des positiven Rechts soll sich auf der Rechtssicherheit
gründen? Dies mutet weniger philosophisch als
eher rechtspolitisch begründet an, denn Garant
der Geltung des positiven Rechts ist doch niemand anderes
als eine unbestrittene Macht (im Staat). Ein autoritäres
UnrechtsRegime würde in diesem Sinne auch und
gerade in der Lage sein, die Durchsetzung seiner Gesetze
zu gewährleisten und dadurch seine Rechtsordnung
mit dem Wert der Rechtssicherheit schmücken können.
Letztlich leugnet dies Radbruch nicht, denn auch für
ihn war klar, daß der normative Anspruch des
Rechts auf Rechtssicherheit nur Wirklichkeit ist, wenn
er durchgesetzt wird; nicht umsonst erscheint bei ihm
der Hinweis auf Thomas Hobbes (1588-1679) Ausgangsüberlegung
des "bellum omnium contra omnes" (Hobbes,
S. 59). Der inhaltliche Rechtsrelativismus zugunsten
einer Macht ist der Preis für eine so gesicherte
Rechtssicherheit, denn der Staat soll Recht beliebig
setzen dürfen, wenn er seine Funktion garantieren
kann. Radbruch versuchte damit die Rechtssicherheit
zum Höchstwert zu machen, unter bewußter
Aufgabe einer materiellen Gerechtigkeit. (vgl. Kaufmann,
S. 92)
Carl Schmitt akzentuiert dagegen meines Erachtens zu
Recht nicht das Sicherheit garantierende positive Gesetz,
sondern die dahinterstehende stabile und akzeptierte
Macht: "Aber die Sicherheit, Gewißheit,
Festigkeit, strenge Wissenschaftlichkeit, funktionierende
Berechenbarkeit und alle derartigen 'positiven' Qualitäten
und Vorzüge waren in Wirklichkeit überhaupt
nicht Vorzüge der legalen 'Norm' und der menschlichen
Satzung, sondern nur der damals, im 19. Jahrhundert,
normalen, relativ stabilen Situation eines Staatswesens,
das seinen Schwerpunkt in der Gesetzgebung hatte, also
der Legalitätssystems eines Gesetzgebungsstaates.
Nicht weil die Norm, sondern weil und soweit dieses,
in bestimmter Weise konstruierte Staatswesen stabil,
sicher und fest war, konnte man derartig 'positiv'
sein." (Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens, S. 33 f.)
Der (inhaltliche) Rechtsrelativismus entpuppte sich
letztendlich als Folge einer gesetzespositivistischen
Einstellung, die glaubte, im Interesse der Rechtssicherheit
auf eine vorweggenommene inhaltliche und werteorientierte
Bestimmung des Rechtsbegriffs verzichten zu können,
ja verzichten zu müssen. Der Inhalt des Rechts
sollte eindeutig und generellabstrakt nur vom Gesetzgeber
bestimmt werden können. Gewohnheits- und Richterrecht
und andere ähnliche Rechtsquellen, die zu Streit
über Rang und Geltung Anlaß gaben, sollten
in einer positiven Rechtsordnung nichts zu suchen haben.
Man mag mit Radbruch der Meinung sein, daß die
Geltung des Rechts sich auf Sicherheit und Frieden
gründet (Recht als Friedensordnung), nur darf
dabei nicht verkannt werden, daß es ohne Garantiemacht
keine Rechtssicherheit geben kann; auch bei Radbruch
läuft es letztendlich auf die Macht hinaus, allerdings,
um es nocheinmal zu wiederholen, nicht um der Macht
willen diese ist nicht höchster Wert oder Selbstzweck,
sondern bleibt instrumentell, ein Mittel eben, ohne
das das Ziel des Rechts, nämlich Rechtssicherheit
als gesellschaftliche Friedensordnung, nicht erreichbar
ist: Macht als conditio sine qua non der Rechtssicherheit.
Letztendlich entsteht Rechtssicherheit also nur, wenn
auch der Rechtsstab bei der Umsetzung mitspielt das
heißt, daß das durch die Gesetzgebung bestimmte
Recht angewendet wird; dazu aber später ausführlich
mehr.
(11) Die gesetzespositivistischen Antworten auf den
Rechtsmißbrauch
Aber Carl Schmitt spricht in seinem oben zitierten Aufsatz
ein noch viel heikleres Thema an: Was ist, wenn der
Staat nicht stabil ist und nicht selbstverständlich
"richtiges" Recht setzt, sondern seine Möglichkeit
mißbraucht? Ausdruck dessen war für Carl
Schmitt die Weimarer "Systemzeit", für
uns heutige Demokraten ist es das nationalsozialistische
Unrechtsregime Adolf Hitlers.
Für einen Gesetzespositivisten gibt es nur eine
konsequente Antwort: Die positive Norm muß als
gültig unabhängig von der eigenen sittlichmoralischen
Auffassung angewandt werden, das heißt, auf
jede metajuristische Begründung bzw. Rechtfertigung
des Rechts zu verzichten. Insofern war der Weg vom
naturwissenschaftlichen Positivismus zum reinen Gesetzespositivismus
vollzogen. (vgl. Kaufmann, S. 95) Einige Beispiele sollen
zur Erläuterung dieser Haltung folgen:
Bergbohm (>>Jurisprudenz und Rechtsphilosophie<<,
1892) hat diese mögliche Diskrepanz zwischen der
"Güte des Rechts und [der] spezifisch rechtlichen
Verbindlichkeit des Rechts" gesehen und sich für
die "realistische Doktrin" entschieden: "so
befinden wir uns in der peinlichen Lage, auch das niederträchtigste
Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt erzeugt
ist, als verbindlich anzuerkennen" (Bergbohm, S.
144). Bergbohm entschloß sich damit zu einer juristischen
Geltung, nicht etwa moralischen Verbindlichkeit des
so erzeugten Rechts. Moralisch unverbindliches Recht
nennt er "Mißrecht", das man zu respektieren
hat, "weil es heute Recht ist morgen mag man
es abschaffen, wenn man Grund, Befugnis und Kraft dazu
besitzt" (Bergbohm, S. 145).
Somló (>>Juristische Grundlehre<<,
1927) unterscheidet Recht wieder in einen normativen
und einen dezisionistischfaktischen Aspekt. In einem
normativen Sinne kann der Staat seine unumschränkte
Rechtssetzungsbefugnis mißbrauchen: "Sobald
eine Rechtsmacht Versprechensnormen [z.B. Verfassungsrecht]
gesetzt und sich somit ihren Untergebenen gegenüber
gebunden hat, kann sie durch die Verletzung dieser
Normen Unrecht begehen [Staatsunrecht]." (Somló,
S. 307) "Freilich bedeutet ein 'Staatsunrecht',
wie für die Illegitimität gezeigt worden
ist, die Beurteilung eines Aktes der Rechtsmacht nach
einer vorhergegangenen Rechtsnorm." (Somló,
S. 308) in der Fußnote 1 Daß aber rechtswidrige
Gesetze gleichzeitig auch nichtig, d.h. ungültig
sind, verneint Somló, der ganz im Sinne der
positivistischen Auffassung ihre faktische Gesetztheit,
ihr Vorhandensein betont: "Wenn auch das Recht
in gewisser Weise hätte gesetzt werden sollen,
kann eine anders gesetzte Norm nichtsdestoweniger Recht
bleiben." (Somló, S. 307) Oder drastischer:
"Dagegen gilt jedoch ebenso unumstößlich
die Wahrheit, daß die Rechtsmacht (oder nach
anderen Terminologien: der Gesetzgeber, der Staat,
die souveräne Macht) jeden beliebigen Rechtsinhalt
setzen kann, folglich auch beliebige Bedingungen seiner
Geltung zu bestimmen vermag." (Somló, S.
308 f.) Diese Antinomie zwischen dem normativen und
dem dezisionistischfaktischen Lehrsatz meint Somló
mit dem Hinweis, "der eine betrifft ein Sollen,
der andere ein Sein" (Somló, S. 309) auflösen
zu können. Somló verkennt allerdings, daß
es gerade darauf ankäme, diese Verhältnis
befriedigend zu klären.
Radbruchs (>>Rechtsphilosophie<<, 1932)
Antwort ist umstritten. Wie gezeigt wurde, hat er versucht,
die positivistische Machttheorie durch die Rechtssicherheit
wertphilosophisch zu fundieren. Rechtssicherheit ist
für ihn der faktische Geltungsgrund der Gesetze,
daneben sieht er ihre moralische Verbindlichkeit von
der Geltung getrennt: "Dargetan ist nur, daß
auch Rechtssicherheit ein Wert ist und daß die
durch das positive Recht gewährte Rechtssicherheit
auch die Geltung ungerechten und unzweckmäßigen
Rechts rechtfertigen kann." (Radbruch, S. 177) Also
gelten Gesetze auch bei einem "willkürlichen
und verbrecherischen Inhalt" Radbruch, S. 344
immer dann, wenn die positive Rechtsordnung insgesamt
die Rechtssicherheit garantiert.
Der erklärte Positivist Radbruch (vgl. Rottleuthner,
S. 34) von 1932 trennte grundsätzlich Geltung von
Verbindlichkeit, Recht von Moral. Die positive Geltung
sollte dabei aber nicht zwingend alleiniges und entscheidendes
Kriterium für den Rechtsbegriff sein: "Nicht
dargetan ist der unbedingte Vorrang der durch die jedes
positive Recht erfüllten Forderung der Rechtssicherheit
vor den von ihm vielleicht unerfüllt gelassenen
Forderungen der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit."
(Radbruch, S. 177)
Horst Dreier betont gegen die Auffassung, daß
Radbruch als Anhänger des Positivismus Recht und
Moral im Sinne Kelsens getrennt hat, seine durchgehende
Orientierung am absoluten Rechtsbegriff trotz seines
Werterelativismus: "Dieser objektivistische Rechtsbegriff
ist, was wegen der bevorzugten Kennzeichnung der Radbruchschen
Philosophie als einer dezidiert wertrelativistischen
gern vergessen wird, auch in seinen Schriften vor Ausbruch
des Zweiten Weltkriegs zumindest angelegt. Schon der
frühe Radbruch hält an der Kategorie des
richtigen, allgemeingültigen Rechts ausdrücklich
fest. Er ordnet dem Wertgebilde der Gerechtigkeit die
Kulturtatsache des Rechts zu, bestimmt als Idee des
Rechts die Gerechtigkeit und definiert Recht als die
Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu
dienen. Auf die Rechtsidee als Idee der Gerechtigkeit
und damit auf den obersten Rechtswert schlechthin bleibt
somit alles positive Recht sinnhaft bezogen. Radbruch
hält also unbedingt an der Orientierung am absoluten
Rechtsbegriff fest, obwohl er wegen seines wertrelativistischen
Ansatzes die verschiedenen Axiome divergenter Wertssysteme
untereinander nicht mehr verbindlich gewichten und
kein definitives Rangverhältnis zwischen ihnen
festlegen kann." (Dreier, Die Radbruchsche Formel
Erkenntnis oder Bekenntnis?, S. 128; vgl. aber auch
insgesamt, S. 128 ff.)Daß Radbruch an der Idee
der Gerechtigkeit als Orientierung festhält, kann
gar nicht bestritten werden. Er erkennt allerdings
zutreffend, daß niemand verbindlich und schon
garnicht die "Irrlehren des Naturrechts"
in der Lage ist, den Inhalt der Gerechtigkeit für
alle Zeiten verbindlich zu bestimmen. Diese Aufgabe
übernimmt für das Recht die positive relative
Rechtsordnung. Obwohl Radbruch weiß, daß
positive Gesetze "Schandgesetze" seien können,
hält er die Bestimmung des Rechts durch sie für
richtiger weil Rechtssicherheit erzeugend als durch
die unbestimmbare Forderung der Gerechtigkeit. Radbruch
verzichtet vorläufig, wenn auch schmerzhaft, auf
den Vorrang der Gerechtigkeit um des Rechtsfriedens
willen. Richtiges, allgemeingültiges Recht wird
für Radbruch eben nicht durch den Wert der Gerechtigkeit
hergestellt, sondern durch die positive Setzung. Wobei
er glaubte und hier liegt der Unterschied zu Kelsen
daß die positive Rechtsordnung (eines demokratischen
Staates) den Wert der Gerechtigkeit zumindest teilweise
schon immer enthält. Zur Plausibilisierung meiner
These soll Radbruch nocheinmal selbst zu Worte kommen:
"Nun hat es sich aber als unmöglich erwiesen,
die Frage nach dem Zwecke des Rechts anders als durch
die Aufzählung der mannigfaltigen Parteimeinungen
darüber zu beantworten und gerade nur aus dieser
Unmöglichkeit eines Naturrechts kann die Geltung
des positiven Rechts begründet werden; der Relativismus,
bisher nur die Methode unserer Betrachtung, geht an
dieser Stelle selbst als Bauglied in unser System ein.Die
Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen
der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen
bleiben, da diese verschiedenen Menschen möglicherweise
entgegengesetzte Weisungen erteilen, muß vielmehr
durch eine überindividualistische Stelle eindeutig
geregelt werden. Da aber nach relativistischer Ansicht
Vernunft und Wissenschaft dieser Aufgabe zu erfüllen
außerstande sind, so muß Wille und Macht
sie übernehmen. Vermag niemand festzustellen,
was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was
rechtens sein soll, und soll das gesetzte Recht der
Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter
Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtspruch
zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem
Willen zustehen, dem auch eine Durchsetzung gegenüber
jeder widerstrebenden Rechtsanschauung möglich
ist." (Radbruch, S. 175)
Meines Erachtens hielt Radbruch aber einen krassen und
fortgesetzten Rechtsmißbrauch durch einen demokratischen
Staat für unmöglich sollte doch das demokratische
Verfahren die Gerechtigkeit hervorbringen; folglich
hätte er noch 1932 als Gesetzespositivist die
unbedingte wörtliche Rechtsanwendung durch den
Rechtsstab verlangt. Dennoch verweist auch Radbruch
in Extremfällen auf das Einzelgewissen, das außerhalb
eines juristischen Begründungsmusters den Gehorsam
verweigern kann: "Die restlose Geltung alles positiven
Rechts ist also jedem Einzelgewissen gegenüber
nicht zu erweisen. Es wäre auch ein Wunder, wenn
ein Wirkliches durch und durch Wert und Geltung hätte.
Das Einzelgewissen wird und darf meistens einen Verstoß
gegen das positive Recht als bedenklicher einschätzen
als das Opfer der eigenen Rechtsüberzeugung, aber
es kann 'Schandgesetze' geben, denen das Gewissen den
Gehorsam verweigert." (Radbruch, S. 177)
Nach der Beseitigung des Nationalsozialismus durch die
Alliierten macht Radbruch 1946 in seinem Aufsatz >>Gesetzliches
Unrecht und übergesetzliches Recht<< (Radbruch,
S. 339 ff.) gerade den Gesetzespositivismus verantwortlich
für den Rechtsmißbrauch im "Dritten
Reich" Die Bezeichnung "Drittes Reich"
ist von den Nationalsozialisten eingeführt worden.
Sie ist weder historisch noch politisch haltbar. Wenn
sie hier und im folgenden gleichwohl verwendet wird,
dann nur wegen eines weithin üblichen Sprachgebrauchs.
und lehnt insbesondere eine strikte Trennung von positiver
Geltung und moralischer Verbindlichkeit ab: "Dabei
ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener
Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er
glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen
zu haben, daß es die Macht besessen hat, sich
durchzusetzen. Aber auf Macht läßt sich
vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen
und Gelten gründen. Dieses läßt sich
vielmehr nur gründen auf einen Wert, der dem Gesetz
innewohnt." (Radbruch, S. 345) Radbruch bleibt aber
auch 1946 dabei, daß Rechtssicherheit, vermittelt
durch ein positives Gesetz, der Gerechtigkeit grundsätzlich
vorgeht. Nur wenn die Gerechtigkeit in einem unerträglichen
Maß mißachtet wird, ist das positive Gesetz
ungültig und muß nicht mehr befolgt werden;
zu dieser sogenannten Radbruchschen Formel später
mehr.
2. Systematischer Überblick zur positivistischen
These 'Gesetz ist Gesetz'
a) Die Trennungsthese
Wie ausführlich dargetan, ist der positivistische
Begriff des Rechts wertfrei; der Rechtspositivist abstrahiert
von allen Rechtsinhalten. Dadurch, daß er sich
mit dem Recht als Faktum beschäftigt, trennt er
die Frage, wie das Recht sein soll, als unjuristisch
ab. Dabei kommen zwei Versionen der Trennungsthese
in Betracht (Ott, S. 175):
1. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es
ist, und dem Recht, wie es nach der positiven Moral,
d.h. den in einer Gesellschaft herrschenden moralischen
Anschauungen, sein sollte.
2. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Recht, wie es
ist, und dem Recht, wie es nach der sogenannten 'critical
morality', d.h. einer aufgeklärten Moral oder
einem Naturrecht sein sollte.
Die Trennungsthese bietet unter dem Aspekt der Rechtssicherheit
den Vorzug, daß die Geltung des Rechts nicht
mit Berufung auf politische, moralische, philosophische
oder theologische Meinungen angefochten werden kann.
Politische Auseinandersetzungen sollen also vor oder
neben dem Recht geführt werden, aber nicht um
den Inhalt, die Geltung oder die Autorität des
gesetzten Rechts. Die Trennungsthese fördert also
die Rechtssicherheit in dem Sinne, daß feststeht,
was rechtens ist, daß aber auch jeder darauf
vertrauen darf, daß ihm durch die staatliche
Organe das Recht, und nur das Recht, zuteil wird. Auch
der späte Radbruch wußte noch um diesen
Zusammenhang und war um der Rechtssicherheit willen
nur für den Ausnahmefall bereit, die Trennung
von Recht und Moral aufzugeben.
Auf dem Gebiet der Rechtspolitik bringt die Abstrahierung
von allen Rechtsinhalten weiter folgendes: "Kein
Gesetzgeber, der neues Recht schaffen, und kein Richter,
der einen bisher weder gesetzlich noch judiziell entschiedenen
Fall lösen muß, wird von einer rechtspositivistischen
Theorie darüber Aufschluß erhalten, in welchem
Sinne er vorgehen soll." (Ott, S. 177) Eine positivistische
These sagt immer nur, was Recht ist, nicht aber, wie
neues Recht beschaffen sein soll. Aktuelle, diskutierte,
noch nicht entschiedene Fragen sind sowohl auf der
Gesetzgebungs- als auch auf der Rechtsanwendungsstufe
nicht als Rechtsfragen im engeren Sinne zu qualifizieren,
weil in diesen Fällen für den Positivisten
noch gar kein Recht existiert, auf das man zurückgreifen
könnte. Für den Positivisten sind diese Fragen
rechtspolitische Fragen, d.h. Fragen nach einem erst
zu schaffenden Recht.
b) Das Lückenlosigkeitsdogma und die richterliche
Rechtsanwendung im Gesetzespositivsmus
Wenn Recht das ist, was die soziale Autorität durch
Gesetze in die Welt bringt, ergibt sich daraus, daß
der Richter nicht rechtsschöpferisch tätig
werden darf, daß er aber auch das gesetzte Recht
nicht verweigern darf. Die Rechtsanwendung wird also
ausschließlich als Gesetzesanwendung aufgefaßt;
die Tätigkeit des Richters beschränkt sich
auf bloße Rechtserkenntnis. (Ott, S. 43)
"Dem Gesetzespositivisten sind daher Argumentationen
aus Analogie und 'Natur der Sache' von Grund auf verdächtig,
ja mitunter hat man dem Richter schon die gewöhnliche
Interpretation von Gesetzen untersagt. Auf der anderen
Seite muß aber betont werden, daß der heute
als Inbegriff eines rechtsstaatlichen Strafrechts geltende
Grundsatz 'nullum crimen, nulla poena sine lege' ein
Kind des liberalen, aufklärerischen Gesetzespositivismus
ist." (Ott, S. 43)
Rechtsschöpfungsverbot und Rechtsverweigerungsverbot
setzen aber zwingend eine geschlossene und lückenlose
Rechtsordnung (genauer Gesetzesordnung) voraus. (Kaufmann,
S. 94) Denn wenn der Richter sein Urteil ausschließlich
rechtlich begründen muß, muß er auf
metapositive Prinzipien verzichten ('Gesetz ist Gesetz').
Die Gesetze müssen die eindeutige Antwort geben.
Das Dogma der Lückenlosigkeit des im Gesetz zum
Ausdruck kommenden Rechts geht auf Bergbohm zurück:
(siehe Ott, S. 44) "Ist das letzte Ergebnis nach
Aufbietung aller Hilfsmittel, um dem positiven Recht
einen Auspruch abzunötigen, wirklich das, daß
keine Rechtsentscheidung [d.h. ein einschlägiges
Gesetz] vorhanden ist, so ist rückwärts die
angebliche Rechtsfrage für eine unjuristische
erklärt... Kann man dies aber nicht zugeben, so
muß eine Entscheidung, d.h. ein Quantum positiven
Rechts, das genau in die Lücke paßt, gefunden
werden, wodurch sich dieses scheinbare Vakuum von selbst
schließt. Unter einem solchen Zwange steht der
Richter. Er kommt oft genug nur mittels schwieriger
Deduktion zu den erforderlichen Rechtssätzen,
um ein Urteil über das Geschehene ... aussprechen
zu können... Und daß dieser Rechtssatz,
weil mit Mühe gefunden, weniger positiv sei als
ein anderer, der sich wörtlich aus dem Gesetzestext
ablesen läßt, wird ihm jetzt erst recht
nicht einleuchten." Bergbohm, S. 381 Bergbohm
unterscheidet also zwischen der Lückenhaftigkeit
des gesetzlichen Wortlauts und der Lückenlosigkeit
des im Gesetz zum Ausdruck kommenden Rechts. Mit diesem
Kunstgriff wird die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung
fingiert. Die richterliche Interpretation, ja die Rechtsfortbildung
als Bestandteil des positiven Rechts verkauft. Eigentlich
kann es nach dieser Einsicht keinen Gesetzespositivismus
geben, der nur strenge Gesetzesanwendung zulassen will.
Gustav Radbruch beteuert (1932) auch in der Frage der
richterlichen Rechtsanwendung wieder den Wert der Rechtssicherheit
unter Verzicht auf metapositiver Gerechtigkeit: "Der
Richter, der Auslegung und dem Dienste der positiven
Rechtsordnung untertan, hat keine andere als die juristische
Geltungslehre zu kennen, die den Geltungssinn, den
Geltungsanspruch des Gesetzes der wirklichen Geltung
gleich achtet. Für den Richter ist es Berufspflicht,
den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen,
das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl
zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals,
ob es auch gerecht sei... Aber wie ungerecht immer
das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge
es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets,
schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit."
(Radbruch, S. 178)
c) Die Trennungsthese vor dem Hintergrund von 'Gesetzen
willkürlichen und verbrecherischen Inhalts'
Nach der Klärung des historischen Hintergrundes
und der rechtspositivistischen bzw. gesetzespositivistischen
Fragestellung kann das eigentliche Problem der positivistischen
These "Gesetz ist Gesetz" in der Herausforderung
durch den Nationalsozialismus angegangen werden.
Die These "Gesetz ist Gesetz" meint für
den Gesetzgeber, Richter und die gesamte Jurisprudenz
die (juristische) Trennung von Recht und Moral. Der
Einwand gegen die These, der als Kardinalsbeweis gegen
den Rechtspositivismus (soweit er sich der Trennung
anschließt) gilt und ihn in offensichtlichen
Mißkredit gebracht hat, formulierte ausgerechnet
ein früherer Anhänger der Trennungsthese
1946 in dem Aufsatz "Gesetzliches Unrecht und
übergesetzliches Recht" (zuerst veröffentlicht
in: SJZ 1946, 105 ff.), nach den Erfahrungen mit dem
Nationalsozialismus Gustav Radbruch: es gibt Einzelnormen,
die in einem solchen Maße ungerecht sind, daß
ihnen die Rechtsgeltung und/oder der Rechtscharakter
abgesprochen werden müsse. (Ott, S. 187) Die Radbruchsche
Formel, wie man heute sagt, (Adomeit, S. 151) lautet
wörtlich:
"Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der
Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein,
daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte
Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich
ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn,
daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur
Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß
erreicht, daß das Gesetz als >>unrichtiges
Recht<< der Gerechtigkeit zu weichen hat."
(hier zitiert nach dem Wiederabdruck: Radbruch, Rechtsphilosophie,
S. 345) Und noch einmal anders gewendet: "... wo
Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit,
die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung
positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da
ist das Gesetz nicht etwa nur >>unrichtiges Recht<<,
vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur."
(Radbruch, S. 346)
Die Radbruchsche Formel hatte nach 1946 gewaltigen Erfolg.
Ihre Attraktivität und Plausibilität bestand
einmal in einem gewissen Entlastungseffekt für
die Justiz, aber vor allem darin, einer berechtigten
bei manchen wohl auch scheinheiligen Empörung
über eine große Anzahl von nationalsozialistischen
Gesetzen, aber auch gerichtlichen Urteilen und sonstigen
Rechtsanwendungsakten Ausdruck zu verleihen. "Die
Radbruchsche Formel diente also als Medium für
die Artikulation eines moralisch, ethisch, sittlich,
menschenrechtlich oder anders begründeten Widerspruchs
gegen das, was man das 'Unrecht' des nationalsozialistischen
Regimes oder in fragwürdiger Übernahme eines
pathologischen Vokabulars auch gern die "Perversion
des Rechtsdenkens" nannte." (Dreier, S. 128)
Ob die Befriedigung moralischer Empörungsbedürfnisse
aufgrund der Radbruchschen These zu recht erfolgte,
wird in einer normativen und empirischen Analyse zu
prüfen sein.
In seiner empirischen Version besagt der Radbruchsche
Einwand, daß der Positivismus den deutschen Juristenstand
wehrlos gemacht habe gegen Gesetze willkürlichen
und verbrecherischen Inhalts. Ob der Grundsatz "Gesetz
ist Gesetz" Ausdruck eines positivistischen Rechtsdenkens
der Juristen vor und während des Nationalsozialismusses
war, also ob er tatsächlich historisch Einfluß
hatte, wird Thema der Beantwortung der zweiten und
dritten Frage sein (vgl. S. 69 ff.).
In seiner normativen Version bleibt hier aber zu untersuchen,
ob der Positivismus die Bewältigung sogenannten
gesetzlichen Unrechts erschwere. (vgl. Ott, S. 187)
1946 fordert Gustav Radbruch also die grundsätzliche
Überwindung des Positivismus, um künftig
auch juristisch gegen die Wiederkehr eines solchen
Unrechtsstaates gewappnet zu sein. Einerseits beeinflußte
er damit maßgeblich die Juristen seiner Zeit
und löste geradezu eine Renaissance des Naturrechtsgedankens
aus; andererseits beschwor er damit auch Gegenstimmen,
insbesondere diejenigen H.L.A. Harts vgl. H.L.A. Hart,
Recht und Moral (geb. 1907) und Norbert Hoersters vgl.
Norbert Hoerster, Einleitung zu H.L.A. Hart, Recht
und Moral, mit denen wir uns jetzt zu beschäftigen
haben. Ganz im Sinne Austins trennen beide Recht, wie
es ist und wie es sein soll. Diese strikte Trennung
soll aber keinen prinzipiellen Verzicht auf eigene
sittlichmoralische Wertungen bedeuten (vgl. S. 36 ff.).
Wer, wie der späte Radbruch, den Begriff des Rechts
unter anderen mit der Moral bestimmen will, engt ihn
ein. Es fragt sich aber weiterhin im Hinblick auf ein
unmenschliches Gesetz, ob ein solcher engerer oder
ein weitere positiver Begriff des Rechts, wie ihn etwa
H.L.A. Hart vertritt, vorzuziehen ist. Zur Prüfung
dessen folgen wir einem Gedankenexperiment Walter Otts
(Ott, S. 193 f.):
Nehmen wir an der Richter A, ein Naturrechtler Radbruchscher
Prägung, steht vor dem Dilemma, in einem Unrechtsstaat
oder nach dessen Zusammenbruch ein unmenschliches Gesetz
(z.B. die "Verordnung über die Strafrechtspflege
gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten"
vom 4. Dezember 1941) (abgedrückt in: v. Münch,
S. 140 ff.) anwenden zu müssen. Er wird die Anwendung
auf Grund juristischer Überlegungen verweigern,
da der Fall eines gesetzlichen Unrechts vorliegt und
folglich keine Rechtspflicht zur Anwendung der fraglichen
Norm besteht. Genauer müßte man sogar sagen,
daß die Verordnung nach dem Radbruchschen Begriff
von Recht keine Rechtsqualität beanspruchen kann
und damit auch nie Bestandteil der Rechtsordnung geworden
ist. Denn diese Verordnung ist nicht nur "inhaltlich
ungerecht und unzweckmäßig", was der
Rechtssicherheit zu opfern wäre, sondern steht
in einem "so unerträglichen Maß"
zur Gerechtigkeit, daß sie überhaupt der
"Rechtsnatur" entbehrt.
Der Richter B ist ein Positivist Hartscher Prägung
in derselben Lage. Unter Zugrundelegung einer strengen
positivistischen Konzeption (Befürworter der Trennungsthese)
wird er zum Schluß kommen, daß das Gesetz
als Recht zu qualifizieren ist und er juristisch verpflichtet
ist, es auch anzuwenden. Andererseits ist für
Hart (und das gilt wohl für die meisten strengen
Rechtspositivisten) mit der Feststellung einer Rechtspflicht
noch nicht über die sittlichmoralische Frage entschieden,
ob man dem Gesetz wirklich gehorchen soll. Entsprechend
wird der Richter B die Anwendung des für ihn gültigen
Gesetzes verweigern, und zwar paradoxer Weise nicht
aus juristischen Erwägungen, sondern unter Berufung
auf externe sittlichmoralische Überlegungen. (vgl.
Hoerster, Zur Verteidigung der rechtspositivistischen
Trennungsthese, S. 30; vgl. Dreier, S. 132 f.)
Auch Radbruchs Thesen der >>Rechtsphilosophie<<
von 1932 entsprechen dieser Konzeption. Wir erinnern
uns an die strikte Verpflichtung des Richters, das
positive Gesetz um der Rechtssicherheit willen, anzuwenden:
"... aber wir verehren den Richter, der sich durch
sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue
nicht beirren läßt..." (Radbruch, S.
178). Und trotzdem billigt auch der Positivist Radbruch
dem Einzelgewissen zu, "Schandgesetzen" die
Anerkennung und den Gehorsam zu verweigern. (Radbruch,
S. 177)
Beide Positionen sind also in der Lage, das Problem
mit dem unmenschlichen Gesetz zu lösen. Für
den Positivisten ist der Richter juristisch verpflichtet,
im Extremfall auch das unsittlichste Gesetz anzuwenden,
nicht aber sittlich betrachtet. Vom sittlichen Standpunkt
aus kann er sehr wohl die Anwendung eines unmenschlichen
Gesetzes verweigern. Für die Anhänger des
inhaltlichen Begriffs des Rechts entsteht dagegen in
dieser Situation gar nicht erst eine Rechtspflicht.
Es fragt sich also, welcher dieser beiden Entwürfe
im Extremfall der praktisch fruchtbarere ist.
aa) Das Argument der Naivität
Hart behauptet, Radbruchs Aufruf sei naiv. (Hart, S.
42) Hoerster konkretisiert diesen Gedanken, indem er
behauptet, Radbruch nehme offenbar an, rechtstheoretische
Definitionen könnten die Moral von Gesetzgeber
und Bürger bessern. (Hoerster, S. 9) Denn er befinde
sich wohl in dem Mißverständnis, daß
mit der Anerkennung eines Gesetzes als gültige
Rechtsnorm auch schon die moralische Frage entschieden
sei, ob man dieser Rechtsnorm Gehorsam leisten soll.
Die Bürger und den Gesetzgeber kümmern rechtsphilosophische
Erwägungen normalerweise wirklich wenig.
Interessant wird das Argument aber für die Praxis
der Gerichte.
Für den Richter in einem Unrechtsstaat ergibt sich
kein wesentlicher Unterschied aus der strengen rechtspositivistischen
und der Radbruchschen Position. Beide können,
wie gezeigt, theoretisch die Anwendung des Terrorgesetzes
verweigern. Beide Strategien erscheinen jedoch unter
den Bedingungen eines Unrechtsstaates als unrealistisch.
Denn richterlicher Widerstand in etablierten totalitären
Systemen hat für sich betrachtet keine Aussicht,
eine Systemveränderung zu bewirken.
Anders verhält es sich für den Richter nach
dem Zusammenbruch des Unrechtsstaates. Dafür seien
zwei deutsche (historische) Situationen genannt: in
der Bundesrepublik nach dem Krieg und jetzt wieder
nach dem Zusammenbruch der DDR. Der Richter ist hier
nicht selbst Organ des Unrechtsstaates, sondern steht
nachträglich vor dem Dilemma, eine unmenschliche
Norm des Unrechtsstaates anwenden zu müssen. In
diesem Fall, in dem er unabhängig von einem äußeren
totalitären Zwang entscheiden kann, wird der Richter
eher bereit sein, die Anwendung des Gesetzes zu verweigern,
wenn er weiß, daß er zu dieser Anwendung
auch juristisch nicht verpflichtet ist (also gemäß
der Radbruchschen Formel), als wenn ihn eine solche
Rechtspflicht trifft und er nur moralische Gründe
für seine Weigerung vorbringen kann. Insofern
können hier rechtstheoretische Definitionen die
Entscheidungspraxis der Gerichte beeinflussen, sofern
sie zum juristischen Wissenskanon gehören. Aus
diesem Grunde rechtfertigt es sich, von einem engeren
Begriff des Rechts im Sinne Radbruchs auszugehen, der
mit minimalen Inhalten angereichert ist. "Eine
solche Festsetzung hätte den Vorteil, daß
wenigstens die elementarsten Grundsätze einer
kritischen Moral in den Zuständigkeitsbereich
der Gerichte fallen würden, weil sie dann eben
gleichzeitig Rechtsgrundsätze wären".
(Ott, S. 197)
An dieser Stelle formuliert Hoerster den zutreffenden
Einwand, daß es aber keinerlei Garantie oder
auch nur Wahrscheinlichkeit dafür gäbe, daß
der betreffende Richter tatsächlich eine kritische,
aufgeklärte Moral in seinen Rechtsbegriff aufgenommen
hat. "In der Regel wird der Betreffende seinem
moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen
Vorstellungen zugrundelegen." (Hoerster, NJW 1986
2480/2482) Warum sollte die moralische Vorstellung eines
Individuums aufgeklärter (vielleicht im Sinne
von humaner oder gerechter) sein als der Inhalt einer
positiven Rechtsnorm eines entsprechenden Staates.
Als Beispiel führt Hoerster die Einstellung unserer
Bevölkerung zur Todesstrafe an, die der grundgesetzlichen
positiven Norm widerspricht. (Hoerster, NJW 1986 2480/2482)
Walter Ott setzt dagegen, daß das Problem der
verbindlichen Bestimmung der Moral jede Generalklausel
im Recht mit der Radbruchschen Formel teilt. In Kulturstaaten
ließen sich eine Bestimmung durch unbezweifelbare
Beispiele einkreisen, dazu gehören solche Erscheinungen:
der Archipel Gulag, Konzentrationslager, Sklaverei
und Sklavenhandel, Völkermord, Massendeportationen
sowie Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe; Rasse,
Geschlecht und Herkommen. So sagt Ott, daß es
zwar richtig ist, "daß die Anschauungen
darüber, was das rechtlich Gebotene ist, stark
voneinander abweichen. Wir haben also einen unzuverlässigen
Gerechtigkeitssinn. Dagegen besteht heute ein weltweiter
Konsensus darüber, was jedenfalls im sittlichen
Bewußtsein der überwiegenden Zahl aller
Menschen als verabscheuungswürdig gilt und damit
verwerflich ist. Wir haben also einen zuverlässigen
Ungerechtigkeitssinn" (Ott, S. 201).
Mir scheint diese Einschätzung etwas zu positiv.
Ein weltweiter Konsensus über Völkermord
und Diskriminierung besteht noch lange nicht, wie es
beinahe täglich die Nachrichten zeigen. Man denke
an das Vorgehen der Türken gegen die Kurden, den
Umgang Chinas mit Tibet, die Stammesausrottungen in
Afrika oder an die soziale Tatsache der Diskriminierung
von Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die Ungleichbehandlung
von Frauen in fundamentalistisch islamischen Staaten.
Das Gebiet der Kulturstaaten engt sich so bei genauem
Hinsehen auf eine überschaubare Zahl von Ländern
und damit auf die sittlichmoralischen Überzeugungen
ihrer Bürger ein. Mir scheint, daß man eine
verbindliche Grundbestimmung der Radbruchschen Moral
nur bedingt annehmen kann. Darunter fällt aber
für uns deutsche Demokraten sicherlich die Einschätzung
einiger verbrecherischer nationalsozialistischer Gesetze
und auch der Schießbefehl an der deutschdeutschen
Grenze.
bb) Der Vorwurf der verdeckten Strategie in Straffällen
(vgl. insgesamt: Ott, S. 202 ff.) am Beispiel der "Mauerschützen"
Am Beispiel der Mauerschützen soll nocheinmal die
strenge positivistische These der Radbruchschen Formel
gegenübergestellt werden. Nach dem Grundsatz nullum
crimen sine praevia lege poenali muß hier im
Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG zunächst gefragt
werden, ob die Strafbarkeit der Grenzsoldaten zur Zeit
ihrer Schüsse "gesetzlich bestimmt"
war. Dafür kommen nur die Tötungsvorschriften
des Strafrecht der DDR in Frage.
Klaus Adomeit stellt sich schon an dieser Stelle die
Frage, ob diese Strafnormen (zumindest für unseren
Fall) überhaupt als Recht im positivistischen
Sinne zu qualifizieren sind. Denn er behauptet, daß
die Gesetze zwar von einer sozialen Autorität
erlassen wurden, aber von Anfang an nur im Sinne der
marxistischleninistischen Ideologie galten, d.h. der
Willkür der SED unterlagen und deren soziologische
Wirksamkeit jedenfalls nicht für die Grenzsoldaten
bei Tötung eines Flüchtlings angenommen werden
kann. (vgl. Adomeit, S. 152 ff, insbesondere S. 154)
Wenn aber diese Strafnormen Rechtsqualität aufweisen
und die Strafbarkeit bei Begehung der Tat gesetzlich
bestimmt war, fragt sich Adomeit weiter, ob die Grenzsoldaten
nicht zumindest einem unvermeidbaren Verbotsirrtum
(§ 17 S. 1 StGB) unterlagen, da sie der Meinung sein
durften, etwas Erlaubtes, ja Erwünschtes, sogar
Befohlenes getan zu haben. Zur strafrechtlichen Würdigung
"darf aber nicht das moralische Gewissen hypothetisch
geprüft werden, sondern die Einstellung des Beschuldigten
zur Rechtsordnung" (Adomeit, S. 155). In diesem
Sinne verhielten sich die Grenzsoldaten rechtstreu.
Hier soll aber garnicht weiter der Frage der individuellen
Schuld nachgegangen werden, sondern der Geltung einer
abstrakten Norm. Spannend ist also, ob § 27 des Grenzgesetzes
die Angeklagten rechtfertigen kann. Ein Jurist Radbruchscher
Prägung würde dem rechtfertigendem Gesetz
die Rechtsqualität absprechen, weil es den Mindestanforderungen
an die Gerechtigkeit nicht entspricht.
Ein strenger Positivist Hartscher Prägung müßte
das Gesetz grundsätzlich anwenden. "...Hart
läßt dem Richter nicht die Freiheit, eine
positivrechtliche Befugnis oder Norm aus moralischen
Gründen einfach zu ignorieren, wenn er sich dazu
entschließt, ein Urteil zu schreiben. Der Richter
könnte höchstens aus moralischen Gründen
die Anwendung des Gesetzes verweigern und von seinem
Amt zurücktreten." (Ott, S. 198) in der Fußnote
60 Die Anwendung der rechtfertigenden Norm geschieht
hier auch mit gutem Grund, denn sie war zur Zeit der
Tat gesetzlich bestimmt, eine nachträgliche Nichtigkeit
der Norm im Sinne der Radbruchschen Formel untergräbt
das Verbot rückwirkender Strafgesetze. (vgl. Ott,
S. 202 ff.) Hart meint, daß es in solchen Fällen
besser wäre, unverhüllt rückwirkende
Gesetzes zu erlassen (d.h. diese Problem gesetzespositivistisch
zu bereinigen), als dieses moralische Problem zu kaschieren.
(vgl. Hart, S. 44) Auch Ott kommt zu dem Ergebnis, daß
die Radbruchsche Formel in Straffällen zu einer
verdeckten Strategie führt, die kaum akzeptabel
den hohen moralischen Wert des Art. 103 Abs. 2 GG in
Frage stellt. (Ott, S. 206)
Man steht also vor dem grundsätzlichen Dilemma
entweder ein Gesetz eines Unrechtsstaates anwenden
zu müssen oder mit der Radbruchschen Formel Gefahr
zu laufen, einen fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz
kaschiert aufzugeben.
Jedenfalls gibt die Radbruchsche Formel ein juristisches
Argument, das in der Rechtsausbildung erlernbar ist,
um staatlichem Unrecht zu begegnen.
III. Fazit
Einseitige Erklärungsmuster können den juristischen
Positivismus insbesondere den Gesetzespositivismus
nicht differenziert genug qualifizieren. Interessant
erscheint dabei besonders, daß er auch immer
historischpolitisch instrumentell eingesetzt wurde.
Insofern haben die Trennung als auch die Verknüpfung
von Recht und Moral ihre spezifischen Vor- und Nachteile.
Entscheidend für die folgende empirische Betrachtung
der Rolle des Gesetzespositivismus im Umbruch der Weimarer
Zeit zum "Dritten Reich" wird ein Bezugsproblem
sein das Verhältnis von Gesetzgeber und Rechtsstab.
B. Zur positivistischen Überzeugung des Juristenstandes
vor 1933
Waren die Juristen vor 1933 der positivistischen Überzeugung
"Gesetz ist Gesetz", wie es Gustav Radbruch
1946 als Vorwurf formulierte?
I. Ausgangslage nach 1918/1919
Obwohl geklärt ist, daß Radbruch damit einen
Gesetzespositivismus meint, der Recht mit Gesetz identifiziert,
dem Gesetzgeber die Befugnis einräumt, Recht beliebig
zu instrumentalisieren, Recht von jeden metajuristischen
Inhalten trennt und schließlich den Richter auf
eine mechanische Gesetzesanwendung einschwören
will, muß hier dennoch die Ausgangslage von 1919
skizziert werden.
Der Rechtspositivismus war für den Rechtsstab des
Deutschen Kaiserreiches eine beinahe "natürliche"
Selbstverständlichkeit. Recht und Moral, Gesetz
und Politik, Macht und Autorität konnten in der
historischen Kulturgemeinschaft Deutschland nur "positiv"
zusammengedacht werden. Gesetze waren Ausdruck einer
über Jahrhunderte gewachsenen Kultur und Moral
und damit problemlose rechtspositivistische Entscheidungsgrundlage
der Richterschaft, ohne daß dieser Gleichklang
je ernstlich bezweifelt worden wäre. Entsprechend
verlief der Gleichklang zwischen Rechtsstab und Gesetzgeber;
beide identifizierten Recht und Moral mit dem kaiserlichen
Gesellschaftssystem und hatten dort ihren jeweiligen
Platz. Der Rechtspositivismus wurde also solange nicht
auf die Probe gestellt, wie der Inhalt der Gesetze
mit der moralisch-ideologischen Überzeugung des
Rechtsstabes konform lief. Selbst die Verengung des
Rechtspositivismus auf einen Gesetzespositivismus,
die bereits im Kaiserreich in dem Maße einsetzte,
wie Gesetze immer mehr politisch instrumentell verstanden
wurden (z.B. Sozialgesetzgebung und das Gesetz gegen
die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie),
war zunächst noch nicht wirklich problematisch.
Erst als der Inhalt der Gesetze mit der moralischideologischen
Überzeugung der Richterschaft kollidierte, löste
sich die Konformität auf, und es kam zu Konflikten
zwischen Gesetzgeber und Rechtsstab.
"Die gesetzespositivistische Rechtsanschauung lebt
wesentlich vom Vertrauen in die Stabilität der
staatlichen Verhältnisse und in die Garantie der
'richtigen' Lösung durch das gesetzgebende Organ.
Bereits mit der Erstarkung des Parlaments in der zunehmend
pluralistischen Gesellschaft der ausgehenden Wilhelminischen
Ära wurde dieses Vertrauen dem deutschen Juristenstand
problematisch, vollends erschüttert aber wurde
es durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen"
(Ott, S. 213)
Eben in dieser Konstellation vollzog sich der Übergang
der Richterschaft im Kaserreich in die Weimarer Republik.
Dabei wurden die autoritärmonarchistisch eingestellten
Richter vollständig in eine sozialliberale Republik
übernommen. (vgl. Rottleuthner, S. 23)
1927 faßte Ernst Frankel die Situation eines solchen
Richters im demokratischen Staat wie folgt zusammen:
"'Im Namen des Königs' hatte er seine Urteilssprüche
gefällt ... Nun soll er 'Im Namen des Volkes'
Recht sprechen, des Volkes, in dessen Verachtung er
groß geworden ist... Das gesamte Beamtentum des
alten Regime war monarchistisch, aus Erziehung, Überzeugung,
Tradition. Der Richter war außerdem Monarchist
aus innerer Notwendigkeit. Kein Zweig des Beamtentum
hat sich daher auf die neuen Verhältnisse schwerer
umzustellen vermocht als die Justiz." (zitiert
nach Ott, S. 208 f.)
Die "alten" Richter versagten hoffnungslos
gegenüber den Forderungen der neuen Zeit. Ihre
monarchistische Republikfeindlichkeit Angermund, S.
31 und politische Rückständigkeit ließen
sie mit blankem Entsetzen feststellen, in welcher Weise
das "neue" Recht zur sozialen Steuerung instrumentalisiert
wurde. Als eindrückliches Beispiel soll die Klage
des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes, Johannes
Leeb, vom Jahre 1921 gelten (zitiert nach: Hattenhauer,
S. 13 f.):
"1. Lügenrecht. Neuer Geist erfüllt die
Welt. Der neue Geist ist Lügengeist. Die Lüge
kämpft und siegt im Zeichen des Rechts. Die Gerechtigkeit
ist das Feldgeschrei der Lügner bei ihren Raub-
und Beutezügen ...2. Partei-, Klassen- und Bastardrecht.
Gesetz ist Recht. Parteiherrschaft schafft Gesetze
nach Maßgabe ihrer sittlichen, gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Belange ... Wo Parteigesetze,
da Parteirecht ... Jede Majestät ist gefallen,
auch die Majestät der Gesetze."
Es galt also, die republikfeindlich allenfalls "vernunftrepublikanisch" (Rottleuthner, S. 21) eingestellte Richterschaft zur
strikten Rechtstreue, also Treue gegenüber Gesetzen
sozialliberalen Inhalts zu bewegen. Das Instrumentarium
dafür bot, so glaubte jedenfalls Radbruch als
Reichsminister der Justiz und als Rechtsphilosoph,
der Gesetzespositivismus.
Auch Radbruch wußte um die beiden Gesichter des
Rechtspositivismus (i.w.S.) in der Zeit zwischen Monarchie
und Drittem Reich:
Auf der einen Seite die autoritärkaiserliche Konformität
bei der positiven Anwendung der Gesetze durch den Rechtsstab,
die er verachtete, weil er die Ideologie, die sich
dahinter verbarg verabscheute. So lehnte er 1919 den
"juristischen Positivismus" ab, "dem
Recht nichts als Staatswillkür, Rechtssin nichts
als Gehorsam war, dieser Götzendienst der Macht,
bedeutet die juristische Teilerscheinung des realpolitischen,
des machtstaatlichen Zeitalters." Radbruch, Ihr
jungen Juristen!, S. 13 In dem von Radbruch verabscheuten
autoritärkaiserlichen Geist blieben die Juristen,
insbesondere die Richterschaft, bis 1933 positivistisch
im Sinne einer autoritären, staatsgläubigen
Einstellung. Nur, daß ihre Affinität nach
1933 zu einem autokratischdiktatorischen Regime Adolf
Hitlers größer war, als zu der sozialliberalen
Republik, die ihnen fremd blieb. (vgl. Rottleuthner,
S. 22)
Auf der anderen Seite steht der Rechtspositivismus der
jungen Demokratie der Gesetzespositivismus, den Radbruch
verehrte, da er "ein rechtstheoretisch fundiertes
Standesethos" schaffen sollte, um die widerstrebenden
Richter zur Rechtstreue zu zwingen, (vgl. Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/381) d.h. "auch
gegen ihre eigene moralische und politische Einstellung
korrekt zustandegekommene Gesetze" (Rottleuthner,
S. 22) pflichtgemäß anzuwenden.
1946 meint Gustav Radbruch (ganz im Sinne der ersten
Variante) (vgl. Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987,
373/376), daß insbesondere die zweite Variante
des Positivismus "in der Tat mit seiner Überzeugung
>>Gesetz ist Gesetz<< den deutschen Juristenstand
wehrlos gemacht [hat] gegen Gesetze willkürlichen
und verbrecherischen Inhalts" (Radbruch, S. 344).
Von dieser These ausgehend, wurde bis in die Gegenwart
hinein die Ansicht vertreten, der Gesetzespositivismus
habe den Weg bereitet für die faschistische Rechtsdoktrin
und sei verantwortlich für die widerstandslose
Einreihung der Juristen ins Dritte Reich. Die Kritik
am Gesetzespositivismus, die die Juristen im Nationalsozialismus
zu Opfern ihrer eigenen rechtstheoretischen Methoden
machen will, setzt aber voraus, daß der Gesetzespositivismus
in der Weimarer Republik wirklich herrschende Rechtsdoktrin
war. (vgl. Ott, S. 211; Lecheler, S. 11)
II. Untersuchung der rechtstheoretischen Einstellung
der Weimarer Juristen
Zur Grundlage der Untersuchung sollen dabei einerseits
Äußerungen der Richterschaft z.B in Urteilsbegründungen
und andererseits wissenschaftliche Lehrmeinungen gemacht
werden.
1. Äußerungen der Richterschaft
Die ideologische Diskrepanz zwischen Rechtsstab und
Gesetzgeber führte in den ersten Jahren der Weimarer
Republik zu einer eher kritischen Haltung der Richter
gegenüber staalich gesetztem Recht, die sich in
Form von Appellen zur Lösung vom Gesetzesrecht
und zu einer Entscheidung nach Richterrecht äußerte,
so z.B. Senatspräsident Reichert 1926 in der DRiZ:
"Nicht das ist Recht, was der Gesetzgeber nach
seiner subjektiven Meinung wenn auch in vermeintlich
guter Absicht willkürlich verordnet. Nur das
wird von der Allgemeinheit als Recht empfunden, gehegt
und gepflegt, was nach objektiven Gesichtspunkten Recht
ist: was der lautere Rechtssinn dem Gesetzgeber vorschreibt,
der nicht sowohl als unbeschränkter Herr und Meister
sich fühlen darf, sondern als das Gefäß,
in dem Recht entsteht, in dem Sinne, daß es bloß
ein Recht geben darf, das gemeinsame des ganzen Volkes."
zitiert nach Ott, S. 213 Reichert meint ein historisch
gewachsenes Recht, wobei er dessen Geltung mit einer
eigenartigen Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen
verbinden will. Er steht also genau in der beschriebenen
Tradition des 19. Jahrhunderts einer beinahe gegenteiligen
Auffassung zum Gesetzespositivismus.
Bernd Rüthers belegt diese Auffassung am Beispiel
der freien Aufwertung durch die Rechtsprechung. (Rüthers,
S. 64 bis 90) Das Reichsgericht hatte in seiner Entscheidung
vom 28. November 1923 RGZ 107, 78 aufgrund von § 242
BGB den Grundsatz "Mark gleich Mark", der
es erlaubte, Geldmarkschulden durch Papiermarkzahlungen
zu tilgen, aufgehoben. Dies war auch dringend nötig
geworden, da die steigende Inflation den Geldgläubiger
de facto Enteignete. Das Reichsgericht ging aber weiter
und gestand den Richtern die Befugnis zu, nach Treu
und Glauben eine freie Aufwertung von Hypothekenforderungen
vorzunehmen d.h. also, selbst einen neuen Währungskurs
festzusetzen und damit eine fundamentale währungs-
und wirtschaftspolitische Entscheidung zu treffen.
Als der Gesetzgeber sich anschickte, dieses Problem
selbst zu regeln, sandte der Richterverein eine formelle
Eingabe an die Regierung, in der es unter anderem hieß:
"Dieser Gedanke von Treu und Glauben steht außerhalb
des einzelnen Gesetzes, außerhalb einer einzelnen
positivrechtlichen Bestimmung. Keine Rechtsordnung,
die diesen Ehrennamen verdient, kann ohne jenen Grundsatz
bestehen. Darum darf der Gesetzgeber nicht ein Ergebnis,
das Treu und Glauben gebieterisch fordern, durch sein
Machtwort vereiteln" (zitiert nach: Dreier, S.
122).
Die Eingabe war mehr als ein bloßer richterlicher
Rat, in ihr "wird auf die ernste Gefahr hingewiesen,
das höchste deutsche Gericht könne ein Gesetz,
das die im Recht begründete Aufwertung auch nur
zum Teil verbieten sollte, als einen Verstoß
gegen Treu und Glauben, als unsittlich, als verfassungswidrige
Enteignung oder als Verstoß gegen den Grundsatz
der Allgemeinheit der Besteuerung für rechtsunwirksam
erklären" (Rüthers, S. 81). Der Gesetzgeber
ging daraufhin einen Kompromiß ein und legte
in allen wichtigen wirtschaftlichen Anspruchsarten
eine Zwangsquote von 15 % fest, ließ aber in
allen übrigen Vermögenslagen eine freie Aufwertung
zu.
Die Richterschaft argumentierte aus einer Generalklausel
heraus mit sittlichen Argumenten. Eine freie inhaltlichinstrumentelle
Entscheidung wollte sie dem Gesetzgeber nicht zugestehen;
sie lehnte schließlich eine Identifizierung von
Recht und Gesetz ab. Für die Richterschaft gab
es Prinzipien, "die im Recht selbst" begründet
sind. In Wirklichkeit standen hinter diesen Entscheidungen
und Verlautbarungen "wirtschaftliche, politische
und soziale Überlegungen und Zusammenhänge,
die durchaus geeignet waren, die herkömmliche
juristische Methode zu verdrängen und dem Gesetz
seine bindende Kraft zu nehmen, falls es die gesellschaftliche
Wirklichkeit erfordern sollte" (Ott, S. 214 f.).
Die Richterschaft versagte dem parlamentarischen Gesetzgeber
also nicht nur innerlich die Gefolgschaft. Dies läßt
sich auch noch anhand der Rechtsprechung zu den 1922
und 1930 erlassenen Republikschutzgesetzen, die radikale
Agitation gegen die Republik unter Strafe stellten,
belegen: So führt Ralph Angermund Ralph Angermund,
Deutsche Richterschaft 19191945 etwa ein Urteil des
Reichsgerichts vom 23. Juni 1923 an, in dem "die
Richter zu dem Schluß [gelangten], daß
die Sätze 'Wir brauchen keine Judenrepublik, pfui
Judenrepublik', die Mitglieder des Jungdeutschen Ordens
während einer Versammlung in Gotha skandiert hatten,
keine Beleidigung der 'verfassungsgemäß
festgestellten Staatsform' darstellten." (Angermund,
S. 33) Sie beinhalteten lediglich und hier kam die
grundsätzlich ablehnende Haltung der Richter des
Reichsgerichts gegenüber der Republik und ihrem
rechtstheoretischen Programm, dem Gesetzespositivismus,
zum Ausdruck eine Beleidigung der 'gegenwärtigen
Staatsform'. (vgl. Angermund, S. 33)
Schon durch die Eingabe des Richtervereins wurde die
allgemeine Diskussion in den zwanziger Jahren um ein
materielles Prüfungsrecht des Reichsgerichts angesprochen.
(vgl. Rottleuthner, S. 21) "Das Prüfungsrecht
des Richters gegenüber den Gesetzen der Parlamente
wurde in den Zeitschriften der Richterverbände
durchgehend bejaht. So vertrat der Berliner Amtsgerichtsrat
Fränkel die Auffassung, daß der Richter
eine 'politische Entscheidung' stets darauf zu untersuchen
habe, ob sie dem 'Geist wahrer Wirklichkeit' entsprossen
sei'." (Angermund, S. 39)
Nach der Weimarer Reichsverfassung war eine materielle
Rechtmäßigkeitsprüfung von Gesetzen
durch ein (Verfassungs-) Gericht nicht vorgesehen.
Entgegen der gesetzespositivistischen These "Gesetz
ist Gesetz" verlangte auch das Reichsgericht von
dem republikanischen Gesetzgeber Gesetzestreue (genauer
Verfassungstreue). Die materielle Bindung des Gesetzgebers
an die Verfassung sollte auch für Reichsgesetze
gelten. (vgl. Radbruch, Die Justiz 1925/26 (Bd. 1 Heft
1), 12/13 f.) Unstreitig war, daß die Gerichte
befugt seien, die Vereinbarkeit von Landesrecht mit
Reichsrecht und von Verordnungen mit Gesetzen zu überprüfen.
(Rottleuthner, S. 21 in der Fußnote 4; Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/ 381; vgl. Radbruch,
Die Justiz 1925/26 (Bd. 1 Heft 1), 12/12) In einer immer
wieder zitierten Reihe von Urteilsbegründungen
behält sich das Reichsgericht in Zivilsachen eine
Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von
Reichsgesetzen zwar vor, entschied aber fast ausnahmslos
nicht gegen den Gesetzgeber (vgl. Rottleuthner, S. 21:
zusammengestellt nach Rottleuthner, Demokratie und
Recht, 1987, 373/380; vgl. auch Rottleuthner, S. 21
in der Fußnote 4)
RGZ 102, 161 (28.4.1921)Die Prüfungsbefugnis wird
mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechungspraxis
begründet. Im vorliegenden Fall geht es aber um
die Prüfung einer Verordnung
RGZ 103, 200 (18.11.1921)Ohne Begründung für
eine Prüfungskompetenz wird ein Landesgesetz abgelehnt
RGZ 107, 78 (28.11. 1923)Hier geht es nicht um die
Prüfungsbefugnis, sondern um die Aufgabe des allgemeinen
Grundsatzes "Mark gleich Mark"
RGZ 107, 377 (8.12.1923)Prüfungen von Verordnungen
RGZ 107, 370 (1.3.1924)Überprüfung der dritten
Steuernotverordnung vom 14.2.1924
RGZ 109, 310 (13.12.1924)Frage der Vereinbarkeit eines
Landesgesetzes, das für ungültig erklärt
wird.
RGZ 111, 123 (18.6.1925)Ungültigerklärung
eines Landesgesetzes
RGZ 111, 320 (4.11.1925)Erste ausführliche Begründung
des Prüfungsrechts (S. 322). Das zu prüfende
Aufwertungsgesetz vom 16.7.1925 wird für verfassungsmäßig
erklärt.
RGZ 118, 325 (4.11.1927)Nochmalige (positive) Prüfung
des oben genannten Aufwertungsgesetzes.
RGZ 124, 173 (19.4.1929)Ohne Begründung des Prüfungsrechts
wird das Reichsgesetz über die Schutzpolizei der
Länder vom 17.7.1922 (und ein preußisches
Gesetz) für ungültig erklärt.
RGZ 125, 273 (20.6.1929)Das Gericht lehnt es ab, ein
verfassungsmäßig zustandegekommenes Gesetz
daraufhin zu überprüfen, ob es mit Treu und
Glauben zu vereinbaren ist (S. 279).
RGZ 129, 146 (27.5.1930)Ein Reichsgesetz wird für
gültig erklärt
Auffällig an der Kette von Entscheidungen ist die
Vermischung von Aspekten, geht es in den Urteilen doch
überwiegend um Verordnungen oder Landesgesetze.
Nur in einem Urteil macht das Reichsgericht von seinem
beanspruchten Prüfungsrecht gegen den Reichsgesetzgeber
Gebrauch (RGZ 124, 173 vom 19.4.1929), indem es aber
auf eine nähere Begründung verzichtet.
Als Folge versuchte der Gesetzgeber zwischen 1925 und
1930 ein Gesetz über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
von Vorschriften des Reichsrechts zu verabschieden.
Aber der Anlauf einer gesetzlichen Klärung scheiterte.
Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987, 373/381
Die Haltung der Richterschaft zur Weimarer Republik
resümiert Angermund folgendermaßen: "Obwohl
die Richtervereine des öfteren ihre 'unerschütterliche
Verfassungstreue' erklärten, gerierte sich die
Richterschaft doch gegen den Willen der Regierung und
gegen den Wortlaut der Verfassung als die eigentliche,
der 'gegenwärtigen Staatsform' nicht verpflichtete
Verteidigerin des Allgemeinwohls und des 'Staates an
sich'." (Angermund, S. 39)
Die ideologische Ablehnung der sozialliberalen Republik
fand ihre Entsprechung in der Rechtsprechung; insgesamt
war die Richterschaft von einem gesetzespositivistischen
Verständnis im Sinne einer Treue zum demokratischen
Staat weit entfernt. "Unter dem Bezugsproblem
des Verhältnisses von Gesetzgeber und Rechtsstab
läßt sich die Geschichte der Weimarer Republik
als eine der permanenten, unaufgelösten Spannungen
zwischen den zwei Gewalten rekonstruieren." (Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/377)
2. Äußerungen in der Rechtswissenschaft
Die Reichsregierung und das Reichsjustizministerium
lehnten das richterliche Prüfungsrecht ab. (Angermund,
S. 39) Insbesondere der Reichsjustizminister Radbruch
akzentuierte Art. 102 Weimarer Verfassung (WRV) "Die
Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen"
im Sinne des Gesetzespositivismus. (vgl. G. Radbruch,
in: Die Justiz Bd. 1 Heft 1 (1925/26), S. 12 ff.) Wie
verhielt es sich aber mit der Rechtslehre?
In der Methodenlehre setzte sich, als Alternative zum
Gesetzespositivismus, neben der eher unbedeutend gebliebenen
Freirechtsschule, die den Richter zur Abweichung vom
Gesetz ermächtigte, sobald er dessen Anwendung
im Einzelfall für unrichtig oder unzweckmäßig
hielt (Wieacker, S. 579 ff.), die Reformbewegung der
Interessenjurisprudenz durch. Diese ging grundsätzlich
von der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung aus
und forderte bei allerdings prinzipieller Gesetzesbindung
eine freiere Stellung für den Richter. Dem Richter
sollte das Recht zur Gebotsberichtigung für den
Fall zustehen, daß sich wandelnde Verhältnisse
von dem Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden können;
dabei sollte der Richter auf das Rechtsbewußtsein
der gegenwärtigen Gemeinschaft abstellen. vgl.
(Rüthers, S. 139 ff.)
Wie extrem der Gesetzespositivismus in den zwanziger
Jahren von einem Anhänger der Freirechtsschule
abgelehnt werden konnte, beweist der Aufsatz von Ernst
Fuchs in der Justiz 1925/26: "Die systemlogische
Jurisprudenz hat die einzige Wirkung, das gute Recht
durchschnittlich etwa ein Jahrzent zu unterdrücken.
Das natürliche Rechtssuchen des RWG [das Reichswirtschaftsgericht
vertrat die freirechtliche Methode] dagegen bringt
es zum sofortigen Sieg, erspart also viel Elend, Kämpfe
und Kosten. Soweit die heutige Jurisprudenz nicht rein
systemlogisch bleibt, ist sie meist die Kunst, das
was nach geheimer Ansicht des Richters billig und praktisch
ist, so aus Normen abzuleiten, als ob es unmittelbar
und nicht durch § 242 BGB nur mittelbar befohlen
wäre... Im Mittelpunkt der Rechtsforschung und
des Rechtsunterricht i.e.S. darf nicht ferner die Frage
stehen: was steht geschrieben?, sondern was ist gerecht
und verständig? Es muß dem Rechtsjünger
von vornherein in die Seele gehämmert werden,
daß das Gerechte und Verständige mit seltenen
Ausnahmen das vom Gesetz Gemeinte und Gewollte ist;
daß es daher zunächst gilt, jenes zu finden.
Damit tritt die Gesetzeskunde nebst der alten Systemdialektik
in die ihr gebührende zweite Stelle. ... Dazu
muß für den Juristen als Wahrheits- und
Rechtssucher eine besondere ethische Erziehung kommen."
Und in völliger Abwendung von einer gesetzestreuen
Rechtsanwendung, die Schlußfolgerung: "Wenn
es die erste und vornehmste Aufgabe des Richters ist,
den Lebens- und Verkehrsbedürfnissen gerecht zu
werden und sich von den Erfahrungen des Lebens leiten
zu lassen, wie das RG 100, 123 schön und treffend
sagt, dann ist es auch die erste und vornehmste Pflicht
einer wahren Rechtswissenschaft, diese Verkehrsbedürfnisse
zu erforschen und ihre Jünger dieses Erforschen
zu lehren." (Fuchs, Die Justiz (Bd. 1 Heft 1),
22/25 ff.)
Auf dem Gebiet des Staatsrechts bildete der staatsrechtliche
Positivismus (Gesetzespositivismus) seit dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts einschließlich
des Beginns der Weimarer Republik die unangefochtene
rechtstheoretische Grundlage. (Dreier, S. 122)
Aber im Laufe der zwanziger Jahre wurde die Allmacht
des Gesetzgebers als höchster souveräner
Instanz zunehmend in Frage gestellt; Angelpunkt der
staatsrechtlichen Diskussion war auch hier das Problem
des richterlichen Prüfungsrechts auf der Grundlage
des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 109 Abs. 1 WRV
"Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich."
gegenüber den Akten der Legislative. Umstritten
waren dabei insbesondere die Fragen nach der Adressierung
des Gleichheitssatzes, zum anderen nach dem Begriff
der Verfassung, vornehmlich nach einem der Legislative
entzogenen Verfassungskern und, damit im Zusammenhang
stehend, die Diskussion um die Einführung eines
Verfassungsgerichts. (Dreier, S. 124) Hubert Rottleuthner
vermutet, daß seit spätestens 1926 die Mehrzahl
der Staatslehrer ein materielles richterliches Prüfungsrecht
befürwortete. (Rottleuthner, S. 21)
Diese Vermutung läßt sich unter anderem mit
dem Verlauf der Staatsrechtslehrertagung 1926 in Münster
begründen, auf der Erich Kaufmann ehemals strenger
staatsrechtlicher Positivist eine neue, naturrechtlich
geprägte Rechtsauffassung vertrat: "Der Gesetzgeber
ist nicht Schöpfer des Rechts. ... der Staat schafft
nicht Recht, der Staat schafft Gesetze; und Staat und
Gesetz stehen unter dem Recht" (zitiert nach Rüthers,
S. 96). Den neuen Richtungen ging es wieder um die Suche
nach einem höheren Recht und nach nichtjuristischen
Fundamentierungen der positiven Rechtsordnung, also
nach dem "nichtnormativen Unterbau einer Staatsverfassung"
Hermann Heller (zitiert nach Dreier, S. 123)
Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Hans Kelsen
protestierten heftig gegen diesen naturrechtlichen
Einschlag, sahen sie doch in der Höherbewertung
des richterlichen Urteils gegenüber den Parlamentsakten
einen Konflikt mit dem demokratischen Charakter der
Verfassung. (Ott, S. 216) Kelsen formuliert daraufhin
die Frage nach dem politischen Hintergrund für
den Ruf nach metajuristischen Begründungsmustern
und kommt zu dem nicht mehr überraschenden Schluß
, daß die neuen Wege Ausdruck der ideologischen
Konfrontation zwischen Rechtsstab und Gesetzgeber seien:
"Ob und inwieweit diese Abkehr gewisser juristischer
Kreise von dem bisher bedingungslos anerkannten juristischen
Positivismus soziologisch mit der Änderung der
politischen Struktur des Gesetzgebungsorgans zu erklären
ist, möchte ich hier dahingestellt sein lassen.
Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß Juristen,
die ehedem die strikteste Bindung des Richters an das
Gesetz lehrten, heute den Richtern mit Berufung auf
das Naturrecht weitgehende Freiheit gegenüber
dem Gesetz zuerkennen möchten; und daß der
Richterstand von jenen Änderungen der politischen
Struktur so ziemlich frei geblieben ist, die sich in
der Zusammensetzung des Parlaments zeigt; so daß
zwischen dem heutigen Richterstand und dem Juristenstand
nicht jener politische Gegensatz besteht wie zwischen
Juristenstand oder doch gewissen Teilen desselben und
Parlament." (Kelsen, Diskussionsbeitrag, S. 54)
Carl Schmitt hält 1928 in seiner >>Verfassungslehre<<
diesen ideologischen Gegensatz zwischen Richterstand
und Gesetzgeber für unschädlich, ja sogar
konstituierend für eine Demokratie: "Wenn
die Demokratie wesentlich politische Form ist, die
Justiz dagegen wesentlich unpolitisch, weil von dem
generellen Gesetz abhängig, so folgt daraus, daß
eindeutige und zwingende Konsequenzen aus dem demokratischen
Prinzip gegenüber der Justiz nicht gezogen werden
können. Man kann auf dem Wege über den politischen
Gesetzesbegriff die Rechtspflege meistern... Die Unabhängigkeit
der Richter kann aber niemals etwas anders sein als
die andere Seite ihrer Abhängigkeit vom Gesetz.
Auch in einem demokratischen Staat ist der Richter
unabhängig, wenn er Richter und nicht politisches
Instrument sein soll." Daß die Rechtspflege
entgegen der Meinung von Carl Schmitt aber nur zu meistern
ist, wenn der Staat insgesamt an etwa gleichen ethischmoralischen
Grundüberzeugungen Anteil hat, zeigt das klägliche
Ende der Weimarer Republik. Im Ergebnis wollte Carl
Schmitt nicht, daß die Justiz, auch nur indirekt,
ein politisches Instrument der sozialliberalen Gesetzgebers
sei, und so sieht er auch schon 1928 eine ganz andere
gewollte Abhängigkeit der Richterschaft am Horizont:
"Volksjustiz kann schließlich ganz allgemein
eine volkstümliche Justiz bedeuten, im Sinne einer
Übereinstimmung der richterlichen Urteilssprüche
mit dem Rechtsempfinden des Volkes." (Schmitt,
Verfassungslehre, S. 274 ff.) In diesem Sinne fährt
Carl Schmitt 1934 in seinem Aufsatz >>Der Führer
schützt das Recht<< fort, der die Richterschaft
an die Ideologie Adolf Hitlers heranführen und
die noch 1928 betonte Unabhängigkeit beseitigen
will; denn die richterliche Ungebundenheit wird als
Motiv nicht mehr benötigt, um die allgemeinen
Vorbehalte gegenüber einer sozialliberalen Republik
zu legitimieren: "Das Richtertum des Führers
entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht
jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt
sich das höchste Recht und erscheint der höchste
Grad richterlich rächender Verwirklichung dieses
Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des
Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche
Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus
dieser Quelle zufließt. Das übrige ist kein
Recht, sondern ein 'positives Zwangsnormengeflecht',
dessen ein geschickter Verbrecher spottet." (Schmitt,
Der Führer schützt das Recht in Positionen
und Begriffe, S. 200 f.)
Insgesamt meint Helmut Lecheler zusammenfasend, daß
sich in der Staatsrechtslehre in enger Verbindung mit
ähnlichen Strömungen in der Philosophie Es
wäre reizvoll zu untersuchen, welche gedanklichen
Verbindungslinien zwischen der Abkehr vom Rechts- und
Gesetzespositivismus und der beschriebenen Überwindung
des philosophischen Positivismus durch Kulturkritik,
Lebensphilosophie u.s.w. (vgl. S. 15 ff.) bestehen.
Das würde jedoch die Möglichkeiten einer
Hausarbeit übersteigen. neue Ansätze herausbildeten,
"die dem staatsrechtlichen Positivismus, wie er
besonders durch Anschütz und Thoma vertreten war,
ganz anders fundierte Lehren entgegensetzten; ihre
Grundlage war teils naturrechtlich (Erich Kaufmann),
teils soziologischpolitisch (Helmut Heller), teils
machtstaatlichautoritär (Carl Schmitt). Einigkeit
bestand eigentlich nur in der Ablehnung des Positivismus"
(Lecheler, S. 11).
III. Fazit
Der Teil der Radbruchschen These der Positivismus wäre
die herrschende Lehre in der Weimarer Zeit gewesen
kann nur folgendermaßen aufgefaßt werden:
"In ihrer großen Mehrzahl waren die Juristen
Vertreter des Positivismus in seiner autoritären
Variante aber gerade nicht in diesem Sinne, daß
sie sich jedem Gesetzgeber gegenüber konform verhalten
hätten." (Rottleuthner, Demokratie und Recht
1987, 373/381) Konform verhielten sie sich gegenüber
einem autoritärkonservativen Gesetzgeber im Kaiserreich.
Ihre ablehnende Haltung gegenüber dem parlamentarischrepublikanischen
Staat machte es dem demokratischen Gesetzgeber in
Partei- und Interessengegensätzen aufgerieben
unmöglich, alles nach seinem Belieben zu regeln.
Die Macht, sich durchzusetzen, an der sich nach der
autoritären Variante des Rechtspositivismus die
Geltung von Recht erweisen soll, wurde dem Parlament
von den Juristen in Rechtsprechung, Rechtslehre und
in den Standesorganisationen beschnitten. (Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/381) Der jungen Demokratie
gelang es nie überzeugend, sich der Konformität
des Rechtsstabes zu vergewissern.
In diesem Sinne war der Rechtspositivismus (insbesondere
der Gesetzespositivismus) in der Version Radbruchs
(1932) oder Kelsens (1934) gegen Ende der Weimarer
Republik nicht herrschende Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie.
(vgl. Ott, S. 221; vgl. Dreier, S. 124; vgl. Lecheler,
S. 11; vgl. Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987,
373/383) Er konnte also nicht allein, nichteinmal maßgeblich
am Versagen des Juristenstandes im Nationalsozialismus
schuld gewesen sein. Die Positivismusthese, eine positivistisch
geschulte Juristengeneration habe keine Widerstandspositionen
gegenüber den Befehlen und Gesetzen ausbilden
können, ist also schon deshalb weitgehend substanzlos,
da ihr eine zwingende Voraussetzung fehlt. Inwieweit
positivistische Überzeugungen dennoch ein Begründungsmuster
für verbrecherische Gesetze im Nationalsozialismus
abgeben und welche anderen Faktoren eine Rolle spielen,
soll in der Beantwortung der dritten Frage geklärt
werden.
C. Begründungsmuster für das Verhalten des
Juristenstandes im Nationalsozialismus
Das Recht ist immer abhängig von dem Verhalten
des Gesetzgebers, als auch vom Verhalten des Rechtsstabes;
daran ändert auch gerade der Rechtspositivismus
nichts. Der Gesetzespositivismus, der den Richter zu
wortgetreuer Anwendung des politischen Willens verpflichten
will, stößt bei innerer Ablehnung durch
den Rechtsstab auf die Grenzen seiner Überzeugungskraft.
Spätestens zu Beginn der dreißiger Jahre
war Recht auch auf der Seite des Rechtsstabes ein politisches
Instrument, dem Gesetzgeber sogar partiell als Kampfmittel
gegenübergestellt. Der Streit um Rechtspositivismus,
Gesetzespositivismus, richterliches Prüfungsrecht,
Interessenjurisprudenz, Freirechts- und Naturrechtsschule
verschleierte in Wirklichkeit nur die heftige rechtspolitische
Kontroverse um die Neubestimmung Deutschlands nach
dem Verlust des Ersten Weltkrieges, dem Versailler
Vertrag, der Wirtschaftskrise usw. Dabei war im Grunde
jede Rechtstheorie geeignet, rechtspolitisch beliebig
mißbraucht zu werden.
Auch Hans Kelsen sah dies in seinem Vorwort zur >>Reinen
Rechtslehre<< von 1934 und beharrte gerade deshalb
auf der Reinheit des Rechts zumindestens der Rechtstheorie:
"Nicht um die Stellung der Jurisprudenz innerhalb
der Wissenschaft und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
geht in Wahrheit der Streit wie es freilich den Anschein
hat; sondern um das Verhältnis der Rechtswissenschaft
zur Politik, um die saubere Trennung der einen von
der anderen, um den Verzicht auf die eingewurzelte
Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter
Berufung also auf eine objektive Instanz, politische
Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst
subjektiven Charakter haben können, auch wenn
sie, im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation
oder Klasse auftreten." Kelsen, Vorwort zur ersten
Auflage, S. IV Kelsen wußte, daß gerade
seine Reine Rechtslehre zum Instrument beliebiger Rechtspolitik
gemacht werden konnte, sah darin aber keinen Nachteil,
da sie als Theorie nicht einer bestimmten Ideologie
dienen, sondern, als objektive, ihren Gegenstand nur
beschreibende Rechtswissenschaft, ihren Inhalt nicht
selbst vorschreiben wollte: "Die Reine Rechtslehre
sei garnicht imstande, ihre methodische Grundforderung
zu erfüllen, und sei selbst nur der Ausdruck einer
bestimmten politischen Werthaltung. Aber welcher? Faschisten
erklären sie für demokratischen Liberalismus,
liberale und sozialistische Demokraten halten sie für
einen Schrittmacher des Faschismus. Von kommunistischer
Seite wird sie als Ideologie eines kapitalistischen
Etatismus, von nationalkapitalistischer Seite bald
als krasser Bolschewismus, bald als versteckter Anarchismus
disqualifiziert... Kurz, es gibt überhaupt keine
politische Richtung, deren man die Reine Rechtslehre
noch nicht verdächtig hätte. Aber das gerade
beweist besser, als sie es selbst könnte: ihre
Reinheit." (Kelsen, Vorwort zur ersten Auflage,
S. V)
Hans Kelsens Reine Rechtslehre ist eine Antwort auf
seine Zeit, in der die Rechtspolitik eine neue, zentrale
Rolle spielte; die Lösung der Frage, "wie
die Interessenkonflikte innerhalb der Gesellschaft
'richtig' zu lösen seien", kann nicht der
Jurist geben, da er als "bloßer Techniker
der Gesellschaft" (Kelsen, Vorwort zur ersten Auflage,
S. IV) den Politikern nichts voraus habe. Trotz der
allgemeinene Ablehnung seiner Lehre erkannte Kelsen
sicherlich zutreffend, daß der Streit um den
Inhalt die Machtfrage außerhalb jeder Rechtstheorie
beantwortet werden wird.
Der reale Verzicht der Rechtswissenschaft auf die Bestimmung
des Inhalts entpuppte sich so als Folge der politischen
Verhältnisse. Wenn um den Inhalt des Rechts z.B.
in Straßenschlachten zwischen Stahlhelm und Reichsbanner
SchwarzRotGold gestritten wurde, konnte sich der Jurist
entweder anschließen oder auf die formalen Strukturen
des Rechts zurückziehen. In keinem Fall hätte
er als Wissenschaftler einen entscheidenden Einfluß
auf seine materielle Bestimmung gehabt. Die Bestimmung
des Rechts war also eine reine Machtfrage?
I. Das Versagen des Gesetzespositivismus derRepublik
Die Gesetzespositivisten der Weimarer Republik glaubten
eher an eine "'demokratische Rechtsquellenlehre',
nach der die inhaltliche Richtigkeit eines Gesetzes
gerade nicht durch materiale Bindung an übergeordnetes
Recht, 'sondern durch die demokratische Organisationform
des Gesetzgebungsverfahrens selber" vermittelt
wird" (Ott, S. 216): einen Zusammenhang, den die
Vorkämpfer der völkischen Rechtserneuerung
durchaus sahen und auszunutzen vermochten. So führte
Carl Schmitt noch 1935 in >>Der Rechtsstaat<<
aus: "'Gesetz' bedeutet etwas theoretisch und
praktisch völlig Verschiedenartiges, je nachdem
es sich um das Gesetz einer konstitutionellen Monarchie,
eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates oder eines
modernen Führerstaates handelt." (Schmitt,
Der Rechtsstaat, S. 29) Scheinbar legal und demokratisch
legitimiert, benutzten die Nationalsozialisten das
verfassungsmäßige Verfahren, um einen republik-
und verfassungsfeindlichen Staat zu errichten. Ein
Staatsstreich, der gerade auf den klaren Verfassungsbruch
verzichtete, kam er doch in der Verkleidung des Gesetzespositivismus.
Die Nationalsozialisten waren gerade am Anfang darauf
bedacht, die Kontinuität ihrer Ideologie mit bürgerlichen
Richtigkeitsvorstellungen herauszustreichen. (vgl. Rottleuthner,
S. 27)
Insofern hat die gesetzespositivistische Auffassung
der Demokratie einen "Bärendienst" erwiesen
und ihren Beitrag geleistet, bei der Machtergreifung
Adolf Hitlers am 30.1.1933 und der Verabschiedung des
Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich (Ermächtigungsgesetz)
vom 24.3.1933 das hinterfragende Auge der Gerechtigkeit
geschlossen zu halten. Die Abgeordneten, die es geschafft
hatten, in den Reichstag zu gelangen An dieser Stelle
wird auch heute noch oft übersehen, daß
alle kommunistische und viele sozialdemokratische Abgeordnete
bereits verhaftet oder sonst gehindert wurden, in den
Reichstag zu gelangen. Unter regulären Umständen,
und das beziehe ich auch auf die vorhergehende Reichstagswahl,
wäre das Ermächtigungsgesetz wohl nicht mit
Zweidrittelmehrheit beschlossen worden. Nach meiner
Einschätzung ist hier kein Recht im Sinne einer
strengen rechtspositivistischen Theorie gesetzt worden.,
nahmen das Ermächtigungsgesetz mit Zweidrittelmehrheit
an; die demonstrierte Macht der Nationalsozialisten
genügte vielen als Erklärungs- und Begründungsmuster.
Ob eine gesetzespositivistische Theorie daneben als
Rechtfertigungsmodell brauchbar blieb, interessierte
letztlich niemanden mehr entweder weil die Rechtstheoretiker
sie schon vor 1933 abgelehnt hatten oder weil die nun
herrschenden Nationalsozialisten sie entschieden bekämpften.
(vgl. Rottleuthner, S. 21; vgl. Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/383)
II. Die antipositivistische Rechtsauffassung derNationalsozialisten
Der republikanischverfassungsmäßige Gesetzgebungsakt
diente den Nationalsozialisten also nur als Werkzeug,
ihre antipositivistische Ideologie zu installieren;
den Wandel im Verständnis des Rechtsstaates beschrieb
Carl Schmitt 1935 folgendermaßen: In einem Rechtsstaat,
der mit dem liberalen Verfassungsstaat gleichgesetzt
sei, werde das Gesetz nur dann zu einer für alle
geltenden Rechtsnorm, wenn es unter Mitwirkung der
frei gewählten Volksvertreter und dem vorgeschriebenen
Verfahren erlassen wird. Im "deutschen Rechtsstaat
Adolf Hitlers" dagegen bedeute Gesetz im wesentlichen
"Plan und Wille des Führers", womit
der hohle Gesetzesstaat überwunden sei. (Schmitt,
Der Rechtsstaat, S. 30 ff.)
Dieses nationalsozialistische Rechtsdenken zeigte sich
schon in Art. 2 Ermächtigungsgesetz, der der Reichsregierung
die Möglichkeit einräumte, auch Gesetze zu
erlassen, die von der Reichsverfassung abweichen; das
ermächtigte Hitler zu willkürlicher gesetzgeberischer
Tätigkeit auch und gerade in formaler Hinsicht.
Formale Willkür war dem Rechtspositivismus eines
Kelsens verhaßt. Die logischen Rechtspositivisten
liebten eine klare formale Struktur. Normen sollten
sich eindeutig hierarchisch aus übergeordneten
Normen herleiten lassen. Im Ermächtigungsgesetz
zeigte sich eine Seite der antipositivistischen Haltung
der Nationalsozialisten: War die Grundnorm das Ermächtigungsgesetz
oder weiterhin die Weimarer Verfassung, galt die Verfassung
überhaupt noch, konnte das Parlament Gesetze gegen
die Reichsregierung erlassen kurz, wer war eigentlich
die Legislative? (vgl. Rottleuthner, S. 30) Schon diese
erste Verwirrung zeigte, daß die nationalsozialistische
Ideologie eine klare (gesetzespositivistische) Verbindung
von Recht und Gesetz ablehnen muß.
1. Der Beitrag der Rechtsphilosophie
Das bisherige Rechtssystem mit seiner Betonung auf die
Buchstabentreue des Gesetzes galt den Nationalsozialisten
als liberalistisch und "verjudet" (Angermund,
S. 104) und sollte insofern durch eine "völkische
Rechtsordnung" ersetzt werden. Die allgemeine
Unsicherheit bei dem Umgang mit der neuen unbestimmten
Begrifflichkeit läßt sich beispielsweise
an der Rede Herman Görings vor der Akademie für
Deutsches Recht am 13.11.1934 zeigen: "Das Recht
muß so gestaltet sein, daß es irgendwo
im Inneren des einzelnen Volksgenossen Anklang und
Widerhall findet, daß es nicht einfach volkommen
verständnislos über den Wolken thronend in
seiner juristischen Askese ausgedacht wird, sondern
es muß blut- und gehaltvoll in lebendiger Verbindung
mit dem Volke stehen und aus dem Volke heraus geboren
werden." (in Angermund, Die geprellten "Richterkönige",
S. 350) Neben diesem Beitrag eines offiziösen Trivialphilosophen
haben sich auch juristische Dogmatiker in einem gehobeneren
Ton an der Bestimmung einer nationalsozialistischen
Rechtsphilosophie versucht.
a) Zur Kausalität rechtsphilosophischer Lehren
Bei einer funktionalen Betrachtung des Gegenstandes
welchen Beitrag haben die rechtsphilosophischen Bemühungen
der Jahre 19331945 zur Lösung unseres eigentlichen
Bezugsproblems, nämlich der Sicherung der Konformität
des Rechtsstabes, erbracht? ist aber zuerst der tatsächliche
Einfluß der Rechtsphilosophie auf die Rechtspraxis
zu bestimmen. Betrachtet man die Auflagenstärke
von Publikationen und die Lesegewohnheiten von Juristen,
wird man die effektive Verbreitung der rechtsphilosophischen
Denkgebäude sehr gering ansetzen. Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/382 Auf der anderen
Seite haben gerade die nationalsozialistischen Rechtsphilosophen
einen ungeheuren Legitimationsaufwand betrieben: "von
neuhegelianischen Wiederbelebungsversuchen bis zu biologistischen
Anleihen bei einem rassischen Naturrecht" (Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/382; vgl. auch Rottleuthner,
S. 26). Es muß also deutlich unterschieden werden
zwischen der Inhaltsanalyse und der Wirkungsanalyse
rechtsphilosophischer Äußerungen. Moralischinhaltlich
haben sich jene Autoren disqualifiziert. Inwieweit
sie aber auch Wirkung mit ihren Ergüssen erzielt
haben ist fraglich. 1983 vermutet Hubert Rottleuthner
noch, daß dem "Legitimationsaufwand zumindest
ein gewisser Orientierungs- und Rechtfertigungsbedarf
im Rechtsstab entsprach" (Rottleuthner, S. 26),
1987 meint er dagegen, daß die Wirkungen "verantwortungsethisch"
betrachtet sehr gering gewesen seien: "Die Legitimationsbeschaffung
für politische Regime verläuft anders, nicht
über eine rechtsphilosophische Fischpredigt."
Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987, 373/383 Insofern
stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit des
Gesetzespositivismus für willkürliche und
verbrecherische Gesetze im Grunde überhaupt nicht.
Gustav Radbruch hätte sich also schon in der Tragweite
einer rechtsphilosophischen Theorie entscheidend getäuscht.
Ich meine dennoch, daß auch gerade rechtsphilosophische
Lehrgebäude in einem Wechselbezug zur Rechtspraxis
stehen: sie formulieren sich gegenseitig und bilden
einander fort. Zumindest sind sie hier als Spiegel
der Rechtspraxis zu gebrauchen.
b) Rechtsphilosophische Legitimationsmuster
Legitimiert wurden insbesondere einzelne gesetzliche
Maßnahmen im Zusammenhang mit der Machtergreifung,
die sogenannte Gleichschaltung und die Ereignisse der
RöhmAffäre, bei der ganze SAEinheiten ohne
Verfahren hingerichtet wurden; das mußte sogar
autoritärkaiserlichen Juristen erklärt werden.
Weiterhin galt es, die Fragen der Fortgeltung des alten
Rechts zu lösen: sowohl was seine Auslegung und
Ausfüllung der Generalklauseln im neuen Geiste
betraf als auch die Klärung der Rechtsquellenfrage
überhaupt: die Fortgeltung der WRV, die Rolle
des NSDAPProgramms und der Status von Führerverlautbarungen.
(Rottleuthner, S. 26)
Die Antworten machten einen Rekurs auf metadogmatische
Legitimationsmuster erforderlich, wie den schon erwähnten
Grundgedanken des völkischen Gemeinschaftsrechts.
Das neue Legitimationsmuster entwickelte Carl Schmitt
schon 1932 in seiner bereits erwähnten Programmschrift
>>Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen
Denkens<<. Sie richtete sich entschieden gegen
den liberalen Rechtsstaat der Weimarer Verfassung,
der das Recht mit dem Gesetz verwechsele, in der bloßen
Berechenbarkeit das Heil suche, auf jeden materialen
Gerechtigkeitsgehalt verzichte und jeder personalen
Autorität feindlich sei. "Neben vielen Negativposten
antidemokratisch, antiliberalistisch, antipositivistisch
etc. schälte sich bei aller Inkonsistenz ein
Kern des nationalsozialistischen Rechtsdenkens heraus,
der sich kennzeichnen läßt durch die 'völkische'
Idee, eine damit eng verbundene Rassentheorie und das
Führerprinzip." (Rottleuthner, S. 27)
Dieses Legitimationsmuster zeigt eine gewisse Ambivalenz:
Es "setzt sich zusammen aus einer Verknüpfung
von völkischem Gedankengut, Ideen der Gemeinschaft,
der Rasse, von Blut und Boden auf der einen Seite und
der Propagierung eines autoritären Staates, des
Führerprinzips auf der anderen Seite. Dem Geist
der einheitlich gegliederten Gemeinschaft, dem lebendigen
Rechtsgewissen des Volkes, dem organischen Rasseninstinkt,
der konkreten Einheit von Recht und Volksmoral, den
Substanzwerten Rasse, Boden, Ehre, Arbeit etc. diesem
substantiellen Komplex standen gegenüber die Entscheidung
des Gesetzgebers, die Stimme des einen Führers,
der autoritäre Wille der Staatsführung. Beide
Momente, Substanz und Dezision, werden in einer Art
AusdrucksModell miteinander verbunden." (Rottleuthner,
S. 27)
Recht wird hier antipositivistisch als Einheit von expressivem
Gesetzesverständnis (Substanz im Volksgewissen)
"Der Gesetzgeber findet das Recht bereits vor,
er schafft es nicht, er prägt es nur juristisch
aus und verwaltet es. Das Recht ist ihm eben in seinem
konkreten Gehalt von den geschichtlichen Werten des
Volkslebens überliefert." (Sauer, ARSP 1934/35
(Heft 28), 230/248) Oder: "Das völkische Rechtsdenken...beläßt
vor allem das Gesetz nicht in seiner isolierten Stellung,
sondern stellt es in den Gesamtzusammenhang einer Ordnung
hinein, deren Grundgedanken übergesetzlicher Natur,
weil in der Wesenart, Sitte und Rechtsanschauung des
Volkes angelegt sind..." (Larenz, Über Gegenstand
und Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 10)
und instrumentellem Gesetzesverständnis (Dezision
der Staatsautorität)
"Daraus ergibt sich das unbedingte, enge Vertrauensverhältnis
zwischen Führer und Volk, das der Führer
selbst 'mit echter Demokratie' bezeichnet hat, für
die freilich den Demokraten 'liberaler Prägung'
in ihrem formalen Denken das Verständnis abgeht
... Und schließlich ist der Führer, wie
Larenz ausführte, 'weder Souverän noch Funktionär'
... Daher muß auch die Gesetzgebung, deren Natur
als politische Entscheidung aus dem über den Gesetzesbegriff
Dargelegten hevorgeht, in der Hand der Führung
liegen." (Huber (1937) zitiert nach: Rapsch, S.
140)
aufgefaßt.
Der Rechtsbegriff wird einerseits mit hohlen Phrasen
inhaltlich bestimmt, um ihn andererseits der Willkür
des Führers preiszugeben. Diesen substantiellen
Dezisionismus Rottleuthner, S. 29 brachte Rudolf Heß
1934 auf dem Reichsparteitag auf einen Nenner: "Wenn
Sie richten, mein Führer, richtet das deutsche
Volk!" (zitiert nach: Rottleuthner, S. 28). Das
allgemeine Legitimationsmuster entspringt dem Wechselspiel
zwischen Substanz und Dezision mit dem Vorrang der
Dezision.
c) Neue Rechtsquellen
Die aus dem substantiellen Dezisionismus legitimierte
"völkische Rechtsordnung" brachte folgende
neue Rechtsquellen hervor (zusammengestellt nach: Rüthers,
Entartetes Recht, S. 28):
das durch die "Vorsehung" bestimmte Führertum
das rassisch bestimmte Volkstum bzw. die "artbestimmte
Volksgemeinschaft"
das Parteiprogramm der NSDAP als Rechtsquelle
der "Geist des Nationalsozialismus; die nationalsozialistische
Weltanschauung als Rechtsquelle.
Der Gesetzespositivismus galt dabei als leerer >>Normativismus<<
und >>Formalismus<< und stand der neuen
Rechtsquellenlehre als lästiges Hindernis entgegen.
Der eigentliche politische Sinn dieser konzentrierten
rechtsphilosophischen Angriffe auf den vermeintlich
überholten Normativismus und Positivismus lag
darin, die Gesetzesbindung der Richter im neuen Staat
zu relativieren.
2. Der Beitrag der Rechtspraxis
a) Zur Unbestimmtheit nationalsozialistischer Gesetzgebung
Neben der neuen "völkischen" Rechtsquellenlehre
waren die Nationalsozialisten weder willens noch in
der Lage, durch gesetzgeberische Aktivitäten eine
neue einheitliche Rechtsordnung verbindlich festzuschreiben.
Als Beispiel für den Unwillen der NS-Regierung,
entsprechend tätig zu werden, nennt Ralph Angermund
das Schicksal, das den Plänen für ein "völkisches"
Strafgesetz widerfuhr: Zwar war im April 1933 von Hitler
eine Kommission des Preußischen Innenministeriums
zur Erarbeitung eines entsprechenden Entwurfs beauftragt
worden, aber als diese ihm 1936 den fertigen Entwurf
vorlegte, unterzeichnete Hitler ihn nicht, wohl weil
er "seine Machtbefugnisse nicht durch ein gesetzliches
Regelwerk einschränken lassen wollte" (Angermund,
S. 106)
Wo der NSGesetzgeber tätig wurde, trat der in
einigen Fällen wohl beabsichtigte rechtspolitische
Dilettantismus der neuen Machthaber zutage: Die neuen
Gesetze waren häufig sehr unscharf, schwammig
und häufig auffallend kurz formuliert. (Ott, S.
218) Charakteristisch für das 'völkische Rechtsdenken'
waren die Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe
und ideologische Präambeln, durch die dem jeweiligen
Gesetz das politische Programm vorangestellt wurde.
(Ott, S. 218; vgl. Lecheler, S. 12) Insbesondere ins
Strafrecht fand eine Reihe von "Gummiparagraphen"
Eingang (Angermund, Die geprellten "Richterkönige",
S. 322) so wurde etwa, um ein besonders extremes Beispiel
zu nennen, durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften
des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes
vom 28.6.1935 die Analogie eingeführt, wonach
auch solche Taten für strafbar erklärt wurden,
die zwar nicht unter den Tatbestand eines Strafgesetzes
fielen, wohl aber nach dem "gesunden Volksempfinden"
Bestrafung verdienten; so heißt es in (zitiert
nach: v. Münch, S. 101):
Artikel 1: Freiere Stellung des Richters
1. Rechtsschöpfung durch entsprechende
Anwendung der Strafgesetze
a) In die Strafprozeßordnung werden als § 170
a und als § 267 a folgende Vorschriften eingefügt:
§ 170 a
Ist eine Tat, die nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung
verdient, im Gesetz nicht für strafbar erklärt,
so hat die Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob auf
die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft
und ob durch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes
der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann (§
2 des Strafgesetzbuches).
§ 267 a
Ergibt die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte
eine Tat begangen hat, die nach gesundem Volksempfinden
Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht für
strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen,
ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes
zutrifft und ob durch entsprechende Anwendung dieses
Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siege verholfen
werden kann (§ 2 des Strafgesetzbuches).
§ 265 Abs. 1 gilt entsprechend.
Ein anderes Beispiel für die Unbestimmtheit der
NSGesetze stellt die am 5.9.1939 erlassene Verordnung
gegen Volksschädlinge dar, die Straftatbestände
wie "Verbrechen bei Fliegergefahr" oder "sonstige"
Verbrechen und Vergehen, die "vorsätzlich
unter Ausnutzung durch den Kriegszustand verursachter
Verhältnisse" begangen wurden, einführte
und die unter anderem mit dem Tode bestraft werden
konnten, ohne sich näher um tatbestandliche Abgrenzungen
zu bemühen. (Angermund, S. 202 f.) Gesetze dieser
Art ließen einen weiten richterlichen Ermessensspielraum
schon bei der Tatbestandsfeststellung: Insofern können
die Urteile, die einzelnen Richter auf der Grundlage
dieser Gesetze gefällt haben, auch nicht mit einer
rechtspositivistischen Haltung erklärt und schon
gar nicht gerechtfertigt werden. Sie sind vielmehr
Ausdruck einer substantiellen "völkischen"
Phrasenhaftigkeit und einer dezisionistischen Beliebigkeit
des Führerwillens.
b) Die Umdeutung vornationalsozialistischen Rechts
aa) Zur Handlangerfunktion des Rechtsstabes bei der
Schöpfung der "völkischen" Rechtsordnung
In vielen Kernbereichen der Rechtsordnung, insbesondere
im Privatrecht, blieb es bei den Vorschriften, die
bereits in der Weimarer Zeit in Kraft waren. (Ott, S.
218) Sie sollten von der Richterschaft unter den Aspekten
der neuen politischen Wertvorstellungen von Fall zu
Fall überprüft und je nach der Vereinbarkeit
mit nationalsozialistischen Wertvorstellungen angewandt,
als obsolet zurückgewiesen oder umgedeutet werden
können. Diese von Bernd Rüthers festgestellten
Umwertungsinstrumente (Rüthers, Entartetes Recht,
S. 22 ff.) mit entsprechenden Nachweisen entsprechen
dabei genau dem oben genannten Legitimationsmuster
des substantiellen Dezisionismus: das alte Recht stand
unter dem Vorbehalt der "völkischen"
Idee und des Führerprinzips also der neuen Rechtsquellenlehre.
(vgl. Rüthers, Entartetes Recht, S. 31)
Die Aufgabe, eine "völkische" Rechtsordnung
zu schaffen, fiel also weitgehend in den Aufgabenbereich
der Richterschaft, war doch die NSRegierung angesichts
der gesetzgeberischen Unfähigkeit oder Unwilligkeit
kaum in der Lage, ihre rechtspolitischen Ziele allein
durchzusetzen.
Entsprechend verwiesen die Justizideologen des "Dritten
Reiches" immer wieder auf die besondere Rolle,
die den Richtern für die Durchsetzung des nationalsozialistischen
Gedankenguts zufiel. (Diederichsen, S. 249)
Roland Freisler (1893-1945), der offizielle ParteiJurist
der Nationalsozialisten, führte 1938 in diesem
Sinne aus: "Eine Vermengung der Richterstellung
mit der politischen Stellungnahme findet also statt.
Aber wir sehen darin keine Gefahr, sondern eine Selbstverständlichkeit:
die Voraussetzung, die das Richtertum selbst schaffen
muß, damit es an die Erfüllung seiner Aufgaben
im nationalsozialistischen Reich überhaupt mit
Aussicht auf Erfolg herangehen kann. Solche bestimmte
innere Ausrichtung und ihre Bestätigung nach außen
vom Richter verlangen, heißt auch gar nicht,
ihn zu vergewaltigen; von Vergewaltigung kann schon
rein äußerlich deshalb nicht die Rede sein,
weil ja niemand gezwungen ist, Beamter und insbesondere
Richter des Dritten Reiches zu werden oder zu bleiben."
(Freisler, S. 92) Der Richter dürfe bei seiner Tätigkeit
"nichts anders wollen, als innerhalb seiner Funktion
den von der politischen Führung und sonstwie herausgestellten
politisch ferneren und näheren Gesamt- und Teilzielen
näherzukommen suchen." (Freisler, S. 93) "Freisler,
der wegen seines energischen Eintretens für die
rechtspolitischen Ziele des NSStaates bald höchste
Publizität erreichte und Ansehen genoß,
trug wesentlich zur Gleichschaltung, der deutschen
Justiz und zur Ideologisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts
bei. In einer Fülle von Publikationen forderte
er die Aufgabe des liberalen Rechtsstaates zugunsten
einer 'völkischen Rechtsordnung im Einklang von
Recht und Sitte, Recht und Moral'. Anstelle des Gesetzesbegriffs
als Quelle aller Jurisdiktion postulierte die neue
Rechtsordnung die völkische Gemeinschaft zur ausschließlichen
und übergesetzlichen Rechtsquelle. Die Frage 'Wie
würde der Führer in diesem Fall entscheiden?',
als Prinzip aller richterlichen Urteilsbildung von
Freisler gefordert, machte den Willen des Führers
zur höchsten normgebenden Kraft der Rechtsordnung.
Die im Reichsjustizministerium seit 1942 intensiv vorangetriebene
'Große Justizreform' sollte diesem Grundsatz
Rechnung tragen und den Richter verfahrensrechtlich
zum 'Vollstrecker des Führerwillens' umwerten
und die richterliche Unabhängigkeit beseitigen."
(Ingmar Kurt Ahl in Juristen, S. 217 f.)
Das verlangte von der Richterschaft in vielen Fällen
eine Abkehr von der Bindung an den Wortlaut des Gesetzes.
Auch die Art und Weise, wie sie die Aufgabe der Umwertung
des alten Rechts bewältigt hat, läßt
sich nicht mehr als rechtspositivistisch, geschweige
denn gesetzespositivistisch bezeichnen.
bb) Das Beispiel der Mischehen
Angermund demonstriert diesen Prozeß am Beispiel
der Legitimierung von "arisch"jüdischen
Mischehen durch die Gerichte: Mischehen galten den
Nationalsozialisten als "Rassenschande",
ihre Trennung war insofern "rassenpolitisch"
erwünscht. Schon im Frühjahr 1933 mußten
sich die deutschen Richter mit solchen Eheanfechtungsklagen
auseinandersetzen, nur gab es zu diesem Zeitpunkt keine
gesetzliche Grundlage dafür: "In den Gesetzen
gab es 1933 jedoch weder den Begriff der "Rassenschande"
oder des "Rassenverrats" noch irgendeine
rechtliche Handhabe, um Ehen aus rassischen Gründen
anzufechten." (Angermund, S. 109) Die einzige Möglichkeit
schien die "völkische" Umdeutung des
§ 1333 BGB, danach sollten Eheanfechtungen wegen eines
"Irrtums" über "persönliche
Eigenschaften" des Ehepartners in Frage kommen.
Das in diesen Fällen zusätzlich auftretende
Problem einer nur sechsmonatigen Anfechtungsfrist und
die Kenntnis des "arischen" Ehepartners über
die "Rassenzugehörigkeit" des Partners
bei der Eheschließung sollten dadurch aus dem
Weg geräumt werden, daß wie der Karlsruher
Rechtsanwalt Herbert Schneider 1934 in der Juristischen
Wochenschrift schrieb es einem Deutschen, bevor er
nicht durch die nationalsozialistische Machtübernahme
über die "wahre" Bedeutung des "Rassenunterschieds"
aufgeklärt wurde, unmöglich gewesen sei,
diesen Irrtum zu erkennen. (wiedergegeben nach: Angermund,
S. 113)
Die Entscheidungsgründe des in einem solchen Fall
urteilenden OLG Karlsruhe lassen sich aus der Entscheidung
des Reichsgerichts rekonstruieren: "Man habe erst
neuerdings erkannt, daß die jüdische Rasse
hinsichtlich des Blutes, des Charakters und der ganzen
Lebensauffassung von der arischen Rasse völlig
verschieden sei und deshalb eine Verbindung und Paarung
eines Ariers mit einer Jüdin für jenen nicht
nur nicht wünschenswert, sondern verderblich,
ja widernatürlich sei." (RGZ 145, 1/3)
Obwohl die Trennung der sogenannten Mischehen in der
Richterschaft allgemein bejaht wurde, (Angermund, S.
116; vgl. Diederichsen, S. 268 ff.) herrschte aufgrund
der fehlenden gesetzlichen Grundlage zunächst
noch eine gewisse Unsicherheit, wie solche Fälle
zu behandeln seien, was sich 1933 in äußerst
unterschiedlichen Urteilen der mit diesen Eheanfechtungsklagen
befaßten Gerichte niederschlug. (siehe die Nachweise
bei Angermund, S. 113 ff.) In der Argumentation des
Reichsgerichts, das 1934 in einem Revisionsverfahren
erstmals über dieses Problem zu urteilen hatte
(RGZ 145, 1 ff.), ist diese Unsicherheit ebenfalls deutlich
zu erkennen: Während auch hier die Trennung solcher
Mischehen grundsätzlich befürwortet wird,
mahnen die Richter angesichts der Gesetzeslage die
Gerichte zur Zurückhaltung und fordern den nationalsozialistischen
Gesetzgeber auf, in dieser Richtung tätig zu werden.
(RGZ 145, 1/5 f.; vgl. Diederichsen, S. 269 f.)
In den unteren Instanzen fanden diese gesetzespositivistischen
Ermahnungen erstaunlicherweise kaum Gehör: Die
Gerichte "ignorierten zumeist ganz entgegen der
im Rechtswesen üblichen Gepflogenheit, sich eng
an den Spruch der übergeordneten Instanz zu halten
die moderaten reichsgerichtlichen Richtlinien"
Angermund, S. 118 und betrieben nach 1934, ohne sich
um die Gesetzesbindung des Richters zu scheren, zunehmend
eine extensive "rassengesetzliche" Auslegung
des BGB. (Angermund, S. 118 f.) Schließlich schwenkte
auch das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung um
und fällte am 2.5.1938 ein Urteil, "das nur
als das Bemühen gewertet werden kann, den NSGesetzgeber
an Rassenbewußtsein zu übertreffen"
(Angermund, Die geprellten "Richterkönige",
S. 320), indem es die Anfechtung einer bereits seit
1919 bestehenden Ehe mit einem Partner, der nur einen
jüdischen Großelternteil in seinem Stammbaum
hatte, bestätigte, obwohl Personen mit einem jüdischen
Großelternteil selbst nach dem "Blutschutzgesetz"
vom 15. September 1935 keinerlei Heiratsbeschränkungen
unterlagen (vgl. im Umkehrschluß § 1 des Gesetzes
zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen
Ehre und § 3 Abs. 1 der ersten Verordnung zur Ausführung
des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre).
cc) Schlußfolgerung
Anhand dieser und anderer Beispiele muß mit Angermund
die Ausgangsthese, daß die Richter wesentlich
zur Ausgestaltung der "völkischen" Rechtsordnung
beitrugen und ihre Befugnisse nach einem gesetzespositivistischen
Verständnis weit überschritten, bejaht werden:
"Die hier skizzierte Rechtsprechung gegen Juden
läßt sich nicht mit einem rechtspositivistischen,
unkritischen Gehorsam gegenüber dem staatlichen
Gesetz erklären. Auch der Hinweis auf die 'Fernwirkung'
antisemitischer Gesetze und auf den NS'Zeitgeist'
also die These, die Richterschaft habe lediglich gesellschaftlich
allgemein akzeptierte Vorstellungen in die Tat umgesetzt
trägt nicht. Sowohl die Gesetzeslage als auch
der 'Zeitgeist' waren zweifellos antisemitisch, aber
in den praktischen Fragen der rechtlichen Behandlung
von Juden waren sie dennoch vielfach unklar und widersprüchlich.
Die Rechtsprechung setzte mithin nicht nur ihr vom
Gesetzgeber bzw. vom gesellschaftlichen Umfeld vorgegebene
Gesetze um, sondern war wesentlich an der Formulierung
'rassengesetzlicher' Rechtsvorstellungen beteiligt.
Mit ihren Urteilen, in denen die Richter sich verschiedentlich
offenbar an Antisemitismus gegenseitig zu übertreffen
suchten, füllten die Gerichte trotz gemäßigterer
Handlungsalternativen wesentliche Lücken des NSRassenrechts
und weiteten die bestehenden Gesetze an eine schon
vor 1933 bestehende antisemitische Grundhaltung anknüpfend
zuungunsten der Juden aus. Für den 'bürgerlichen
Tod' der Juden in Deutschland trugen sie damit maßgebliche
Verantwortung." (Angermund, S. 124 f.)
Auch das dagegen angeführte Argument der Quantitäten
ist nicht stichhaltig von 1500 Reichsgerichtsentscheidungen
jener Jahre seien nur etwa 125 nachweisbar nationalsozialistisch
beeinflußt gewesen. (Rüthers, Entartetes
Recht, S. 30 f.) Daß weit mehr unpolitische als
erkennbar nationalsozialistisch beeinflußte Urteile
ergangen sind, beruht auf der schlichten Tatsache,
daß auch zwischen 1933 und 1945 tausende von
Alltagsstreitigkeiten entschieden wurden; vgl. Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/384 so gab es "normale"
gesetzliche Entscheidungen etwa über Nachbarrecht,
Verkehrsunfälle oder Mängelrügen. (Rüthers,
Entartetes Recht, S. 31)
3. Fazit aus der antipositivistischen Haltung der Nationalsozialisten
Die zweite Voraussetzung der Radbruchschen Positivismusthese
ist, daß während des Nationalsozialismus
eine strenge positivistische Rechtsauffassung fortbestand,
die die Richterschaft zu einem blinden, willenlosen
Gehorsam gegenüber einer unzweideutig bindenden
Normenordnung verpflichtete. (vgl. Lecheler, S. 12) Wenn
aber der Positivismus zu den eindeutigen NegativFormeln
des Nationalsozialismus zählt, stellt sich mit
Hubert Rottleuthner die Frage: "Sollte dann die
antipositivistische Propaganda der Nazis die angeblichen
JuristenPositivisten wehrlos gemacht haben?" (Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/383; vgl. auch Rottleuthner,
S. 21)
Nein. Der nationalsozialistische Staat schaffte das,
was die Weimarer Republik und der demokratische Gesetzespositivismus
nicht erreichen konnten: Die Konformität des Rechtsstabes
mit dem Gesetzgeber bzw. Regierung.
Die richtige Frage lautet also: Unter welchen Voraussetzungen
und mit welchen Mechanismen konnte gerade dieser Unrechtsstaat
die Richterschaft gewinnen und halten?
III. Voraussetzungen und Mechanismen zur Sicherung der
Konformität des Rechtsstabes
Nachdem die anti(gesetzes)positivistische Einstellung
des Juristenstandes vor und nach 1933 festgestellt
worden ist, bleibt von der Radbruchschen These nur
noch die TeilThese von der "Wehrlosigkeit"
der Juristen in dem Sinne, daß sie zu schwach
waren, um mit ihrem Gewissen oder ihren rechtsphilosophischen
Überzeugungen (falls sie solche hatten) gegen
den Gesetzgeber aufzutreten. (vgl. Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/383)
1. Die politische Affinität des Rechtsstabes
(vgl.
auch S. 69 ff. (dieser Arbeit); vgl. Rottleuthner,
S. 22 f.)
Die den Juristen nach 1945 zur SelbstRechtfertigung
unterstellte Wertblindheit entpuppte sich schon als
RadbruchLegende: die Juristen befanden sich im Gegenteil
in einem wahren Wertetaumel angesichts eines "deutschen
Rechtsstaates Adolf Hitlers" (Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/383 (vgl. S. 87 ff.)).
Auch die OpferThese erweist sich bei genaueren Hinsehen
als haltlos: "Statt Wehrlosigkeit finden wir Anbiederungsversuche
in Form von Loyalitätserklärungen seitens
des Vorstandes des Deutschen Richterbundes (bereits
am 19.3.1933, vier Tage vor Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes)
und eine gehässige Erleichterung angesichts der
Auflösung des Republikanischen Richterbundes [in
dem sich demokratischrepubliktreue Richter zusammengeschlossen
hatten]." (Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987,
373/383) Entsprechend gab es auch keine Proteste bei
der Einrichtung von Sondergerichten (Verordnung vom
31.3.1933), bei Pogromen gegen jüdische Juristen
(besonders am 1.4.1933), gegen das Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufbeamtentums (vom 7.4.1933), die Beseitigung
der Gewerkschaften im Mai 1933 und die Auflösung
der übrigen Parteien im Juli 1933. (Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/383)
Aber entscheidend für die Konformität des
Rechtsstabes war ihre überwiegende politische
Affinität ihre autoritärnationalkonservative
Einstellung. "Statt Wehrlosigkeit sollte man eher
von Widerspruchslosigkeit reden Widerspruchslosigkeit
aufgrund von Sympathie, Einverständnis oder 'um
schlimmeres zu verhindern'. 'Die Feststellung, daß
die Mehrheit der Richter im "Dritten Reich"
den neuen Machthabern zunächst beflissen, später
vielleicht bedrückt, aber gleichwohl ergeben,
insgesamt jedenfalls praktisch widerspruchslos gedient
hat, ist nicht zu umgehen.'" (Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/384)
Die Beflissenheit, die "überschießende
Innentendenz", bei der Anwendung "völkischer"
Rechtsideale wurde am Beispiel der Mischehen schon
gezeigt (vgl. S. 93 ff.).
2. Staatliche Eingriffe in die Justiz Maßnahmen
zur Sicherung der Konformität des Rechtsstabes
Der Erlaß neuer Normen reichte zur politisch erwünschten
Steuerung des Rechtsstabes ebensowenig wie seine angeblich
positivistische Einstellung. Auch auf die politische
Affinität wollten sich die neuen Machthaber nicht
allein verlassen. (Rottleuthner, Demokratie und Recht
1987, 373/384) Damit die Rechtsanwendung wirklich dem
neuen Geist entsprach, wurden folgende Kontroll- und
Steuerungsmaßnahmen ergriffen (zusammengestellt
nach: Rottleuthner, S. 24 f.):
- Zunächst personalpolitische Maßnahmen: die
Entlassung jüdischer und politisch mißliebiger
Beamter und Richter insbesondere durch das Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933
(die Schätzung der Zahl der ausgestoßenen
Personen schwankt je nach Berufsgruppe zwischen 1040%)
(Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987, 373/384), Versetzungen,
Neuernennungen.
- Änderungen der Gerichtsorganisation (Schaffung
von Sondergerichten durch die Verordnung vom 31.3.1933
und anderen neuen Gerichtsbarkeiten, Verreichlichung
der Justiz, Entzug von Kompetenzen, Schaffung neuer
Stellen außerhalb der Justiz, z.B. Treuhänder
der Arbeit).
- Neuordnung des Ausbildungs- und Prüfungswesens,
Schulungslager.
- Die Gleichstellung der Standesorganisationen im BNSDJ
(ab April 1936: NSRB), die Schaffung der Deutschen
Rechtsfront, der Akademie für Deutsches Recht;
Veranstaltung von Juristentagen in neuer Form.
- Die Übernahme der Fachpublikationen und ihre Überwachung
(z.B. das Amt für Rechtsschrifttum im Reichsrechtsamt
der NSDAP); Veröffentlichung autoritativer Leitartikel.
- ParteiInterventionen; anfänglich auch 'wilde Säuberungen'
durch die SA; Urteilskritiken in Parteiblättern.
- Urteils'Korrekturen' durch die Polizei und SS; Bespitzelung
durch den SD; Schutzhaft vor und anstatt eines Gerichtsverfahrens.
- Zunehmende Steuerung durch die Justizverwaltung (von
den Gerichtspräsidenten bis zum Reichsjustizminister),
z.B. über die Staatsanwälte (ab 1941 auch
in Zivilsachen), außerordentlicher Einspruch,
außerordentliche Wiederaufnahme (16.9.1939),
Nichtigkeitsbeschwerde, Richterbriefe (1.10.19421.12.1944),Vor-/Nachschau
- Urteilskorrekturen durch Hitler selbst; Blanko-Vollmacht
am 26.4.1942
* Und hier die Maßnahmen zur Sicherung der Konformität
des Rechtsstabes nocheinmal in graphischer Darstellung
(wiedergegeben nach: Rottleuthner, Demokratie und Recht
1987, 373/385).
Um wieder das Argument der politischen Affinität
aufzugreifen und die Konformität der Richterschaft
mit dem NSRegime zu beweisen, müssen wir uns ferner
fragen, ob sich der Rechtsstab gegenüber diesen
Einflußnahmen vor allem seitens anderer Juristen
zur Wehr gesetzt hat. Hubert Rottleuthner kommt, aufgrund
einer kritischen Sekundäranalyse der Dokumentation
von Schorn (1959), zu dem Ergebnis, daß letztendlich
nur 121 Fälle mitgeteilt werden, in denen sowohl
das inkriminierte Handeln von Mitgliedern der ordentlichen
und der Verwaltungsgerichtsbarkeit als auch die gegen
sie verhängten Sanktionen bekannt sind. Dabei
ergibt sich folgende Verteilung (zusammengestellt nach
Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987, 373/385) :
Sanktionen
| inkriminiertes Handeln
|
| dienstlich
| außerdienstlich |
Rüge, Ermahnung, An- griffe in der Presse
| 18
| 10 |
Beförderungsverzögerung
| 5
| 17 |
Degradierung
| 2
| 2 |
Versetzung an ein anderes
Gericht oder eine andere Abteilung
| 17
| 15 |
Versetzung in den Ruhestand
| 9
| 18 |
Sonstiges
| 3
| 4 |
1936 werden insgesamt 10254 Richter der ordentlichen
Gerichtsbarkeit gezählt; für den 1.1.1942
gibt das Handbuch der Justizverwaltung für das
Deutsche Reich einschließlich Österreichs
eine Anzahl von 14048 Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit
bekannt. (Werte zitiert nach: Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/386)
Nur etwa 1 bis 2% des Rechtsstabes verhielten sich also
nicht durchgehend konform mit dem NSRegime; die erdrückende
Mehrheit von 98 bis 99% hat sich gegen staatliche Eingriffe
nicht auffällig gewehrt. Aber kann man Heroismus
von jemanden erwarten, der sich selbst konform fühlte?
Ein Rechtsanwalt Seydel brachte die Funktionstüchtigkeit
des Rechtsstabes 1942 auf den Punkt: "Trotz des
Mißbrauchs in der Systemzeit war die Berufsgruppe
der Richter im Kern gesund und nach Ausscheiden der
Juden und ungeeigneter Kräfte für den neuen
Staat voll einsatzfähig." (zitiert nach: Rottleuthner,
Demokratie und Recht 1987, 373/386)
3. Verunsicherung als programmierte Folge
(vgl. auch:
Rüthers, Entartetes Recht, S. 28 ff.)
Das Phänomen der gewollten Strukturlosigkeit und
des Kompetenzwirrwars des NS-Systems, (siehe die Nachweise
bei: Rottleuthner, S. 29 in der Fußnote 30) das
auf der Divise "divide et impera" aufbaute,
spiegelt sich in der "völkischen" Rechtsordnung
wieder: in der unbestimmten Rechtsquellenlehre, der
Unklarheit über den Rang der Rechtsquellen (Fortgeltung
des alten Rechts, insbesondere der Weimarer Verfassung,
Rolle des NSDAPProgramms und von FührerÄußerungen)
und in den permanenten Eingriffen in den originären
Rechtsprechungsbereich durch vorgängige und nachträgliche
Maßnahmen von Parteistellen, Polizei, Gestapo
und SS. (vgl. Rottleuthner, S. 29) Dem entspricht in
der nationalsozialistischen Rechtsphilosophie eine
substantiell überhöhte normative Bindung,
die aber stets vom Führerprinzip beiseite gedrückt
werden kann. Die Substanz steht unter dem Vorbehalt
der Dezision (vgl. S. 88 f.). Hier wird nicht nur das
Gesetz durch die politische Führung instrumentalisiert
(wie im Gesetzespositivismus), sondern auch die Justiz
selbst.
Die oben aufgeführten Kontroll- und Steuerungsmechanismen,
einschließlich der Rechtsphilosophie vom substantiellen
Dezisionismus, dienen der Erzeugung einer hochgradigen
Ambivalenz und Verunsicherung innerhalb des Rechtsstabes;
sie suggerieren feste Orientierung, liefern aber letztlich
nur den politischen Interventionen aus. (vgl. Rottleuthner,
S. 30) Auch der klägliche Vorsatz mitzumachen,
um schlimmeres zu verhüten, verunsichert, muß
man doch fortwährend mit der Frage leben, wie
lange man noch mitmachen kann.
"Sozialpsychologische Erkenntnisse über die
Funktion von Verunsicherungen können für
die Lösung unseres Bezugsproblems fruchtbar gemacht
werden: Die Konformität des Rechtsstabes stellte
sich nicht allein durch die weltanschauliche Affinität
oder durch irgendeine instrumentalisierbare rechtstheoretische
Eigenschaftslosigkeit her; es gibt auch so etwas wie
eine Konformität durch Verunsicherung." (Rottleuthner,
S. 30) Dies ist eine der Techniken totalitärer
Systeme, wie sie Hannah Arendt (19061975) in ihrer
Publikation >>Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft<< (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft, Antisemitismus/Imperialismus/Totalitarismus,
zuerst 1951, dt. 1955, München/Zürich 1986)
beschrieben hat.
4. Zusammenfassung des Erklärungsmusters
Das Verhalten des Juristenstandes zu "Gesetzen
willkürlichen und verbrecherischen Inhalts"
läßt sich erklären mit der ideologischen
Affinität des Rechtsstabes, den staatlichen Kontroll-
und Steuerungsmechanismen und der allgemeinen Verunsicherung
der Richter, Juristen und Beamten. Das gegenseitige
Mißtrauen, die Angst, nicht genug ideologiekonform
zu sein, findet seine Beschreibung im substantiellen
Dezisionismus. Die Substanz entsprach der eigenen politischen
Affinität, die jedoch unter der ständigen
Bedrohung mit der fremden Dezision, der umfassenden
Macht des NSRegimes, stand. Die Kontroll- und Steuerungsmechanismen,
die Drohung mit Eingriff und Beschränkung, Polizei,
Gestapo und SS bleiben der Garant für einen geäußerten
Einklang und für dauernde Konformität des
Rechtsstabes.
Das rechtsphilosophische, antipositivistische Legitimationsmuster
fand seine Entsprechung in der Rechtsrealität.
Die stetige Entwicklung des Rechts sollte auch in der
Zeit des Nationalsozialismus als Wechselwirkung von
Theorie und Praxis aufgefaßt werden.
IV. Schlußbemerkung
Die PositivismusThese Radbruchs ist weitgehend falsch.
Sein vereinfachtes Erklärungsmuster, der Rechtspositivismus
insgesamt und der Gesetzespositivismus im besonderen
genaugenommen müßte man im Falle Radbruchs
nur von Gesetzespositivismus sprechen (vgl. zum Unterschied
von Rechtspositivismus und Gesetzespositivismus, S.
47 ff. u. 69 ff.) seien schuld wird der komplexen
Materie nicht gerecht: Der Rechtspositivismus war weder
der Steigbügelhalter des Nationalsozialismus noch
sein willfähriger Handlanger. Möglich wurde
die Rechtsentwicklung im "Dritten Reich"
durch die Instrumentalisierbarkeit des Juristenstandes
im Sinne einer nationalsozialistischen Ideologie, zu
der insbesondere der Rechtsstab eine beträchtliche
politische Affinität aufwies. (vgl. Dreier, S.
134)
Auch das durch Radbruch zu neuen Ehren gelangte Naturrecht
kann zur Bewältigung nationalsozialistischen Unrechts
wenig beitragen, denn der Rekurs auf das Naturrecht
stand prinzipiell auch den Nationalsozialisten offen,
ist also selbst genauso instrumentalisierbar wie der
Gesetzespositivsmus. Normen, die nach ihrem Regelungsgehalt
kaum eine Grenze zu kennen und damit der autoritären
Variante des Rechtspositivismus nahezukommen scheinen,
wurden nicht mit "blanker Macht" durchgesetzt,
sondern mit einem hohen Legitimationsaufwand versehen
und mitunter von naturrechtlichen Anleihen begleitet.
"Denn naiv wäre es ein Naturrecht zu bemühen,
wenn auch die Nazis sich auf ihres berufen haben; die
Gerechtigkeit zu beschwören, wo kaum ein Spruch
von den Nazis so häufig benutzt wurde wie 'iustitia
fundamentum regnorum'; die Rechtsstaatlichkeit wieder
errichten zu wollen, ohne zu bedenken, was die Nazis
unter dem 'Rechtsstaat Adolf Hitlers' verstanden haben.
Unser heutiges Gerechtigkeitsempfinden kann man nicht
einfach gegen das damalige "gesunde Rechtsempfinden"
ausspielen mit dem Zusatz, daß dieses "eigentlich"
gar nicht gesund gewesen sei." (Rottleuthner, Demokratie
und Recht 1987, 373/390)
Statt den Rechtspositivismus (insbesondere den Gesetzespositivismus)
verantwortlich zu machen, wäre es umgekehrt möglich,
gerade vom Boden des Rechtspositivismus aus große
Bereiche der Praxis und Organisation von Gesetzgebung
und Justiz, die "völkische" Rechtsordnung
Adolf Hitlers, zu verwerfen. So trifft die in der Radbruchschen
Formel enthaltene Behauptung, das NS-Unrecht sei in
Gesetzesform aufgetreten, gerade in einer ganz entscheidenden
Hinsicht nicht zu: Die massenhafte Vernichtung der
Juden war durch kein positives Gesetz gedeckt. Gerade,
wenn sich die deutsche Justiz im Nationalsozialismus
gesetzespositivistisch verhalten hätte, wie ihr
von Radbruch vorgeworfen wird, dann hätte sie
Unrechtstäter als Mörder verurteilen und
dem SS-Staat in die Arme fallen müssen, was freilich
machtpolitisch nicht möglich gewesen wäre.
Nichts zeigt besser, daß die von Radbruch ausgelöste
Diskussion eine Scheindiskussion war, die den Kern
des Problems nicht nur nicht traf, sondern eher verschleierte.
So ließe sich weiterhin von einem rechtspositivistischen
Standpunkt aus, folgendes in der nationalsozialistischen
Gesetzgebung kritisieren (zusammengestellt nach: Rottleuthner,
Demokratie und Rechts 1987, 373/388 f. mit weiteren
Nachweisen):
Die fehlende Klärung der Rechtsquellen; ein legislatives
KompetenzenChaos; eine unklare Veröffentlichungspraxis.
Der Erlaß rückwirkender Gesetze; die nachträgliche
gesetzliche Rechtfertigung (wie durch das Gesetz über
Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3.7.1934; vgl.
dazu die Resolution eines bayrischen Richters, der
mit rechtspositivistischen Argumenten das Staatsnotwehrgesetz
ablehnte, in: VfZ 1957, 102 ff.).
Alternativfeststellung und die Aufhebung des Analogieverbots
im Strafrecht.
Der Erlaß äußerst unbestimmter Gesetze.
In der Rechtsprechung ließe sich folgendes kritisieren
(zusammengestellt nach: Rottleuthner, Demokratie und
Rechts 1987, 373/389 mit weiteren Nachweisen)
Organisatorische Durchbrechung des Prinzips des gesetzlichen
Richters (z.B. am Volksgerichtshof 1942/43).
Der Abbau verfahrensrechtlicher Schutzpositionen des
Angeklagten.
Die widersprüchlichen Kompetenzen von Justiz und
Polizei (Urteils-'Korrekturen' durch die Gestapo).
Die gezielte Nutzung von AuslegungsSpielräumen.
Die NichtVerfolgung abweichenden Verhaltens, auch von
staatlichen Organen; die Zuschauerhaltung der staatlichen
Behörden gerade in den ersten Monaten des neuen
Regimes.
Die übereifrige Verletzung geltender Normen (z.B.
Anwendung von Gesetzen vor deren Inkrafttreten).
Mit einer positivistischen Kritik des Nationalsozialismus
kommt man also schon ziemlich weit. Man könnte
Gustav Radbruch von einem rechtstheoretischen Standpunkt
aus entgegnen, daß der Positivismus als herrschende
Rechtsphilosophie und Rechtslehre weitgehend in der
Lage gewesen wäre, nationalsozialistisches Unrecht
zu verhindern. Insbesondere die Durchsetzung der Radbruchschen
Forderung nach Rechtssicherheit hätte das legislative
Chaos zu verhindern gewußt.
Gegenüber zwei Phänomenen hätten allerdings
auch positivistische Standards versagt (wiedergegeben
nach: Rottleuthner, Demokratie und Rechts 1987, 373/389
f.)
1. Eine, besonders während des Krieges, zunehmende
terroristische JustizPraxis, in der Abweichungen exzessiv,
oft mit dem Tode bestraft wurden mit der Rechtfertigung,
daß das für das "Überleben des
deutschen Volkes" notwendig sei. Wo beginnt der
Exzeß? Und wer anders als der Sieger kann die
Grenze bestimmen?
2. Die Gesetzgebung gegen Juden und andere "Fremdvölkische"
zeichnete sich durch erstaunliche Präzision aus.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Definition
von Personen "nichtarischer Abstammung" wurden
sukzessive in Verordnungen die administrativen Kriterien
einer angeblich naturhaften Eigenschaft festgelegt.
Diese Gesetze sind mit rechtspositivistischen Maßstäben
nicht zu kritisieren. Als Beispiel soll eine spätere
Vorschrift dienen, die schon von einer exakten Definition
von Personen "nichtarischer Abstammung" ausgeht
die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung
der Juden vom 1. September 1941 (zitiert nach: v. Münch,
S. 139 f.)
§ 1.
(1) Juden (§ 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz
vom 14. November 1935), die das sechste Lebensjahr
vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit
ohne einen Judenstern zu zeigen.
(2) Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen,
schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit
der Aufschrift "Jude". Er ist sichtbar auf
der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest
aufgenäht zu tragen.
§ 2. Juden ist es verboten,a) den Bereich ihrer Wohngemeinde
zu verlassen, ohne eine schriftliche Erlaubnis der
Ortspolizeibehörde bei sich zu führen;b)
Orden, Ehrenzeichen und sonstige Abzeichen zu tragen.
§ 3. Die §§ 1 und 2 finden keine Anwendunga) auf den
in einer Mischehe lebenden jüdischen Ehegatten,
sofern Abkömmlinge aus der Ehe vorhanden sind
und diese nicht als Juden gelten, und zwar auch dann,
wenn die Ehe nicht mehr besteht oder der einzige Sohn
im gegenwärtigen Kriege gefallen ist;b) auf die
jüdische Ehefrau bei kinderloser Mischehe während
der Dauer der Ehe.
§ 4. (1) Wer dem Verbot der §§ 1 und 2 vorsätzlich
oder fahrlässig zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe
bis zu 150 Reichsmark oder mit Haft bis zu sechs Wochen
bestraft.
(2) Weitergehende polizeiliche Sicherungsmaßnahmen
sowie Strafvorschriften, nach denen eine höhere
Strafe verwirkt ist, bleiben unberührt.
Allerdings scheint mir eine Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie
weder entscheidend schuldig noch besonders hilfreich
bei der Verhinderung gesetzlichen Unrechts in der Rechtspraxis
zu sein. Unklar an der Radbruchschen Fragestellung
bleibt auch, von wessen rechtsphilosophischen oder
ethischen Standpunkt aus Recht als gesetzliches Unrecht
zu qualifizieren sei. Hätte Deutschland nicht
den Zweiten Weltkrieg verloren, wäre der "Deutsche
Rechtsstaat Adolf Hitlers" möglicherweise
das Werteideal des deutschen Juristenstandes geblieben.
Verdankt sich unsere Überzeugung, auf einem höheren
Rechtsniveau als die Nazis zu stehen, im Kern nur dem
Sieg der Alliierten? Dann hätte nicht die Revitalisierung
des Naturrechts nach 1945 den Nationalsozialismus "überwunden",
sondern es wären die alliierten Maßnahmen,
die dauerhafte Einrichtung einer bislang stabilen demokratischen
Struktur und der wirtschaftliche Aufschwung gewesen.
(vgl. Rottleuthner, Demokratie und Recht 1987, 373/391)
Der Glaube an die Nichtverfügbarkeit von Werten,
Normen und der Verfassung kann den Menschen zwar vorübergehend
in seiner Handlungsbereitschaft beeinflussen, aber
niemals endgültig an eine bestehende Ordnung binden.
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