Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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VORWORT

Wenn nicht an der Machtfrage, dann ist noch jede sozialrevolutionäre Be-
wegung an ihrem Unvermögen gescheitert, ökonomische Probleme zu lö-
sen und eine blühende Volkswirtschaft zu entfalten. In diesem Buch soll
eine Alternative sowohl zum Privatkapitalismus der Liberalen, wie zum
Staatskapitalismus der Marxisten vorgestellt werden: das anarchistische
Konzept einer Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Es kommt von dem
Zins- und Kredittheoretiker Pierre Joseph Proudhon her und führt über
die Geld- und Bodenlehre Silvio Gesells geradewegs zu einem weitge-
hend totgeschwiegenen Ansatz einer nicht-kapitalistischen Vollbetriebs-
wirtschaft mit begrenztem Wachstum und einem alternativen IWF-Kon-
zept bei John Maynard Keynes. In diesem Buch steht die Lehre Gesells im
Mittelpunkt. Sie ist, wie wir sehen werden, von nicht zu unterschätzender
Bedeutung für die Lösung der aktuellen Probleme Konjunkturkrise und
Arbeitslosigkeit, exponetielles Wachsstum und Kapitalkonzentration,
Verschuldung und Ausbeutung. Mit seiner Geld- und Zinstheorie hat Ge-
sell das geleistet, wozu Marx nicht im Stande war: die Ursachen für Aus-
beutung und Krisen in der Zirkulationssphäre aufzudecken, in jenem Be-
reich also, den Marx für sekundär hielt, der jedoch die Produktionssphäre
der modernen Volkswirtschaft immer mehr durchdringt, überwuchert
und beherrscht. Hier klafft eine gewaltige Lücke im Ökonomieverständ-
nis der Alternativen und der Neuen Linken - eine fatale Erbschaft aus
der Tradition der produktionsfixierten alten Linken.
Über ihr libertär-antikapitalistisches Volkswirtschaftskonzept hinaus,
hatten Gesell und seine Genossinnen und Genossen die Idee eines matri-
stischen Bodenrechts entwickelt. Es ermöglicht einerseits die Überwin-
dung feudaler und halbfeudaler Bodenrechtsverhältnisse, was besonders
wichtig ist für die Lösung der Bodenprobleme in der Dritten Welt, aber
auch in den Industrieländern und der Agrarprobleme im "realen Sozialis-
mus"; andererseits ermöglicht es eine Entlastung der Mütter von der ma-
teriellen Abhängigkeit von den Vätern ihrer Kinder und den Almosen des
Staates - ein Beitrag im Kampf gegen das Patriarchat.
Gesell ist oft als naiver, "kleinbürgerlicher" Reformer mißverstanden
orden, eine Fehleinschätzung, zu der viele seiner eigenen Anhänger mit
beigetragen haben. In diesem Buch wird es auch darum gehen, Gesell als
das zu rehabilitieren, was er wirklich war: ein militanterAnarchist.
"Silvio Gesell - der Marx der Anarchisten?", wie 1983 die agit 883
fragte? In vielerlei Hinsicht gewiß nicht, vor allem hat Gesell nie, wie
Marx, das Privileg der Unfehlbarkeit und Führerschaft in der linken Be-
wegung für sich beansprucht. Die Autoren der 883 meinen offenbar -
und darin stimme ich mit ihnen überein -, daß dieser "Anarcho-Physio-
krat" - ebenso wie sein Vorgänger, der Anarchist und Föderalist Proud-
hon - mehr Aufmerksamkeit gerade in der libertären Linken verdient
hat, als der zentralistisch-staatssozialistische Proudhon-Gegner und öko-
nomische Versager Marx, an dem sich (bewußt oder unbewußt) immer
noch viele Alternative und Linke - auch Anarchos! - orientieren. -
Warum auch nicht? Wenn wir ein Haus bauen, orientieren wir uns ja auch
an den Plänen eines Architekten, von dem wir wissen, das seine Häuser
zusammenkrachen. Oder?

Für die vielen Informationen und Anregungen, für das Zurverfügungstel-
en von Materialien - vor allem für die ausgezeichneten Grafiken von
Helmut Creutz - für die Durchsicht von Manuskripten und für die unge-
zählten anderen (auch finanziellen) Hilfen, die ich von vielen heutigen
Gesell-Anhängern, wie auch von Genossinnen und Genossen aus der lin-
ken Szene erhielt, möchte ich mich herzlich bedanken! Besonders erwäh-
nen möchte ich Herrn Dr. Willem P. Roelofs aus Soest in den Niederlan-
den. Er hat mich durch eine Richtigstellung dazu veranlaßt, die Keyns-
sche Zinsformel, die für das Verständnis des Kapitalismus außerordent-
lich aufschlußreich ist, in dieses Buch mit aufzunehmen.
Die Abbildungen, Zitate etc. auf den Seiten 19, 30, 68, 105, 114, 127,
137, 147, 165, 198, 205, 218, 224, 235, 257, 261, 263, 268, 270, 272, 280, 283,
286, 293, 296 und 298 sind mit freundlicher Erlaubnis von Werner Onken
seinen Katalogen 'Freiwirtschaftliche Bibliothek' und 'Silvio-Gesell-Ausstel-
lung' entnommen; die Grafiken von Creutz sind so oder ähnlich auch in
seinem Buch 'Bauen, Mieten, Wohnen', in der Aufsatzsammlung Creutz/
Suhr/Onken, 'Wachstum bis zur Krise?', in der Zeitschrift für Sozialökono-
mie / mtg 61/1984 und in Broschüren von Creutz erschienen.

Klaus Schmitt (Hg.)
Berlin, 2. Juni 1988
 


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