Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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Silvio Gesell

 

"PHYSIOKRATISCHE MUTTERSCHAFT"

Reisebericht über das sittenlose Leben
in einer akratischen Frauengemeinschaft (1)

"Die Frau muß wirtschaftlich unabhängig vom Mann
sein. Dann erst kann sie wählen statt zu zählen. Dann
kann sie der Stimme der Liebe gehorchen und ihren
geheimsten Wünschen, ihren Trieben folgen. Dann
kann sich die Natur im Menschen auswirken und das
schaffen, was ihr entspricht. Der Kern des Menschen
kann so zum Vorschein kommen. Dann werden wir
zum ersten Mal wirkliche Menschen sehen."

S. Gesell (2)
 
 
 

A: Also, Herr Postillion, auf! Nach Frauenberg!
B: Ach, das ist ja hier eine der vielbesprochenen Wochenendkolonien,
wo die Frauen mit den Kindern allein hausen, und wo die Männer aus der
Stadt meistens nur zum Wochenend erscheinen. Hier werden wir erfah-
ren, wie sich der Abbau der Ehegesetzgebung, des Zivilstandsregisters
und anderer schöner Dinge bewährt. Da kommt uns auch schon eine
junge Frau entgegen. Wie frei sie sich bewegt!
Junge Frau: Ich sehe, Sie sind fremd hier, und sehe Ihnen auch an, was
Sie wünschen. Kommen Sie! Ich habe gerade meine Freundinnen zum
Kaffeekränzchen eingeladen, da werden Sie alles erfahren, was Sie zu er-
fahren wünschen.
B: Prächtige Kinder. Sind das alles Ihre Kinder?
Junge Frau: Ich habe es leider noch zu keinem Kinde gebracht. Ich habe
noch keinen Mann gefunden, der meinem Ideal entspricht, und so lange
das nicht der Fall ist, suche ich weiter und will auch keine Kinder. Und
wenn ich ihn finde, wer weiß, ob er mich dann mag.
B: Ja, wenn Sie sich in diesem kleinen Tal einschließen, da mögen Sie
bei solch kleinem Wahlkreis und vielleicht hochgespannten Ansprüchen
lange suchen.
Junge Frau: Ich habe erst vor kurzem, um meinen Wahlkreis zu erwei-
tern, eine Weltreise zurückgelegt, und trotzdem mir nur an den persönli-
chen Eigenschaften des Mannes liegt, kehrte ich unverliebt heim. Wie
klein erschien mir plötzlich mein Wahlkreis, als ich in Asien, Afrika, Aus-
tralien mich umsah! Wie groß erscheint er mir jetzt plötzlich. Der Wahl-
kreis der Frau ist kein geographischer Begriff.
A: Wir sind schon verheiratet.
Junge Frau: Hier ist niemand verheiratet, weder Mann noch Frau.
A: Das mag sehr schön sein für die, die noch keine Frauen haben.
Junge Frau: Hier hat man die Frauen nicht. Und man hat auch keine
Männer.
A: Nun, dann will ich mich etwas gewählter und Ihrem Sinn entspre-
chender ausdrücken. Ich habe bereits gefunden, was ich suchte. Und su-
che nicht weiter.
Junge Frau: Was heißt hier suchen? Wenn der Zufall Ihnen nun, was
doch möglich ist, eine Frau in den Weg stellt, deren Anblick, deren Wesen
bei Ihnen die Frage auslöst, ob Sie wirklich schon gefunden hatten, was
Sie suchten, was dann? Werden Sie dann die Augen zu Boden schlagen?
B: Dann werden die Rücksichten auf das Familienleben hoffentlich den
Ausschlag geben. Ich gehe den Tragödien aus dem Wege.
Junge Frau: Sie können nur darum der Tragödie aus dem Wege gehen,
weil Sie dem Sinne meiner Frage aus dem Wege gehen. Wenn ich wirklich
den finden sollte, den ich suche, dann werde ich hoffentlich keinerlei
Rücksichten, welcher Art sie auch seien, auch solche tragödienhafter Na-
tur, walten lassen. Das ganze Leben ist und soll wohl nach den Intentio-
nen der Natur nichts anderes als eine Kette von Tragödien sein, die bei
manchen allerdings den Charakter einer Komödie annehmen mögen.
Mein fruchtloses Suchen in allen vier Erdteilen ist auch schon eine Tragö-
die. Und was für eine! Diese erschütternden Enttäuschungen, die ich er-
lebte in Marokko, Abessinien, Kongo, Tibet, Alaska.
B: Der, den Sie suchen, den hat gewiß der Krieg erschlagen. Ich verlor
drei Söhne, und der einzig überlebende kam erblindet heim. Der Krieg,
der Krieg!
Junge Frau: Ja der Krieg! - Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie
so unvermittelt in ein Gespräch verwickelte, das ich hier mit meinen
Freundinnen begonnen hatte. Aber wovon das Herz voll ist, davon läuft
der Mund über. Darf ich vorstellen. Zwei schon gut bekannte, unbe-
kannte Reisende, die unsere physiokratische Welt studieren wollen. Frau
Berta, Ida, Rosa. Ich selbst heiße Lise. Die Herren sind schon in unser
heutiges, unser ewiges Gesprächsthema eingeweiht. Ich glaube aber, es
liegt ihnen mehr daran, Tatsachen kennenzulernen, als zu philosophieren.
Vielleicht erzählt jede von uns etwas aus ihren Verhältnissen.
Berta: Wenn von Verhältnissen gesprochen werden soll, dann dürfte ich
mit meinen sieben Kindern von sieben verschiedenen Männern wohl be-
rechtigt sein, den Anfang zu machen. Ich gehöre zu den Frauen der Land-
mann'schen Richtung, die den zur Gewohnheit entarteten Geschlechts-
verkehr ablehnen und sich vom Manne nicht als Objekt seiner Lüste miß-
brauchen lassen wollen, weil sie darin den einzigen Weg zur Aufartung der
Menschheit erblicken. Unser Ziel heißt: Kraft, Gesundheit, Geist, Schön-
heit; alles übrige, auch die Liebesfreuden, werden diesem Ziele unterge-
ordnet. Ich suche mir also einen Mann, lebe und liebe mit ihm, bis ich
mich schwanger fühle. Dann ziehe ich mich von ihm zurück und breche
vollkommen mit ihm in erotischer Beziehung. Landmann nennt solches
Verhalten, das übrigens auch meinen Empfindungen entspricht, "reine
Mutterschaft" *, wobei er aber meines Wissens den Ausdruck "rein" nicht
im Sinne von "befleckter" bzw "unbefleckter" Empfängnis, sondern le-
diglich als die reine Natur, als das ursprüngliche physiologische Verhalten
bei der Zeugung in der menschlichen Urzeit verstanden wissen will. Aus
Rücksicht auf meine Freundinnen, die anders empfinden oder ihren In-
stinkten nicht so blindlings gehorchen, wie ich, nenne ich es "physiokrati-
sche Mutterschaft". Dieser Ausdruck trifft das Wesen, die Natur der Sa-
che besser und kann nicht so leicht im moralischen Sinne mißverstanden
werden. Da ich nun eine möglichst gesunde und vollkommene Nachkom-
menschaft zu hinterlassen wünsche und dementsprechend den Vater mei-
ner Kinder wähle, so habe ich es bereits zu sieben Gatten gebracht; denn
in dem Maße, wie die Erfahrung mir die Augen öffnete, wuchsen auch
meine Ansprüche an die Qualitäten des Mannes höher und höher. In die-
sem Streben konnte ich mich daher an keinen meiner bisherigen Gatten
dauernd binden. Immerhin, - ich glaube, und meine Freundinnen werden
es Ihnen ohne Zweifel gern bestätigen, daß ich mit meinen hohen Ansprü-
chen an die Väter meiner Kinder bereits einen großen Fortschritt in der
Aufartung meiner Nachkommenschaft erzielt habe. Freilich, das Resultat
wäre möglicherweise ein noch viel besseres gewesen, wenn meine Mittel
es erlaubt hätten, meinen Männerwahlkreis durch eine Weltreise, wie sie
unsere Freundin Lise, allerdings fruchtlos, unternommen hat, zu einem
Weltwahlkreis erweitern zu können. Ich habe mit dem fürlieb genommen,
was ich in dem engen Kreise finden konnte. Ich bin derberer Natur als
Lise. Aber mir scheint, wenn ich meine Kinder mit anderen vergleiche,
daß hier etwas von dem eingetreten ist, was Landmann als Frucht solchen
physiokratischen Verhaltens prophezeit. Obschon von sieben Vätern ab-
stammend, läuft durch alle derselbe harmonische Zug. Sie sind alle einen
Grad fröhlicher, natürlicher, weniger mit senilen Tönen behaftet und bei
ihren Studien entschieden ausdauernder und konzentrationsfähiger. Es
mag ja sein, daß meine Mutteraugen, meine Wünsche das alles in meine
Kinder hineinprojizieren, und daß die Nachbarinnen, die mir meine Be-
obachtungen zu bestätigen belieben, mir nur eine Freude bereiten wollen.
Wahrheit über diese Dinge wird allein die im Großen und im Laufe der
Generationen gesammelte Erfahrung bringen können.
A: Das Landmann'sche Buch ist mir nicht unbekannt. Seine Beweise
entnimmt er dem Tierleben. Die vollkommene Harmonie beim Tier und
die so oft bis zur Karrikatur verzerrte Menschengestalt zeigen, daß ir-
gendwo etwas nicht in Ordnung ist. Aber wollen wir nicht lieber von den
wirtschaftlichen Dingen reden? Sie wissen doch, wie die Wirtschaft das
menschliche Leben richttunggebend beeinflußt. Wieviel Schönes haben
wir hier bereits beobachten können, was wir auf die hier herrschenden
wirtschaftlichen Einrichtungen zurückführen. Auch Ihr Verhalten, Frau
Berta, wäre in unserem Lande aus wirtschaftlichen Gründen nicht mög-
lich. Sie sagten, daß Sie mit ihren sieben Männern jedesmal vollkommen
gebrochen hätten. Sind diese sieben Männer denn damit einverstanden
gewesen, und kümmern die sich gar nicht weiter um ihre Kinder? Es exi-
stiert doch sicher so etwas wie Vaterliebe. Und kommen Sie aus mit der
Mutterrente, oder haben Sie noch andere Einnahmen?
Berta: Ich habe mit den Männern nur in erotischer Beziehung gebro-
chen. Es ginge auch gar nicht anders, wenn ich Katastrophen, Mord und
Totschlag vermeiden will. Ich muß mich gegen alle gleichmäßig ableh-
nend verhalten. Dann gehts. Sie alle lieben ihre Kinder, einige vergöttern
sie. Sie bringen ihnen Geschenke, Bücher, Kleider, sie bezahlen die Leh-
rer. Einige tun das summarisch für alle, andere haben nur Augen für das
eigene Kind. Meine Einnahmen mehre ich mit einer kleinen Industrie,
die ich mit meinen Kindern betreibe. Korbwaren. Dann habe ich hier ei-
nen Acker, den die sieben Väter meiner sieben Kinder nach Feierabend
bestellen, und die es dabei, von Eifersucht getrieben, zu staunenswerten
Leistungen bringen. (3) Ich mit meinen sieben Kindern und sieben Männern
trage auf der jährlichen Ausstellung gärtnerischer Produkte immer die be-
sten Preise weg. Mir geht es auch wirtschaftlich nicht schlecht, und emp-
fehle ich immer mein Verhalten als mustergültig in jeder Hinsicht.
B: Sie werden sich gewiß mit dem demographischen Problem befaßt ha-
ben, das dann unweigerlich sein düsteres Haupt zeigen würde, wenn alle
Frauen so mit sieben Kindern aufmarschierten. Wieviele Generationen
gehören denn dazu, um bei solcher Fertilität das ganze Land 3 Meter hoch
mit Menschen zu bedecken? Dabei sucht die Werbeschrift des Mutterbun-
des obendrein, noch die Einwanderung zu fördern.
Ida: Das Übervölkerungsproblem bildet ein ständiges Gesprächsthema
in unseren Kreisen. Wir streben allerdings danach, die Bevölkerung so
weit zu vermehren, wie die Rationalisierung der Arbeit Nutzen daraus zie-
hen kann, weil dadurch die Grundrenten und rückwirkend die Mutterren-
ten gehoben werden. Daß solche Entwicklung irgendwo eine Grenze ha-
ben muß, ist uns klar. Zunächst scheint sie ja noch in weiter Ferne zu lie-
gen, und so benutzen wir diesen glücklichen Umstand dazu, um für die all-
gemeine Freizügigkeit zu werben, in der Hoffnung, daß die guten Wirkun-
gen, die wir bei uns beobachten, alle Völker veranlassen werden, die
Grenzen niederzureißen, sodaß unseren Ansprüchen auf den ganzen Erd-
ball Erfüllung zuteil wird. Daß die Auswanderung das Übervölkerungs-
problem nicht lösen kann, wissen wir, denn wohin sollen wir noch auswan-
dern, wenn die Übervölkerung zu einer universellen Erscheinung wird.
Doch wir hier in diesem kleinen Kreise glauben, eine Lösung gefunden zu
haben, eine eugenistische Lösung. Das malthusianische System der Emp-
fängnisverhütung und das daraus sich entwickelnde Ein- und Zweikinder-
system führt mit mathematischer Notwendigkeit zur Degeneration und
zum Untergang, weil hier der wichtigste Faktor der Arterhaltung, die Aus-
lese, wegen Mangel an Auslesematerial ausgeschaltet wird. Wir hier glau-
ben nun, daß die Frauen der Zukunft immer wählerischer werden, daß sie
sich nicht, wie heute noch vielfach, dem ersten besten in die Arme werfen
werden, und daß sie auf der Suche, die sich auf die ganze Welt erstrecken
wird, Zeit, sehr viel Zeit verlieren werden. Je höhere Ansprüche sie stel-
len werden, um so mehr Zeit verlieren sie, und Zeitverlust heißt in diesem
Fall Einschränkung der Geburten. Da sehen Sie Frau Lise. Sie wird dem-
nächst 30 Jahre alt und hat immer noch nicht das gefunden, was sie sucht.
Vielleicht läuft sie einem Phantom nach. Aber von einem Phantom wird
sie nicht schwanger werden. Sollte sie aber noch Glück haben und ihre
hochgespannten Ansprüche noch befriedigt sehen, so können wir von ihr
zwar Kinder besonderer Art erwarten, aber so viele wie Frau Berta wird
sie nicht mehr haben. Wir können aber schon beobachten, daß Frau Lises
Vorgehen Nachahmung findet, daß es zum guten Ton in der Gesellschaft
unserer physiokratischen Frauen zu werden verspricht, die Ansprüche an
die physische und psychische Qualität der Väter unserer Kinder immer
höher und höher zu schrauben, in dem Maße wie sich unser Blick für sol-
che Dinge schärft und erweitert. Es ist auch bereits zur Redensart gewor-
den, daß die Qualität der Kinder den Maßstab für die Moral der Frau gibt.
Glauben Sie, daß, wenn solches Verhalten zu einer allgemeinen Sitte
wird, daß dann noch das Gespenst der Übervölkerung unsere Träume stö-
ren kann? Wir werden Moloch, das Kloster, Malthus und die Kriege durch
Eugenik überwinden. Es ist das eine Sie überraschende Entwicklung, und
ich verstehe diese Überraschung. Hatte man doch immer die Mutterren-
ten mit der Behauptung bekämpft, daß sie die Zucht der Minderwertigen
begünstigen würde, daß viele Frauen auf die Mutterrenten, ähnlich wie
andere Frauen auf das Ammengeld, spekulieren würden, wobei man bei
so niedrigen Beweggründen allerdings annehmen müßte, daß solche
Frauen sich von irgendeinem Manne schwängern lassen und Minderwerti-
ges gebären werden. Es ist ganz anders gekommen. Die Mutterrente ist
zwar ausreichend, um die Frau vor Not zu schützen. Aber auch nicht
mehr. Sie reicht nicht an den Arbeitslohn heran, den eine Frau in der Indu-
strie verdient, denn Sie wissen, daß hier, im Lande des vollen Arbeitser-
trages, die Löhne hoch sind. So kommt es, daß alle diese rechnenden und
spekulierenden Frauen sich lieber mit den neuen, verbesserten Verhü-
tungsmitteln versehen und gegebenenfalls zur Abtreibung ihre Zuflucht
nehmen. So bleiben gerade diese Elemente unfruchtbar und überlassen
den Eugenikern das Feld. Berta hat sieben Kinder, Rosa fünf und ich vier.
Wir haben aber noch nicht Schluß gemacht, und Lise wird sich wohl auch
noch beteiligen. Das ist ja etwas viel für vier Frauen, aber dafür sind in un-
serer allernächsten Nähe mehr als 20 Frauen, die die Sterilität vorziehen,
und die so den Durchschnitt der Fruchtbarkeit sehr stark herabsetzen.
Nein, das Übervölkerungsproblem ist gelöst, und erlöst sind wir für im-
mer vom Moloch.
B: Für solche Lösung könnte ich mich begeistern, wenn mir nicht noch
starke Zweifel blieben, daß sich immer genügend Frauen für die Eugenik
und die Sicherung des Menschengeschlechtes interessieren werden. Sie
hier in diesem Klub sind nur vier Frauen, und Sie sprechen von 20 anderen
in der Nähe, die die Unfruchtbarkeit, das persönliche Aussterben vorzie-
hen. Das sieht doch sehr bedenklich aus. Allerdings wird durch solches
Aussterben die kommende Generation nur noch aus Menschen bestehen,
die von starken, das Leben bejahenden Müttern abstammen, also auch
diese Eigenschaften erben werden, wodurch das genannte Verhältnis von
4 zu 20 vielleicht wieder ins Gegenteil umkippen wird, und das Übervöl-
kerungsproblem wird dadurch wieder eine Auferstehung feiern, wenn die
eugenistischen Hemmungen, von denen Frau Lise sprach, nicht kompen-
satorisch wirken. Aber worauf es zunächst ankommt, der Weg, den dieser
Klub betreten hat, der führt mit Bestimmtheit aufwärts. Wahlzucht und
Erweiterung des Wahlkreises zum Weltwahlkreis. Das muß zur Hoch-
zucht führen, und ich glaube dann, daß die aus solcher Zucht hervorge-
henden Menschen den Problemen, die sich ihnen zeigen, gewiß eine ihrer
Natur würdige Lösung geben werden, und daß wir uns darüber keine
Sorge mehr zu machen brauchen. Und darum möchte ich Frau Lise sehr
empfehlen, kein Haar von ihren hohen Ansprüchen fallen zu lassen und
weiter zu suchen, bis sie findet, was ihr vorschwebt. (4)
A: Es ist nun spät geworden. Wir müssen noch ein Hotel suchen.
Rosa: Warum in die Ferne schweifen? Bleiben Sie die Nacht bei Frau
Berta, so knapp sind die Mutterrenten nicht bemessen, daß Frau Berta
nicht einen Gast beherbergen könnte. Ein Gastzimmer ist hier in jedem
Hause, und nur völlig Unbekannte suchen Obdach im Hotel. Uns seid Ihr
aber bereits recht gute Bekannte. Und Lise, willst Du nicht den anderen
lieben Gast bei Dir beherbergen?
Lise: Ja, warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nahe,
lerne nur das Glück ergreifen ....
B: Den Schlußsatz lassen Sie wohl mit Bedacht fort?
Lise: Dinge, die immer "da sind, können nicht Gegenstand eines
Glücksfalles ausmachen. Heute habe ich das seit zehn Jahren gesuchte
Glück gehabt, und ich gedenke es beim Schopfe zu fassen.
Ida: Wir entwickeln uns nach und nach zu einem Klub für Kuppelei.
Rosa: Gibt es etwas Schöneres als Kuppelei für Frauen, die mit ge-
schärftem Blick und erweitertem Gesichtskreis Eugenik betreiben wol-
len? Eugenik ist nichts anderes als Kuppelei, physiokratische Kuppelei.
Ida: Ich glaube, es hätte in diesem Fall der kupplerischen Nachhilfe gar
nicht bedurft. Lise hatte sich ja schon ganz rettungslos in ihn vergafft und
er in sie. Was sie beim Antritt ihrer Weltreise in fünf Erdteilen suchte fand
sie am Ende derselben in der Heimat.

Anmerkung des Verfassers

* Landmann, Dr. med. F., Reine Mutterschaft, 5. Aufl., Greifenverlag in Rudolstadt
(Thür.); 275 S., 2,25 RM.

Anmerkungen des Herausgebers

(1) Ausschnitt aus dem Kapitel 'Eine Forschungsreise ins Land der Physiokraten', aus Ge-
sells utopischem Spätwerk: Der abgebaute Staat - Leben und Treiben in einem gesetz- und
sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk, A. Burmeister Verlag, Berlin-Friedenau 1927, S.
75ff.

(2) Der Aufstieg des Abendlandes, Erfurt u. Bern 1923, S. 11f.

(3) Gesells Vorstellungen über polygame Beziehungen, Eifersucht und Konkurrenz in
Kleingruppen sind unkorrekt. Die ethnologische Forschung zeigt, daß in erotischen und le-
bensbejahenden Kulturen mit geringer Sexualmoral Eifersucht wenig ausgeprägt ist und die
Menschen dort auch nicht in scharfem Wettbewerb gegeneinander stehen, sondern daß dort
solidarische Zusammenarbeit ohne Leistungsdruck vorherrschend ist. Im übrigen ist es be-
merkenswert, daß Gesell bereits in den 20er Jahren die sexuelle Freiheit für Frauen und die
uneheliche Mutterschaft propagiert und die totale Abschaffung des Abtreibungsparagra-
phen 218 und des Schwulenparagraphen 175 gefordert hat, eine außerordentliche Provoka-
tion der damaligen Moralvorstellungen und Rechtsverhältnsisse.

(4) Zur Problematik der Eugenik s. Text 2, Anm.117.
 


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