Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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9. ...für die Umverteilung der Grundrente an alle Kinder und Mütter!

"Wem ist man den Pachtzins für die Erde schuldig?
Dem Erschaffer der Erde. Wer hat die Erde erschaf-
fen? Gott. Nun also, Eigentümer, ziehe Dich zurück."

P. J. Proudhon


Da Land und viele Naturschätze und -kräfte nicht wachsen und auch nicht
- wie andere Güter - durch Arbeit beliebig vermehrt werden können,
können auch ihre Renten und Tauschwert-Steigerungen nicht durch ein
beliebiges zusätzliches Angebot, insbesondere nicht durch zusätzliche Bo-
denflächen, und somit auch nicht durch Wettbewerb zumn Verschwinden
gebracht werden. (109a) Da sich unser Globus nicht wie ein Luftballon auf-
blasen läßt, bleibt uns nur eine Lösung, wenn wir eine Synthese von
Tausch-, Leistungs- und Sozialgerechtigkeit herstellen wollen: Boden-
rente und Bodenwertzuwachs müssen umverteilt werden.

Das könnte auf unterschiedliche Weise erfolgen. Wie der US-amerika-
nische Bodenreformer Henry George, hat auch der (berühmte, aber heu-
te beschämenderweise auch unter Linken und Alternativen kaum noch
bekannte) deutsche Bodenreformer Adolf Damaschke vorgeschlagen,
durch eine Belastung des Bodeneigentums mit einer "Grundwertsteuer"
in Höhe der Bodenrente und einer "Zuwachssteuer" in Höhe der Boden-
wertsteigerung die leistungslosen Gewinne der Grundeigentümer abzu-
schöpfen (ein Verfahren, wie es auch Adam Smith befürwortet hat!). (110)

Ähnlich, wie eine ausreichend hohe Geldsteuer das Geld in den Wirt-
schaftskreislauf treibt und den Zinsfuß auf Null drückt, so würde eine auf
das Grundstück bezogene und der Bodenrente entsprechende Grund-
steuer den Boden ins Angebot zwingen, die private Aneignung der Rente
verhindern und außerdem die Bodenpreise senken und so der Bodenspe-
kulation einen Riegel vorschieben. Ebenso, wie der Gläubiger keine Zin-
sen mehr erhält und der Schuldner die Geldsteuer zu tragen hat, solange
er über den Liquiditätsvorteil des Geldes verfügt, so erhält der Grundei-
gentümer keine Rente mehr; der Mieter und Pächter zahlt die Grundren-
te an die Gesellschaft.

Diese "kalte Enteignung" des privaten Grundeigentums ohne Entschä-
digung und ohne den juristischen Eigentumstitel des geheiligten Privatei-
gentums anzutasten, könnte ein Konzept sein für Länder, die kein Geld
haben, um die Eigentümer zu enschädigen, und/oder in denen die Eigen-
tumsideologie so fest verankert ist, daß kaum Mehrheiten für eine Enteig-
nung des Bodens zu finden sind. Ein Problem bei diesem Verfahren ist al-
lerdings die Ermittlung der Höhe der Bodenrenten und der Wertsteige-
rungen und damit die lückenlose Durchsetzung der Grundwert- und Zu-
wachssteuer.

Die konsequentere Lösung wäre die Enteignung und Sozialisierung des
Bodens und seine (zweckgebunde) Verpachtung an Meistbietende. Die ra-
dikale Enteignung und die Sozialisierung des Bodens wird zwar nicht von
den Grünen gefordert (von den Sozialdemokraten und anderen Parteien
ganz zu schweigen), wohl aber von so unterschiedlichen Leuten wie z. B.
Marx, Franz Oppenheimer, Michael Flürscheim, J. G. Fichte, Hans Bernoulli,
Herbert Spencer, Yohito Otani, John Henry Mackay, Silvio Gesell, Otto Strasser
und neuerdings von dem Berliner DGB-Landesvorsitzenden Michael Pagels. (111)

Die Einnahmen der öffentlichen Hand aus der Bodenrente und dem
Bodenwertzuwachs könnte für die verschiedensten gemeinnützigen
Zwecke verwendet werden, z. B. im Sinne Damaschkes für die Finanzie-
rung von Sozialhilfen, Ausbildungsstätten, Kindergärten, Jugendzentren
oder auch - wenns denn sein muß - für ein "garantiertes Mindestein-
kommen". Im Sinne Georges könnten die Einnahmen auch dazu verwen-
det werden, andere Steuern abzuschaffen, z. B. Mehrwertsteuern,
die kleine Einkommensbezieher besonders stark belasten. Der Geld-
und Bodenreformer Otani (dessen Geldtheorie mit der Gesells weitge-
hend übereinstimmt (112)) und die Mackay-Anhänger wollen die Bodenren-
te auf alle Einwohner eines Landes zu gleichen Teilen umverteilen. (113) Wie
groß wäre dann der Anteil, den jeder Einwohner der Bundesrepublik aus
der privaten Bodenrente und Bodenwertsteigerung erhalten würde?

Wenn wir berücksichtigen, daß unter den Bedingungen eines neuen Bo-
denrechts die Bodenpreise nicht mehr durch Bodenspekulation in schwin-
delnde Höhen getrieben werden, dann müssen wir den Wertzuwachs, wie
Creutz meint, mindestens halbieren, also von dem reduzierten Satz einer
jährlichen Bodenwertsteigerung des heute privaten Bodens von gegen-
wärtig rund 60 Milliarden DM ausgehen. Mit der privaten Bodenrente
von 60 Milliarden würden dann etwa 120 Milliarden DM zur Verteilung zur
Verfügung stehen. Umverteilt, bekäme jeder der 61,3 Millionen Einwohner
der BRD - jede Frau, jeder Mann und jedes Kind - voraussichtlich rund
160 DM im Monat oder 1.900 DM im Jahr, eine vierköpfige Familie also
640 DM im Monat oder 7. 700 DM im Jahr aus der Bodenrente und -wert-
steigerung des heutigen Privatbodens zugeteilt.

Dieses Geld fließt heute als arbeitsfreier Gewinn privaten Grundeigen-
tümern zu, direkt als Rente oder indirekt als Zinsersparnis für Kredite,
die durch Grundbesitz abgesichert sind.

Die "Mutterrente"

Gesell und seine Anhänger haben eine besonders originelle und, wie Urjo
Rey als einer der wenigen Anarchisten männlichen Geschlechts begreift,
sympathische frauen- und kinderfreundliche Idee entwickelt: Sie wollen
den gesamten Boden den Müttern zueignen und ihnen bzw. ihren Kindern
die Bodenrente bis zum 18. Lebensjahr der Kinder als "Mutter-" bzw.
"Kinderrente" zukommen lassen. Ein "Bund der Mütter" soll den gesam-
ten nationalen und in ferner Zukunft den gesamten Boden unseres Plane-
ten verwalten und - entsprechend dem von der gesamten Gesellschaft
beabsichtigten Verwendungszweck - an den oder die Meistbietenden
verpachten.

Nach diesem Verfahren hätte jeder einzelne Mensch und jede einzelne
Gruppe (z. B. eine Genossenschaft) die gleichen Chancen wie alle ande-
ren, Boden nutzen zu können, ohne von privaten oder staatlichen Parasi-
ten ausgebeutet zu werden. Der Boden würde optimal genutzt werden
und brachliegendes Land käme in den Verkehr. Die Pachteinnahmen wür-
den an die Mütter als Entgelt für ihre gesellschaftlich nützliche Arbeit der
Kinderaufzucht und -betreuung bzw. an die Kinder und Jugendlichen als
Lebensunterhalt gehen. Durch letzteres würde jeder Bürger und jede
Bürgerin einmal im Leben mit dem gleichen Anteil wie jede/r andere an
der Verteilung der Bodenrente teilgenommen haben, und zwar in einem
Lebenszeitraum, in dem diese Menschen noch nicht durch Arbeit für ih-
ren eigenen Lebensunterhalt sorgen können und in dem die Wahrschein-
lichkeit geringt ist, durch einen frühen Tod auf diese Rente verzichten zu
müssen. (114)

Creutz rechnet lediglich die Rente und Wertsteigerung aus dem heute
noch in privater Hand befindlichen Boden den Müttern und Kindern zu.
Bei 13,6 Mill. Kindern in der BRD bis zum 18. Lebensjahr bekäme dann
jedes eine Kinderrente von gut 730 DM bzw. jede Mutter mit zwei Kindern
ein Betreuungsgeld von mehr als 1.400 DM im Monat. Da Gesell jedoch
den Müttern den gesamten Boden, also auch den heute schon in öffentli-
chen und gemeinnützigen Händen befindlichen, zueignen will, würde den
Müttern und Kindern eine Bodenrente von rund 91 Milliarden DM, aber
- da der Boden dann kollektives Eigentum der Mütter und Kinder und
unverkäuflich ist - nicht der Bodenwertzuwachs, zur Verfügung stehen.
1986 hätte dann jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr nur rund 560 DM im
Monat erhalten. Der Wertzuwachs ist jedoch gleichbedeutend mit einer
Steigerung der Bodenrente. Die Rente des Zuwachses hätte das Betreu-
ungsgeld im folgenden Jahr um rund 20 DM im Monat angehoben. Bei
gleichbleibendem (nur liniarem) Wertzuwachs des Bodens würde das Kin-
dergeld dann 1996 immerhin 760 DM im Monat für jedes Kind, für zwei
Kinder also mehr als 1.500 DM betragen. Und wegen der Zahlungen aus
der Bodenrente müßten jene, die heute bereits aus Steuermitteln geleistet
werden, keineswegs gestrichen werden! (114a)

Demgegenüber nehmen sich die entsprechenden Forderungen der Grü-
nen eher dürftig aus. In ihrem Programmentwurf zu den Bundestagswah-
len 1987 versprechen sie den Müttern und Vätern lediglich, je nach Alter
des Kindes und unbegrenzt über sein 18. Lebensjahr hinaus, zwischen 166
und 447 DM im Monat "Kindergeld" plus 1.250 DM für die Dauer von 24
Monate bzw 2.000 DM für die Dauer von 15 Monate "Betreuungsgeld"
im Monat. Finanziert werden soll das - wie sollte es auch anders sein! -
nicht aus den Taschen der parasitären Grundeigentümer, die vorrangig
vom Bevölkerungsnachwuchs profitieren, sondern aus einer Umvertei-
lung von Steuermitteln, also zu einem guten Teil aus den Taschen der El-
tern selbst." (115)

Wie notwendig jedoch ein existenzsicherndes Betreuungsgeld bis ins Ju-
gendalter der Kinder hinein gerade für Mütter ist, zeigt der taz-Bericht von
Klaus Wolschner über die Vaterrolle eines Linken. (116) Er schreibt, daß Jo-
scha Schmierer nach seinen eigenen Aussagen die Betreuung seiner Kin-
der als Mann "mehr als Belastung" empfinden würde als eine Frau! Damit
kann doch nur - ganz im Sinne konservativer Ideologie - gemeint sein,
daß das weibliche Geschlecht von Natur aus besser für die Kinderauf-
zucht geeignet ist als das männliche, und daß das somit die Aufgabe der
Frau zu bleiben habe!

Und das auch noch ohne ausreichende Finanzierung und Entlohnung?
Laut Wolschner fordert Schmierer, daß die Frauen täglich eine (!) vom Be-
trieb (!) bezahlte Freistunde erhalten sollen. Er will also, daß das, was der
gesamten Gesellschaft und insbesondere den Grundeigentümern nützt,
allein von den Unternehmern finanziert wird. Langfristig bedeutet das,
daß diese Betriebskosten größtenteils auf die Löhne und Preise überge-
wälzt werden.

Außerdem bedenkt Schmierer nicht, daß damit die Frauen und insbe-
sondere die Mütter noch stärker im Wirtschafts- und Berufsleben benach-
teiligt werden als bisher: Die Unternehmer werden noch weniger geneigt
sein, Frauen statt Männer einzustellen und ihnen gleichen Lohn für glei-
che Arbeit zu zahlen.

Und glaubt Schmierer denn, daß eine Stunde pro Tag für die Betreu-
ung von Kindern ausreicht? Auf die Idee, ein saftiges Kinderbetreuungs-
geld und seine Finanzierung aus dem "Mehrwertanteil" (!) Bodenrente zu
fordern, um damit die Mütter von der Notwendigkeit zu befreien, ge-
trennt von ihren Kindern und um ihrer Versorgung willen entfremdete Bü-
ro- oder Fabrikarbeit bei niedrigem Lohn leisten zu müssen, und mit die-
sem Betreuungsgeld vielleicht auch Väter zur Übernahme der Mutterrolle
zu bewegen, kommt der Marxist und Kommunist Schmierer nicht. Ist
auch nicht sein Bier.

Anzumerken wäre vielleicht noch, daß bei einer Enteignung des Bodens
alle Eigentümer bis zu einer bestimmten Höhe entschädigt werden müß-
ten und daß sichergestellt werden muß, daß alle jene, die seinen Preis aus
eigener Arbeitsleistung und nicht aus Spekulationsgewinnen, Bodenwert-
steigerungen, Zinsen und ähnlichem bezahlt haben, ihren in den Boden-
erwerb investierten Arbeitsertrag voll zurückerstattet bekommen. Al-
les, was darüber hinausgeht, sollte jedoch angesichts der Tatsache, daß z.
B. der Großgrundbesitzer Thurn und Taxis ein durch Erbschaft, Zins und
Zinseszins und Bodenspekulation erworbenes Vermögen von drei Milliar-
den DM besitzt, (116a) entschädigungslos enteignet werden.

Die Höhe der Kinderrente aus der Grundrente des vergesellschafteten
Bodens macht jedem kleinen Eigenheimbesitzer mit Kindern klar, daß er
bei einer Enteignung des gesamten Bodens weitaus mehr an Betreuungs-
geld erhält, als er durch die Enteignung seines Bodens an Bodenrente ein-
büßt - sofern sein Grundstück überhaupt schuldenfrei ist und er die Bo-
denrente nicht ohnehin als Geldzins an einen Kreditgeber abführen muß.
Das gleiche gilt für die Bauern, deren landwirtschaftlich genutzter Boden
meist nur geringe Renten abwirft und (von Ausnahmen abgesehen) ver-
hältnismäßig geringfügig im Wert steigt. Die Gebäude sollen als produ-
ziertes und vermehrbares Gut ohnehin Privateigentum bleiben. Außer-
dem brauchen sich Häuslebauer nicht mehr wegen eines Baugrundstücks
zu verschulden: sie können es langfristig, z. B. auf Erbpacht, erwerben.
Sie zahlen dann weniger Pacht, als sie heute Kreditzinsen für den Preis des
Grundstücks zahlen müssen.

Materielle Unabhängigkeit und Evolution

Mit diesem Entgelt für die Kosten und den Arbeitsaufwand der Kinder
aufzucht und -betreuung wollten der Anarcho-Feminist Gesell und seine
physiokratischen Freunde die Frauen von der ökonomischen und sozialen
Abhängigkeit von den Vätern ihrer Kinder und von den Almosen des (von
Männern beherrschten) Staates befreien. Materiell abgesichert durch die-
ses nicht unbedeutende Kindergeld, könnte die biologisch bedingte Mut-
terschaft - die im gesellschaftlichen Bereich zu materieller und (wegen
der emotionalen Bindung der Mutter an ihre Kinder) zu psychischer Ab-
hängigkeit und zu großen zeitlichen und physischen Arbeitsbelastungen
führt - nicht mehr in gleichem Maße wie bisher von den Männern zur
Unterdrückung und Ausbeutung der Mütter in Familie und Betrieb ausge-
nutzt werden. Statt Männer aus materiellen Gründen heiraten zu müssen,
weil diese auf Grund der Tradition und der ökonomischen Bedingungen
die Rolle der "Ernährer" und "Beschützer" spielen, wird es den Müttern
durch diese (von ihnen selbst verwaltete) Mutterrente ermöglicht - un-
abhängig von den leiblichen Vätern ihrer Kinder, von einer Lohnarbeit
und von staatlichen Beihilfen - nach ihren eigenen Vorstellungen und
entsprechend den Bedürfnissen ihrer Kinder ihr Leben selbsttätig zu ge-
stalten.

Darüber hinaus glaubt Gesell, sie würden unter den Bedingungen der
materiellen Befreiung auch einen wesentlichen Beitrag zur biologischen
und kulturellen Fortentwicklung der Menschheit leisten. Er meint, durch
das für die Versorgung von Mutter und Kinder ausreichende Betreuungs-
geld würde zunächst einmal sichergestellt werden, daß das Geld der Väter
aus dem Evolutionsprozeß der menschlichen Gattung ausgeschlossen
wird. Nicht mehr die finanzielle Potenz des männlichen Geschlechtspart-
ners ist dann für die Auswahl der biologischen Vaterschaft und damit für
den natürlichen Evolutionsprozeß der menschlichen Gattung ausschlag-
gebend, sondern allein die die Zuneigung und persönliche Wertschätzung
des potentiellen Vaters.

Darüber hinaus erwartet Gesell, daß die Frauen unter den Bedingun-
gen eines matristischen Bodenrechts sogar bewußt und gezielt durch die
Wahl der Väter ihrer Kinder Eugenik betreiben würden. Eine Rechnung,
die wohl nicht ganz aufgeht; denn was tun die Männer und Frauen, die aus
einem selektiven Fortpflanzungprozeß herausfallen sollen? Pflanzen sie
sich nicht fort? Vielleicht. Es gibt, wie in Schweden, Beispiele für eugeni-
sche Disziplin. Wie dem auch sei, immerhin ist dieser Gedanke einer für
die Gesunderhaltung des Erbguts und für die Evolution der menschliche
Art vorteilhaften und von den betroffenen Individuen selbstbestimmten
Eugenik eine diskutable Alternative zu den auf uns zukommenden, von
Staat und Kapital fremdbestimmten Genmanipulationen und "Hoch-
zucht"-Programmen, wie letztere bereits in Rotchina in Angriff genom-
men werden. (117) Gesell bestand ausdrücklich darauf, daß die "Wahlzucht",
fern von jeglicher gesellschaftlicher und staatlicher Einflußnahme, von
den Individuen nach eigenen Neigungen und Bedürfnissen selbst be-
trieben wird: "Jede Zucht, die nicht in völliger Freiheit erfolgt, bei der die
natürlichen Triebe nicht die führende Rolle spielen, ist widernatürliche
Zucht, ist Unzucht, Sodomie." (117a)

Utopie einer Frauenkommune

In seinem Spätwerk "Der abgebaute Staat" mit dem provozierenden, aber
auch als optimistische Antwort auf Oswald Spenglers Prophezeiung des
Unterganges des Abendlandes gedachten Untertitel "Leben und Treiben in
einem gesetz- und sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk", schildert Gesell
die Utopie einer Frauengemeinschaft, in der er eine alte Forderung der er-
sten uns bekannten Anarchisten und "Physiokraten" wieder aufleben
läßt: Diogenes von Sinope (der in der Tonne), der, ebenso wie seine kyni-
schen Gesinnungsgenossen Antisthenes (Begründer der asketisch orien-
tierten kynischen Lehre und Lehrer Sokrates') und Aristippos (hedonisti-
scher Kyniker und Schüler Sokrates), ein Leben in Einklang mit der Natur
(daher der Begriff Kyniker oder Zyniker) und ohne Moral, Sitte, Reli-
gion, Staat und Gesetze anstrebte, forderte Frauengemeinschaften, in de-
nen die Mütter mit ihren Kindern außerhalb ehelicher Bindungen zusam-
menleben. (118)

Auch in Gesells akratisch-physiokratischer Utopie leben Frauen mit ih-
ren Kindern in autonomen, von Männern unabhängigen "Kolonien" zu-
sammen. Sie leben in polygamen Sexualbeziehungen, und zwar in der spe-
zifischen Form der Polyandrie, also in Beziehungen zu mehreren Män-
nern. (Bezeichnend ist die Werbung der Gesell-Physiokraten für eine
Schrift mit dem Titel "Das Fiasko der Monogamie" in: "Die Freiwirtschaft"; s.
Abb. Bücher über Sexualfragen). Die Kinder dieser Frauen stammen von
verschiedenen Vätern hoher "physischer und psychischer Qualität" ab,
und zwar von Männern aus den verschiedensten Völker und Rassen der Er-
de! Es geht hier also nicht um die "Aufnordung" einer bestimmten Rasse,
wie es die NS-Rassisten vorhatten, sondern um die Fortentwicklung der
gesamten Gattung Mensch.

Die Frauen gehen meist frei gewählten Berufen nach, auch klassischen
"Männerberufen". Das Entgelt für ihre gesellschaftliche Leistung der Be-
völkerungsreproduktion erhalten sie vom "Mütterbund". Er verwaltet al-
len Boden und verteilt die Bodenrenten m Selbstverwaltung der Mütter
(s. Text 7). Damit ist das Kinderbetreuungsgeld jeglicher gesamtgesell-
schaftlicher oder gar staatlicher Verfügungsgewalt entzogen, kann somit
z. B. nicht durch Gemeinde-, Regierungs- oder Parlamentsbeschlüsse ge-
kürzt werden. Aus dieser Rente können die Mütter ohne patristische und
bürokratische Bevormundungen und nach eigenem Gutdünken selbstver-
waltete Kinderkrippen, Kinderläden, Spielplätze, Kinder und Jugend-
heime, Freie Schulen und Frauen- und Kinderkommunen, aber auch Be-
treuer finanzieren, die ihnen Betreuungsarbeit abnehmen und es ihnen so
ermöglichen, einem Beruf nachzugehen. Durch die Selbstfinanzierung
werden diese Einrichtungen außerdem ökonomischer arbeiten als die
heutigen staatlichen.

Auch durch die gemeinschaftliche Kinderbetreuung in Gesells Frauen-
kommunen sparen die Mütter Arbeit und Zeit, da es keinen großen Unter-
schied ausmacht, ob eine Mutter ein, zwei oder ein halbes Dutzend Kin-
der gleichzeitig betreut. Die anderen Mütter gewinnen derweil Zeit für
andere Aktivitäten. Das schließt einerseits die für Kinder notwendige Pri-
märbeziehung nicht aus und isoliert andererseits die Kinder nicht in der
Kleinfamilie, die heute oft auf einen Erwachsenen und ein Kind zusam-
mengeschrumpft ist.

Mit seiner Utopie der Frauengemeinschaften nahm Gesell bereits in
den 20er Jahren das vorweg, was in der Kommunen- und Kinderladenbe-
wegung der 60er Jahre recht erfolgreich praktiziert worden ist. (119)

Dieses Kinderbetreungsgeld ist allerdings nicht als Beitrag zur "neuen
Mütterlichkeit" im Sinne konservativer CDU/CSU-Patriarchen gedacht,
ebensowenig wie für kinderlose Feministinnen, sondern als Beitrag zur
Befreiung der "Rabenmütter" von ungerechtfertigter ökonomischer Ab-
hängigkeit in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Außerdem
haben auch Männer Anspruch auf dieses Geld, wenn sie die Mutterrolle
übernehmen. Der "Mutterlohn" könnte ihnen diese Übernahme viel-
leicht erleichtern. Und schließlich darf das Kinderbetreuungsgeld nicht
mit einem generellen Haushaltslohn aus der Staatskasse, wie er von man-
chen Frauen gefordert wird, verwechselt werden. Die privaten Dien-
ste für den Pascha soll sich die Haussklavin gefälligst von ihm als Nutznie-
ßer bezahlen lassen und nicht aus der Tasche jener Steuerzahler, die diese
Dienste nicht in Anspruch nehmen, weil sie ihren Abwasch etc. selbst be-
sorgen, und die keinen Haushaltslohn bekommen, weil sie unverheiratet
sind. Sie entlohnen sich angemessen mit den Resultaten ihrer Haushalts-
arbeit!

Kinderrente als Beitrag zur Befreiung der Kinder und Jugendlichen!

Da dieses Geld nicht nur als Entgelt für den Betreuungsaufwand der Müt-
ter gedacht, sondern ebenso für das Wohlergehen und die Entwicklung
der Kinder bestimmt ist, soll diese "Rente" gegebenenfalls von den Kin-
dern und Jugendlichen als Kindenente eingefordert werden können.
Dann sind auch die Kinder und Jugendlichen materiell weniger abhängig
von der Elterngeneration, und sie können sich von dieser ebenso emanzi-
pieren, wie die Mütter von den Vätern. Angesichts der Tatsache, daß jähr-
lich mehrere hundert Kinder in der Bundesrepublik von ihren nächsten
Angehörigen totgeprügelt werden und daß jugendliche Emanzipations-
versuche, z. B. der Auszug aus dem Elternhaus oder die Verwirklichung
von Selbstverwaltungsprojekten, nicht nur an der elterlichen und staatli-
chen Gewalt, sondern auch an fehlenden Finanzen scheitern, ist eine Kin-
derrente, über die die Kinder und Jugendlichen frei verfügen können, kei-
ne Nebensache. (120) Wenn sie also mit ihren Eltern, mit Heimerziehern
oder wem auch immer nicht zusammenleben wollen, dann können sie sich
(Beseitigung der gesetzlich legalisierten elterlichen Gewaltherrschaft vor-
ausgesetzt) ohne materielle Probleme Betreuern ihrer eigenen Wahl zu-
wenden und ihnen diese Rente in treuhänderischer Verwaltung überlas-
sen. Oder sie können in Kinder- und Jugendwohngemeinschaften, wie z.
B. in der Nürnberger "Indianerkommune", dieses Geld ohne Bevormun-
dung "Erziehungsberechtigter" zur Gestaltung ihrer eigenen Lebensvor-
stellungen verwenden.

Gesell traute ihnen das durchaus zu, sind sie seiner Meinung nach doch
meist klüger als Erwachsene.

Durch diese finanzielle Absicherung der Kinder und Jugendlichen wür-
de es den Erwachsenen nicht mehr möglich sein, sie materiell zu erpres-
sen und ihnen so ihren Willen aufzuzwingen. Bei Überwindung dieses ma-
teriellen (und des juristischen) Abhängigkeitsverhältnisses besteht dann
- wie zwischen den Geschlechtern - auch zwischen den Generationen
eine größere Chance zur Entwicklung gleichgestellter und somit auch
freundschaftlicher Beziehungen - eine pädophile Utopie!

Die Mutterrente muß nicht ausschließen, daß auch die leiblichen Väter
(oder gegebenenfalls Mütter) einen finanziellen Beitrag für den Fortbe-
stand ihres Erbguts leisten. Doch heute, wo immer mehr Kinder mit ei-
nem Elternteil aufwachsen, ist es dem anderen, der kaum Kontakt mit
seinen Kindern hat, nicht zuzumuten, daß er bis an die Grenze seines Exi-
stenzminimums für eine allen Mitgliedern der Gesellschaft nützliche und
notwendige Leistung herangezogen wird. Die biologische Elternschaft
kann nicht das vorrangige Kriterium für die Verpflichtung zur Finanzie-
rung des Fortbestandes eines Volkes oder der Menschheit sein.

Anarcho-Physiokratie - eine matristische Utopie!

Mit seiner Forderung nach Übertragung des Bodens in das kollektive Ei-
gentum der Mütter will Gesell ein Rechtsverhältnis in die heutige Indu-
striegesellschaft wieder einführen, das es in der frühen Menschheitsge-
schichte, in der Anfangsphase der Ackerbaugesellschaften, schon einmal
gegeben hat und wovon wir heute noch Reste in einigen Stammeskulturen
vorfinden: das Mutterrecht. Aus ihrer Sammlertätigkeit heraus entwickel-
ten die Frauen im Laufe der Geschichte den Gartenbau (Hackbau). Der
herrenlose Boden wurde kollektives Eigentum der Muttersippe, über die
mütterliche Linie an die Töchter vererbt (Matriliniarität) und kollektiv
von den Frauen bewirtschaftet (femininer Kollektivismus). Bei den Hopi
und den Irokesen, zwei extrem mutterrechtlich organisierten Kulturen,
wird bzw. wurde dieses feministische Bodenrecht noch in jüngster Zeit be-
obachtet. (121) Auf Grund dieser Eigentums- und Produktionsverhältnisse
lebten die Ehemänner in der Sippe ihrer Frauen (Matrilokalität). Die
Ehen waren locker, formlos und leicht zu lösen; Polygynie wie Polyandrie
waren nicht ungewöhnlich. Bei den Irokesen vermittelten die Mütter der
heiratsfähigen Kinder die Ehen, und zwar nach "Wahlzucht"-Kriterien. (122)
Statt Moral und Tabus herrschte weitgehend "sexuelle Freiheit" (ge-
schlechtliche Freizügigkeit). Bei·Trennung der Ehepartner blieben die
Kinder bei der Mutter (Mutter Kind-Familie). Die Versorgung der Kin-
der war leicht, da die Mütter durch den Garten- und Ackerbau und durch
das Sammeln von Naturprodukten sich selbst und ihre Kinder und dar-
über hinaus sogar die auf ihr unsicheres Jagdglück angewiesenen Männer
leicht ernähren konnten (hohe ökonomische Leistungsfähigkeit). (123) Die
durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bedingten Frauenkollek-
tive sicherten den Frauen einen von den Männern und ihrer Welt unab-
hängigen Lebensraum (soziale Autonomie) mit gegenseitiger Hilfe (Koo-
peration und Solidarität). Über die Produkte ihrer Arbeit konnten die
Frauen frei verfügen (materielle Unabhängigkeit). Darüber hinaus genos-
sen sie als "Quelle des Lebens" besondere Wertschätzung (hohes Sozial-
prestige). Ihr hohes Ansehen drückt sich z. B. darin aus, daß die Irokesen
als Entschädigung für einen ermordeten Krieger 30, für eine getötete
Frau jedoch 40 Geschenke fordern .(124) Im übrigen waren bzw. sind diese
Stammeskulturen staats- und herrschaftsfreie Gesellschaften (Anar-
chien), jedoch keine Matriarchate im Sinne von Frauenherrschaft; die
Frauen haben jedoch eine dominierende Stellung in der Sippe und auch
ein starkes Mitbestimmungsrecht bei der Regelung von Stammesangele-
enheiten (gesellschaftliches Mitspracherecht). (125)

Von besonderer Bedeutung ist die Beobachtung, daß sich in den heute
noch existierenden matristischen Kulturen auf Grund der starken ökono-
mischen und sozialen Stellung der Frauen und ihrer wichtigen, lebenspen-
denden und -fördernden und damit auch die Sozietät erhaltenden Funk-
tion als Mütter·der für diese Funktion notwendige Eros durchsetzt und
Liebe eine starke, die zwischenmenschlichen Beziehungen prägende Rol-
le spielt. Die Mütter prägen die Sippe und den Clan und mehr oder weni-
ger auch die gesamte Stammeskultur als matristische, d. h. mütterliche
und damit "lebensbejahende" (Erich Fromm) und "libidinöse" (Herbert
Marcuse) Gemeinschaft. (126) Die Frauen sind, wie der Physiokrat Hans
Weitkamp in Bezug auf die frühgeschichtlichen Hackbaugesellschaften
feststellt, als Gebärende die "Leben-Gebenden" ("Generatrix"), als Säu-
gende und Gärtnerinnen und Bäuerinnen die allen Menschen der Sippe
"Nahrung-Gebenden" und damit die Leben-Erhaltenden ("Nutrix"), als
liebend-fürsorgliche Mütter die die Sozietät Konstituierenden und Bin-
denden ("Soziatrix") und darüber hinaus - auf Grund aller ihrer mütter-
lichen, sozialen und ökonomischen Funktionen - die den frühen Stam-
meskulturen das "Maß-Gebenden", die Kultur-Prägenden ("Matrix"). (127)

Eros, Liebe ist abstammesgeschichtlich aus den Brutpflegetrieben und
-instinkten der Säugetiere und Primaten hervorgegangen (128) und somit ein
wesentlicher Teil des "biologischen Kerns" (Wilhelm Reich) der menschli-
chen - der weiblichen und männlichen (129) - Psyche, aber ebenso auch
ein ausgeprägtes Merkmal der ganzen matristischen Sozietät. In diesen
erotischen Kulturen gibt es keine nennenswerte Entfremdung von den
Sippen- und Stammesangehörigen (keine "Entfremdung von der Gat-
tung", wie Marx sagen würde) und damit auch keine Entfremdung der In-
dividuen von ihrer eigenen erotisch-sozialen Natur (Marx: keine "Ent-
fremdung vom Gattungswesen"), also auch keine "Selbstentfremdung".

Als Produkt der Natur äußert sich Liebe spontan, ohne Zwang und
christliche Moral, nach dem Freudschen Lust-Unlust-Prinzip, vorausge-
setzt, sie findet das notwendigen soziale Milieu für ihre Entwicklung und
Entfaltung vor. Eros garantiert den Zusammenhalt und die "gegenseitige
Hilfe" (Peter Kropotkin (130)) in den Sozietäten der frühen Menscheitsge-
schichte und damit ihr Überleben in der freien Natur, im Biotop des Ho-
mo sapiens. Als notwendige Voraussetzung für das Überleben des Einzel-
nen, der Gruppe und der Art prägte die Jahrmillionen existierende soli-
darische und kooperatiae Kleingruppe mit extrem hilfsbedürftigen Kin-
dern, die eine für Primaten besonders lange Betreuungsphase benötigen,
auch die entsprechenden sozialen Anlagen des menschlichen Individu-
ums. Freud hat recht, wenn er feststellt, Eros würde sich zwischen den An-
gehörigen jeder Arbeitsgruppe einstellen. Eros hat eine gruppenbindende
und nicht nur eine das heterosexuelle Paar und die Kleinfamilie bindende
Funktion. So gesehen bekommt auch Homosexualität eine andere Di-
mension: sie ist auch Homoerotik! (131)

Diese sozio-biologische Eigenart des Eros hat bereits Ludwig Feuer-
bach, wenn auch auf die Mann-Frau-Beziehung beschränkt, treffend be-
schrieben. Er definiert Liebe als Identifikation mit dem anderen Ich, dem
"Du": In der Leidenschaft der Liebe gehört "das Objekt (des Liebenden)
selbst zum innersten Wesen des Ich, in der Liebe wird "der Wunsch des
anderen (...) mein eigener Wunsch". Das habe "die Natur selbst" so ein-
gerichtet. (132) Die daraus resultierende soziale Funktion des Eros be-
schreibt ebenso treffend Max Stirner: Meinem Freund "schmerzt der
Zahn, mich aber schmerzt sein Schmerz. Weil ich aber die kummervollen
Falten auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, also um meinet-
willen, küsse ich sie weg". (133) In der Liebe also fallen Egoismus und Altru-
ismus zusammen, heben sich gegenseitig auf. In der erotisch verbundenen
Kleingruppe ist soziales Handeln Selbstbefriedigung und führt nicht nur
zur "Glückseligkeit" (Feuerbach) des Objekts der Liebe, sondern ebenso
auch zur Glückseligkeit des aktiv handelnden Subjekts.

In diesem Sinne beschreibt Erich Fromm die Liebe als "die aktive Für-
sorge für das Leben und Wachsen dessen, was wir lieben"; sie sei "in erster
Linie ein Geben und kein Empfangen". (134) Als die wichtigste, naturge-
schichtlich vermittelte soziale Anlage motiviert sie das Individuum aus in-
nerem Bedürfnis, und das nicht nur in der Paarbeziehung, sondern auch
in der sozialen Gruppe, zu solidarischem und kooperativem Verhalten. In
dieser Weise prägte der Eros die Horden und Sippen der frühen Mensch-
heitsgeschichte naturwüchsig - dem hedonistischen Prinzip der Natur
folgend (wie es auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bevorzugt)
und unabhängig von Moral und Pflicht (im Sinn der Kirche, des Staates
und des "kategorischen Imperativs" Kants, über den sich Lorenz mit ei-
nem Schiller-Zitat lustig macht (134a)) - zu urkommunistischen und herr-
schaftsfreien (anarchistischen) Gemeinschaften. In diesen erotisch-matri-
stischen Gemeinschaften bildeten Natur und Kultur eine funktionale Ein-
heit; sie standen nicht in einem unlösbaren Widerspruch zueinander wie
heute in den kapitalistisch-patriarchalischen Industriegesellschaften. Die-
ses natur- und kulturgeschichtliche,"anarcho-physiokratische" Erbe gilt
es neu zu beleben; Voraussetzung ist die Überwindung des Kapitalismus
und des Patriarchats.

Gegen die destruktiven Tendenzen des Patriarchats konnte und kann
sich das matristische Prinzip: der mütterliche Eros (nicht zu verwechseln
mit der masochistischen "Mütterlichkeit" in heutigen "Hoch"kultu-
ren (135)), in diesen "Primitiv"kulturen nur deshalb durchsetzen, weil die
wichtigsten der oben genannten Faktoren wesentlicher Bestandteil dieser
Gesellschaften waren und z. T. noch sind: das feministische und in mütter-
licher Linie vererbbare kollektive Grundeigentum, die freie Erwerbstätig-
keit und ungeschmälerte Verfügungsgewalt der Frauen über ihre Arbeits-
produkte, die genossenschaftliche Produktionsweise in solidarischen und
von Männern unabhängigen Frauengemeinschaften und der Wohnorte der
institutionell locker verbundenen Ehepartner in der matristischen Sippe der
Frau. Das alles im gesellschaftlichen Rahmen der Anarchie. Die materielle
und soziale Autonomie und die sexuelle Freiheit der Frauen sind Folgen
dieser Faktoren.

Obwohl Gesell diese Zusammenhänge kaum alle gekannt haben dürf-
te, wollte er erstaunlicherweise diese matristischen Verhältnisse und ihre
ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen in ähnlicher Weise wie-
der in die Industriegesellschaft einführen: das kollektive Eigentum aller
Mütter am gesamten Boden eines Landes bzw. der Erde; die Verfügungsge-
walt der Mütter und Kinder über die Bodenrente; die Bildung freier, von
Männern unabhängiger weiblicher Arbeits- und Lebensgemeinschaften
("Kolonien"), wie die ungehinderte und mit den Männern gleichgestellte
und gleich entlohnte Berufstätigkeit in allen Sparten; freie Verfügung der
Frauen über ihre Arbeitseinkommen; Auflösung der Moral und der bürger-
lichen Zwangsehe und Kleinfamilie zu Gunsten zeitlich beschränkter bzw.
polyandriener Gattenwahl der Frauen nach von den Frauen selbstbestimm-
ten eugenischen Gesichtspunkten. Das alles im Rahmen einer "akrati-
schen", einer staats- und herrschaftsfreien Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung (s. Auszug aus "Der abgebaute Staat", Text 7).

Vielleicht könnte dieses Programm einer "erotischen Kulturrevolution"
förderlich sein, die weit über die beschränkten Ziele einer "sexuellen Re-
volution" hinausweist in die Utopie einer erotischen Kultur im Sinne Her-
bert Marcuses.

Den Charakter einer derartigen Kultur versucht Marcuse am Beispiel
des Lebens der Berg-Arapesh in Neu Guinea aufzuzeigen, indem er Mar-
garet Meads Beobachtungen dieses armen, aber freundlichen und le-
bensbejahenden Volkes zitiert: "Für die Arapesh ist die Welt ein Garten,
der bestellt werden muß, nicht für einem selbst, nicht in Stolz und Eitel-
keit, nicht um zu horten und zu nutzen, sondern damit die Kartoffeln und
die Hunde und die Schweine und vor allen Dingen die Kinder wachsen.
Aus dieser ganzen Haltung entspringen viele der anderen Wesenszüge der
Arapesh. Es gibt keine Konflikte zwischen Alt und Jung, jede Vorausset-
zung für Eifersucht oder Neid fehlt, die Zusammenarbeit spielt die größte
Rolle." (136)


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