[ Inhaltsübersicht ] | [ Zur Homepage ] | [ Zum Gästebuch ] |
P. J. Proudhon
Da Land und viele Naturschätze und -kräfte nicht wachsen
und auch nicht
- wie andere Güter - durch Arbeit beliebig vermehrt werden
können,
können auch ihre Renten und Tauschwert-Steigerungen nicht
durch ein
beliebiges zusätzliches Angebot, insbesondere nicht durch
zusätzliche Bo-
denflächen, und somit auch nicht durch Wettbewerb zumn Verschwinden
gebracht werden. (109a) Da sich unser Globus nicht wie ein Luftballon
auf-
blasen läßt, bleibt uns nur eine Lösung, wenn
wir eine Synthese von
Tausch-, Leistungs- und Sozialgerechtigkeit herstellen wollen:
Boden-
rente und Bodenwertzuwachs müssen umverteilt werden.
Das könnte auf unterschiedliche Weise erfolgen. Wie der
US-amerika-
nische Bodenreformer Henry George, hat auch der (berühmte,
aber heu-
te beschämenderweise auch unter Linken und Alternativen kaum
noch
bekannte) deutsche Bodenreformer Adolf Damaschke vorgeschlagen,
durch eine Belastung des Bodeneigentums mit einer "Grundwertsteuer"
in Höhe der Bodenrente und einer "Zuwachssteuer"
in Höhe der Boden-
wertsteigerung die leistungslosen Gewinne der Grundeigentümer
abzu-
schöpfen (ein Verfahren, wie es auch Adam Smith befürwortet
hat!). (110)
Ähnlich, wie eine ausreichend hohe Geldsteuer das Geld in
den Wirt-
schaftskreislauf treibt und den Zinsfuß auf Null drückt,
so würde eine auf
das Grundstück bezogene und der Bodenrente entsprechende
Grund-
steuer den Boden ins Angebot zwingen, die private Aneignung der
Rente
verhindern und außerdem die Bodenpreise senken und so der
Bodenspe-
kulation einen Riegel vorschieben. Ebenso, wie der Gläubiger
keine Zin-
sen mehr erhält und der Schuldner die Geldsteuer zu tragen
hat, solange
er über den Liquiditätsvorteil des Geldes verfügt,
so erhält der Grundei-
gentümer keine Rente mehr; der Mieter und Pächter zahlt
die Grundren-
te an die Gesellschaft.
Diese "kalte Enteignung" des privaten Grundeigentums
ohne Entschä-
digung und ohne den juristischen Eigentumstitel des geheiligten
Privatei-
gentums anzutasten, könnte ein Konzept sein für Länder,
die kein Geld
haben, um die Eigentümer zu enschädigen, und/oder in
denen die Eigen-
tumsideologie so fest verankert ist, daß kaum Mehrheiten
für eine Enteig-
nung des Bodens zu finden sind. Ein Problem bei diesem Verfahren
ist al-
lerdings die Ermittlung der Höhe der Bodenrenten und der
Wertsteige-
rungen und damit die lückenlose Durchsetzung der Grundwert-
und Zu-
wachssteuer.
Die konsequentere Lösung wäre die Enteignung und Sozialisierung
des
Bodens und seine (zweckgebunde) Verpachtung an Meistbietende.
Die ra-
dikale Enteignung und die Sozialisierung des Bodens wird zwar
nicht von
den Grünen gefordert (von den Sozialdemokraten und anderen
Parteien
ganz zu schweigen), wohl aber von so unterschiedlichen Leuten
wie z. B.
Marx, Franz Oppenheimer, Michael Flürscheim, J. G. Fichte,
Hans Bernoulli,
Herbert Spencer,
Yohito Otani, John Henry Mackay, Silvio Gesell, Otto Strasser
und neuerdings von dem Berliner DGB-Landesvorsitzenden Michael Pagels.
(111)
Die Einnahmen der öffentlichen Hand aus der Bodenrente und
dem
Bodenwertzuwachs könnte für die verschiedensten gemeinnützigen
Zwecke verwendet werden, z. B. im Sinne Damaschkes für die
Finanzie-
rung von Sozialhilfen, Ausbildungsstätten, Kindergärten,
Jugendzentren
oder auch - wenns denn sein muß - für ein "garantiertes
Mindestein-
kommen". Im Sinne Georges könnten die Einnahmen auch
dazu verwen-
det werden, andere Steuern abzuschaffen, z. B. Mehrwertsteuern,
die kleine Einkommensbezieher besonders stark belasten. Der Geld-
und Bodenreformer Otani (dessen Geldtheorie mit der Gesells weitge-
hend übereinstimmt (112)) und die Mackay-Anhänger wollen
die Bodenren-
te auf alle Einwohner eines Landes zu gleichen Teilen umverteilen.
(113) Wie
groß wäre dann der Anteil, den jeder Einwohner der
Bundesrepublik aus
der privaten Bodenrente und Bodenwertsteigerung erhalten würde?
Wenn wir berücksichtigen, daß unter den Bedingungen
eines neuen Bo-
denrechts die Bodenpreise nicht mehr durch Bodenspekulation in
schwin-
delnde Höhen getrieben werden, dann müssen wir den Wertzuwachs,
wie
Creutz meint, mindestens halbieren, also von dem reduzierten Satz
einer
jährlichen Bodenwertsteigerung des heute privaten Bodens
von gegen-
wärtig rund 60 Milliarden DM ausgehen. Mit der privaten Bodenrente
von 60 Milliarden würden dann etwa 120 Milliarden DM zur
Verteilung zur
Verfügung stehen. Umverteilt, bekäme jeder der 61,3
Millionen Einwohner
der BRD - jede Frau, jeder Mann und jedes Kind - voraussichtlich
rund
160 DM im Monat oder 1.900 DM im Jahr, eine vierköpfige Familie
also
640 DM im Monat oder 7. 700 DM im Jahr aus der Bodenrente und
-wert-
steigerung des heutigen Privatbodens zugeteilt.
Dieses Geld fließt heute als arbeitsfreier Gewinn privaten
Grundeigen-
tümern zu, direkt als Rente oder indirekt als Zinsersparnis
für Kredite,
die durch Grundbesitz abgesichert sind.
Nach diesem Verfahren hätte jeder einzelne Mensch und jede
einzelne
Gruppe (z. B. eine Genossenschaft) die gleichen Chancen wie alle
ande-
ren, Boden nutzen zu können, ohne von privaten oder staatlichen
Parasi-
ten ausgebeutet zu werden. Der Boden würde optimal genutzt
werden
und brachliegendes Land käme in den Verkehr. Die Pachteinnahmen
wür-
den an die Mütter als Entgelt für ihre gesellschaftlich
nützliche Arbeit der
Kinderaufzucht und -betreuung bzw. an die Kinder und Jugendlichen
als
Lebensunterhalt gehen. Durch letzteres würde jeder Bürger
und jede
Bürgerin einmal im Leben mit dem gleichen Anteil wie jede/r
andere an
der Verteilung der Bodenrente teilgenommen haben, und zwar in
einem
Lebenszeitraum, in dem diese Menschen noch nicht durch Arbeit
für ih-
ren eigenen Lebensunterhalt sorgen können und in dem die
Wahrschein-
lichkeit geringt ist, durch einen frühen Tod auf diese Rente
verzichten zu
müssen. (114)
Creutz rechnet lediglich die Rente und Wertsteigerung aus dem
heute
noch in privater Hand befindlichen Boden den Müttern und
Kindern zu.
Bei 13,6 Mill. Kindern in der BRD bis zum 18. Lebensjahr bekäme
dann
jedes eine Kinderrente von gut 730 DM bzw. jede Mutter mit zwei
Kindern
ein Betreuungsgeld von mehr als 1.400 DM im Monat. Da Gesell jedoch
den Müttern den gesamten Boden, also auch den heute schon
in öffentli-
chen und gemeinnützigen Händen befindlichen, zueignen
will, würde den
Müttern und Kindern eine Bodenrente von rund 91 Milliarden
DM, aber
- da der Boden dann kollektives Eigentum der Mütter und Kinder
und
unverkäuflich ist - nicht der Bodenwertzuwachs, zur Verfügung
stehen.
1986 hätte dann jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr nur rund
560 DM im
Monat erhalten. Der Wertzuwachs ist jedoch gleichbedeutend mit
einer
Steigerung der Bodenrente. Die Rente des Zuwachses hätte
das Betreu-
ungsgeld im folgenden Jahr um rund 20 DM im Monat angehoben. Bei
gleichbleibendem (nur liniarem) Wertzuwachs des Bodens würde
das Kin-
dergeld dann 1996 immerhin 760 DM im Monat für jedes Kind,
für zwei
Kinder also mehr als 1.500 DM betragen. Und wegen der Zahlungen
aus
der Bodenrente müßten jene, die heute bereits aus Steuermitteln
geleistet
werden, keineswegs gestrichen werden! (114a)
Demgegenüber nehmen sich die entsprechenden Forderungen
der Grü-
nen eher dürftig aus. In ihrem Programmentwurf zu den Bundestagswah-
len 1987 versprechen sie den Müttern und Vätern lediglich,
je nach Alter
des Kindes und unbegrenzt über sein 18. Lebensjahr hinaus,
zwischen 166
und 447 DM im Monat "Kindergeld" plus 1.250 DM für
die Dauer von 24
Monate bzw 2.000 DM für die Dauer von 15 Monate "Betreuungsgeld"
im Monat. Finanziert werden soll das - wie sollte es auch anders
sein! -
nicht aus den Taschen der parasitären Grundeigentümer,
die vorrangig
vom Bevölkerungsnachwuchs profitieren, sondern aus einer
Umvertei-
lung von Steuermitteln, also zu einem guten Teil aus den Taschen
der El-
tern selbst." (115)
Wie notwendig jedoch ein existenzsicherndes Betreuungsgeld bis
ins Ju-
gendalter der Kinder hinein gerade für Mütter ist, zeigt
der taz-Bericht von
Klaus Wolschner über die Vaterrolle eines Linken. (116) Er
schreibt, daß Jo-
scha Schmierer nach seinen eigenen Aussagen die Betreuung seiner
Kin-
der als Mann "mehr als Belastung" empfinden würde
als eine Frau! Damit
kann doch nur - ganz im Sinne konservativer Ideologie - gemeint
sein,
daß das weibliche Geschlecht von Natur aus besser für
die Kinderauf-
zucht geeignet ist als das männliche, und daß das somit
die Aufgabe der
Frau zu bleiben habe!
Und das auch noch ohne ausreichende Finanzierung und Entlohnung?
Laut Wolschner fordert Schmierer, daß die Frauen täglich
eine (!) vom Be-
trieb (!) bezahlte Freistunde erhalten sollen. Er will also, daß
das, was der
gesamten Gesellschaft und insbesondere den Grundeigentümern
nützt,
allein von den Unternehmern finanziert wird. Langfristig bedeutet
das,
daß diese Betriebskosten größtenteils auf die
Löhne und Preise überge-
wälzt werden.
Außerdem bedenkt Schmierer nicht, daß damit die Frauen
und insbe-
sondere die Mütter noch stärker im Wirtschafts- und
Berufsleben benach-
teiligt werden als bisher: Die Unternehmer werden noch weniger
geneigt
sein, Frauen statt Männer einzustellen und ihnen gleichen
Lohn für glei-
che Arbeit zu zahlen.
Und glaubt Schmierer denn, daß eine Stunde pro Tag für
die Betreu-
ung von Kindern ausreicht? Auf die Idee, ein saftiges Kinderbetreuungs-
geld und seine Finanzierung aus dem "Mehrwertanteil"
(!) Bodenrente zu
fordern, um damit die Mütter von der Notwendigkeit zu befreien,
ge-
trennt von ihren Kindern und um ihrer Versorgung willen entfremdete
Bü-
ro- oder Fabrikarbeit bei niedrigem Lohn leisten zu müssen,
und mit die-
sem Betreuungsgeld vielleicht auch Väter zur Übernahme
der Mutterrolle
zu bewegen, kommt der Marxist und Kommunist Schmierer nicht. Ist
auch nicht sein Bier.
Anzumerken wäre vielleicht noch, daß bei einer Enteignung
des Bodens
alle Eigentümer bis zu einer bestimmten Höhe entschädigt
werden müß-
ten und daß sichergestellt werden muß, daß alle
jene, die seinen Preis aus
eigener Arbeitsleistung und nicht aus Spekulationsgewinnen, Bodenwert-
steigerungen, Zinsen und ähnlichem bezahlt haben, ihren in
den Boden-
erwerb investierten Arbeitsertrag voll zurückerstattet bekommen.
Al-
les, was darüber hinausgeht, sollte jedoch angesichts der
Tatsache, daß z.
B. der Großgrundbesitzer Thurn und Taxis ein durch Erbschaft,
Zins und
Zinseszins und Bodenspekulation erworbenes Vermögen von drei
Milliar-
den DM besitzt, (116a) entschädigungslos enteignet werden.
Die Höhe der Kinderrente aus der Grundrente des vergesellschafteten
Bodens macht jedem kleinen Eigenheimbesitzer mit Kindern klar,
daß er
bei einer Enteignung des gesamten Bodens weitaus mehr an Betreuungs-
geld erhält, als er durch die Enteignung seines Bodens an
Bodenrente ein-
büßt - sofern sein Grundstück überhaupt schuldenfrei
ist und er die Bo-
denrente nicht ohnehin als Geldzins an einen Kreditgeber abführen
muß.
Das gleiche gilt für die Bauern, deren landwirtschaftlich
genutzter Boden
meist nur geringe Renten abwirft und (von Ausnahmen abgesehen)
ver-
hältnismäßig geringfügig im Wert steigt.
Die Gebäude sollen als produ-
ziertes und vermehrbares Gut ohnehin Privateigentum bleiben. Außer-
dem brauchen sich Häuslebauer nicht mehr wegen eines Baugrundstücks
zu verschulden: sie können es langfristig, z. B. auf Erbpacht,
erwerben.
Sie zahlen dann weniger Pacht, als sie heute Kreditzinsen für
den Preis des
Grundstücks zahlen müssen.
Darüber hinaus glaubt Gesell, sie würden unter den
Bedingungen der
materiellen Befreiung auch einen wesentlichen Beitrag zur biologischen
und kulturellen Fortentwicklung der Menschheit leisten. Er meint,
durch
das für die Versorgung von Mutter und Kinder ausreichende
Betreuungs-
geld würde zunächst einmal sichergestellt werden, daß
das Geld der Väter
aus dem Evolutionsprozeß der menschlichen Gattung ausgeschlossen
wird. Nicht mehr die finanzielle Potenz des männlichen Geschlechtspart-
ners ist dann für die Auswahl der biologischen Vaterschaft
und damit für
den natürlichen Evolutionsprozeß der menschlichen Gattung
ausschlag-
gebend, sondern allein die die Zuneigung und persönliche
Wertschätzung
des potentiellen Vaters.
Darüber hinaus erwartet Gesell, daß die Frauen unter
den Bedingun-
gen eines matristischen Bodenrechts sogar bewußt und gezielt
durch die
Wahl der Väter ihrer Kinder Eugenik betreiben würden.
Eine Rechnung,
die wohl nicht ganz aufgeht; denn was tun die Männer und
Frauen, die aus
einem selektiven Fortpflanzungprozeß herausfallen sollen?
Pflanzen sie
sich nicht fort? Vielleicht. Es gibt, wie in Schweden, Beispiele
für eugeni-
sche Disziplin. Wie dem auch sei, immerhin ist dieser Gedanke
einer für
die Gesunderhaltung des Erbguts und für die Evolution der
menschliche
Art vorteilhaften und von den betroffenen Individuen selbstbestimmten
Eugenik eine diskutable Alternative zu den auf uns zukommenden,
von
Staat und Kapital fremdbestimmten Genmanipulationen und "Hoch-
zucht"-Programmen, wie letztere bereits in Rotchina in Angriff
genom-
men werden. (117) Gesell bestand ausdrücklich darauf, daß
die "Wahlzucht",
fern von jeglicher gesellschaftlicher und staatlicher Einflußnahme,
von
den Individuen nach eigenen Neigungen und Bedürfnissen selbst
be-
trieben wird: "Jede Zucht, die nicht in völliger Freiheit
erfolgt, bei der die
natürlichen Triebe nicht die führende Rolle spielen,
ist widernatürliche
Zucht, ist Unzucht, Sodomie." (117a)
Auch in Gesells akratisch-physiokratischer Utopie leben Frauen
mit ih-
ren Kindern in autonomen, von Männern unabhängigen "Kolonien"
zu-
sammen. Sie leben in polygamen Sexualbeziehungen, und zwar in
der spe-
zifischen Form der Polyandrie, also in Beziehungen zu mehreren
Män-
nern. (Bezeichnend ist die Werbung der Gesell-Physiokraten für
eine
Schrift mit dem Titel "Das Fiasko der Monogamie" in:
"Die Freiwirtschaft"; s.
Abb. Bücher über Sexualfragen). Die Kinder dieser Frauen
stammen von
verschiedenen Vätern hoher "physischer und psychischer
Qualität" ab,
und zwar von Männern aus den verschiedensten Völker
und Rassen der Er-
de! Es geht hier also nicht um die "Aufnordung" einer
bestimmten Rasse,
wie es die NS-Rassisten vorhatten, sondern um die Fortentwicklung
der
gesamten Gattung Mensch.
Die Frauen gehen meist frei gewählten Berufen nach, auch
klassischen
"Männerberufen". Das Entgelt für ihre gesellschaftliche
Leistung der Be-
völkerungsreproduktion erhalten sie vom "Mütterbund".
Er verwaltet al-
len Boden und verteilt die Bodenrenten m Selbstverwaltung der
Mütter
(s. Text 7). Damit ist das Kinderbetreuungsgeld jeglicher gesamtgesell-
schaftlicher oder gar staatlicher Verfügungsgewalt entzogen,
kann somit
z. B. nicht durch Gemeinde-, Regierungs- oder Parlamentsbeschlüsse
ge-
kürzt werden. Aus dieser Rente können die Mütter
ohne patristische und
bürokratische Bevormundungen und nach eigenem Gutdünken
selbstver-
waltete Kinderkrippen, Kinderläden, Spielplätze, Kinder
und Jugend-
heime, Freie Schulen und Frauen- und Kinderkommunen, aber auch
Be-
treuer finanzieren, die ihnen Betreuungsarbeit abnehmen und es
ihnen so
ermöglichen, einem Beruf nachzugehen. Durch die Selbstfinanzierung
werden diese Einrichtungen außerdem ökonomischer arbeiten
als die
heutigen staatlichen.
Auch durch die gemeinschaftliche Kinderbetreuung in Gesells Frauen-
kommunen sparen die Mütter Arbeit und Zeit, da es keinen
großen Unter-
schied ausmacht, ob eine Mutter ein, zwei oder ein halbes Dutzend
Kin-
der gleichzeitig betreut. Die anderen Mütter gewinnen derweil
Zeit für
andere Aktivitäten. Das schließt einerseits die für
Kinder notwendige Pri-
märbeziehung nicht aus und isoliert andererseits die Kinder
nicht in der
Kleinfamilie, die heute oft auf einen Erwachsenen und ein Kind
zusam-
mengeschrumpft ist.
Mit seiner Utopie der Frauengemeinschaften nahm Gesell bereits
in
den 20er Jahren das vorweg, was in der Kommunen- und Kinderladenbe-
wegung der 60er Jahre recht erfolgreich praktiziert worden ist.
(119)
Dieses Kinderbetreungsgeld ist allerdings nicht als Beitrag zur
"neuen
Mütterlichkeit" im Sinne konservativer CDU/CSU-Patriarchen
gedacht,
ebensowenig wie für kinderlose Feministinnen, sondern als
Beitrag zur
Befreiung der "Rabenmütter" von ungerechtfertigter
ökonomischer Ab-
hängigkeit in einer von Männern dominierten Gesellschaft.
Außerdem
haben auch Männer Anspruch auf dieses Geld, wenn sie die
Mutterrolle
übernehmen. Der "Mutterlohn" könnte ihnen
diese Übernahme viel-
leicht erleichtern. Und schließlich darf das Kinderbetreuungsgeld
nicht
mit einem generellen Haushaltslohn aus der Staatskasse, wie er
von man-
chen Frauen gefordert wird, verwechselt werden. Die privaten Dien-
ste für den Pascha soll sich die Haussklavin gefälligst
von ihm als Nutznie-
ßer bezahlen lassen und nicht aus der Tasche jener Steuerzahler,
die diese
Dienste nicht in Anspruch nehmen, weil sie ihren Abwasch etc.
selbst be-
sorgen, und die keinen Haushaltslohn bekommen, weil sie unverheiratet
sind. Sie entlohnen sich angemessen mit den Resultaten ihrer Haushalts-
arbeit!
Gesell traute ihnen das durchaus zu, sind sie seiner Meinung
nach doch
meist klüger als Erwachsene.
Durch diese finanzielle Absicherung der Kinder und Jugendlichen
wür-
de es den Erwachsenen nicht mehr möglich sein, sie materiell
zu erpres-
sen und ihnen so ihren Willen aufzuzwingen. Bei Überwindung
dieses ma-
teriellen (und des juristischen) Abhängigkeitsverhältnisses
besteht dann
- wie zwischen den Geschlechtern - auch zwischen den Generationen
eine größere Chance zur Entwicklung gleichgestellter
und somit auch
freundschaftlicher Beziehungen - eine pädophile Utopie!
Die Mutterrente muß nicht ausschließen, daß
auch die leiblichen Väter
(oder gegebenenfalls Mütter) einen finanziellen Beitrag für
den Fortbe-
stand ihres Erbguts leisten. Doch heute, wo immer mehr Kinder
mit ei-
nem Elternteil aufwachsen, ist es dem anderen, der kaum Kontakt
mit
seinen Kindern hat, nicht zuzumuten, daß er bis an die Grenze
seines Exi-
stenzminimums für eine allen Mitgliedern der Gesellschaft
nützliche und
notwendige Leistung herangezogen wird. Die biologische Elternschaft
kann nicht das vorrangige Kriterium für die Verpflichtung
zur Finanzie-
rung des Fortbestandes eines Volkes oder der Menschheit sein.
Von besonderer Bedeutung ist die Beobachtung, daß sich
in den heute
noch existierenden matristischen Kulturen auf Grund der starken
ökono-
mischen und sozialen Stellung der Frauen und ihrer wichtigen,
lebenspen-
denden und -fördernden und damit auch die Sozietät erhaltenden
Funk-
tion als Mütter·der für diese Funktion notwendige
Eros durchsetzt und
Liebe eine starke, die zwischenmenschlichen Beziehungen prägende
Rol-
le spielt. Die Mütter prägen die Sippe und den Clan
und mehr oder weni-
ger auch die gesamte Stammeskultur als matristische, d. h. mütterliche
und damit "lebensbejahende" (Erich Fromm) und "libidinöse"
(Herbert
Marcuse) Gemeinschaft. (126) Die Frauen sind, wie der Physiokrat
Hans
Weitkamp in Bezug auf die frühgeschichtlichen Hackbaugesellschaften
feststellt, als Gebärende die "Leben-Gebenden"
("Generatrix"), als Säu-
gende und Gärtnerinnen und Bäuerinnen die allen Menschen
der Sippe
"Nahrung-Gebenden" und damit die Leben-Erhaltenden ("Nutrix"),
als
liebend-fürsorgliche Mütter die die Sozietät Konstituierenden
und Bin-
denden ("Soziatrix") und darüber hinaus - auf Grund
aller ihrer mütter-
lichen, sozialen und ökonomischen Funktionen - die den frühen
Stam-
meskulturen das "Maß-Gebenden", die Kultur-Prägenden
("Matrix"). (127)
Eros, Liebe ist abstammesgeschichtlich aus den Brutpflegetrieben
und
-instinkten der Säugetiere und Primaten hervorgegangen (128)
und somit ein
wesentlicher Teil des "biologischen Kerns" (Wilhelm
Reich) der menschli-
chen - der weiblichen und männlichen (129) - Psyche, aber
ebenso auch
ein ausgeprägtes Merkmal der ganzen matristischen Sozietät.
In diesen
erotischen Kulturen gibt es keine nennenswerte Entfremdung von
den
Sippen- und Stammesangehörigen (keine "Entfremdung von
der Gat-
tung", wie Marx sagen würde) und damit auch keine Entfremdung
der In-
dividuen von ihrer eigenen erotisch-sozialen Natur (Marx: keine
"Ent-
fremdung vom Gattungswesen"), also auch keine "Selbstentfremdung".
Als Produkt der Natur äußert sich Liebe spontan, ohne
Zwang und
christliche Moral, nach dem Freudschen Lust-Unlust-Prinzip, vorausge-
setzt, sie findet das notwendigen soziale Milieu für ihre
Entwicklung und
Entfaltung vor. Eros garantiert den Zusammenhalt und die "gegenseitige
Hilfe" (Peter Kropotkin (130)) in den Sozietäten der
frühen Menscheitsge-
schichte und damit ihr Überleben in der freien Natur, im
Biotop des Ho-
mo sapiens. Als notwendige Voraussetzung für das Überleben
des Einzel-
nen, der Gruppe und der Art prägte die Jahrmillionen existierende
soli-
darische und kooperatiae Kleingruppe mit extrem hilfsbedürftigen
Kin-
dern, die eine für Primaten besonders lange Betreuungsphase
benötigen,
auch die entsprechenden sozialen Anlagen des menschlichen Individu-
ums. Freud hat recht, wenn er feststellt, Eros würde sich
zwischen den An-
gehörigen jeder Arbeitsgruppe einstellen. Eros hat eine gruppenbindende
und nicht nur eine das heterosexuelle Paar und die Kleinfamilie
bindende
Funktion. So gesehen bekommt auch Homosexualität eine andere
Di-
mension: sie ist auch Homoerotik! (131)
Diese sozio-biologische Eigenart des Eros hat bereits Ludwig
Feuer-
bach, wenn auch auf die Mann-Frau-Beziehung beschränkt, treffend
be-
schrieben. Er definiert Liebe als Identifikation mit dem anderen
Ich, dem
"Du": In der Leidenschaft der Liebe gehört "das
Objekt (des Liebenden)
selbst zum innersten Wesen des Ich, in der Liebe wird "der
Wunsch des
anderen (...) mein eigener Wunsch". Das habe "die Natur
selbst" so ein-
gerichtet. (132) Die daraus resultierende soziale Funktion des
Eros be-
schreibt ebenso treffend Max Stirner: Meinem Freund "schmerzt
der
Zahn, mich aber schmerzt sein Schmerz. Weil ich aber die kummervollen
Falten auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, also
um meinet-
willen, küsse ich sie weg". (133) In der Liebe also
fallen Egoismus und Altru-
ismus zusammen, heben sich gegenseitig auf. In der erotisch verbundenen
Kleingruppe ist soziales Handeln Selbstbefriedigung und führt
nicht nur
zur "Glückseligkeit" (Feuerbach) des Objekts der
Liebe, sondern ebenso
auch zur Glückseligkeit des aktiv handelnden Subjekts.
In diesem Sinne beschreibt Erich Fromm die Liebe als "die
aktive Für-
sorge für das Leben und Wachsen dessen, was wir lieben";
sie sei "in erster
Linie ein Geben und kein Empfangen". (134) Als die wichtigste,
naturge-
schichtlich vermittelte soziale Anlage motiviert sie das Individuum
aus in-
nerem Bedürfnis, und das nicht nur in der Paarbeziehung,
sondern auch
in der sozialen Gruppe, zu solidarischem und kooperativem Verhalten.
In
dieser Weise prägte der Eros die Horden und Sippen der frühen
Mensch-
heitsgeschichte naturwüchsig - dem hedonistischen Prinzip
der Natur
folgend (wie es auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bevorzugt)
und unabhängig von Moral und Pflicht (im Sinn der Kirche,
des Staates
und des "kategorischen Imperativs" Kants, über
den sich Lorenz mit ei-
nem Schiller-Zitat lustig macht (134a)) - zu urkommunistischen
und herr-
schaftsfreien (anarchistischen) Gemeinschaften. In diesen erotisch-matri-
stischen Gemeinschaften bildeten Natur und Kultur eine funktionale
Ein-
heit; sie standen nicht in einem unlösbaren Widerspruch zueinander
wie
heute in den kapitalistisch-patriarchalischen Industriegesellschaften.
Die-
ses natur- und kulturgeschichtliche,"anarcho-physiokratische"
Erbe gilt
es neu zu beleben; Voraussetzung ist die Überwindung des
Kapitalismus
und des Patriarchats.
Gegen die destruktiven Tendenzen des Patriarchats konnte und kann
sich das matristische Prinzip: der mütterliche Eros (nicht
zu verwechseln
mit der masochistischen "Mütterlichkeit" in heutigen
"Hoch"kultu-
ren (135)), in diesen "Primitiv"kulturen nur deshalb
durchsetzen, weil die
wichtigsten der oben genannten Faktoren wesentlicher Bestandteil
dieser
Gesellschaften waren und z. T. noch sind: das feministische und
in mütter-
licher Linie vererbbare kollektive Grundeigentum, die freie Erwerbstätig-
keit und ungeschmälerte Verfügungsgewalt der Frauen
über ihre Arbeits-
produkte, die genossenschaftliche Produktionsweise in solidarischen
und
von Männern unabhängigen Frauengemeinschaften und der
Wohnorte der
institutionell locker verbundenen Ehepartner in der matristischen
Sippe der
Frau. Das alles im gesellschaftlichen Rahmen der Anarchie. Die
materielle
und soziale Autonomie und die sexuelle Freiheit der Frauen sind
Folgen
dieser Faktoren.
Obwohl Gesell diese Zusammenhänge kaum alle gekannt haben
dürf-
te, wollte er erstaunlicherweise diese matristischen Verhältnisse
und ihre
ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen in ähnlicher
Weise wie-
der in die Industriegesellschaft einführen: das kollektive
Eigentum aller
Mütter am gesamten Boden eines Landes bzw. der Erde; die
Verfügungsge-
walt der Mütter und Kinder über die Bodenrente; die
Bildung freier, von
Männern unabhängiger weiblicher Arbeits- und Lebensgemeinschaften
("Kolonien"), wie die ungehinderte und mit den Männern
gleichgestellte
und gleich entlohnte Berufstätigkeit in allen Sparten; freie
Verfügung der
Frauen über ihre Arbeitseinkommen; Auflösung der Moral
und der bürger-
lichen Zwangsehe und Kleinfamilie zu Gunsten zeitlich beschränkter
bzw.
polyandriener Gattenwahl der Frauen nach von den Frauen selbstbestimm-
ten eugenischen Gesichtspunkten. Das alles im Rahmen einer "akrati-
schen", einer staats- und herrschaftsfreien Wirtschafts-
und Gesellschafts-
ordnung (s. Auszug aus "Der abgebaute Staat", Text 7).
Vielleicht könnte dieses Programm einer "erotischen
Kulturrevolution"
förderlich sein, die weit über die beschränkten
Ziele einer "sexuellen Re-
volution" hinausweist in die Utopie einer erotischen Kultur
im Sinne Her-
bert Marcuses.
Den Charakter einer derartigen Kultur versucht Marcuse am Beispiel
des Lebens der Berg-Arapesh in Neu Guinea aufzuzeigen, indem er
Mar-
garet Meads Beobachtungen dieses armen, aber freundlichen und
le-
bensbejahenden Volkes zitiert: "Für die Arapesh ist
die Welt ein Garten,
der bestellt werden muß, nicht für einem selbst, nicht
in Stolz und Eitel-
keit, nicht um zu horten und zu nutzen, sondern damit die Kartoffeln
und
die Hunde und die Schweine und vor allen Dingen die Kinder wachsen.
Aus dieser ganzen Haltung entspringen viele der anderen Wesenszüge
der
Arapesh. Es gibt keine Konflikte zwischen Alt und Jung, jede Vorausset-
zung für Eifersucht oder Neid fehlt, die Zusammenarbeit spielt
die größte
Rolle." (136)
[ Inhaltsübersicht ] | [ Zur Homepage ] | [ Zum Gästebuch ] |