Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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15. Vom Kapitalismus befreite Marktwirtschaft - eine anarcho-physiokratische Grundlage für
kommunistische Gemeinschaften und freie Vereinigungen?

"Nehmt die Konkurrenz weg... und die ihrer Trieb-
kraft beraubte Gesellschaft wird wie eine Uhr stehen-
bleiben, deren Feder abgelaufen ist."
"Die Natur hat den Menschen gesellig gemacht. "
P. J. Proudhon

Selbstverständlich lassen sich auch mit Gesells "natürlicher Wirtschafts-
ordnung" nicht alle ökonomischen und sozialen Probleme der Welt lösen.
Es dürfte jedoch, nachdem wir Gesells Freiland-Freigeld-Lehre kennen-
gelernt haben, kaum noch zu bezweifeln sein, daß sein Konzept einer
Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und ohne feudale Relikte dem kapitali-
stisch-feudalistisch-patriarchalischem System an seine Wurzeln geht, daß
es zwei zentralen Institutionen des Sytems den Garaus machen könnte:
dem zinserpressenden Geld und dem Privateigentum an Grund und Bo-
den. Mit ihrer Geld-, Zins- und Konjunkturtheorie und ihrem Schwund-
geld-Konzept könnte Gesells Freigeld-Lehre offenbar einen wesentlichen
Beitrag zur Überwindung von Ausbeutung, Absatzkrisen und Arbeitslo-
sigkeit und zur Minderung der Kapitalkonzentration und des Wachstums-
drucks leisten. Und mit ihrem matristischen Bodenrechtskonzept kann
seine Freiland-Lehre zweifelsohne wesentlich zur Befreiung der Mütter
und Kinder von materieller Abhängigkeit und somit auch von patriarcha-
lischen Sozialstrukturen beitragen. Viele andere Probleme, wie das der
Hierarchie und Herrschaft im Betrieb oder das der Macht und Gewalt des
Staates in der Gesellschaft, müssen mit anderen Mitteln gelöst werden.

Wir dürfen uns jedoch nicht auf den einseitigen Standpunkt stellen, den
manche Autonome vertreten, daß es in erster Line darauf ankäme, das
herrschende System zu bekämpfen und nicht, Utopien für eine neue Ge-
sellschaft zu entwickeln. (233) Ich meine, daß beides gleich wichtig ist. Wir
müssen zur Kenntnis nehmen, was die Geschichte lehrt: daß ohne die Lö-
sung zentraler sozialökonomischer Probleme jede emanzipatorische und
sozialrevolutionäre Bewegung zum Scheitern verurteilt ist. Wir müssen
begreifen, daß Ökonomie, Gesellschaft und Politik nicht zu trennen sind.
Die Lösung zentraler sozialökonomischer Probleme ist die notwendige
Voraussetzung für die Lösung vieler anderer sozialer, politischer und öko-
nomischer Probleme. So ist z. B. die Überwindung des feudalistischen
Bodenrechts eine wichtige Voraussetzung zur Überwindung sozialer und
politischer Probleme in der Dritten Welt oder die Überwindung von Kon-
junkturkrisen die Voraussetzung zur Überwindung von Strukturkrisen
und Arbeitslosigkeit in den Industriegesellschaften.

Um sozialökonomische Probleme lösen zu können, sind nicht nur revo-
lutionäre Machtkämpfe, sondern ebenso fundierte Wirtschaftsanalysen
und hieb- und stichfeste alternative Wirtschaftskonzepte notwendig.
Denn ohne einen tragfähigen Boden und ohne einen klar durchdachten
Entwurf kann der beste Baumeister kein standfestes und bewohnbares
Haus errichten. Doch dazu liefert uns weder der Griff in die Mottenkiste
der marxistischen, noch die Kapitulation vor der liberalistischen Wirt-
schaftsideologie, weder André Gorz' "Plan"-Wirtschaft noch die Markt-
wirschaft der Öko"libertären", das nötige Rüstzeug. Dort plattert der Re-
gen durchs Dach, hier wackeln die Wände.

Wir wollen nicht das alte, verrottete Haus renovieren, den "Kapitalis-
mus modernisieren", wie es eine Berliner AL-Fraktion fordert. (Wie et-
wa in Thatchers England oder Reagens USA? Das soll wohl ein Witz
sein!). (233a) Die Öko"libertären" wollen nur die Fassade neu streichen. Sie
akzeptieren Zins und Rente, stehen folglich nicht in der zins- und renten-
feindlichen Tradition der Anarchisten, betreiben also Etikettenschwindel
mit dem anarchistischen Begriff libertär. Sie sind nichts anderes als Libera-
le vom Schlage linker FDPler. (234)

Wir wollen dieses Zuchthaus sprengen. Doch der Marxismus ist nicht
das Dynamit, das seine Mauern zum Einsturz bringt, er ist selbst eine
Ideologie des Zuchthauses. Während der Kapitalismus immerhin das
Elend der Zinsknechtschaft mit dem materiellen Reichtum und der Libe-
ralität der Marktwirtschaft verbindet, vereinigt seine marxistische Alter-
native, der "real existierende Sozialismus", das Elend der Zinsknecht-
schaft mit dem Chaos, der Armseligkeit und der Diktatur der Staatswirt-
schaft.

Die liberalistisch-privatkapitalistische wie ihr Pendant; die marxistisch-
staatskapitalistische Wirtschaftsideologie haben historisch ausgedient, sie
gehören beide auf den Misthaufen der Geschichte.

Auch das von Anhängern beider Ideologien propagierte "garantierte
Mindesteinkommen" für alle bzw für alle Arbeitslosen ist keine sehr ori-
ginelle Idee, die "Wege ins Paradies" (Gorz) weisen könnte. Bereits die
Machthaber im alten Rom hatten den von ihrem Grund und Boden ver-
triebenen und seit Generationen arbeitslosen Proletariern Brot und Spie-
le als "garantiertes Mindesteinkommen" aus dem Reservoir der unter-
drückten, ausgeplünderten und zum Ergötzen des Pöbels in den Arenen
abgeschlachteten Völker des Imperiums verpaßt, um es bei Laune und an
der Seite des imperialistisch-patriarchalischen Sklavenhalterstaates zu
halten. (235) Das garantierte Mindesteinkommen ist lediglich die Verlegen-
heitslösung von vermeintlich linken Politaktivisten, die nicht in der Lage
sind, mit der gegenwärtigen Krise fertig zu werden. Die Öko"libertären"
Gerhardt und Weber geben das auch ungeniert zu, wenn sie in einer Ab-
handlung über das Mindesteinkommen in einer Kapitelüberschrift pro-
grammatisch fordern: wir müssen "die Krise verstehen und mit ihr le-
ben". (236)

Dieser Zynismus führt, wie die "Karlsruher Stadtzeitung" (237) richtig be-
merkt, zu einem "Indianerreservat" für lebenslänglich zur Arbeitslosig-
keit verurteilter Menschen und zur Spaltung der Arbeiterklasse in privile-
gierte Inhaber eines Arbeitsplatzes und ein Heer von Erwerbslosen, das
von den durch die Automation immer weniger werdenden Produzenten
ausgehalten werden müßte. Letztere haben dann nicht nur Zinsparasiten,
Subventionsempfänger, die Rüstungskosten usw, sondern auch noch eine
wachsende Subkultur zu finanzieren. Anders als der CDU(!)-Mann Wolf-
ram Engels (238) und C. H. Douglas (238a) kommen die Öko"libertären" noch
nicht einmal auf die Idee, wenigstens den Versuch zu unternehmen, das
garantierte Mindesteinkommen aus Zinsen zu finanzieren. Gorz können
wir immerhin zugute halten, daß er ein Programm entwickelt hat, das
nicht einen Teil der Bürger total aus dem Produktionsprozeß ausschließt:
einen Anspruch auf das "Sozialeinkommen" erhalten nur diejenigen, die
eine bestimmte Anzahl geleisteter Arbeitsstunden nachweisen können. (239)
Dadurch würde die Gesellschaft nicht in priviligierte Inhaber eines Ar-
beitsplatzes und Dauerarbeitslose gespalten werden.

Nicht nur Konservative wie der Anthropologe Arnold Gehlen, sondern
auch Marx und Engels haben den Menschen vor allem als ein arbeitendes
Wesen definiert. Bei aller Problematik entfremdeter Arbeit und ohne
dem konservativen und sozialistischen Arbeitsethos das Wort reden zu
wollen, muß gesehen werden, daß der Sinn menschlicher Arbeit vor allem
der ist, es dem Individuum zu ermöglichen, seinen Lebensunterhalt mit-
tels eigener produktiver Leistung selbst zu erzeugen.

Ein System, das junge Menschen dazu verurteilt, jemals im Leben in
die Lage zu kommen, ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeitsleistung
zu erwerben, und sie statt dessen von Staatsalmosen abhängig hält, ist
folglich ein unmenschliches System. Die Forderung nach dem garantier-
ten Mindesteinkommen ist die Bankrotterklärung der linken und Alterna-
tivszene.

Ich meine, daß sich mit Hilfe der Gesellschen Freiwirtschaftslehre
menschlichere, emanzipatorischen Ansprüchen genügende Perspektiven
entwickeln lassen: Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die je-
dem und jeder Arbeitsfähigen überall und jederzeit produktive Erwerbs-
möglichkeiten bereithält mit Arbeitszeiten, die er und sie selbst bestim-
men (dauerhaft krisenfreie Vollbetriebswirtschaft mit größtmöglicher
Freizügigkeit); das Einkommen entspricht den individuellen bzw. kollek-
tiven Leistungen und wird nicht durch Ausbeutungsmechanismen in Wirt-
schaft und Gesellschaft verkürzt ("voller Arbeitsertrag", (56) "Tauschge-
rechtigkeit"); alle jene, die arbeitsunfähig und ohne eigenes Verschulden
einkommenslos sind (wie Kinder, Jugendliche, Alte, Kranke) erhalten ei-
ne dem Durchschnitt aller Einkommen entsprechende Rente aus Sozial-
versicherungsbeiträgen bzw. aus der Bodenrente (Synthese von leistungs-
und sozialgerechter Einkommensverteilung auf der Basis einer leistungs-
fähigen und materiell reichen Volkswirtschaft). In diesem System könn-
ten die Arbeitsunfähigen menschenwürdig leben und die Arbeitsfähigen
über die Selbstbestimmung der Arbeitszeit und durch eigene Arbeitslei-
stung ihre Einkommenshöhe entsprechend ihren persönlichen Bedürfnis-
sen gestalten, allenfalls beschränkt durch ökologisch bedingte Auflagen.
Damit wäre das von den Marxisten und Kommunisten angestrebte Ideal
"jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", ver-
knüpft mit dem sozialistischen Prinzip ·"jeder nach seinen Leistungen",
auf realistische Weise optimal verwirklicht.

Zur Dialektik von Konkurrenz und Kooperation

Ein Problem, das der Situationist Raoul Vaneigen ebenso geistreich wie
zu Recht aufs Korn nimmt, (240) wird allerdings durch Gesells kapitalis-
musfreie Marktwirtschaft nicht aus der Welt geschafft: das Warenverhält-
nis als zwischenmenschliche Beziehung im ökonomischen Bereich.
Ebenso nicht das Wettbewerbsverhältnis der Produzenten auf dem Markt.
Da sich jedoch die Marktwirtschaft (auch wenn das der "Plan"-Fetischist
Gorz für "Quatsch" hält (241)) bis jetzt als das relativ zwangloseste und die
Bedürfnisse des einzelnen am besten befriedigende Steuerungssystem der
Volkswirtschaft erwiesen hat, werden wir uns wohl noch ein Weilchen mit
ihr abfinden müssen. Die einzige bisher praktizierte Alternative zur
Marktwirtschaft, die staatlich gelenkte Zentralverwaltungswirtschaft,
ist gescheitert und damit empirisch widerlegt.

Es ist schon richtig, was manche behaupten: Marx ist Murks. Emanzipie-
ren wir uns endlich von seiner Staats- und Planwirtschaftsideologie! Wenn
wir uns ein Haus bauen, dann suchen wir uns ja auch keinen Architekten,
von dem wir wissen, daß er Häuser entwirft, die kalte, teure, einstürzende
Bruchbuden sind. Holen wir uns Anregungen von anderen "Architek-
ten", machen wir unsere eigenen Entwürfe!

Da sich das "Reich der Freiheit" (Marx), in dem sich spontaner Aus-
tausch statt rationales Tauschgeschäft entwickeln könnte, nicht ohne das
"Reich der Notwendigkeit" realisieren läßt, und da sich das "Reich der
Freiheit" - Spontaneität, Selbstverwaltung usw - auch nur in be-
schränktem Maße im "Reich der Notwendigkeit" verwirklichen läßt, soll-
ten wir vernünftigerweise (im Sinne des späten Marx (242) und Herbert Mar-
cuses) das "Reich der Notwendigkeit" auf ein Mindestmaß an Zeit be-
schränken: also Arbeitszeitverkürzung. Das ist jedoch nur in einer lei-
stungsfähigen, krisenfesten und einkommensgerechten Marktwirtschaft
ohne Wachstumszwänge möglich. Dort würden sich auch die Probleme
des Warenverhältnisses, der Konkurrenz und sogar das der Unterneh-
menshierarchie relativieren und leichter bewältigen lassen.

Die Marktwirtschaft ist zwar in jedem Fall ein Wettbewerbssystem,
doch ohne Wettbewerb verkommen die Einzelunternehmen wie die ge-
samte Volkswirtschaft in Schlendrian, Inkompetenz, Unfähigkeit, Un-
wirtschaftlichkeit und Korruption. Auch viele Marxisten scheinen sich all-
mählich von ihrem kommunistischen Idealismus zu emanzipieren. Zum
Beispiel Ying Roucheng, stellvertretender chinesischer Kulturminister:
"Ich fürchte, es liegt nun mal in der menschlichen Natur, daß die Leute oh-
ne Wettbewerb mit anderen dazu neigen, faul zu werden. Ungeachtet all
der schönen Dinge, über die wir reden: Vaterland, Sozialismus, Nächsten-
liebe usw " (243)

Außerdem schließen Marktwirtschaft und Wettbewerb Zusammenar-
beit und gegenseitige Hilfe nicht aus; dafür liefern teamwork, Genossen-
schaften und Berufsverbände zahllose Beispiele.

Desweiteren sollten wir bedenken, daß es auch in der Natur ein Wech-
selspiel von Konkurrenz und Kooperation gibt und daß dieses wesentlich
zur Evolution beigetragen hat. Dieser Gegensatz von Wettbewerb im Sin-
ne Tuckers und "gegenseitiger Hilfe" im Sinne Kropotkins ist offenbar ei-
ne nützliche, Entwicklungs- und Lebensprozesse vorantreibende Natur-
gesetzlichkeit, die wir in der Physik, Chemie und Biologie des gesamten
Kosmos vorfinden. Die Naturwissenschaftler Carsten Bresch und Her-
mann Haken haben das in ihren Werken eindrucksvoll belegt. (244)

Schließlich besteht der natürliche Wettbewerb nicht in gegenseitiger
Halsabschneiderei, wie viele zu glauben scheinen; dieses Verhalten ist
eher ein spezifisches Produkt entfremdeter menschlicher "Hoch" kultu-
ren, insbesondere des krisengeschüttelten Kapitalismus. Der naturwüch-
sige Wettbewerb geht vielmehr so vonstatten, daß Individuen, Gruppen
und Arten, die besonders intelligent, kooperativ und solidarisch sind, er-
folgreicher in der Natur überleben und sich daher stärker vermehren und
ausbreiten als andere Individuen und Populationen. Der natürliche Wett-
bewerb ist also kein blutiger Konkurrenzkampf, wie Vulgärdarwinisten
behaupten, sondern ein milder Wettbewerb. Und er hat - so absurd das
klingen mag - ganz wesentlich dazu beigetragen, daß der Homo sapiens
sich zu einem Wesen mit sozialen Anlagen und Bedürfnissen entwickelt
hat, die biologisch-psychologischen Voraussetzungen für Kooperation
und Solidarität und damit für die Bildung von Gemeinschaften. (245)

In ähnlicher Weise könnte auch eine Wettbewerbswirtschaft zur Weiter-
entwicklung der menschlichen Kultur beitragen - sicherlich auch in
Richtung auf mehr Kooperation und Solidarität. Voraussetzung ist aller-
dings, daß die gegenwärtige Ökonomie, die eben nicht Leistung, sondern
wirtschaftliche Privilegien honoriert, beseitigt und durch ein wirklich lei-
stungsgerechtes Wirtschaftssystem ersetzt wird. In einer wirklich lei-
stungsgerechten Volkswirtschäft würden, wie in der Natur, gerade diejeni-
gen im Wettbewerb "überleben", die auch in sozialer Hinsicht "Leistung"
erbringen: die sich solidarisch und kooperativ verhalten! Der Kampf bis
aufs Messer ist eine Erscheiung der kapitalistischen Krisenwirtschaft.

Marktwirtschaft als System der Selbstorganisation

Der Markt hat lange vor dem Kapitalismus bestanden und ohne Markt
geht es auch im Sozialismus nicht, meinte 1988 der ehemalige DDR-
Wirtschaftsfunktionär Prof. Harry Mayer in einer Fernsehsendung zu den
Reformen in der Sowjetunion. Diese Einsicht in die Unverzichtbarkeit
auf Marktmechanismen scheint sich nicht nur bei hohen Funktionären im
"real existierenden Sozialismus", (246) sondern auch in linken Kreisen hier
zulande immer mehr durchzusetzen. (246a) Nur hier wie dort wird eine kapi-
talistische Marktwirtschaft propagiert und praktiziert. Der Dividenden-
Kommunismus in Rotchina (s. Kap.12) und die hohe Zinsverschuldung
der Volksrepublik Polen bei westlichen Banken (s. Kap. 2) sind nur zwei
Beispiele für den Kapitalismus im Sozialismus.

Auf einer Veranstaltung der Öko"libertären" in Berlin 1984 erklär-
te der "Realo" Daniel Cohn-Bendit, daß wir unbedingt eine
- Marktwirtschaft bräuchten, in der sich Kollektive etablieren und mitein-
ander in Konkurrenz treten müßten; die Mitglieder der Kollektive sollten
jedoch alle den gleichen Lohn erhalten. Erstaunlich ist nur, daß auch die-
ser Anführer der antikapitalistischen Pariser Mairevolte von 1968 das Pro-
blem des Zinses in der Marktwirtschaft völlig übergeht.

Auch die marktwirtschaftlichen Vorstellungen der Öko"libertären"
sind ein Beispiel für kapitalismusfreundliche Ideologie in der Alternativ-
szene. Selbst marktbejahende Neoanarchisten kommen über ein allgemei-
nes Bekenntnis zur Marktwirtschaft nicht hinaus. So wird z. B. in einem
Artikel der respektablen Ökonomie-Sondernummer der Graswurzelrevo-
lution der Markt akzeptiert, das Zinsproblem jedoch völlig ignoriert. Den
wichtigsten Klassiker anarchistischer Ökonomie, Proudhon, haben ihre
Herausgeber offenbar vergessen, Gesells Bedeutung für eine anarchisti-
sche Alternative zur liberalen und marxistischen Ökonomie nicht er-
kannt. (247)

Der Anarchist Gustav Landauer war da bereits vor einem dreiviertel
Jahrhundert einen entscheidenden Schritt weitergegangen, als er (unter
Hinweis auf Gesells Freigeldlehre in seinem Aufruf zum Sozialismus; s.
Text 4) für seine "Republik der Republiken" eine Marktwirtschaft ohne
Kapitalismus forderte. Damit versuchte Landauer, vermutlich, ohne sich
dessen bewußt zu sein, die "Naturdialektik" (Engels) von Kooperation
und Wettbewerb in seine Vorstellungen von Sozialismus einzufügen, um
diese für den Sozialismus nutzbar zu machen - eine physiokratische Posi-
tion!

Wenn Landauer sich diesen Sozialismus als eine Republik autonomer,
selbstbestimmter und miteinander kooperierender Gemeinschaften
denkt, dann baut er ihn darüber hinaus auf der Grundlage eines anderen
"anarchistischen" Naturgesetzes auf: auf dem Prinzip der Selbstorganisa-
tion und Selbststeurung autonomer physikalischer, chemischer und biolo-
gischer Einheiten und komplexer Gebilde. Auch diese in Atomen, Mole-
külen, Zellen, Tieren, Pflanzen, Biotopen, Sozietäten, Galaxien in Er-
scheinung tretende Naturgesetzlichkeit wird von Bresch und Haken aus-
führlich beschrieben. (248) Der Naturwissenschaftler Carl Sagan bezeichnet
die einzelne Zelle unseres Körpers als "eine Art Kommune", die autonom
mit anderen autonomen Zellen dieses Körpers kooperiert und auf diese
Weise diesen hochkomplexen und hochdifferenzierten menschliche Kör-
per organisiert und funktionsfähig hält - und zwar ohne ein hierarchi-
sches Steuerungssystem mit einer alles beherrschenden Zentrale. (249) Die
Aktionen und Interaktionen der hundert Tausende Individuen eines
Ameisen-, Termiten- oder Bienenstammes werden nicht durch die Herr-
schaft einer "Königin", sondern durch die Kooperation der einzelnen Ex-
emplare gesteuert. Herrschaft und zentrale Steuerung sind in der Natur
relativ seltene Erscheinungen.

Ebenso wie die Dialektik von Wettbewerb und Kooperation, ist also
auch die Selbstorganisation und Selbststeuerung ein Prinzip der Natur,
das maßgeblich zur Evolution des Kosmos und des Lebens und der kom-
plexen tierischen und menschlichen Sozietäten beigetragen hat. Her-
mann Haken nennt diese anarchistischen Naturgesetzlichkeiten die "Er-
folgsgeheimnisse der Natur".

Auf ähnlicher naturalistischer oder, wenn wir so wollen, "anarcho-phy-
siokratischer" Ebene ("physiokratisch" im Sinne von naturgemäß) argu-
mentieren im Grunde genommen auch Proudhon, Tucker und viele an-
dere Anarchisten, wenn sie den Selbststeurungsmechanismus der
Marktwirtschaft für eine libertäre Ökonomie nutzbar machen wollen.
Auch die Marktwirtschaft ist eines jener kybernetischen Systeme, wie sie
überall in der Natur, in den Interaktionen der Tiersozietäten und in den
herrschaftsfreien Kulturen der Naturvölker zu finden sind: Kybernetik im
Sinne von Selbstorganisation der Natur und der Gesellschaft durch Selbst-
steuerung ihrer kooperierenden und konkurrierenden autonomen Teile.
Nur im hierarchischen Patriarchat, in der monopolistisch-kapitalistischen
Wirtschaft und im zentralistischen Staat und Staatskommunismus wird
die Selbststeuerung der Wirtschaft und die Selbstorganisation "assoziier-
ter" Individuen unterdrückt und durch Bevormundung und gewalttätige
Eingriffe und Lenkungsmaßnahmen von "oben" ersetzt. (249a)

Ohne Einsicht in diese modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
se haben Anarchisten immer wieder in ihren Forderungen nach dezentra-
len und herrschaftsfreien Gesellschaftsstrukturen, nach Autonomie,
Selbstorganisation, Wettbewerb und Kooperation der einzelnen Individu-
en wie ihrer freien Vereinigungen und nach hierarchiefreier Selbststeu-
rung der Wirtschaft und Gesellschaft spontan diese Naturgesetzlichkeiten
wiederherstellen wollen - Landauer in Form seiner Republik autono-
mer Gemeinschaften im Zusammenhang mit Gesells Freiwirtschaft.

Eine "natürliche" Wirtschaftsordnung?

Da die Wirtschaftsform ganz wesentlich Reichtum und Charakter einer
Gesellschaft und die Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Individuen be-
stimmt, ist die Frage zu stellen, welche Wirtschaftsform allgemeinem
Volkswohlstand, sozialer Gerechtigkeit und persönlicher Freiheit am be-
sten dient: Die privatkapitalistische Marktwirtschaft der Liberalen? Die
staatlich-zentralistische und letztendlich ebenfalls kapitalistische "Plan"-
wirtschaft der marxistischen Kommunisten? Eine Mixtur aus beiden
Übeln? Die von demokratischen Sozialisten propagierte demokratisch-
zentralistische "Plan"wirtschaft auf staatskapitalistischer Grundlage?
Die entstaatlichte dezentral-kollektivistische Planwirtschaft im Sinne der
Anarchokommunisten und Anarchosyndikalisten? Eine vom Staat und
Kapital befreite Marktwirtschaft mit individuell und kollektiv organisier-
ten Unternehmungen im Sinne der Individual- und Sozialanarchisten?
Oder welche sonst?

Gesell lehnt die zentral gelenkte Staatswirtschaft ebenso entschieden
ab wie die kapitalistisch-monopolistische Privatwirtschaft. Er ist aller-
dings auch skeptisch gegenüber allen anderen Formen der Gemeinwirt-
schaft, insbesondere denen kommunistischer Gütergemeinschaft mit glei-
cher Entlohnung. Er meint: "Je größer die Gemeinschaft (Kommune),
um so größer die Verwässerung, um so schwächer der Trieb, zur Erhaltung
der Gemeinschaft durch Arbeit beizutragen. Wer mit einem Genossen ar-
beitet, ist schon weniger ausdauernd als derjenige, der die Frucht der Ar-
beit allein genießt. Sind es 10-100-1000 Genossen, so kann man den Ar-
beitstrieb auch durch 10-100-1000 teilen; soll sich gar die ganze Mensch-
heit in das Ergebnis teilen, dann sagt sich jeder: auf meine Arbeit kommt
es überhaupt nicht mehr an, sie ist, was ein Tropfen für das Meer ist. Dann
geht die Arbeit nicht mehr triebmäßig vonstatten; äußerer Zwang wird
nötig!" (250)

Gesells Einschätzung mag übertrieben pessimistisch sein. Kollektive
Zusammenarbeit kann ökonomisch durchaus vorteilhaft sein. Sie kann
stimulierend wirken, zumindest in der Kleingruppe, und viele Arbeiten
sind nur kollektiv zu bewältigen. Außerdem kann Gemeinschaftsarbeit
Freude machen, was allerdings oft auch mit geringerem wirtschaftlichen
Erfolg bezahlt werden muß. Andererseits zeigen die geringe wirtschaftli-
che Effizienz und der staatliche Zwang im "real existierenden Sozialis-
mus", daß Gesells Einschätzung in Bezug auf anonyme und fremdbe-
stimmte Großkollektive durchaus begründet ist. Auf Grund realistischer
Einschätzung der menschlichen Natur gibt er der durch keinerlei Ein-
schränkungen behinderten Eigenwirtschaft mit Eigeninitiative und indivi-
dueller Entlohnung für individuelle Leistung den Vorrang vor der kom-
munistischen oder gar staatlich-zentralistischen Wirtschaftsform.

Das heißt jedoch nicht, daß er den Menschen ausschließlich als eigen-
nützigen oder gar eigensüchtigen "Homo oeconomicus" sieht. Er begreift
den Menschen durchaus als soziales Wesen, was er u. a. mit seiner Utopie
akratisch-physiokratischer Frauengemeinschaften in seinem Abgebauten
Staat belegt (s. Kap. 9 u. Text 7). Er trennt jedoch (gewiß nicht unproble-
matisch (250a)) den ökonomischen von allen übrigen gesellschaftlichen
Bereichen ab. Damit sich die Individuen als "totale Menschen" (Marx) in
all ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten, also auch in ihren sozialen, ent-
falten können, sei eine funktionierende, krisenfreie Volkswirtschaft ohne
Ausbeutung unerläßliche Voraussetzung; sie dürfe jedoch nicht mit christ-
lichen oder kommunistischen Moralansprüchen und Ideologien belastet
werden. Da war Gesell - im Gegensatz zu den christlichen und kommu-
nistischen Idealisten mit ihrem überzogen negativen bzw. positiven Men-
schenbild - ein konsequenter Materialist und Realist und ein Gegner
jeglicher Manipulation der Individuen durch Erziehung, Moral und physi-
schen Zwang. Seiner Meinung nach funktioniert ein gesamtgesellschaftli-
ches Wirtschaftssystem nur, wenn es auf den "natürlichen Egoismus" der
einzelnen Individuen als Motor der Produktion baut. Eine Wirtschafts-
ordnung, die dieses eigennützige Streben der Menschen nutzt und die
tüchtigen Produzenten belohnt und nicht die unproduktiven Geldverlei-
her, Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert, ist - weil sie
nach Meinung Gesells der Natur des Menschen entspricht - eine "natür-
liche Wirtschaftsordnung". Ein Wettbewerbssystem ohne Zinsen, Zölle,
Monopole, Subventionen und andere Privilegien sei optimal produktiv
und gäbe den Menschen auch die materiellen Mittel zur Befriedigung ge-
meinnütziger und altruistischer Bedürfnisse in die Hände. (251)

"Natürlich" (physiokratisch) ist eine Wirtschaftsordnung, die (durch
bewußtes menschliches Handeln) "der Natur des Menschen angepaßt
ist". (252) Ihr wichtigster Maßstab ist die Wohlfahrt der Menschen. In diesem
Sinne und als hätte Gesell bereits vor 70 Jahren unsere heutigen Mensch
und Natur zerstörenden Industrie- und Wachstumsprobleme erahnt,
schrieb er 1918 im Vorwort der 3. Auflage der Natürlichen Wirtschaftsord-
nung: "Dort, wo der Mensch am besten gedeiht, wird auch die Wirt-
schaftsordnung die natürlichste sein. Ob eine in diesem Sinne sich bewäh-
rende Wirtschaftsordnung zugleich die technisch leistungsfähigste ist und
dem Ermittlungsamt Höchstzahlen liefert, ist eine Frage minderer Ord-
nung. Man kann sich ja heute eine Wirtschaftsordnung vorstellen, die
technisch hohe Leistungen aufweist, bei der aber Raubbau am Menschen
getrieben wird. Immer darf man wohl blindlings annehmen, daß eine Ord-
nung, in der der Mensch gedeiht, sich auch in Bezug auf Leistungsfähig-
keit als die bessere bewähren muß. (...) 'Der Mensch ist das Maß aller
Dinge', darum auch Maß seiner Wirtschaft." (253)

Diese Aussage hebt sich wohltuend ab vom Wachstums- und Industria-
lisierungsfetischismus der Leninisten im "realen Sozialismus", der Kapi-
talvertreter hierzulande und der "Entwicklungs"politiker in der Dritten
Welt. Heute würde der Physiokrat Gesell gewiß auch die Natur mit einbe-
ziehen als Maßstab für eine richtige Wirtschaftspolitik.

Nicht-kapitalistische Marktwirtschaft und Kleingruppen-Kommunismus

Trotz seiner Skepsis gegenüber Kollektiven und Kommunen und gerade
wegen seines ausgeprägten Individualismus, wollte Gesell niemanden
daran hindern, kommunistische Experimente durchzuführen. Für Robert
Anton Wilson ist Gesell vor allem deshalb "der einzige utopische Öko-
nom, den ich je mochte", weil er auch den Wettbewerb der Ideen und Ex-
perimente gefordert hat und seine eigenen diesem Wettbewerb aussetzen
wollte. (254) Das schließt kommunistische Produktions- und Konsumtions-
gemeinschaften in diesen Wettbewerb mit ein. Gesell ist jedoch der Mei-
nung, daß die Einführung von Gütergemeinschaften und kollektivem
Wirtschaften ein Rückfall in den Urkommunismus prähistorischer Zeit
sei, den die vom Eigennutzen und von individueller Initiative motivierte
und gesteuerte Geld- und "Eigenwirtschaft" überwunden habe. Diese sei
ein geschichtlicher Fortschritt, wer ihn vertrete, sei ein Linker; wer hinge-
gen den Kommunismus reproduzieren wolle, sei rückständig und poli-
tisch ganz rechts einzuordnen. (255)

Diese These ist gewiß soweit richtig, als daß die Markt- und Geldwirt-
schaft die einzelnen Individuen von den Abhängigkeiten und Bindungen
der urkommunistischen Kollektive befreit hat. Geld- und Eigenwirtschaft
kann für alle Menschen individuelle Befreiung und Autonomie bedeuten
- vorausgesetzt, bestimmte Monopole in der Geld- und Marktwirtschaft
bewirken nicht andere gesellschaftliche und ökonomische Abhängigkei-
ten. Doch diese will Gesell mit seinem Freiland- und Freigeld-Programm
ja überwinden. Der Individualist Gesell bedenkt jedoch zu wenig unsere
prähistorische, naturgeschichtliche Erbschaft aus den urkommunisti-
schen Horden und Sippen. Diese Gemeinschaften haben unsere sozialen
Anlagen in Jahrmillionen geprägten: wir sind gewissermaßen genetisch
auf Urkommunismus programmiert. Der Mensch ist, wie Engels richtig
sagt, nicht nur ein "gesellschaftliches", ein kulturgeschichtlich geworde-
nes rationales Kulturwesen, sondern ebenso ein naturgeschichtlich gewor-
denes emotional "geselliges" Naturwesen. (256) "Geselligkeit" ist jedoch ein
vitales Bedürfnis, dessen soziobiologischer Zweck u. a. die lustvolle Zu-
sammenarbeit ist. Diese kann sich in egalitären, kommunistischen Ge-
meinschaften eher lustvoll entfalten, als in den eigenwirtschaftlichen Ar-
beitsorganisationen, die in der modernen Industrie- und Marktgesell-
schaft zweckrational und hierarchisch organisiert und verhältnismäßig un-
gesellig sind. Wir bringen jedoch nicht nur urkommunistische Prägungen
und Bedürfnisse, sondern auch viele primäre, höcht individuelle Bedürf-
nisse und darüber hinaus zahllose senkundäre und tertiäre, gesellschaft-
lich geprägte Bedürfnisse und Interessen mit, die sich nur jenseits von not-
wendigen Anpassungen und Unterordnungen in Kollektiven entfalten
und verwirklichen können. Marxens Anspruch, das menschliche Indivi-
duum als nicht-entfremdetes, "totales Wesen" zu entfalten, schließt Kol-
lektive ebenso ein wie aus, kann nur als eine dialektisches Wechselspiel in
der Gesellschaft verstanden werden. Die vorrangige Aufgabe einer neuen
Ökonomie muß es also sein, die materielle Grundlage für die Entfaltung
aller (legitimen) menschlichen Bedürfnisse und Interessen in der Gesell-
schaft bereitzustellen, und dazu gehören auch urkommunistische. Die
Entfaltung und Befriedigung natürlicher sozialer Anlagen und Bedürf-
nisse entspricht durchaus Gesells physiokratischen Ansprüchen, auch
dann, wenn sie sich im ökonomischen Bereich verwirklichen wollen.
Doch andere individuelle Bedürfnisse und Interessen müssen ebenso zum
Zuge kommen können.

Max Stirner, auf den Gesell sich gerne beruft, geht dementsprechend
über den Anspruch nach Gemeinschaft im Sinne naturwüchsiger Bindung,
wie wir sie in den urkommunistischen Stammeskulturen und ähnlich noch
heute im Familienleben vorfinden, hinaus. Er setzt sich von ihr ebenso ab,
wie von der durch Ideologie, Glaube, "fixe Idee" gebundenen Gesellschaft.
Er setzt beiden als Alternative die Vereinigung bewußter, autonomer, sich
selbst gehöriger und daher selbstbestimmter Individuen in freier Überein-
kunft und Vereinbarung zum Zweck der Verwirklichung ihrer eigenen, also
"eigennützigen" (Gesell) Interessen und Bedürfnisse gegenüber. (257) Diese
"egoistischen" Interessen und Bedürfnisse können jedoch durchaus vita-
ler und sozialer Natur sein, z. B., wenn es um die Befriedigung des eroti-
schen Bedürfnisses nach liebevoller Hinwendung an andere Menschen
geht (s. Kap. 9). Der Eros (im Sinne von Liebe), Jahrmillionen auf Klein-
gruppen von ein bis zwei Dutzend Menschen geprägt, funktioniert sicher-
lich einigermaßen reibungslos in Kollektiven dieser Größe, für die Ver-
wirklichung eines anonymen, zentralistischen und fremdbestimmten
Groß- und Massenkommunismus dürfte die soziale, erotische und urkom-
munistische Natur der Menschen auf Dauer jedoch kaum hinreichen. Al-
lenfalls läßt sie sich von Nationalisten, Rassisten, Faschisten und religiö-
sen Fanatikern für ihre unmenschlichen Zwecke massenpsychologisch
mißbrauchen. Gesells Freiwirtschaft hingegen könnte durchaus als öko-
nomische Grundlage dienen für Landauers Sozialismus der kleinen, auto-
nomen Gemeinschaften, für überschaubare Kommunen und für Vereini-
gungen im Sinne Stirners. Denn nicht die hierarchisch-autoritäre, büro-
kratisch-zentralistische "Plan"- und Staatswirtschaft, die auch noch dem
Privatkapital dient, sondern die dezentral und selbstorganisierte, zins-
und monopolfreie Marktwirtschaft macht kleine, selbstinitiierte und
selbstverwaltete Wirtschaftskollektive erst möglich und schließt gleichzei-
tig (s. Kap.12) selbstverwaltete Ausbeutung aus. Eine derartige, vom Ka-
pitalismus befreite Marktwirtschaft würde heutigen Produktions- und
Konsumtionsgemeinschaften einen ähnlichen Aktionsraum bereitstellen,
den in prä- und frühhistorischer Zeit die natürliche Umwelt den urkom-
munistisch-anarchistischen Horden und Sippen zur Verfügung gestellt
hat, und in dem die Menschen auch ähnlich handeln würden: innerhalb
der Kleingruppen ("Urhorde") herrscht Kooperation vor, innerhab des
großen Rahmens der Volks- und Weltwirtschaft (Ersatz für den natürli-
chen Biotop des Menschen) herrscht milder, Produktion und Verteilung
steuernder Wettbewerb zwischen eingenwirtschaftlichen wie kollektiven
Unternehmungen vor. Das schließt (wie in den Stammeskulturen) Koope-
ration auch zwischen den einzelnen, autonomen Unternehmungen (wie
bei den Sippen, Clans und Stämmen) nicht von vornherein aus. Der
Markt und ein zinsfreies und wertbeständiges Tauschmittelliefern jedoch
(an Stelle der Naturgesetze des Biotops) die unverzichtbaren ökonomi-
schen Maßstäbe für wirtschaftliche Aktivitäten - einschließlich Koope-
ration. (258)

"Der Markt", bemerkt der Ökonomieprofessor Aleksander Bajk zur
Situation in Jugoslawien, "ist das wesentliche Element des Selbstverwal-
tungssystems, aber das hat man völlig vergessen." (258a) Ebenso wenig dür-
fen Herr Bajk und seine Genossen allerdings vergessen, daß es ein Markt
ohne "Mehrwert", ohne Zins, sein muß!

Sicherlich reguliert auch eine nicht-kapitalistische Marktwirtschaft nicht
alles selbsttätig und perfekt zum Nutzen aller und der Natur. So läßt sich
z. B. nicht ohne Eingriffe in den Markt der Gegensatz zwischen dem Inter-
esse an unbeschränkter Nutzung des Autos und an dem Fortbestand der
Wälder lösen. Auf den freiwilligen Verzicht aller Einzelnen auf den Indivi-
dualverkehr können wir nicht hoffen. Marktmechanismen können jedoch
zur Konfliktlösung genutzt werden, z. B., in dem die Preise jener Produk-
te, die die Umwelt schädigen, erheblich mit Steuern belastet werden. So
würde bereits eine Belastung der Benzinpreise mit den gesellschaftlichen
Kosten des Autoverkehrs diese auf 4 bis 5 DM pro Liter hochtreiben. (259)
Das würde - auch im Sinne marktwirtschaftlicher Intentionen - zu ei-
ner erheblichen Einschränkung des umweltschädlichen und unökonomi-
schen Individualverkehrs und zu größerer Tauschgerechtigkeit führen: die
Autofahrer würden nicht mehr auf Kosten anderer Verkehrsteilnehmer
subventioniert werden. (259a)

Aber auch Gebote und Verbote können, insbesondere als ökologische
Steuerungsinstrumente, nicht völlig ausgeschlossen werden. Völlig ohne
gesellschaftliche Interventionen in den Markt, da mag Keynes in seiner
Kritik an den radikalen Liberalen richtig liege, kann es heute vielleicht
nicht mehr gehen, aber das ist eine drittrangige Frage. (Tausch- und Inter
ventionssozialismus stehen auch nicht, wie Noebe meint, unbedingt in Wi-
derspruch zueinander, beide wohl aber in Widerspruch zum Produktions-
sozialismus). Mit der Nutzung von Marktmechanismen läßt sich jeden-
falls mehr erreichen, als mit staatlicher oder "demokratischer" Planung,
womöglich bis hin zur Produktion und Verteilung jedes Hosenknopfes.
Wann wo welche und wieviele Hosenknöpfe benötigt werden, das kann
niemand und nichts besser herausfinden, als der Markt, als sein Gesetz
von Angebot und Nachfrage. Die Marktmechanismen machen zentralisti-
sche und administrative Eingriffe weitgehend, wenn nicht überhaupt,
überflüssig.

70 Jahre staatliche und zentralgelenkte "Plan"wirtschaft sind genug.
Sie verkörpert mit ihrer bürokratischen Fehlplanung, Schlamperei, Un-
wirtschaftlichkeit und ihrem GAU in Tschernobyl 1986 genau das, was
Marx der Marktwirtschaft mit dem Vorwurf der Wirtschaftsanarchie an-
hängen will: Chaos. Darüber hinaus hat sie sich - wegen der Zinsknecht-
schaft beim westlichen Finanzkapital - noch nicht einmal vom Mehrwert
befreit. Und schließlich ist sie gewiß nicht "anarchisch", also herrschafts-
frei. Der Staat ist nicht "abgestorben", er ist mächtiger als in jeder ande-
ren Gesellschaft und hat in der Sowjetunion als Werkzeug Lenins, Trotz-
kis und Stalins, ebenso wie in Deutschland in der Hand Hitlers, viele Mil-
lionen Menschen ermordet. Staat wie Staatswirtschaft bewirken den
höchsten Grad der Entfremdung.

Aber auch eine "demokratische" Gesamtplanung ist nicht nur unwirt-
schaftlich, sondern eben auch demokratisch: sie ist Volksherrschaft. Mehr-
heitsbeschlüsse in der Makroökonomie führen leicht zu Benachteiligun-
gen spezieller Bedürfnisse von Minderheiten.

Die beste "basisdemokratische", genauer: individual-anarchistische
Planung ist die marktwirtschaftliche über den "Stimmzettel" Geld - vor-
ausgesetzt, nicht die Finanzkapitalisten, Grundeigentümer, Wirtschafts-
monopolisten, Spekulanten usw, sondern die Produzenten verfügen über
diesen Stimmzettel. Dann entscheidet als Konsument jeder einzelne Pro-
duzent über die Lenkung der Produktion, Investition und Verteilung in
der Volkswirtschaft, viel besser als jeder beamtete Bürokrat oder gewähl-
te Funktionär. Die Planung im Betrieb besorgen die einzelnen Unterneh-
mer und Wirtschaftskollektive in autonomer individueller oder kollekti-
ver Selbstbestimmung, ebenfalls besser als Staatsbürokraten oder Funk-
tionäre.

Angesichts des weltweiten Versagens sowohl der liberalistischen wie
der marxistischen Wirtschaftstheorie, werden wir uns nach neuen Ideen
umsehen müssen. Sie sind vorhanden."Johannsen, Foster und Cat-
chings, Hobson und Gesell haben alle brilliante, heute durchführbare Vor-
schläge gemacht, aber sie stießen auf taube Ohren", schreibt der Wirt-
schaftswissenschaftler Lawrence R. Klein in "The Keynesian Revolution".
"Es ist zu hoffen, daß die Ökonomen in Zukunft denen mit Sympathie be-
gegnen, die eine große ökonomische Intention besitzen." (260)

Ich würde sagen, wir sollten das nicht den etablierten Ökonomen über-
lassen. Wir selbst sollten ihnen und den vielen anderen, von denen ich be-
reits einige wie Douglas und Damaschke genannt habe, (261) in Zukunft mit
Sympathie begegnen und ihre Intentionen für unsere Zwecke nutzen. Da-
bei dürfte Gesell, von dem Keynes sagt, daß die Zukunft mehr von ihm als
von Marx lernen würde, besondere Beachtung verdienen - vor allem in
anarchistischen Kreisen.

Gesell hat den Versuch Proudhons fortgeführt, das Modell einer "akra-
tischen" (herrschaftsfreien) und "mutualistischen" (tauschgerechten)
Wirtschaftssordnung zu entwickeln, und seine Geldtheorie hatte in der
Praxis sogar Erfolge aufzuweisen. Er hat außerdem ein mütter- und kin-
derfreundliches Bodenreformprogramm entwickelt, das über die An-
sprüche aller anderen Bodenreformer weit hinausreicht. Das sind Beiträ-
ge zur Wirtschafts- und Sozialutopie, die sich ausbauen ließen.

Ich bin überzeugt davon, daß mich jener namenlose Mäusezüchter aus
Pinneberg gerade mit Gesells Freiland-Freigeld-Lehre mit einer ebenso
"pfiffigen" (Suhr) wie aktuellen Theorie bekannt gemacht hat, die nur
dank einer kleinen unverdrossenen Minderheit, zu der auch mein Mäuse-
händler gehört, nicht in Vergessenheit geraten ist. Daß er mich mit diesem
unausrottbaren Bazillus der "Anarcho-Physiokratie" infiziert hat, möchte
ich ihm an dieser Stelle meinen späten, aber um so nachdrücklicheren
Dank aussprechen! (262)


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