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Selbstverständlich lassen sich auch mit Gesells "natürlicher
Wirtschafts-
ordnung" nicht alle ökonomischen und sozialen Probleme
der Welt lösen.
Es dürfte jedoch, nachdem wir Gesells Freiland-Freigeld-Lehre
kennen-
gelernt haben, kaum noch zu bezweifeln sein, daß sein Konzept
einer
Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und ohne feudale Relikte dem
kapitali-
stisch-feudalistisch-patriarchalischem System an seine Wurzeln
geht, daß
es zwei zentralen Institutionen des Sytems den Garaus machen könnte:
dem zinserpressenden Geld und dem Privateigentum an Grund und
Bo-
den. Mit ihrer Geld-, Zins- und Konjunkturtheorie und ihrem Schwund-
geld-Konzept könnte Gesells Freigeld-Lehre offenbar einen
wesentlichen
Beitrag zur Überwindung von Ausbeutung, Absatzkrisen und
Arbeitslo-
sigkeit und zur Minderung der Kapitalkonzentration und des Wachstums-
drucks leisten. Und mit ihrem matristischen Bodenrechtskonzept
kann
seine Freiland-Lehre zweifelsohne wesentlich zur Befreiung der
Mütter
und Kinder von materieller Abhängigkeit und somit auch von
patriarcha-
lischen Sozialstrukturen beitragen. Viele andere Probleme, wie
das der
Hierarchie und Herrschaft im Betrieb oder das der Macht und Gewalt
des
Staates in der Gesellschaft, müssen mit anderen Mitteln gelöst
werden.
Wir dürfen uns jedoch nicht auf den einseitigen Standpunkt
stellen, den
manche Autonome vertreten, daß es in erster Line darauf
ankäme, das
herrschende System zu bekämpfen und nicht, Utopien für
eine neue Ge-
sellschaft zu entwickeln. (233) Ich meine, daß beides gleich
wichtig ist. Wir
müssen zur Kenntnis nehmen, was die Geschichte lehrt: daß
ohne die Lö-
sung zentraler sozialökonomischer Probleme jede emanzipatorische
und
sozialrevolutionäre Bewegung zum Scheitern verurteilt ist.
Wir müssen
begreifen, daß Ökonomie, Gesellschaft und Politik nicht
zu trennen sind.
Die Lösung zentraler sozialökonomischer Probleme ist
die notwendige
Voraussetzung für die Lösung vieler anderer sozialer,
politischer und öko-
nomischer Probleme. So ist z. B. die Überwindung des feudalistischen
Bodenrechts eine wichtige Voraussetzung zur Überwindung sozialer
und
politischer Probleme in der Dritten Welt oder die Überwindung
von Kon-
junkturkrisen die Voraussetzung zur Überwindung von Strukturkrisen
und Arbeitslosigkeit in den Industriegesellschaften.
Um sozialökonomische Probleme lösen zu können,
sind nicht nur revo-
lutionäre Machtkämpfe, sondern ebenso fundierte Wirtschaftsanalysen
und hieb- und stichfeste alternative Wirtschaftskonzepte notwendig.
Denn ohne einen tragfähigen Boden und ohne einen klar durchdachten
Entwurf kann der beste Baumeister kein standfestes und bewohnbares
Haus errichten. Doch dazu liefert uns weder der Griff in die Mottenkiste
der marxistischen, noch die Kapitulation vor der liberalistischen
Wirt-
schaftsideologie, weder André Gorz' "Plan"-Wirtschaft
noch die Markt-
wirschaft der Öko"libertären", das nötige
Rüstzeug. Dort plattert der Re-
gen durchs Dach, hier wackeln die Wände.
Wir wollen nicht das alte, verrottete Haus renovieren, den "Kapitalis-
mus modernisieren", wie es eine Berliner AL-Fraktion fordert.
(Wie et-
wa in Thatchers England oder Reagens USA? Das soll wohl ein Witz
sein!). (233a) Die Öko"libertären" wollen
nur die Fassade neu streichen. Sie
akzeptieren Zins und Rente, stehen folglich nicht in der zins-
und renten-
feindlichen Tradition der Anarchisten, betreiben also Etikettenschwindel
mit dem anarchistischen Begriff libertär. Sie sind nichts
anderes als Libera-
le vom Schlage linker FDPler. (234)
Wir wollen dieses Zuchthaus sprengen. Doch der Marxismus ist
nicht
das Dynamit, das seine Mauern zum Einsturz bringt, er ist selbst
eine
Ideologie des Zuchthauses. Während der Kapitalismus immerhin
das
Elend der Zinsknechtschaft mit dem materiellen Reichtum und der
Libe-
ralität der Marktwirtschaft verbindet, vereinigt seine marxistische
Alter-
native, der "real existierende Sozialismus", das Elend
der Zinsknecht-
schaft mit dem Chaos, der Armseligkeit und der Diktatur der Staatswirt-
schaft.
Die liberalistisch-privatkapitalistische wie ihr Pendant; die
marxistisch-
staatskapitalistische Wirtschaftsideologie haben historisch ausgedient,
sie
gehören beide auf den Misthaufen der Geschichte.
Auch das von Anhängern beider Ideologien propagierte "garantierte
Mindesteinkommen" für alle bzw für alle Arbeitslosen
ist keine sehr ori-
ginelle Idee, die "Wege ins Paradies" (Gorz) weisen
könnte. Bereits die
Machthaber im alten Rom hatten den von ihrem Grund und Boden ver-
triebenen und seit Generationen arbeitslosen Proletariern Brot
und Spie-
le als "garantiertes Mindesteinkommen" aus dem Reservoir
der unter-
drückten, ausgeplünderten und zum Ergötzen des
Pöbels in den Arenen
abgeschlachteten Völker des Imperiums verpaßt, um es
bei Laune und an
der Seite des imperialistisch-patriarchalischen Sklavenhalterstaates
zu
halten. (235) Das garantierte Mindesteinkommen ist lediglich die
Verlegen-
heitslösung von vermeintlich linken Politaktivisten, die
nicht in der Lage
sind, mit der gegenwärtigen Krise fertig zu werden. Die Öko"libertären"
Gerhardt und Weber geben das auch ungeniert zu, wenn sie in einer
Ab-
handlung über das Mindesteinkommen in einer Kapitelüberschrift
pro-
grammatisch fordern: wir müssen "die Krise verstehen
und mit ihr le-
ben". (236)
Dieser Zynismus führt, wie die "Karlsruher Stadtzeitung"
(237) richtig be-
merkt, zu einem "Indianerreservat" für lebenslänglich
zur Arbeitslosig-
keit verurteilter Menschen und zur Spaltung der Arbeiterklasse
in privile-
gierte Inhaber eines Arbeitsplatzes und ein Heer von Erwerbslosen,
das
von den durch die Automation immer weniger werdenden Produzenten
ausgehalten werden müßte. Letztere haben dann nicht
nur Zinsparasiten,
Subventionsempfänger, die Rüstungskosten usw, sondern
auch noch eine
wachsende Subkultur zu finanzieren. Anders als der CDU(!)-Mann
Wolf-
ram Engels (238) und C. H. Douglas (238a) kommen die Öko"libertären"
noch
nicht einmal auf die Idee, wenigstens den Versuch zu unternehmen,
das
garantierte Mindesteinkommen aus Zinsen zu finanzieren. Gorz können
wir immerhin zugute halten, daß er ein Programm entwickelt
hat, das
nicht einen Teil der Bürger total aus dem Produktionsprozeß
ausschließt:
einen Anspruch auf das "Sozialeinkommen" erhalten nur
diejenigen, die
eine bestimmte Anzahl geleisteter Arbeitsstunden nachweisen können.
(239)
Dadurch würde die Gesellschaft nicht in priviligierte Inhaber
eines Ar-
beitsplatzes und Dauerarbeitslose gespalten werden.
Nicht nur Konservative wie der Anthropologe Arnold Gehlen, sondern
auch Marx und Engels haben den Menschen vor allem als ein arbeitendes
Wesen definiert. Bei aller Problematik entfremdeter Arbeit und
ohne
dem konservativen und sozialistischen Arbeitsethos das Wort reden
zu
wollen, muß gesehen werden, daß der Sinn menschlicher
Arbeit vor allem
der ist, es dem Individuum zu ermöglichen, seinen Lebensunterhalt
mit-
tels eigener produktiver Leistung selbst zu erzeugen.
Ein System, das junge Menschen dazu verurteilt, jemals im Leben
in
die Lage zu kommen, ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeitsleistung
zu erwerben, und sie statt dessen von Staatsalmosen abhängig
hält, ist
folglich ein unmenschliches System. Die Forderung nach dem garantier-
ten Mindesteinkommen ist die Bankrotterklärung der linken
und Alterna-
tivszene.
Ich meine, daß sich mit Hilfe der Gesellschen Freiwirtschaftslehre
menschlichere, emanzipatorischen Ansprüchen genügende
Perspektiven
entwickeln lassen: Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung,
die je-
dem und jeder Arbeitsfähigen überall und jederzeit produktive
Erwerbs-
möglichkeiten bereithält mit Arbeitszeiten, die er und
sie selbst bestim-
men (dauerhaft krisenfreie Vollbetriebswirtschaft mit größtmöglicher
Freizügigkeit); das Einkommen entspricht den individuellen
bzw. kollek-
tiven Leistungen und wird nicht durch Ausbeutungsmechanismen in
Wirt-
schaft und Gesellschaft verkürzt ("voller Arbeitsertrag",
(56) "Tauschge-
rechtigkeit"); alle jene, die arbeitsunfähig und ohne
eigenes Verschulden
einkommenslos sind (wie Kinder, Jugendliche, Alte, Kranke) erhalten
ei-
ne dem Durchschnitt aller Einkommen entsprechende Rente aus Sozial-
versicherungsbeiträgen bzw. aus der Bodenrente (Synthese
von leistungs-
und sozialgerechter Einkommensverteilung auf der Basis einer leistungs-
fähigen und materiell reichen Volkswirtschaft). In diesem
System könn-
ten die Arbeitsunfähigen menschenwürdig leben und die
Arbeitsfähigen
über die Selbstbestimmung der Arbeitszeit und durch eigene
Arbeitslei-
stung ihre Einkommenshöhe entsprechend ihren persönlichen
Bedürfnis-
sen gestalten, allenfalls beschränkt durch ökologisch
bedingte Auflagen.
Damit wäre das von den Marxisten und Kommunisten angestrebte
Ideal
"jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen",
ver-
knüpft mit dem sozialistischen Prinzip ·"jeder
nach seinen Leistungen",
auf realistische Weise optimal verwirklicht.
Zur Dialektik von Konkurrenz und Kooperation
Ein Problem, das der Situationist Raoul Vaneigen ebenso geistreich
wie
zu Recht aufs Korn nimmt, (240) wird allerdings durch Gesells
kapitalis-
musfreie Marktwirtschaft nicht aus der Welt geschafft: das Warenverhält-
nis als zwischenmenschliche Beziehung im ökonomischen Bereich.
Ebenso nicht das Wettbewerbsverhältnis der Produzenten auf
dem Markt.
Da sich jedoch die Marktwirtschaft (auch wenn das der "Plan"-Fetischist
Gorz für "Quatsch" hält (241)) bis jetzt als
das relativ zwangloseste und die
Bedürfnisse des einzelnen am besten befriedigende Steuerungssystem
der
Volkswirtschaft erwiesen hat, werden wir uns wohl noch ein Weilchen
mit
ihr abfinden müssen. Die einzige bisher praktizierte Alternative
zur
Marktwirtschaft, die staatlich gelenkte Zentralverwaltungswirtschaft,
ist gescheitert und damit empirisch widerlegt.
Es ist schon richtig, was manche behaupten: Marx ist Murks. Emanzipie-
ren wir uns endlich von seiner Staats- und Planwirtschaftsideologie!
Wenn
wir uns ein Haus bauen, dann suchen wir uns ja auch keinen Architekten,
von dem wir wissen, daß er Häuser entwirft, die kalte,
teure, einstürzende
Bruchbuden sind. Holen wir uns Anregungen von anderen "Architek-
ten", machen wir unsere eigenen Entwürfe!
Da sich das "Reich der Freiheit" (Marx), in dem sich
spontaner Aus-
tausch statt rationales Tauschgeschäft entwickeln könnte,
nicht ohne das
"Reich der Notwendigkeit" realisieren läßt,
und da sich das "Reich der
Freiheit" - Spontaneität, Selbstverwaltung usw - auch
nur in be-
schränktem Maße im "Reich der Notwendigkeit"
verwirklichen läßt, soll-
ten wir vernünftigerweise (im Sinne des späten Marx
(242) und Herbert Mar-
cuses) das "Reich der Notwendigkeit" auf ein Mindestmaß
an Zeit be-
schränken: also Arbeitszeitverkürzung. Das ist jedoch
nur in einer lei-
stungsfähigen, krisenfesten und einkommensgerechten Marktwirtschaft
ohne Wachstumszwänge möglich. Dort würden sich
auch die Probleme
des Warenverhältnisses, der Konkurrenz und sogar das der
Unterneh-
menshierarchie relativieren und leichter bewältigen lassen.
Die Marktwirtschaft ist zwar in jedem Fall ein Wettbewerbssystem,
doch ohne Wettbewerb verkommen die Einzelunternehmen wie die ge-
samte Volkswirtschaft in Schlendrian, Inkompetenz, Unfähigkeit,
Un-
wirtschaftlichkeit und Korruption. Auch viele Marxisten scheinen
sich all-
mählich von ihrem kommunistischen Idealismus zu emanzipieren.
Zum
Beispiel Ying Roucheng, stellvertretender chinesischer Kulturminister:
"Ich fürchte, es liegt nun mal in der menschlichen Natur,
daß die Leute oh-
ne Wettbewerb mit anderen dazu neigen, faul zu werden. Ungeachtet
all
der schönen Dinge, über die wir reden: Vaterland, Sozialismus,
Nächsten-
liebe usw " (243)
Außerdem schließen Marktwirtschaft und Wettbewerb
Zusammenar-
beit und gegenseitige Hilfe nicht aus; dafür liefern teamwork,
Genossen-
schaften und Berufsverbände zahllose Beispiele.
Desweiteren sollten wir bedenken, daß es auch in der Natur
ein Wech-
selspiel von Konkurrenz und Kooperation gibt und daß dieses
wesentlich
zur Evolution beigetragen hat. Dieser Gegensatz von Wettbewerb
im Sin-
ne Tuckers und "gegenseitiger Hilfe" im Sinne Kropotkins
ist offenbar ei-
ne nützliche, Entwicklungs- und Lebensprozesse vorantreibende
Natur-
gesetzlichkeit, die wir in der Physik, Chemie und Biologie des
gesamten
Kosmos vorfinden. Die Naturwissenschaftler Carsten Bresch und
Her-
mann Haken haben das in ihren Werken eindrucksvoll belegt. (244)
Schließlich besteht der natürliche Wettbewerb nicht
in gegenseitiger
Halsabschneiderei, wie viele zu glauben scheinen; dieses Verhalten
ist
eher ein spezifisches Produkt entfremdeter menschlicher "Hoch"
kultu-
ren, insbesondere des krisengeschüttelten Kapitalismus. Der
naturwüch-
sige Wettbewerb geht vielmehr so vonstatten, daß Individuen,
Gruppen
und Arten, die besonders intelligent, kooperativ und solidarisch
sind, er-
folgreicher in der Natur überleben und sich daher stärker
vermehren und
ausbreiten als andere Individuen und Populationen. Der natürliche
Wett-
bewerb ist also kein blutiger Konkurrenzkampf, wie Vulgärdarwinisten
behaupten, sondern ein milder Wettbewerb. Und er hat - so absurd
das
klingen mag - ganz wesentlich dazu beigetragen, daß der
Homo sapiens
sich zu einem Wesen mit sozialen Anlagen und Bedürfnissen
entwickelt
hat, die biologisch-psychologischen Voraussetzungen für Kooperation
und Solidarität und damit für die Bildung von Gemeinschaften.
(245)
In ähnlicher Weise könnte auch eine Wettbewerbswirtschaft
zur Weiter-
entwicklung der menschlichen Kultur beitragen - sicherlich auch
in
Richtung auf mehr Kooperation und Solidarität. Voraussetzung
ist aller-
dings, daß die gegenwärtige Ökonomie, die eben
nicht Leistung, sondern
wirtschaftliche Privilegien honoriert, beseitigt und durch ein
wirklich lei-
stungsgerechtes Wirtschaftssystem ersetzt wird. In einer wirklich
lei-
stungsgerechten Volkswirtschäft würden, wie in der Natur,
gerade diejeni-
gen im Wettbewerb "überleben", die auch in sozialer
Hinsicht "Leistung"
erbringen: die sich solidarisch und kooperativ verhalten! Der
Kampf bis
aufs Messer ist eine Erscheiung der kapitalistischen Krisenwirtschaft.
Marktwirtschaft als System der Selbstorganisation
Der Markt hat lange vor dem Kapitalismus bestanden und ohne Markt
geht es auch im Sozialismus nicht, meinte 1988 der ehemalige DDR-
Wirtschaftsfunktionär Prof. Harry Mayer in einer Fernsehsendung
zu den
Reformen in der Sowjetunion. Diese Einsicht in die Unverzichtbarkeit
auf Marktmechanismen scheint sich nicht nur bei hohen Funktionären
im
"real existierenden Sozialismus", (246) sondern auch
in linken Kreisen hier
zulande immer mehr durchzusetzen. (246a) Nur hier wie dort wird
eine kapi-
talistische Marktwirtschaft propagiert und praktiziert. Der Dividenden-
Kommunismus in Rotchina (s. Kap.12) und die hohe Zinsverschuldung
der Volksrepublik Polen bei westlichen Banken (s. Kap. 2) sind
nur zwei
Beispiele für den Kapitalismus im Sozialismus.
Auf einer Veranstaltung der Öko"libertären"
in Berlin 1984 erklär-
te der "Realo" Daniel Cohn-Bendit, daß wir unbedingt
eine
- Marktwirtschaft bräuchten, in der sich Kollektive etablieren
und mitein-
ander in Konkurrenz treten müßten; die Mitglieder der
Kollektive sollten
jedoch alle den gleichen Lohn erhalten. Erstaunlich ist nur, daß
auch die-
ser Anführer der antikapitalistischen Pariser Mairevolte
von 1968 das Pro-
blem des Zinses in der Marktwirtschaft völlig übergeht.
Auch die marktwirtschaftlichen Vorstellungen der Öko"libertären"
sind ein Beispiel für kapitalismusfreundliche Ideologie in
der Alternativ-
szene. Selbst marktbejahende Neoanarchisten kommen über ein
allgemei-
nes Bekenntnis zur Marktwirtschaft nicht hinaus. So wird z. B.
in einem
Artikel der respektablen Ökonomie-Sondernummer der Graswurzelrevo-
lution der Markt akzeptiert, das Zinsproblem jedoch völlig
ignoriert. Den
wichtigsten Klassiker anarchistischer Ökonomie, Proudhon,
haben ihre
Herausgeber offenbar vergessen, Gesells Bedeutung für eine
anarchisti-
sche Alternative zur liberalen und marxistischen Ökonomie
nicht er-
kannt. (247)
Der Anarchist Gustav Landauer war da bereits vor einem dreiviertel
Jahrhundert einen entscheidenden Schritt weitergegangen, als er
(unter
Hinweis auf Gesells Freigeldlehre in seinem Aufruf zum Sozialismus;
s.
Text 4) für seine "Republik der Republiken" eine
Marktwirtschaft ohne
Kapitalismus forderte. Damit versuchte Landauer, vermutlich, ohne
sich
dessen bewußt zu sein, die "Naturdialektik" (Engels)
von Kooperation
und Wettbewerb in seine Vorstellungen von Sozialismus einzufügen,
um
diese für den Sozialismus nutzbar zu machen - eine physiokratische
Posi-
tion!
Wenn Landauer sich diesen Sozialismus als eine Republik autonomer,
selbstbestimmter und miteinander kooperierender Gemeinschaften
denkt, dann baut er ihn darüber hinaus auf der Grundlage
eines anderen
"anarchistischen" Naturgesetzes auf: auf dem Prinzip
der Selbstorganisa-
tion und Selbststeurung autonomer physikalischer, chemischer und
biolo-
gischer Einheiten und komplexer Gebilde. Auch diese in Atomen,
Mole-
külen, Zellen, Tieren, Pflanzen, Biotopen, Sozietäten,
Galaxien in Er-
scheinung tretende Naturgesetzlichkeit wird von Bresch und Haken
aus-
führlich beschrieben. (248) Der Naturwissenschaftler Carl
Sagan bezeichnet
die einzelne Zelle unseres Körpers als "eine Art Kommune",
die autonom
mit anderen autonomen Zellen dieses Körpers kooperiert und
auf diese
Weise diesen hochkomplexen und hochdifferenzierten menschliche
Kör-
per organisiert und funktionsfähig hält - und zwar ohne
ein hierarchi-
sches Steuerungssystem mit einer alles beherrschenden Zentrale.
(249) Die
Aktionen und Interaktionen der hundert Tausende Individuen eines
Ameisen-, Termiten- oder Bienenstammes werden nicht durch die
Herr-
schaft einer "Königin", sondern durch die Kooperation
der einzelnen Ex-
emplare gesteuert. Herrschaft und zentrale Steuerung sind in der
Natur
relativ seltene Erscheinungen.
Ebenso wie die Dialektik von Wettbewerb und Kooperation, ist
also
auch die Selbstorganisation und Selbststeuerung ein Prinzip der
Natur,
das maßgeblich zur Evolution des Kosmos und des Lebens und
der kom-
plexen tierischen und menschlichen Sozietäten beigetragen
hat. Her-
mann Haken nennt diese anarchistischen Naturgesetzlichkeiten die
"Er-
folgsgeheimnisse der Natur".
Auf ähnlicher naturalistischer oder, wenn wir so wollen,
"anarcho-phy-
siokratischer" Ebene ("physiokratisch" im Sinne
von naturgemäß) argu-
mentieren im Grunde genommen auch Proudhon, Tucker und viele an-
dere Anarchisten, wenn sie den Selbststeurungsmechanismus der
Marktwirtschaft für eine libertäre Ökonomie nutzbar
machen wollen.
Auch die Marktwirtschaft ist eines jener kybernetischen Systeme,
wie sie
überall in der Natur, in den Interaktionen der Tiersozietäten
und in den
herrschaftsfreien Kulturen der Naturvölker zu finden sind:
Kybernetik im
Sinne von Selbstorganisation der Natur und der Gesellschaft durch
Selbst-
steuerung ihrer kooperierenden und konkurrierenden autonomen Teile.
Nur im hierarchischen Patriarchat, in der monopolistisch-kapitalistischen
Wirtschaft und im zentralistischen Staat und Staatskommunismus
wird
die Selbststeuerung der Wirtschaft und die Selbstorganisation
"assoziier-
ter" Individuen unterdrückt und durch Bevormundung und
gewalttätige
Eingriffe und Lenkungsmaßnahmen von "oben" ersetzt.
(249a)
Ohne Einsicht in diese modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
se haben Anarchisten immer wieder in ihren Forderungen nach dezentra-
len und herrschaftsfreien Gesellschaftsstrukturen, nach Autonomie,
Selbstorganisation, Wettbewerb und Kooperation der einzelnen Individu-
en wie ihrer freien Vereinigungen und nach hierarchiefreier Selbststeu-
rung der Wirtschaft und Gesellschaft spontan diese Naturgesetzlichkeiten
wiederherstellen wollen - Landauer in Form seiner Republik autono-
mer Gemeinschaften im Zusammenhang mit Gesells Freiwirtschaft.
Eine "natürliche" Wirtschaftsordnung?
Da die Wirtschaftsform ganz wesentlich Reichtum und Charakter
einer
Gesellschaft und die Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Individuen
be-
stimmt, ist die Frage zu stellen, welche Wirtschaftsform allgemeinem
Volkswohlstand, sozialer Gerechtigkeit und persönlicher Freiheit
am be-
sten dient: Die privatkapitalistische Marktwirtschaft der Liberalen?
Die
staatlich-zentralistische und letztendlich ebenfalls kapitalistische
"Plan"-
wirtschaft der marxistischen Kommunisten? Eine Mixtur aus beiden
Übeln? Die von demokratischen Sozialisten propagierte demokratisch-
zentralistische "Plan"wirtschaft auf staatskapitalistischer
Grundlage?
Die entstaatlichte dezentral-kollektivistische Planwirtschaft
im Sinne der
Anarchokommunisten und Anarchosyndikalisten? Eine vom Staat und
Kapital befreite Marktwirtschaft mit individuell und kollektiv
organisier-
ten Unternehmungen im Sinne der Individual- und Sozialanarchisten?
Oder welche sonst?
Gesell lehnt die zentral gelenkte Staatswirtschaft ebenso entschieden
ab wie die kapitalistisch-monopolistische Privatwirtschaft. Er
ist aller-
dings auch skeptisch gegenüber allen anderen Formen der Gemeinwirt-
schaft, insbesondere denen kommunistischer Gütergemeinschaft
mit glei-
cher Entlohnung. Er meint: "Je größer die Gemeinschaft
(Kommune),
um so größer die Verwässerung, um so schwächer
der Trieb, zur Erhaltung
der Gemeinschaft durch Arbeit beizutragen. Wer mit einem Genossen
ar-
beitet, ist schon weniger ausdauernd als derjenige, der die Frucht
der Ar-
beit allein genießt. Sind es 10-100-1000 Genossen, so kann
man den Ar-
beitstrieb auch durch 10-100-1000 teilen; soll sich gar die ganze
Mensch-
heit in das Ergebnis teilen, dann sagt sich jeder: auf meine Arbeit
kommt
es überhaupt nicht mehr an, sie ist, was ein Tropfen für
das Meer ist. Dann
geht die Arbeit nicht mehr triebmäßig vonstatten; äußerer
Zwang wird
nötig!" (250)
Gesells Einschätzung mag übertrieben pessimistisch
sein. Kollektive
Zusammenarbeit kann ökonomisch durchaus vorteilhaft sein.
Sie kann
stimulierend wirken, zumindest in der Kleingruppe, und viele Arbeiten
sind nur kollektiv zu bewältigen. Außerdem kann Gemeinschaftsarbeit
Freude machen, was allerdings oft auch mit geringerem wirtschaftlichen
Erfolg bezahlt werden muß. Andererseits zeigen die geringe
wirtschaftli-
che Effizienz und der staatliche Zwang im "real existierenden
Sozialis-
mus", daß Gesells Einschätzung in Bezug auf anonyme
und fremdbe-
stimmte Großkollektive durchaus begründet ist. Auf
Grund realistischer
Einschätzung der menschlichen Natur gibt er der durch keinerlei
Ein-
schränkungen behinderten Eigenwirtschaft mit Eigeninitiative
und indivi-
dueller Entlohnung für individuelle Leistung den Vorrang
vor der kom-
munistischen oder gar staatlich-zentralistischen Wirtschaftsform.
Das heißt jedoch nicht, daß er den Menschen ausschließlich
als eigen-
nützigen oder gar eigensüchtigen "Homo oeconomicus"
sieht. Er begreift
den Menschen durchaus als soziales Wesen, was er u. a. mit seiner
Utopie
akratisch-physiokratischer Frauengemeinschaften in seinem Abgebauten
Staat belegt (s. Kap. 9 u. Text 7). Er trennt jedoch (gewiß
nicht unproble-
matisch (250a)) den ökonomischen von allen übrigen gesellschaftlichen
Bereichen ab. Damit sich die Individuen als "totale Menschen"
(Marx) in
all ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten, also auch in
ihren sozialen, ent-
falten können, sei eine funktionierende, krisenfreie Volkswirtschaft
ohne
Ausbeutung unerläßliche Voraussetzung; sie dürfe
jedoch nicht mit christ-
lichen oder kommunistischen Moralansprüchen und Ideologien
belastet
werden. Da war Gesell - im Gegensatz zu den christlichen und kommu-
nistischen Idealisten mit ihrem überzogen negativen bzw.
positiven Men-
schenbild - ein konsequenter Materialist und Realist und ein Gegner
jeglicher Manipulation der Individuen durch Erziehung, Moral und
physi-
schen Zwang. Seiner Meinung nach funktioniert ein gesamtgesellschaftli-
ches Wirtschaftssystem nur, wenn es auf den "natürlichen
Egoismus" der
einzelnen Individuen als Motor der Produktion baut. Eine Wirtschafts-
ordnung, die dieses eigennützige Streben der Menschen nutzt
und die
tüchtigen Produzenten belohnt und nicht die unproduktiven
Geldverlei-
her, Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert, ist
- weil sie
nach Meinung Gesells der Natur des Menschen entspricht - eine
"natür-
liche Wirtschaftsordnung". Ein Wettbewerbssystem ohne Zinsen,
Zölle,
Monopole, Subventionen und andere Privilegien sei optimal produktiv
und gäbe den Menschen auch die materiellen Mittel zur Befriedigung
ge-
meinnütziger und altruistischer Bedürfnisse in die Hände.
(251)
"Natürlich" (physiokratisch) ist eine Wirtschaftsordnung,
die (durch
bewußtes menschliches Handeln) "der Natur des Menschen
angepaßt
ist". (252) Ihr wichtigster Maßstab ist die Wohlfahrt
der Menschen. In diesem
Sinne und als hätte Gesell bereits vor 70 Jahren unsere heutigen
Mensch
und Natur zerstörenden Industrie- und Wachstumsprobleme erahnt,
schrieb er 1918 im Vorwort der 3. Auflage der Natürlichen
Wirtschaftsord-
nung: "Dort, wo der Mensch am besten gedeiht, wird auch die
Wirt-
schaftsordnung die natürlichste sein. Ob eine in diesem Sinne
sich bewäh-
rende Wirtschaftsordnung zugleich die technisch leistungsfähigste
ist und
dem Ermittlungsamt Höchstzahlen liefert, ist eine Frage minderer
Ord-
nung. Man kann sich ja heute eine Wirtschaftsordnung vorstellen,
die
technisch hohe Leistungen aufweist, bei der aber Raubbau am Menschen
getrieben wird. Immer darf man wohl blindlings annehmen, daß
eine Ord-
nung, in der der Mensch gedeiht, sich auch in Bezug auf Leistungsfähig-
keit als die bessere bewähren muß. (...) 'Der Mensch
ist das Maß aller
Dinge', darum auch Maß seiner Wirtschaft." (253)
Diese Aussage hebt sich wohltuend ab vom Wachstums- und Industria-
lisierungsfetischismus der Leninisten im "realen Sozialismus",
der Kapi-
talvertreter hierzulande und der "Entwicklungs"politiker
in der Dritten
Welt. Heute würde der Physiokrat Gesell gewiß auch
die Natur mit einbe-
ziehen als Maßstab für eine richtige Wirtschaftspolitik.
Nicht-kapitalistische Marktwirtschaft und Kleingruppen-Kommunismus
Trotz seiner Skepsis gegenüber Kollektiven und Kommunen und
gerade
wegen seines ausgeprägten Individualismus, wollte Gesell
niemanden
daran hindern, kommunistische Experimente durchzuführen.
Für Robert
Anton Wilson ist Gesell vor allem deshalb "der einzige utopische
Öko-
nom, den ich je mochte", weil er auch den Wettbewerb der
Ideen und Ex-
perimente gefordert hat und seine eigenen diesem Wettbewerb aussetzen
wollte. (254) Das schließt kommunistische Produktions- und
Konsumtions-
gemeinschaften in diesen Wettbewerb mit ein. Gesell ist jedoch
der Mei-
nung, daß die Einführung von Gütergemeinschaften
und kollektivem
Wirtschaften ein Rückfall in den Urkommunismus prähistorischer
Zeit
sei, den die vom Eigennutzen und von individueller Initiative
motivierte
und gesteuerte Geld- und "Eigenwirtschaft" überwunden
habe. Diese sei
ein geschichtlicher Fortschritt, wer ihn vertrete, sei ein Linker;
wer hinge-
gen den Kommunismus reproduzieren wolle, sei rückständig
und poli-
tisch ganz rechts einzuordnen. (255)
Diese These ist gewiß soweit richtig, als daß die
Markt- und Geldwirt-
schaft die einzelnen Individuen von den Abhängigkeiten und
Bindungen
der urkommunistischen Kollektive befreit hat. Geld- und Eigenwirtschaft
kann für alle Menschen individuelle Befreiung und Autonomie
bedeuten
- vorausgesetzt, bestimmte Monopole in der Geld- und Marktwirtschaft
bewirken nicht andere gesellschaftliche und ökonomische Abhängigkei-
ten. Doch diese will Gesell mit seinem Freiland- und Freigeld-Programm
ja überwinden. Der Individualist Gesell bedenkt jedoch zu
wenig unsere
prähistorische, naturgeschichtliche Erbschaft aus den urkommunisti-
schen Horden und Sippen. Diese Gemeinschaften haben unsere sozialen
Anlagen in Jahrmillionen geprägten: wir sind gewissermaßen
genetisch
auf Urkommunismus programmiert. Der Mensch ist, wie Engels richtig
sagt, nicht nur ein "gesellschaftliches", ein kulturgeschichtlich
geworde-
nes rationales Kulturwesen, sondern ebenso ein naturgeschichtlich
gewor-
denes emotional "geselliges" Naturwesen. (256) "Geselligkeit"
ist jedoch ein
vitales Bedürfnis, dessen soziobiologischer Zweck u. a. die
lustvolle Zu-
sammenarbeit ist. Diese kann sich in egalitären, kommunistischen
Ge-
meinschaften eher lustvoll entfalten, als in den eigenwirtschaftlichen
Ar-
beitsorganisationen, die in der modernen Industrie- und Marktgesell-
schaft zweckrational und hierarchisch organisiert und verhältnismäßig
un-
gesellig sind. Wir bringen jedoch nicht nur urkommunistische Prägungen
und Bedürfnisse, sondern auch viele primäre, höcht
individuelle Bedürf-
nisse und darüber hinaus zahllose senkundäre und tertiäre,
gesellschaft-
lich geprägte Bedürfnisse und Interessen mit, die sich
nur jenseits von not-
wendigen Anpassungen und Unterordnungen in Kollektiven entfalten
und verwirklichen können. Marxens Anspruch, das menschliche
Indivi-
duum als nicht-entfremdetes, "totales Wesen" zu entfalten,
schließt Kol-
lektive ebenso ein wie aus, kann nur als eine dialektisches Wechselspiel
in
der Gesellschaft verstanden werden. Die vorrangige Aufgabe einer
neuen
Ökonomie muß es also sein, die materielle Grundlage
für die Entfaltung
aller (legitimen) menschlichen Bedürfnisse und Interessen
in der Gesell-
schaft bereitzustellen, und dazu gehören auch urkommunistische.
Die
Entfaltung und Befriedigung natürlicher sozialer Anlagen
und Bedürf-
nisse entspricht durchaus Gesells physiokratischen Ansprüchen,
auch
dann, wenn sie sich im ökonomischen Bereich verwirklichen
wollen.
Doch andere individuelle Bedürfnisse und Interessen müssen
ebenso zum
Zuge kommen können.
Max Stirner, auf den Gesell sich gerne beruft, geht dementsprechend
über den Anspruch nach Gemeinschaft im Sinne naturwüchsiger
Bindung,
wie wir sie in den urkommunistischen Stammeskulturen und ähnlich
noch
heute im Familienleben vorfinden, hinaus. Er setzt sich von ihr
ebenso ab,
wie von der durch Ideologie, Glaube, "fixe Idee" gebundenen
Gesellschaft.
Er setzt beiden als Alternative die Vereinigung bewußter,
autonomer, sich
selbst gehöriger und daher selbstbestimmter Individuen in
freier Überein-
kunft und Vereinbarung zum Zweck der Verwirklichung ihrer eigenen,
also
"eigennützigen" (Gesell) Interessen und Bedürfnisse
gegenüber. (257) Diese
"egoistischen" Interessen und Bedürfnisse können
jedoch durchaus vita-
ler und sozialer Natur sein, z. B., wenn es um die Befriedigung
des eroti-
schen Bedürfnisses nach liebevoller Hinwendung an andere
Menschen
geht (s. Kap. 9). Der Eros (im Sinne von Liebe), Jahrmillionen
auf Klein-
gruppen von ein bis zwei Dutzend Menschen geprägt, funktioniert
sicher-
lich einigermaßen reibungslos in Kollektiven dieser Größe,
für die Ver-
wirklichung eines anonymen, zentralistischen und fremdbestimmten
Groß- und Massenkommunismus dürfte die soziale, erotische
und urkom-
munistische Natur der Menschen auf Dauer jedoch kaum hinreichen.
Al-
lenfalls läßt sie sich von Nationalisten, Rassisten,
Faschisten und religiö-
sen Fanatikern für ihre unmenschlichen Zwecke massenpsychologisch
mißbrauchen. Gesells Freiwirtschaft hingegen könnte
durchaus als öko-
nomische Grundlage dienen für Landauers Sozialismus der kleinen,
auto-
nomen Gemeinschaften, für überschaubare Kommunen und
für Vereini-
gungen im Sinne Stirners. Denn nicht die hierarchisch-autoritäre,
büro-
kratisch-zentralistische "Plan"- und Staatswirtschaft,
die auch noch dem
Privatkapital dient, sondern die dezentral und selbstorganisierte,
zins-
und monopolfreie Marktwirtschaft macht kleine, selbstinitiierte
und
selbstverwaltete Wirtschaftskollektive erst möglich und schließt
gleichzei-
tig (s. Kap.12) selbstverwaltete Ausbeutung aus. Eine derartige,
vom Ka-
pitalismus befreite Marktwirtschaft würde heutigen Produktions-
und
Konsumtionsgemeinschaften einen ähnlichen Aktionsraum bereitstellen,
den in prä- und frühhistorischer Zeit die natürliche
Umwelt den urkom-
munistisch-anarchistischen Horden und Sippen zur Verfügung
gestellt
hat, und in dem die Menschen auch ähnlich handeln würden:
innerhalb
der Kleingruppen ("Urhorde") herrscht Kooperation vor,
innerhab des
großen Rahmens der Volks- und Weltwirtschaft (Ersatz für
den natürli-
chen Biotop des Menschen) herrscht milder, Produktion und Verteilung
steuernder Wettbewerb zwischen eingenwirtschaftlichen wie kollektiven
Unternehmungen vor. Das schließt (wie in den Stammeskulturen)
Koope-
ration auch zwischen den einzelnen, autonomen Unternehmungen (wie
bei den Sippen, Clans und Stämmen) nicht von vornherein aus.
Der
Markt und ein zinsfreies und wertbeständiges Tauschmittelliefern
jedoch
(an Stelle der Naturgesetze des Biotops) die unverzichtbaren ökonomi-
schen Maßstäbe für wirtschaftliche Aktivitäten
- einschließlich Koope-
ration. (258)
"Der Markt", bemerkt der Ökonomieprofessor Aleksander
Bajk zur
Situation in Jugoslawien, "ist das wesentliche Element des
Selbstverwal-
tungssystems, aber das hat man völlig vergessen." (258a)
Ebenso wenig dür-
fen Herr Bajk und seine Genossen allerdings vergessen, daß
es ein Markt
ohne "Mehrwert", ohne Zins, sein muß!
Sicherlich reguliert auch eine nicht-kapitalistische Marktwirtschaft
nicht
alles selbsttätig und perfekt zum Nutzen aller und der Natur.
So läßt sich
z. B. nicht ohne Eingriffe in den Markt der Gegensatz zwischen
dem Inter-
esse an unbeschränkter Nutzung des Autos und an dem Fortbestand
der
Wälder lösen. Auf den freiwilligen Verzicht aller Einzelnen
auf den Indivi-
dualverkehr können wir nicht hoffen. Marktmechanismen können
jedoch
zur Konfliktlösung genutzt werden, z. B., in dem die Preise
jener Produk-
te, die die Umwelt schädigen, erheblich mit Steuern belastet
werden. So
würde bereits eine Belastung der Benzinpreise mit den gesellschaftlichen
Kosten des Autoverkehrs diese auf 4 bis 5 DM pro Liter hochtreiben.
(259)
Das würde - auch im Sinne marktwirtschaftlicher Intentionen
- zu ei-
ner erheblichen Einschränkung des umweltschädlichen
und unökonomi-
schen Individualverkehrs und zu größerer Tauschgerechtigkeit
führen: die
Autofahrer würden nicht mehr auf Kosten anderer Verkehrsteilnehmer
subventioniert werden. (259a)
Aber auch Gebote und Verbote können, insbesondere als ökologische
Steuerungsinstrumente, nicht völlig ausgeschlossen werden.
Völlig ohne
gesellschaftliche Interventionen in den Markt, da mag Keynes in
seiner
Kritik an den radikalen Liberalen richtig liege, kann es heute
vielleicht
nicht mehr gehen, aber das ist eine drittrangige Frage. (Tausch-
und Inter
ventionssozialismus stehen auch nicht, wie Noebe meint, unbedingt
in Wi-
derspruch zueinander, beide wohl aber in Widerspruch zum Produktions-
sozialismus). Mit der Nutzung von Marktmechanismen läßt
sich jeden-
falls mehr erreichen, als mit staatlicher oder "demokratischer"
Planung,
womöglich bis hin zur Produktion und Verteilung jedes Hosenknopfes.
Wann wo welche und wieviele Hosenknöpfe benötigt werden,
das kann
niemand und nichts besser herausfinden, als der Markt, als sein
Gesetz
von Angebot und Nachfrage. Die Marktmechanismen machen zentralisti-
sche und administrative Eingriffe weitgehend, wenn nicht überhaupt,
überflüssig.
70 Jahre staatliche und zentralgelenkte "Plan"wirtschaft
sind genug.
Sie verkörpert mit ihrer bürokratischen Fehlplanung,
Schlamperei, Un-
wirtschaftlichkeit und ihrem GAU in Tschernobyl 1986 genau das,
was
Marx der Marktwirtschaft mit dem Vorwurf der Wirtschaftsanarchie
an-
hängen will: Chaos. Darüber hinaus hat sie sich - wegen
der Zinsknecht-
schaft beim westlichen Finanzkapital - noch nicht einmal vom Mehrwert
befreit. Und schließlich ist sie gewiß nicht "anarchisch",
also herrschafts-
frei. Der Staat ist nicht "abgestorben", er ist mächtiger
als in jeder ande-
ren Gesellschaft und hat in der Sowjetunion als Werkzeug Lenins,
Trotz-
kis und Stalins, ebenso wie in Deutschland in der Hand Hitlers,
viele Mil-
lionen Menschen ermordet. Staat wie Staatswirtschaft bewirken
den
höchsten Grad der Entfremdung.
Aber auch eine "demokratische" Gesamtplanung ist nicht
nur unwirt-
schaftlich, sondern eben auch demokratisch: sie ist Volksherrschaft.
Mehr-
heitsbeschlüsse in der Makroökonomie führen leicht
zu Benachteiligun-
gen spezieller Bedürfnisse von Minderheiten.
Die beste "basisdemokratische", genauer: individual-anarchistische
Planung ist die marktwirtschaftliche über den "Stimmzettel"
Geld - vor-
ausgesetzt, nicht die Finanzkapitalisten, Grundeigentümer,
Wirtschafts-
monopolisten, Spekulanten usw, sondern die Produzenten verfügen
über
diesen Stimmzettel. Dann entscheidet als Konsument jeder einzelne
Pro-
duzent über die Lenkung der Produktion, Investition und Verteilung
in
der Volkswirtschaft, viel besser als jeder beamtete Bürokrat
oder gewähl-
te Funktionär. Die Planung im Betrieb besorgen die einzelnen
Unterneh-
mer und Wirtschaftskollektive in autonomer individueller oder
kollekti-
ver Selbstbestimmung, ebenfalls besser als Staatsbürokraten
oder Funk-
tionäre.
Angesichts des weltweiten Versagens sowohl der liberalistischen
wie
der marxistischen Wirtschaftstheorie, werden wir uns nach neuen
Ideen
umsehen müssen. Sie sind vorhanden."Johannsen, Foster
und Cat-
chings, Hobson und Gesell haben alle brilliante, heute durchführbare
Vor-
schläge gemacht, aber sie stießen auf taube Ohren",
schreibt der Wirt-
schaftswissenschaftler Lawrence R. Klein in "The Keynesian
Revolution".
"Es ist zu hoffen, daß die Ökonomen in Zukunft
denen mit Sympathie be-
gegnen, die eine große ökonomische Intention besitzen."
(260)
Ich würde sagen, wir sollten das nicht den etablierten Ökonomen
über-
lassen. Wir selbst sollten ihnen und den vielen anderen, von denen
ich be-
reits einige wie Douglas und Damaschke genannt habe, (261) in
Zukunft mit
Sympathie begegnen und ihre Intentionen für unsere Zwecke
nutzen. Da-
bei dürfte Gesell, von dem Keynes sagt, daß die Zukunft
mehr von ihm als
von Marx lernen würde, besondere Beachtung verdienen - vor
allem in
anarchistischen Kreisen.
Gesell hat den Versuch Proudhons fortgeführt, das Modell
einer "akra-
tischen" (herrschaftsfreien) und "mutualistischen"
(tauschgerechten)
Wirtschaftssordnung zu entwickeln, und seine Geldtheorie hatte
in der
Praxis sogar Erfolge aufzuweisen. Er hat außerdem ein mütter-
und kin-
derfreundliches Bodenreformprogramm entwickelt, das über
die An-
sprüche aller anderen Bodenreformer weit hinausreicht. Das
sind Beiträ-
ge zur Wirtschafts- und Sozialutopie, die sich ausbauen ließen.
Ich bin überzeugt davon, daß mich jener namenlose Mäusezüchter
aus
Pinneberg gerade mit Gesells Freiland-Freigeld-Lehre mit einer
ebenso
"pfiffigen" (Suhr) wie aktuellen Theorie bekannt gemacht
hat, die nur
dank einer kleinen unverdrossenen Minderheit, zu der auch mein
Mäuse-
händler gehört, nicht in Vergessenheit geraten ist.
Daß er mich mit diesem
unausrottbaren Bazillus der "Anarcho-Physiokratie" infiziert
hat, möchte
ich ihm an dieser Stelle meinen späten, aber um so nachdrücklicheren
Dank aussprechen! (262)
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