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Gesell und seine Lehre sind extrem gegensätzlich beurteilt
worden; das
Spektrum reicht von gehässiger Diffamierung bis zu "Schwärmerei"
und
"halbreligiöser Verehrung", wie Keynes es formuliert.
Der Keynes-Inter-
pret George Garvy hält seine Lehre für die "Theorie
eines typischen mo-
netären Kautzes (..), dessen Name in der Zwischenzeit in
Vergessenheit
geraten" sei. Eine Denkschrift des SPD-Vorstandes nannte
sie kurz nach
dem Zweiten Weltkrieg "Profitanarchie" und eine "Ichsucht-Theorie",
ein bemerkenswertes Urteil aus dem Lager währungspolitischer
Versager
in der Weimarer Republik (s. Kap.13). Ganz anders sieht das Gerhard
Ziemer: "Der Name von Gesell muß im Zusammenhang mit
der Bekämp-
fung der großen Deflationskrise lobend erwähnt werden,
weil es weitge-
hend die zuerst von Gesell entwickelten Grundansichten waren,
die von
den Reformern (des Geldwesens; K. S.) vertreten wurden und in
ihrer
Weiterentwicklung der heutigen modernen Konjunkturbetrachtung
zu-
grunde liegen." Der Erlanger Ökononomieprofessor Oswald
Hahn hält
Gesll (neben John Law) sogar für "genialer als den alten
Physiokraten
Francois Quesnay und den im Urteil Wilhelm Hankels "größten
Ökonom
des Jahrhunderts", John Maynard Keynes (s. Anm. Text 8).
Ähnlicher
Auffassung ist der brasilianische Exekutivdirektor des Internationalen
Währungsfonds, Alexander Kafka, wenn er meint, "Gesells
Rezeptur"
des Schwundgeldes sei "ein besserer Weg" zur Wirtschaftsbelebung,
als
die schleichende Inflation des von ihm verehrten Keynes. Dieser
"größte
Ökonom des Jahrhunderts" wiederum schätzt Gesells
von "leidenschaftli-
cher" und "erregter Hingabe für gesellschaftliche
Gerechtigkeit durch-
strömtes" Werk höher ein als das von Karl Marx;
er glaubt, "daß die Zu-
kunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird".
Der
erklärte Nicht-Marxist Prof. Josef A. Schumpeter jedoch empfindet
die-
sen Vergleich der "Größe von Marx" mit C.
H. Douglas und diesem "sku-
rilen Experten (...) der Zinsknechtschaft", wie der Bankier
Jürgen Pron-
to ihn nennt, geradezu als persönliche Beleidigung. (201)
Auch unter den Anarchisten ist Gesell umstritten, doch die namhaften
deutschen Libertären äußern sich durchweg positiv
zu seiner Lehre. Der
Proudhonist Arthur Mülberger (einer der deutschen Herausgeber
der in-
teressanten Kontroverse Bastiat/Proudhon über den Zins (202)),
der bereits
Ende des vorigen Jahrhunderts eine der ersten Schriften Gesells
rezen-
sierte, glaubt zwar, daß das Schwundgeld nicht angenommen
werden wür-
de (was die Praxis widerlegt hat), er lobt jedoch Gesells "Stellungsnahme
zur ganzen Währungsfrage, die berghoch über den Ergüssen
der Metall-
enthusiasten (den damaligen Goldwährungsanhängern; K.
S.) steht",
und befürwortet nachdrücklich Gesells Anliegen, "die
Parität zwischen
Ware und Geld herstellen" zu wollen: Das sei "nichts
anderes (als) das
Losungswort der sozialen Revolution, die wahre Formel des Sozialismus,
der sich selbst begreift und alle gouvernementalen und kommunistischen
Utopien abschüttelt" (203) (s. Text 5).
Der Sozialanarchist Gustav Landauer nennt Gesell einen "der
ganz we-
nigen, die von Proudhon gelernt haben, seine Größe
anerkennen und im
Anschluß an ihn zu selbständigem Weiterdenken gekommen
sind" (204) (s.
Text 4). Landauer, der Gesells Schwundgeld-Vorschläge für
"sehr wert-
voll" hält, war maßgeblich daran beteiligt, daß
Gesell von dem "National-
bolschewisten" Ernst Niekisch 1919 als Volksbeauftragter
für Finanzen in
die Münchener Räterepublik berufen wurde, um dort seine
"Freigeld-
Theorie in die Praxis umzusetzen. Dazu ist es leider nicht gekommen,
weil die Räterepublik von den Kommunisten okkupiert und von
der
Reichswehr unter Führung der Berliner SPD-Regierung blutig
liquidiert
worden ist. Landauer war eines ihrer Opfer.
Der Anarchokommunist Erich Mühsam hielt Gesells Geldtheorie
im-
merhin für eine Methode, die die Inflation von 1919 bis '23
hätte verhin-
dern können, und für brauchbar, als "Übergangsverfahren
vom kapitali-
stischen Währungssystem zum geldlosen Kommunismus" dienen
zu kön-
nen (205) (s. Text 8).
Soweit mir bekannt ist, hat nur der Anarchosyndikalist Fritz
Dettmer
ernsthaft versucht, 1931, während der großen Deflationsskrise,
Gesells
Geld-, Zins- und Bodentheorie zu widerlegen, allerdings vergeblich,
wie
ich meine. Der Freiwirtschaftler J. Glemmer hat das in seiner
auf alle Kri-
tikpunkte Dettmers gründlich eingehenden Entgegnung in "Die
Internatio-
nale" bewiesen. (206)
Wie den meisten bürgerlichen Ökonomen, paßt auch
den Marxisten
Gesells Freiwirtschaftslehre nicht ins Konzept. Karl Korsch führte
1926/
27 immerhin eine ausführliche Diskussion mit dem damaligen
Physiokra-
ten und späteren Sozialdemokraten Otto Martin Hoffmann (Pseudonym:
Diogenes) über die Preis- und Werttheorie in der proletarisch-freiwirt-
schaftlichen Jugendzeitschrift "Der Ring"; auf die Inhalte
von Gesells Geld-
und Zinstheorie ist Korsch jedoch nicht eingegangen. (161) Paul
Mattick re-
feriert Gesells Geldtheorie kurz und sachlieh, aber ohne Stellungnahme,
in seiner Keynes-Kritik "Marx und Keynes". (207) Ernst
Bloch - der sich kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg über die "Neunmalklugen"
und "Halbden-
ker" mokierte, die sich in ihrer Abneigung "gegen den
sogenannten (!)
Stalinismus", den sie nicht vom Faschismus unterscheiden
könnten, (208) vor
dem "drohenden Staatskapitalismus" und der "totalen
Verapparatlichung
entsetzten" - hält die Freiwirtschaftslehre für
ein "zwerghaft-komisches
Gebilde", das sich "an den bedenklichsten Utopisten
anschließt an
Proudhon. Er meint, "das Kapital wird in Silvio Gesells Freigeld
Träu-
men durch eine Art gemäßigte Inflation 'abgeschafft'
". (209)
In der bekannten Art eines alles und alles besser wissenden Marxisten
kritisiert Bloch etwas, was er gar nicht verstanden hat. Er ist
nicht einmal
in der Lage, das "Schwundgeld" einer Inflation von Gesells
Schwundgeld
mittels einer Hortungsstrafgebühr, mit dem Gesell gerade
Inflation (und
Deflation) verhindern will, zu unterscheiden. Ein Unterschied,
den der
"bürgerlichen" Ökonomen Kafka in seiner Keynes-Würdigung
gerade als
Vorzug vor Keynes' inflationistischer Konjunkturtheorie hervorhebt
(siehe oben)!
. . an der Person Gesells
Gesell jedoch als einen "dahergelaufenen faschistoiden Demagogen"
und
massenfeindlichen Antisemiten vorzuführen, blieb bislang
dem verant-
wortlichen Redakteur der anarchistischen Zeitschrift "Schwarzer
Faden"
(SF), Horst Blume, vorbehalten. Anlaß für sein dort
veröffentlichtes
Pamphlet Silvio Gesell - "der Marx der Anarchisten"
- ein Faschist! (210)
gab die alle paar Jahre wieder aus der Versenkung auftauchende
Berliner
Anarchozeitung "agit 883" mit ihrer Sondernummer 2Silvio
Gesell - der
Marx der Anarchisten? (211). Als Grundlage für sein sieben
Seiten langes
Machwerk diente Blume offenbar die Diplomfleißarbeit eines
gewissen
Elger aus Marburg, (212) Sekundärliteratur also.
Um zu beweisen, daß Gesell ein Faschist ist, der die Rechte
der Massen
beschränken will, wie das "faschistische Diktaturen"
und "konservativ-re-
aktionäre Regierungen" täten, wendet Blume die
bekannte Methode an
Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen. So zitiert er z.
B. lediglich den
folgenden Satz von Gesell: "Die Rechte der Massen können
niemals eng
genug begrenzt werden." Den sich hieran anschließenden
wichtigen, den
Sinn erklärenden Satz unterschlägt er: "Dafür
müssen aber die Rechte
der Menschheit (von Gesell hervorgehoben!) um so mehr erweitert
wer-
den". (213) Vier Zeilen weiter lesen wir bei Gesell den ebenfalls
von Blume
unterschlagenen Kernsatz: "Völkerrecht ist Krieg - Menschenrecht
ist
Frieden."
Wie wir sehen, vertritt Gesell (der sich selbst "Akrat"
nennt und als
Physiokrat bereits 1913 als "linker Flügelmann der Parteien"
ins politische
Spektrum einordnete (214)) hier also nachdrücklich und für
jedermann ver-
ständlich, nur nicht für Blume, den Vorrang der Individual-
und Men-
schenrechte vor den kollektiven Rechten der Völker, Rassen,
Klassen,
Massen, Religionsgemeinschaften und des Staates. Er betont ausdrück-
lich (und hebt auch das kursiv hervor), daß "der Fortschritt
(...) vom Mas-
senrecht zum Recht des Einzelmenschen" geht - ein individualanarchisti-
sches Verständnis von Fortschritt. Ebenso wie Max Stirner,
(215) gibt auch
Gesell dem "Einzigen", sich selbst gehörigen Individuum
den Vorrang
vor der Gesellschaft (dem Staat etc.), wie auch vor der Gemeinschaft,
in
der das Individuum, laut Stirner, als "Glied" des Staates
oder "Exemplar"
der Gemeinschaft ideologisch (durch "fixe Ideen"; Marx:
"falsches Be-
wußtsein") bzw naturwüchsig und tiefenpsychologisch
(durch "Triebe")
an die übrigen Glieder der Gesellschaft und Exemplare der
Gemeinschaft
"gebunden" ist und in der gegebenenfalls (wie während
der Währungska-
tastrophen in der Weimarer Republik) die von Wilhelm Reich beschriebe-
ne "emotionale Pest" (216) gedeiht. Gesell gibt dem
autonomen und von sei-
nem "Willen" selbstbestimmten Individuum den Vorzug
vor der konser-
vativ-faschistoiden Massen, wie wir sie gegenwärtig im Khomeini-Regime
agieren sehen, und die Dr. Goebbels, auf seine eigenen, seinem
"Führer"
verfallenen Volksgenossen bezogen, "30 Millionen Trottel"
nannte.
Gesell zitiert Swift, der sinngemäß gesagt hat: "Ich
habe immer die
Staaten und Gemeinden gehaßt - meine Liebe geht auf den
Einzelmen-
schen", z. B. auf jene Frauen, die von sadistischen Religionsfanatikern
im
Massenwahn zu Tode gesteinigt, oder auf jene Juden und Palästinenser,
die, wie Gustav Landauer und palästinensische Kinder, von
Rassisten-
und Chauvinistenhorden zu Tode geprügelt und abgeknallt werden.
Dieser "Staatsverneiner", wie Mühsam Gesell nennt,
vertritt also ein-
deutig eine individual-anarchistische Position, während Blume
offenbar
unbekannt ist, daß der staatsverherrlichende Faschismus
eine Massenbe-
wegung ist und insofern einen demokratischen Faktor in sich birgt,
der
rechts der Anarchie einzuordnen ist. (216a)
Blumes Methode, Tatsachen in ihr Gegenteil zu verkehren, läßt
sich
hervorragend mit folgendem Beispiel belegen. Um dem extremen Kos-
mopoliten Gesell, der mit den Juden Landauer und Mühsam freund-
schaftlich verkehrte, (217) Antisemitismus anzuhängen, zitiert
Blume aus
dem genannten "wissenschaftlichen" Machwerk Elgers:
"Als ich (Elger)
in freiwirtschaftlichen Zeitungen von unserem semitischen Geldwesen
las, begriff ich die Bedeutung dieser Stelle. Gesell hat seine
Bezüge zur
rechtsradikalen Ideologie streckenweise sehr gut getarnt. Er drückt
diese
in gehobenem Niveau aus. So taucht das Wort Jude kaum in der 'Natürli-
chen Wirtschaftsordnung' auf. Er spricht vornehm vom - Zinsnehmer!!"
"Die Absurdität ist schreiend" (Schopenhauer):
Weil das Wort "Jude"
bei Gesell "kaum" auftaucht, ist er Antisemit! Eine
Dialektik, die eines sta-
linistischen Staatsanwalts würdig ist! So argumentierten
die kranken
Hirne der Inquisition: Die "Hexe" gesteht (unter der
Folter, versteht
sich), also ist sie schuldig; die "Hexe" gesteht nicht,
also ist sie ebenfalls
schuldig. Begründung: Sie widersteht der Folter, weil sie
mit dem Teufel
im Bunde ist! (Immerhin liegt in dieser Argumentation mehr Logik,
als in
der Blumes.)
Hier ist wohl die Frage erlaubt, worin sich eigentlich Stil und
Methoden
Elgers und Blumes unterscheiden von dem Stil und den Methoden
des an-
tisemitischen NS-Hetzblattes "Der Stürmer" oder
des konservativen Politi-
kers F J. Strauß, der Linke in der BRD ungestraft "Ratten"
und
"Schmeißfliegen" nennen durfte, oder die BZ und
Bild-Zeitung, deren
Pogromhetze zum Tode Benno Ohnesorgs und Rudi Dutschkes beitrug.
Ich werde hier nachholen, was Blume bei seiner "Kritik"
an Gesell ver-
säumt hat: aus einer Schrift von Gesell selbst zu zitieren,
um damit zu zei-
gen, was dieser tatsächlich über Juden und darüber
hinaus über "Juden-
hetzerei" im Zusammenhang mit dem Geldwesen bereits 1891
geschrie-
ben hat.
"Bei dem heutigen Geldwesen hat der Geldinhaber dem Wareninha-
ber, d. h. dem Produzenten, gegenüber große Vorrechte
und wenn er aus
diesen Vorrechten Nutzen zu ziehen sucht, so tut er nicht mehr,
als jeder
andere an seiner Stelle auch tun würde.
Die Juden beschäftigen sich nun mit Vorliebe mit Geldgeschäften
(weil
ihnen fast alles anderes verboten war; K. S. ) und es ist klar,
daß diese Vor-
rechte des Geldinhabers darum auch vorzugsweise den Juden zugute
kommen.
Hat aber darum Herr Stöcker (Gründer der antisemitischen
Christlich-
Sozialen Arbeiterpartei und Hofprediger Kaiser Wilhelm II. ; K.
S. ) ein
Recht, die Juden zu verfolgen?
Ist nicht das Geld eine öffentliche Einrichtung, kann nicht
jeder, wenn
er dazu befähigt ist, den Juden Konkurrenz machen, hat nicht
jeder, selbst
Herr Stöcker, den geheimen Wunsch gehegt, selber Bankier
zu sein?
Die Judenhetzerei ist eine kolossale Ungerechtigkeit und eine
Folge ei-
ner ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens.
" (218)
Im Gegensatz zu Gesell und in merkwürdiger Übereinstimmung
mit
den NS-Rassisten (die z. B. Gesells Freilandlehre als "internationali-
stisch" ablehnten (218a)), setzen Elger und Blume Jude und
"Zinsnehmer"
gleich! Das ist allerdings keine exklusive Erscheinung bei ihnen
und den
Nazis, was die zahlreichen Äußerungen Fouriers, Bakunins,
Marxens,
Proudhons und anderer Sozialisten über die "Zinsjuden"
bezeugen. (219)
Doch ihre Gleichsetzung von Zins und Jude wird heute von Linken
ver-
schämt totgeschwiegen...
Nun gab es allerdings völkisch und antisemisch orientierte
Figuren in
der Freiwirtschaftsbewegung und auch entsprechende Druckerzeugnisse.
Die einzige relevante völkische Zeitschrift in dieser Bewegung,
die "Deut-
sche Freiwirtschaft - Monatsschrift zur Überwindung der kapitalistischen
und sozialistischen Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld",
ha-
ben Gesell und seine Freunde W. Beckmann (Vorsitzender des Gewerk-
schaftsbundes der Angestellten in Berlin), Dr. Ch. Christen (Mitarbeiter
Gesells in der Münchener Räterepublik), O. Maaß
(Vorsitzender des Kar-
tells Erfurt des Deutschen Beamtenbundes), Prof. K. Polenske (Mitglied
der USPD, der linken Abspaltung von der SPD) und O. Weißleder
(Berg-
werksdirektor) noch im ersten Jahr ihres Erscheinens 1919 übernommen
und zu einem Blatt umfunktioniert, das Gesells radikalen kosmopoliti-
schen Vorstellungen entsprach. Der Untertitel und die völkischen
Anzei-
gen flogen mit samt ihren (damals noch als relativ harmlos empfunde-
nen) Hakenkreuzen raus und im Oktober 1920 wurde die Zeitschrift
in
"Die Freiwirtschaft durch Freiland und Freigeld" umbenannt.
Der Kurs-
wechsel ist also schon äußerlich für jedermann
deutlich erkennbar, auch
für Elger und Blume. (Siehe Diagramm S.19!)
An wenigen Stellen seiner tiefschürfenden Analyse wird Blume
aller-
dings sachlich. So behauptet er tatsächlich, der Zins sei
eine Baga-
telle. Um diese These zu untermauern, bemüht der "Anarchist"
Blume
den Marxisten (!) Ernest Mandel. Nach Mandel sei der Zins, den
der Un-
ternehmer dem Kreditgeber zahlt, "nur ein sehr unbedeutendes
Element
der Produktionskosten (..): 0,4% des Selbstkostenpreises von Fertigwa-
ren; 0,8% des Selbstkostenpreises von Bergbauprodukten und 0,2%
der
Distrubtionskosten".
Wie wir Kapitel 2 gesehen haben, macht der Zinsanteil an den
Waren-
preisen nicht 0,2 bis 0,8 %, sondern durchschnittlich 26 bis 28
% aus. Das
gilt selbstverständlich für die Produkte, die der Unternehmer
zur Weiter-
verarbeitung einkauft, ebenso, wie für die Produkte, die
er verkauft; auch
in den Halbfertigprodukten stecken eigene Zinsen wie fremde Kreditko-
sten, Renditen und Bodenrenten. In der Miete - dem größten
Ausga-
benposten für den Lebensunterhalt der Lohnabhängigen
- beträgt der
Zinsanteil sogar 50 bis 80%, also mehr als das 100- bis 400fache
von dem,
was Blume aus Mandels Marxistischer Wirtschaftstheorie herausgepult
hat.
Um sich mit der Wirklichkeit vertraut zu machen, hätte Blume
besser
ein CDU-Mitglied statt einen Marxisten konsultieren sollen; diese
bürger-
lichen Herren kennen sich da besser aus. So schätzte ein
CDU-Politiker
auf einer Berliner Mieterveranstaltung 1987 den Zinsanteil am
Mietpreis
auf runde 95%!
Ich will durchaus nicht behaupten, daß es an Gesells Ideen,
insbeson-
dere an manchen durchaus fragwürdigen Stellen seiner Sozialphiloso-
phie, nichts auszusetzen gäbe; ihn jedoch als Rassisten,
"Faschisten" und
"geschwätzigen" (220) "Demagogen" darzustellen,
ist unredlich, peinlich
und destruktiv, entspricht Umgangsformen und psychologischen Abwehr-
mechanismen, wie sie allerdings in Patriarchaten üblich sind,
(221) die in lin-
ken Kreisen jedoch überwunden sein sollten.
... an der Freigeld-Lehre
Ohne denunziatorische Umschweife, geht der alternative Keynes-Ex-
perte Hanjörk Herr auf Gesells zentrales Anliegen ein, er
versucht mit
sachbezogenen Argumenten dessen Freigeld-Lehre zu widerlegen -
al-
lerdings ohne Erfolg, wie ich meine. Ich will das an Hand eines
Beitrags
zu belegen versuchen, den er für den 1986 erschienenen Sammelband
"Per-
spektiven ökologischer Wirtschaftspolitik" geliefert
hat und in dem viele Ar-
gumente auftauchen, die er auch in anderen Schriften gegen Gesells
und
ebenso gegen Dieter Suhrs Geldanalysen vorbringt. (222) Sie sind
beispielhaft
für den Tiefgang linker Freigeld-Kritik.
1. Zunächst beklagt Herr ganz allgemein: "In schillernden
Schattierun-
gen werden innerhalb von Teilen der Alternativbewegung Reformvor-
schläge des Geldwesens unterbreitet, die mit einem Schlag
die Übel des
Kapitalismus beseitigen wollen. Die Vorschläge gehen im deutschen
Sprachgebrauch mehr oder weniger auf Ideen Silvio Gesells zurück."
Dazu war bereits 1983 bei Suhr, der der Freigeldlehre nahesteht,
ohne
sie zu kopieren, in "Geld ohne Mehrwert" zu lesen: "Sicher
bringt die Ent-
thronung Mammons nicht das Paradies auf Erden. Jede Vision, die
eine
bestimmte Sache betrifft, schießt über die mögliche
Wirklichkeit hinaus,
denn sie wird noch nicht gebremst durch die in der Zukunft schlummern-
den Probleme, die sich erst noch zeigen müssen. Mit dem 'Geld
ohne
Mehrwert' verschwände nur das 'Geld mit Mehrwert' vom Markt,
nicht
aber alle anderen Monopole oder monopolartigen Güter, die
entspre-
chende Marktpositionen vermitteln" (223) (wie z. B. der Boden
und das ak-
kumulierte Finanzkapital).
2. Herr wirft den Gesellianern vor, daß nach ihrer Meinung
"das Pro-
blem der Krise (..) allein bei der Zinsrate und fehlenden Nachfrage
lie-
gen" soll. Dem habe bereits Keynes widersprochen: "Aber
ich (Keynes)
behaupte, daß eine typische und oft die vorherrschende Erklärung
der
Krise primär nicht eine Erhöhung des Zinsfußes,
sondern ein plötzlicher
Zusammenbruch der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ist."
Genau das aber ist auch die Aussage der Gesellschen Krisentheorie.
Nur ziehen die Gesellianer andere Schlußfolgerungen aus
diesem Zusam-
menhang als die Anhänger der "Zinsknechtschaft".
Während die Zinsfeti-
schisten die Wiederherstellung einer für das Lockermachen
des Geldkapi-
tals ausreichende Kapitalrendite ("Profitrate") fordern
und z. B. (im Sin-
ne der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie Friedmans) durch
Lohn-
drückerei (wozu auch die Liquidierung der Gewerkschaft Solidarnosc
durch die Kommunisten diente) herzustellen versuchen, fordert
Gesell
die Reduzierung des Geldzinses auf durchschnittlich null Prozent
mittels
Durchhaltekosten für das Geld und somit auch für das
Finanzkapital. Bis
auf null Prozent kann dann auch jener Mehrwertanteil sinken, den
Marx
Profit und wir Kapitalzins oder Rendite nennen, ohne daß
es durch den
Riegel Liquiditätsverzichtsprämie, also durch den Kreditzinses,
durch die
"Zinsrate" über Null, vor erreichter "Vollinvstition"
(Keynes; s. Kap. 4)
zum Abbruch der Investitionstätigkeit und zur Krise kommt
(s. Kap. 2).
Nichtsdestoweniger ist auch der Umkehrschluß richtig. Herr
will doch
nicht behaupten, daß es bei willkürlicher Erhöhung
der Kreditzinsen
durch die Banken über die begrenzte Rendite des Produktivkapitals
hin-
aus nicht ebenfalls zu einer Krise kommt. Die Verschuldungskrise
in den
Dritte-Welt-Ländern ist ein katastrophales Beispiel hierfür:
viele dieser
Länder hatten sich vor allem zur Zeit eines niedrigen Zinsniveaus
ver-
schuldet und sind durch die späteren Zinserhöhungen
der Banken in die
Krise geraten!
Mit Keynes ist Gesell nicht zu widerlegen (s. Keynes' Gesell-Kritik
Kap. 6).
3. Herr behauptet, daß Suhrs "Aussage, daß die
Existenz des Zinses
den Wachstumszwang kapitalistischer Ökonomie ausmacht",
falsch sei:
"Ein hoher Zinssatz bildet vielmehr eine Wachstumsbremse."
Suhr weiß sehr wohl, daß der Zins als solcher (wegen
der Grenzlei-
stungsfähigkeit des Realkapitals, Kreditzinsen für Neuinvestitionen
zah-
len zu können) Wachstum bremst. Herr übersieht jedoch,
daß der Geld-
zins Kapitalzins voraussetzt und daß letzterer Wirtschaftswachstum
zwin-
gend erfordert! Suhr hat klargemacht, daß das viele Geld
der Reichen und
Superreichen, dieses "Geld ohne Bedarf" an Konsumgütern,
nur ein In-
teresse hat: ihre durch Zinseszinsakkumulation exponentiell anschwellen-
den Geldvermögen (ihre wachsenden Liqiditäten) erneut
gegen Zins (ge-
gen Liquiditätsverzichtsprämien) in Investitionen anzulegen,
damit sie
weiterwachsen usf. (224) Das ist jedoch nur möglich, wenn
die Volkswirt-
schaft und/oder der Staat in steigendem Maße rentable Anlagemöglich-
keiten zur Verfügung stellen. Diese Voraussetzung bietet
jedoch nur eine
wachsende, und zwar eine exponentiell wachsende Wirtschaft!
Für Wachstum und Anlagemöglichkeiten hat nicht zuletzt
der Staat zu
sorgen, z. B. durch Stadtsanierungen, Förderung Milliarden
verschlin-
gender Atomkraftwerke, durch Subventionierung der Autoindu-
strie mittels staatlich finanzierten Straßenbaus, dessen
Finanzierung
durch Benzin- und Autosteuern nicht gedeckt ist, durch Ingangsetzung
des SDI-Programms usw. Wir können diesen Zusammenhang Staatskapi-
talismus nennen, über den - wenn er konjunkturbelebend funktionier-
te - viele Arbeitslose entzückt sein würden.
Und schließlich: ohne Zins- und Zinseszinsakkumulation
gäbe es kaum
diese mächtige Plutokratie, die mit ihrem Geld und mit Hilfe
der von ih-
nen finanzierten Parteien und der Staatsgewalt (siehe Häuserkämpfe
und
die Schlachten bei Whyl, Brokdorf, Wackersdorf und anderenortes)
-
trotz z. B. einer Stromerzeugungs-Überkapazität von
50 Prozent - ihre
Investitiones- und Wachstumsprogramme durchsetzen können.
Herr vermag nicht zwischen Zinsfuß und akkumuliertem Zinsvermö-
gen zu unterscheiden. Er begreift nicht die Doppelfunktion des
Zinses,
wenn er einmal als Zinsfuß im Zusammenhang mit der Grenzleistungsfä-
higkeit des Realkapitals als Bremse der wirtschaftlichen Entwicklung
fun-
giert und zum anderen als akkumuliertes Zinseszinsvermögen
als Motor
des Wirtschaftswachstums fungiert. Diese widersprüchliche
Doppelrolle
des Zinses ist jedoch - neben der Absurdität der Zinseszinsakkumula-
tion selbst - der antagonistische Widerspruch des Kapitalismus:
die Ur-
sache für den im Rahmen dieses Systes unüberwindbaren
Widerspruch
von Wachstumszwang und Absatzkrise.
4. Herr ist der Meinung, daß das Wachstum und damit die
Umweltzer-
störung allein ein "Resultat der allokativen (225) Wirkung
rein über die
Marktpreise vermittelter Produktion und Konsumtion" sei.
Ist der Zins kein Preis? Der Zins ist der Preis für die
Überlassung von
Liquidität, der Preis für Kredit. Ausgerechnet der Kredit-,
der Liquidi-
tätsverzichtspreis soll keine Wirkung auf das Wachstum haben?
Als Zins hat der Kreditpreis nicht nur, wie Herr ja selbst sagt,
eine inve-
stitions- und damit wachstumsbremsende, sondern auch eine investitions-
stimulierende und -motivierende Wirkung. Auch das hat Suhr einleuch-
tend in "Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus"
erklärt: Die Ren-
tabilität bestimmt die Investitionstätigkeit der Unternehmer
und damit
das Wirtschaftswachstum. Rentabel wirtschaftet ein Unternehmer
jedoch
nur, wenn er über seinen Unternehmerlohn hinaus einen Gewinn
erwirt-
schaftet: wenn sein Unternehmen eine Rendite abwirft. Dabei ist
es
gleichgültig, ob er sie (als Kreditzins) an den Kreditgeber
abführen muß,
oder ob er sie (als Eigenkapitalzins) in die eigene Tasche stecken
kann.
"Denn er muß bedenken", schreibt Suhr; "daß
seine Bestände einen Ver-
mögenswert (Kapital! K. S.) darstellen, der, anderweitig
angelegt, Rendi-
ten erbringt, also (durch Zins- und Zinseszinsakkumulation! K.
S.) wach-
sen würde. Und an diesem möglichen Wachstum seines Vermögens
muß er
messen, ob auch sein unternehmerisches Kapital wächst. "
(226) Erwirtschaf-
tet er nur einen Unternehmerlohn für sich, dann "schießt
(er) ständig et-
was zu": die entgangenen Zinserträge bzw die entgangene
Zinseszinsak-
kumulation. Diesem Scheinverlust kann er nur entgehen, wenn er
dafür
Sorge trägt, daß sein Unternehmen in gleichem Maße
wächst, wie die Zin-
seszinsakkumulation in der gesamten Volkswirtschaft.
5. Herr schreibt: "Der Charakter der Zinsen als leistungsloses
Einkom-
men und deren destruktive Wirkung werden (von dem "Gesellianer"
Suhr; K. S.) klar erkannt". Zwei Seiten vorher heißt
es ohne nähere Er-
klärung: "Die Ungerechtigkeit der Existenz des Zinses
ist nicht das ei-
gentliche Problem."
Ein merkwürdiger Widerspruch! Die "Ungerechtigkeit"
der Zinsen
durch die Belastung der Preise, insbesondere der Mietpreise, und
bei der
Einkommens- und Vermögensverteilung zu Ungunsten der Produzenten
und Konsumenten, und die "destruktive Wirkung" der Zinsen
für die
Konjunktur und die Arbeitslosen, bezüglich der Kapitalkonzentration
und für die Umwelt, und ihre unsoziale und destruktive Wirkung
für die
Menschen in Polen, Rumänien (227) und in der Dritten Welt
(s. Kap. 2) -
für den Alternativo Herr ist das alles "nicht das eigentliche
Problem"!
Aber was ist dann sein Problem? Das er mit mit Gesells und Suhrs
Geld- und Zinsanalysen nicht zu Rande kommt?
6. Herr behauptet, "eine Kreditexpansion kann (..) nicht
durch Durch-
haltekosten (für Geld, K. S.) erzwungen werden, (wenn) die Ge-
schäftsbanken erst gar kein Geld bei der Zentralbank entstehen
lassen";
Durchhaltekosten würden also nichts zur Bewältigung
der gegenwärtigen
Krise beitragen.
Herr hat nicht geschnallt, daß es den Schwundgeld Theoretikern
gar
nicht darauf ankommt, "Kreditexpansion" und damit Wirtschaftswachs-
tum anzuleiern. Ganz im Gegenteil: es geht ihnen um wirtschaftliches
Gleichgewicht in einer (quantitativ) möglichst nicht wachsenden
Volks-
wirtschaft. Das heißt, es soll mit einem Geld unter Umlaufzwang
sicher-
gestellt werden, daß die Menschen nur so viel produzieren,
wie sie auch
konsumieren wollen. Diejenigen, die mehr produzieren als sie verbrau-
chen und somit Ersparnisse anlegen, mit denen sie keine Nachfrage
hal-
ten und damit wiederum jenseits ihres Arbeitsplatzes Arbeitslosigkeit
produzieren, sollen durch eine entsprechend hohe Geldsteuer gezwungen
werden, entweder zu konsumieren oder anderen ihre Ersparnisse
zinsfrei
zum Zwecke des Konsums oder der Nachfrage nach Investitionsgütern
zur Verfügung zu stellen oder - falls sie, z. B. aus Mangel
an Investitions-
möglichkeiten, ihr erspartes Geld nicht loswerden - ihre
Produktion
durch Arbeitszeitverkürzung auf ein gesellschaftlich erwünschtes
Maß zu
reduzieren. Der durch die Sonderstellung des Geldes und die Zinseszins-
akkumulation bedingte Widerspruch zwischen "Geld ohne Bedarf"
und
"Bedarf ohne Geld" (Suhr (228)) soll überwunden
werden. Das dürfte nach-
haltig zu einer bedarfgerechteren Produktion und Arbeitszeit-
und Ar-
beitsplatzverteilung in der Volkswirtschaft beitragen. Es wäre
konstruktiv
gewesen, wenn Herr diesen Zusammenhang, zu dem es sicherlich vieles
zu sagen gibt, diskutiert hätte.
7. Herr schreibt: "Geldreformer stellen die Geldnachfrage
für Hor-
tungszwecke in den Mittelpunkt der Analyse zur Ableitung der Nicht-
Neutralität des Geldes, während das Geldangebot über
Kreditexpansion
das Primäre ist."
Herrs Vorwurf trifft nur orthodoxe Gesell-Anhänger. Für
die Krisen zu
Gesells Lebzeit (Deflationskrisen in Argentinien im vorigen Jahrhundert,
Weltwirtschaftskrise 1929 bis '33) war diese Analyse durchaus
zutreffend.
Suhr Theorie bezieht sich jedoch auf die heutigen Geld-, Zins-
und Krisen-
probleme. Suhr schreibt in dem oben genannten Sammelband ausdrück-
lich: "Es verdient hervorgehoben zu werden, daß bislang
an keiner einzi-
gen Stelle davon die Rede war, daß die derzeitigen Krisenerscheinungen
mit der Hortung von Geld zusammenhingen. Ebensowenig ist behauptet
worden, es bedürfe zur Vermeidung solcher Hortung eines 'Umlaufzwan-
ges' für das Tauschmittel 'Geld'. Im Gegenteil, ich bin überzeugt
davon,
daß 'Geldhortung' heute kein Problem ist und daß man
mit der dogmati-
schen Litanei vieler Jünger von Gesell den monetären
Strukturen unserer
Wirtschaft in entscheidenden Punkten nicht beikommt. Deshalb ist
es
geradezu absurd und zeugt wiederum von Unkenntnis, wenn dem
Konzept 'Geld ohne Mehrwert' (wie es Suhr in dem gleichnamigen
Buch
entwickelt hat, K. S.) immer wieder unterstellt und vorgehalten
wird, es
arbeite mit den unzulänglichen oder unzutreffenden Kategorien
der 'Hor-
tung' und des 'Umlaufzwanges'."
Herr kann die unterschiedlichen Ansätzen von Gesell und
Suhr nicht
auseinanderhalten. Gesells Analyse beruht vorrangig auf der während
der Gold(kern)währungen hochaktuellen Hortbarkeit des Geldes:
sie ver-
ursacht die Krise und den (Ur-)Zins. Suhrs Analyse beruht - was
immer
noch aktuell ist - auf dem Liquiditäts- und Transaktionskostenvorteil
und
der "Joker"-Stellung des Geldes: sie versuchen - auch
heute noch -,
den Zins und damit die Krise. Diese Vorteile des Geldes vor allen
anderen
Waren sollen heute - immer noch - mittels Durchhaltekosten für
Geld
kompensiert werden, um die gegenwärtigen Währungs-,
Liquiditäts- und
Zinsprobleme zu lösen. Ich meine, das ist eine zeitgemäße,
an Keynes an-
knüpfende Weiterentwicklung der Gesellschen Geld- und Zinstheorie
durch Suhr (s. Kap. 7).
8. Herr befürchtet, daß die Wirtschaftssubjekte auf
andere Tauschmit-
tel zurückgreifen würden, wenn ein "Stempelgeld"
eingeführt werden
würde: auf Bankgeld, Devisen, Gold, "Juwelen" usw.
An anderer Stelle
behauptet er, das Schwundgeld würde "wie eine heiße
Kartoffel von ei-
nem zum anderen gereicht" werden, "um Abwertungsverluste
zu vermei-
den".
Aber was denn nun: verschwindet das "schlechte" Schwundgeld
aus der
Zirkulation und in Horten und übernehmen das "gute"
Bankgeld, die
"Juwelen" usw. die Tausch- und Zahlungsfunktion, oder
wird das
Schwundgeld "wie eine heiße Kartoffel" in der
Zirkulationssphäre vom
Lohnempfänger zum Kaufmann, vom Kaufmann zum Großhändler,
vom
Großhändler zum Fabrikanten, vom Fabrikanten zum Lohnempfänger
gereicht, wo es doch nach Meinung von Herr für "maßlose
Beschleuni-
gung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes"' sorgt? Hat der
Geldex-
perte Herr denn nie von dem in jedem Lexikon der Volkswirtschaftsslehre
nachlesbarem Gesetz gehört, das der engliche Kaufmann Gresham
bereits vor 400 Jahren formuliert hat: "schlechtes"
Geld (hier Schwund-
geld) verdrängt "gutes" Geld (hier Gold, "Juwelen"
usw.) aus der Zirku-
lation und verbleibt allein im Umlauf? (66) Aber vielleicht weiß
Herr es bes-
ser. Wahrscheinlich hat er festgestellt, daß die Leute von
Wörgl lieber auf
ihren Produkten sitzen blieben, statt Schwundgeld anzunehmen.
Sicher-
lich wird er beobachtet haben, wie die Arbeiter, Bauern und Kleinbürger
von Wörgl ihre Juwelen hervorkramten, um mit ihnen beim Bäcker
ihre
Frühstücksschrippen zu bezahlen (s. dazu Keynes' diesbezügliche
Gesell-
Kritik, Kap. 6).
Wenn Herr von "maßloser Beschleunigung der Umlaufgeschwindig-
keit" des Schwundgeldes spricht, so darf man das nicht so
wörtlich neh-
men. Es gibt keine maßlose Geschwindigkeit: die Höchstgeschwindigkeit
im Kosmos beträgt 299.793 km in der Sekunde. Im Gegensatz
zum Licht
ist sie beim Geld extrem mickrig: kein für die Warenzirkulation
relevantes
Geld kann schneller umlaufen, als Menschen vom Empfang ihrer Lohntü-
te zum Kaufmann laufen können, nach meiner unsportlichen
Einschät-
zung vielleicht 5 km in der Stunde. Wichtig ist, daß das
Geld mit dieser Ge-
schwindigkeit Schritt hält, d. h., daß nicht periodisch
große Geldmengen
aus dem Wirtschaftkreislauf herausgezogen werden können und
damit
der Weg des Käufers zum Kaufmann usw verhindert wird. Um
den Geld-
besitzern den "Geldstreik" zu vergällen und sie
zu zwingen, entweder zu
konsumieren oder ihr angehäuftes Geld anderen zinsfrei zur
Verfügung zu
stellen oder ihren Gelderwerb durch Arbeitszeitverkürzung
zu reduzie-
ren, haben Gesell und Johannsen die Hortungsgebühr bzw. die
Geld-
steuer erfunden. Auf Lichtgeschwindigkeit kann man seinen Umlauf
je-
doch nicht bringen. Auch an Herrs apokalyptischer Prophezeiung,
eine
"maßlose Beschleunigung der Umlaufgeschwindigkeit des
Geldes" wür-
de zum "Zusammenbruch der offiziellen Währung"
führen, ist also nichts
dran.
9. Doch unverdrossen bohrt Herr weiter. Er meint, daß gerade
in die-
sem Geldangebotszwang und im Reduzieren des Zinses ein "weiterer
zen-
traler Kritikpunkt" läge: "Zusätzliche Nachfrage
durch die Verminderung
oder Auflösung von Horten und selbst radikale Zinssenkung
können zu
eskalierender Inflation führen."
Dazu ist folgendes zu sagen:
a) Gesell wollte gerade durch die dauerhafte Auflösung der
Geldhorte
verhindern, daß Währungs- und Wertpapierspekulanten
durch periodi-
sche Hortung von Geld und Auflösung dieser Horte das allgemeine
Preis-
niveau verändern, damit die Währungsstabilität
untergraben und so Kri-
sen erzeugen und leistungslose Inflations- und Deflationsgewinne
ma-
chen können (s. Kap. 3). Das Spekulationshorte auflösende
und gleich-
mäßig umlaufende Schwundgeld wäre durch Geldmengenpolitik
(z. B.
der Notenbank) am Maßstab eines Preisindex mengenmäßig
problemlos
steuerbar und die Währungsstabilität garantiert (s.
Kap. 5).
Wenn Herr behauptet, durch die Auflösung der Geldhorte (vorausge-
setzt, es gibt sie heute noch; s. Punkt 12!) käme es zu einer
"eskalierenden
Inflation", so widerspricht das der Logik: Sind die Geldhorte
erst einmal
aufgelöst, dann können keine Geldhorte mehr aufgelöst
werden, die zu
einer zusätzlichen Geldmenge in der Zirkulation und zu weiteren
Preis-
steigerungen führen könnten. Was soll da also "eskalieren"'?
Hier eska-
liert Herrs Phantasie.
b) Statt die Konjunktur durch die Veränderung des positiven
Zinses zu
steuern (Diskontzins-Politik der Notenbank) und damit die Zinsknecht-
schaft zu verschärfen, will Gesell den positiven Zins durch
den negativen
"Zins" Durchhaltekosten auf durchschnittlich null Prozent
drücken
(Geldsteuer-Politik) und damit ein wirtschaftliches Gleichgewicht
zwi-
schen Angebot und Nachfrage auf dem Güter- und Arbeitsmarkt
herstel-
len. Wenn Herr möchte, kann er auf dieser Basis immer noch
die Kon-
junktur regulieren: statt durch Veränderung der Zentralbankzinsen
(Dis-
kont- und Lombardsätze) durch die Veränderung der Durchhaltekosten
(Geldsteuersätze).
10. Herr behauptet, Suhr wäre "mit keinem Wort auf
die Inflationspro-
blematik" eingegangen.
Herr sollte Suhrs Darlegungen genauer zur Kenntnis nehmen, bevor
er
sich über sie hermacht. In demselben Sammelband, in dem er
Suhr kriti-
siert, schreibt dieser: "Wird der ökonomische Vorteil
von Liquidität (Kas-
senhaltung) abgeschöpft, so wirkt das allerdings als ganz
sanfter Druck
auf Kassenhalter dahin, bei der Optimierung ihrer Vorhaltung von
Liqui-
dität noch schärfer zu kalkulieren. Wo sie bisher bei
zu großzügiger Kas-
senhaltung Opportunitätskosten hatten in Gestalt entgangener
Zinsen,
dort treten dann echte Kosten ein. Das bewirkt einen leichten
Angebots-
druck für Liquidität. Dieser sanfte Druck auf Kassenhalter
ist dem ver-
gleichbar, der von einer schleichenden Inflation ausgeht; aber
im Gegen-
satz zur herkömmlichen Inflation wirkt sich die Abschöpfung
des Liquidi-
tätsvorteils nur auf die Kasse aus, während die Währung
davon verschont
bleibt. - Aus dem leichten Angebotsdruck für Liquidität
resultiert ein et-
was größerer Wirkungsgrad der volkswirtschaftlichen
Gesamtliquidität
('Zunahme der mittleren Umlaufgeschwindigkeit des Geldmenge').
Die-
se Zunahme der 'Umlaufgeschwindigkeit' ist also ein Nebeneffekt
der geld-
und ordnungspolitisch gebotenen Abschöpfung des Liquiditätsvorteils.
Sie
würde während der Zeit des Übergangs vom herkömmlichen
Geld zu
'Geld ohne Mehrwert' inflationierend wirken können, wenn
und soweit
ihr nicht mit den herkömmlichen, bekannten und hinreichend
bewährten
Mitteln der Geldmengensteuerung entgegengewirkt wird." (229)
Fundierte Kenntnisse über den Gegenstandes ihrer Kritik
sind nicht die
Stärke der Freigeld-Kritiker.
11. Herr vermutet, "daß Horten von Geld während
einer Inflation ein
absolut vernachlässigbarer Faktor ist".
Endlich mal eine absolut richtige Aussage - in völliger
Übereinstim-
mung mit Suhr! Doch weder Gesell noch Suhr wollen eine Inflation,
und
es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen inflationistischem
"Schwundgeld" und dem Schwundgeld der Festwährung
Gesells. Suhr
hat das im Zusammenhang mit Keynes' ursprünglicher Idee von
einem
Geld mit Durchhaltekosten (s. Kap. 6) folgendermaßen erklärt:
"Auch
bei der Inflation entwertet sich das bereitgehaltene ("gehortete",
K. S.)
Geld in der Kasse. Es verursacht Durchhaltekosten (Kaufkraftverlust,
K.
S.), und man weiß, daß gerade dieser Effekt der Inflation
einen kurzfristi-
gen nützlichen, langfristig jedoch schädlichen Effekt
für die Konjunktur
hat; denn unsere heutige Inflation ergreift nicht nur das Geld
in der Kas-
se, sondern auch die Währung als solche, insbesondere die
Währungsein-
heit als den Maßstab für Kaufkraftschulden: Nicht nur
die 'DM' in der
Kasse, sondern auch die 'DM' an sich verliert an Kaufkraft. Und
in die-
sem Punkt unterscheiden sich die von Keynes erwogenen Durchhalteko-
sten grundlegend von der landläufigen Inflation: Die Keynesschen
Durch-
haltekosten belasten nur das Geld in der Kasse (also die Geldhorte!
K.
S.), lassen jedoch gerade die Währung als solche von dem
Schwund unbe-
rührt, der das Geld in der Kasse ergreift. Die Inflation
jedoch erfaßt bei-
des, weil das Geld in der Kasse sich absolut entwertet und nicht
nur durch
den Kostenfaktor 'Durchhaltekosten' relativ zur Währungseinheit.
Wegen
dieses grundlegenden Unterschiedes bleiben die langfristig nachteiligen
Folgen der kurzfristig nützlichen Inflation beim 'Geld mit
Durchhalteko-
sten' gerade aus. Beim 'Geld mit Durchhaltekosten' lassen sich
also die se-
gensreichen Wirkungen der Inflation mit denen einer stabilen Währung
verbinden: 5% wohldosierte Inflation der Zahlungsmittel mit 0%
Infla-
tion bei der Währungseinheit: eine keynesianische Alternative
zum Key-
nesianismus! " (230)
12. Immerhin gibt Herr zu, daß Schwundgeld - auch inflationisti-
sches - zum "sanften Tod des Kapitalrentners" (Keynes)
führt: "Die (in-
flationistischen, K. S.) Durchhaltekosten auf Geld waren so hoch,
daß die
Realzinssätze (in den 70er Jahren zeitweilig; K. S.) unter
Null fielen." (231)
Na, toll! Was Sozialismus und Kommunismus nicht geschafft haben,
hat
die Inflation (wenn auch nicht in der BRD, so doch in den USA
und Ja-
pan) erreicht, und das auch noch im Rahmen der Marktwirtschaft:
die Ab-
senkung des Mehrwertanteils Geld- und Kapitalzins!
Doch das paßt dem alternativen Herr nicht in den Kram,
denn: "Das
Lehrstück USA zeigt vielmehr, daß es zu einer Flucht
aus dem Dollar in
Sachwerte, in andere Währungen und ins Gold kam. Die Folge
war nicht
eine Mengenkonjunktur, sondern ein Hochschnellen der Inflationsrate.
Die US-Zentralbank war dann ab 1985 auch gezwungen (!), eine radikale
Hochzinspolitik zu betreiben und den Zerfall des Geldsystems zu
stop-
pen."
Die "Flucht aus dem (gehorteten?, K. S.) Dollar in Sachwerte"
etc. (in
Juwelen?), bester Herr, ist für Gesell ja gerade der Sinn
der Veranstaltung
Durchhaltekosten für Geld! Daß dann auch die Geldmenge
im Sinne ei-
ner Festwährung reguliert werden kann, ist immer wieder ausgiebig
durchgekaut worden. Dazu ist aber keine Hochzinspolitik notwendig.
Sie
verhindert auch keine Inflation, wenn trotz der Hochzinspolitik
der Geld-
umlauf ausgeweitet wird, z. B. durch die Auflösung von Geldhorten,
durch die Betätigung der Notenpresse, durch die Schöpfung
billigen Gel-
des durch Privatbanken, durch den Zufluß fremden Geldes
(Devisen) in
die nationale Volkswirtschaft gerade wegen der hoher Zinsen!,
oder weil
wegen hoher Profite in einigen Wirtschaftssektoren trotz hoher
Kreditzin-
sen durch Kreditaufnahme Leihgelder in den Wirtschaftsskreislauf
flie-
ßen. Dagegen hilft nur Geldmengenpolitik, wie sie Gesell
als Teil seiner
Währungspolitik fordert.
"Ein systemsprengendes Element der Keynesschen Vision ist
die Besei-
tigung des Zinses und des Profits", schreibt Herr in einer
Gesell-Kritik in
der "Prokla". (231a) Doch Herrs Anliegen ist das offenbar
nicht. Sein Kleben
am Fetisch Zins dürfen wir wohl bestenfalls als schizophren
bezeichnen,
wenn er einerseits Suhr bescheinigt, den "Charakter der Zinsen
als lei-
stungsloses Einkommen und der destruktiven Wirkung auf die ökonomi-
sche Entwicklung (...) klar erkannt" zu haben, drei Zeilen
zuvor jedoch
eine "radikale Hochzinspolitik" für Währungspolitisch
unabdingbar er-
klärt. Derartige ideologische Hilfsdienste für das Finanzkapital
sollten
ihm die Couponschneider mit einem Posten in einer Kapitalgesellschaft
honorieren.
13. Kommen wir zum Schluß auf einen nicht unwichtigen Kritikpunkt
zu sprechen, den Herr zwar nicht in seinem Beitrag zu den "Perspektiven",
wohl aber in dem genannten Beitrag in der "Prokla" und
in einem Artikel in
der "zeitschrift für sozialökonomie" (231b)
gegen Gesells Zinstheorie erhebt.
Er betrifft die Stelle in der NWO (9. Auflage: S. 315f.), wo Gesell
den
Urzins aus der Vormachtstellung des Geldes des "Kaufmannes"
über die
Ware des Verkäufers ableitet. Ersterer, schreibt Gesell,
kann mit dem
Kauf der Ware warten, weil Geld keine Durchhaltekosten hat, so
daß der
Verkäufer der Ware mit Durchhaltekosten (fehlende Tauschgerechtig-
keit!) einen Preisnachlaß gewähren muß. Das gelte
jedoch nicht für jene
Käufer, die nicht warten können, weil sie die Waren
unmittelbar zum Le-
ben benötigen. Herr meint nun, daß dieser Preisnachlaß
"unweigerlich"
zur Deflation führen müsse!
Herr hat nicht begriffen, daß der finanzkräftige Käufer
sein Geld nicht
nur als Tauschmittel verwendet, also nicht nur, um andere Ware
gegen
Geld einzutauschen, sondern daß er es (Doppelfunktion der
Geldes!)
auch als Liquididtät anbietet! Für das Tauschmittel
Geld erhält er den Tausch-
wert des Geldes in Form einer anderen, gleichwertigen Ware; für
den
spezifischen Wert des Geldes als Mittel der "Tauschfreiheit"
(E. Knöl-
ler (232)): für seinen Liquiditätswert erhält er
außerdem die Liquiditätsver-
zichtsprämie - vorausgesetzt, er vergibt Liquidität,
zahlt also unverzüg-
lich und in bar. Diese Art der Prämie nennen wir Skonto.
Dieses Skonto
läßt sich der Käufer - in der Regel ein Großhändler,
der mit größeren
Summen Eigen- und/oder Fremdkapital arbeitet - als Zwischenhändler
vom Kleinhändler und dieser vom Endverbraucher bezahlen -
andern-
falls hätte er ja keinen Vorteil davon! Folglich wirkt dieser
Preisnachlaß
für den schnell und bar zahlenden Großeinkäufer
auch nicht deflationi-
stisch: die kleinen finanzschwachen und bedürftigen Käufer
zahlen diese
Prämie im Preis der Ware; sie wird also durch das Skonto
für den Zwi-
schenhändler nicht billiger für den Endverbraucher.
Im Unterschied zum Kreditgeber, der seine Liquidität verleiht
und da-
her für die Dauer des Darlehns ein "Skonto" erhält,
tritt der Käufer einer
Ware sein Eigentum an der Liquidität im Zusammenhang mit
dem Tausch
des Geldes als Tauschmittel gegen diese Ware an den Verkäufer
ab. Folg-
lich kann er diese Liquiditätsverzichtsprämie - anders
als der Geldver-
leiher - nur einmal kassieren: bei Übereignung der Liquidität
im Zusam-
menhang mit dem Tauschgeschäft: Das Skonto ist also lediglich
eine an-
dere Form des Urzinses als der Nettozins; beide sind keine Deflationsfak-
toren.
Mag sein, daß die "geldreformerischen Vorschläge"
Gesells und Suhrs
eine "Illusion" sind - wer weiß, wer weiß!
-, doch worin sie besteht, hat
Herr nicht aufzuzeigen vermocht (und etwas besseres ist ihm auch
nicht
eingefallen). Obwohl Herr sich gerne auf Keynes beruft (auf den
staatsin-
terventionistischen selbstverständlich), bleibt er letztendlich
bei seinem
marxistischen Leisten: "Die Instabilität einer Geldökonomie
liegt (..) in
der Instabilität der Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion
über
den Markt" - nicht also in der Instabilität der Geldzirkulation
und des
Zinssystems, Genossen!
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