Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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13. Welche Bedeutung hat das Geld für den Klassenkampf? -
Wo verläuft die "Hauptkampflinie"?

"Die Gewalt, mein Herr, ist das erste und das letzte
Wort einer auf das Zinsprinzip gegründeten Gesell-
schaft, die sich seit 3.000 Jahren gegen den Zins ab-
müht."
P. J. Proudhon

Soziale Emanzipation ist ohne die Befreiung der Volkswirtschaft vom Ka-
pitalismus nicht möglich. Da Kapitalismus identisch ist mit Zins- und
nicht mit Marktwirtschaft, kann eine wirkliche, an die Wurzeln des Kapita-
lismus gehende Befreiung nur durch die Brechung der Zinsknechtschaft
erfolgen. Da es zwischen "Kapital und Arbeit", zwischen den Klassen
der Unterdrückten und Ausgebeuteten und den Klassen ihrer Unterdrük-
ker und Schmarotzer weder Gleichberechtigung gibt noch einen friedli-
chen Ausgleich geben kann, ist, wenn die soziale Frage gelöst werden soll,
der Klassenkampf unausweichlich.

Das Verhältnis von Produzenten und Parasiten läßt sich weder durch
Appelle an die Menschlichkeit der Sklavenhalter noch durch das Pochen
der Sklaven auf ihre besseren Argumente überwinden. Und die Pluto-
kraten werden die Zitadellen ihrer Macht nicht kampflos räumen auf
Grund demokratischer Mehrheitsbeschlüsse. Sie werden - das lehren
Geschichte und Gegenwart - alle die ihnen zur Verfügung stehenden
Machtmittel einsetzen, um ihre Pfründen zu verteidigen: Polizei, Justiz,
Militär, Folter - und damit Gegengewalt herausfordern. Unsere Zins-
analyse zeigt klar und deutlich, daß die Produzenten mit ihren Schmarot-
zern eben nicht, wie uns letztere weiszumachen versuchen, "in einem
Boot sitzen"; allenfalls befinden wir uns mit ihnen gemeinsam an Bord
der Titanic.

Selbstverständlich ist der Gegensatz von Kapital und Arbeit nicht der
einzige Widerspruch in den gegenwärtigen Gesellschaften, und er ist auch
nicht der vielbeschworene "Hauptwiderspruch". Ebenso wichtig sind der
Gegensatz der Geschlechter und Generationen im Patriarchat, der
Kampf der Bürger gegen den Staat, der polnischen Arbeiter gegen die
Parteiherrschaft, die Rebellion der schwarzen Kinder und Jugendlichen
gegen die weißen Rassisten in Südafrika usw. Viele Fronten verlaufen
quer durch Klassen, Schichten und Gruppen. Eine emanzipatorische, so-
zial- und kulturrevolutionäre Bewegung muß also innere Widersprüche
bewältigen und gleichzeitig auf breiter Front kämpfen - doch der jewei-
lige "Trennungsstrich" muß klar erkannt und konsequent gezogen wer-
den.

Auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit bezogen, heißt das, daß hier
(im Jargon der guten alten 883 (172a) gesagt) die "Hauptkampflinie" nicht
grundsätzlich zwischen Arbeitern und Unternehmern verläuft, also zwi-
schen "selbständigen" und "unselbständigen" Produzenten (die Marx,
wie wir in Kap.10 gesehen haben, unter bestimmten Bedingungen beide
"Arbeiter" nennt), sondern vorrangig zwischen allen Produzenten einer-
seits und den Kapitalisten im weitesten Sinne, also jenen, die mittels Zin-
sen, Renten, Renditen, Monopol- und Spekulationsgewinnen etc. die Ar-
beit aller Produzenten ausbeuten, andererseits. Zu den Produzenten ge-
hören selbständige Handwerksmeister, Händler, Bauern, kleine und mitt-
lere Fabrikanten, Genossenschaftler, Wirtschaftskommunarden, Wissen-
schaftler, Künstler usw ebenso wie alle Lohnarbeiter. (151a)

Jene Sozialisten und Anarchististen, die den Trennungstrich nicht zwi-
schen Lohnarbeitern und Unternehmern, sondern zwischen Produzenten
und Kapitalisten ziehen, sind von Marx als Sozialisten des Kleinbürger-
tums diffamiert worden. Doch ihre Position entspricht, wie wir gesehen
haben, objektiv den ökonomischen Tatbeständen. Diese Fakten müssen
zwar wegen der Handlangerdienste vieler Unternehmer, oft als Manager
im Lohne großer Kapitalgesellschaften, relativiert werden; sie werden
aber auch durch die subjektiv erlebte Konfrontation der Lohnarbeiter mit
dem Unternehmer im Betrieb übersehen und darüber hinaus durch die
Mehrwerttheorie ideologisch verschleiert. Wir sollten uns weder durch
Marxens Vorwurf des Kleinbürgertums, noch durch diesen Widerspruch
subjektiver Erfahrung und objektiver Analyse, durch "Nebenwidersprü-
che" zwischen selbständigem und unselbständigem Arbeiter, beirren las-
sen und versuchen, die vorrangige Abgrenzung im Klassenkampf und da-
mit auch die richtigen und notwendigen Bundesgenossen in diesem Kampf
zu finden. Denn bei der geballten Macht des Kapitals können wir auf Bun-
desgenossen nicht verzichten, und zu diesen gehören potentiell auch die
Kleinbürger und Kleinbauern; sie sind ebenso von der "Knechtschaft der
Zinsen" (Proudhon) betroffen wie die Lohnarbeiter.

Hiermit soll keineswegs geleugnet werden, daß es auch konkrete und
gravierende Gegensätze zwischen selbständigen und unselbständigen
Produzenten gibt. Zu diesen Gegensätzen gehören z. B. jene, die sich aus
der hierarchischen Unternehmensstruktur und aus dem Streit um die Ver-
teilung des gemeinsam erwirtschafteten Arbeitseinkommens ergeben.
Doch hier wird an Nebenkriegsschauplätzen gefochten, was vom wichti-
geren und gemeinsamen Gegener ablenkt. Von den Kämpfen um Mit-
und Selbstbestimmung und um die Lohnanteile des Arbeiters und Unter-
nehmers bleiben die Zins- und Renteneinkommen der Kapitalisten unge-
schoren. Diesen Tatbestand sollten beide, die Arbeiter und die Unterneh-
mer, insbesondere die kleinbürgerlichen, zur Kenntnis nehmen und dar-
aus entsprechende Schlußfolgerungen ziehen. Wenn beide sich jedoch die
Ideologie des Kapitals zu eigen machen und den Gegensatz Produzenten
/Kapitalisten bagatellisieren oder gar leugnen und von der "Gleichbe-
rechtigung von Kapital und Arbeit" schwafeln, dann verbünden sie sich
immer wieder mit den falschen Freunden. Zu Recht spottet z. B. ein
Stern-Journalist über eine Betriebsvereinbarung bei einem Elektrizitäts-
werk, der "Dreckschleuder" Buschhaus in Niedersachsen, in der sich die
Arbeiter und ihre Gewerkschaftsführer nicht nur mit den Managern (den
lohnabhängigen Unternehmern), sondern ebenso mit den Aktionären
(den Kapitalisten) des Kraftwerks - und das auch noch gegen die Um-
weltschützer! - verbündeten: Ihr illigitimes Verhältnis legalisierten sie
mit der Vereinbarung, daß die Zahlung eines Weihnachtsgeldes an die Ar-
beiter von der Dividendenausschüttung an die Eigentümer des Unterneh-
mens, also vom Zins, abhängig sein soll! - Arbeiter und Kapitalisten,
vereinigt Euch! (173a)

Diese Fehlverhalten sind zahllos. In Chile führte ein falsches Klassen-
bündnis im Zusammenhang mit ungelösten sozialökonomischen Proble-
men zum Sturz der sozialistischen Allende-Regierung und zu einer kon-
servativen Militärdiktatur. Dort hatten sich die Lastwagenfahrer (Lohnar-
beiter) mit den Fuhrunternehmern (mittelständische Unternehmer) und
beide mit US-amerikanischen Kapitalgesellschaften und Großbanken (Fi-
nananz- und Großkapitalisten) gegen andere Arbeiter, gegen Kleinbau-
ern (ebenfalls Unternehmer) und - wie vielen inzwischen klar gewor-
den sein dürfte - gegen ihre eigenen langfristigen Interessen verbün-
det. - Die Allende-Regierung hatte es offenbar nicht verstanden, sich
die Mittelschichten Chiles zu Bundesgenossen gegen die wirklichen Kapi-
talisten zu machen.

Die Sandinisten in Nicaragua scheinen heute vor ähnlichen Problemen
zu stehen. Das ist u. a. darauf zurückzuführen, daß das gerade in Latein-
amerika so außerordentlich wichtige Bodenproblem trotz der Machtüber-
nahme der Sandinistas auch in Nicaragua bis heute nicht gelöst worden
ist. Das Programm der FSLN von 1969, das Großgrundeigentum abzu-
schaffen, wurde aufgegeben: "Der Großgrundbesitz wurde mit Samt-
handschuhen angefaßt", schreibt Eva von Hase-Mihalik in der Frankfur-
ter Rundschau (174). Ein Dekret von 1980, das die Großgrundeigentümer
verpflichtet, Boden an landlose Bauern und Landarbeiter mit der lächer-
lichen Auflage, einen Nachlaß von einem Drittel der marktüblichen Bo-
denrente zu gewähren, was kaum funktionieren dürfte, zu verpachten,
verewigt die Ausbeutung der Produzenten durch die schmarotzenden
Grundrentner. Da bis heute erst ein Viertel aller landlosen Bauern und
Landarbeiter zu freiem Boden gekommen sind, treibt diese Politik einen
Keil zwischen diese landlosen Arbeiter und Bauern und die "revolutionä-
re" Regierung. Das zeigen die zunehmenden Demonstrationen und Land-
besetzungen der Bauern und das Anwachsen ihrer ATC von 35.000 Mit-
gliedern kurz nach der Revolution auf über 80.000 bis 1981 in diesem
Land von nur 2,5 Millionen Menschen. Statt gegen ein paar Groß-
grundbesitzer eine radikale Bodenreform durchzuführen und sich damit
der treuen Bundesgenossenschaft der Landarbeiter und Bauernmassen
zu versichern, legten sich die Sandinisten, intellektuelle Kleinbürger mar-
xistischer Couleur und Abkömmlinge der spanischen Kolonialherren, mit
den Indianern an und trieben viele von ihnen in die Arme der Contras.
Darüber hinaus gerieten sie - offenbar auf Grund ihrer kollektivisti-
schen und zentralistisch-planwirtschaftlichen Ideologie, ihrer irrwitzigen
Währungspolitik mit einer Inflationsrate von 1.200% (174a) und ihres man-
gelhaften Verständnisses für die wirklichen Klasseninteressen in ihrem
Lande - immer mehr in Gegensatz zu ihrer eigenen Klasse und zur Un-
ternehmerschaft. Was ihnen blieb, waren die Proletarier, doch im Mai/
April 1988 streikten 3.000 Bauarbeiter und 37 traten in den Hungerstreik,
um Lohnerhöhungen zu erzwingen. Der Grund: "Nach der Währungsre-
form haben die meisten Arbeiter schwere Kaufkrafteinbußen hinnehmen
müssen. Während die Preise seither wieder explodiert sind, bleiben die
Löhne eingefroren." (174b) Das ist eine Politik, wie sie gemeinhin von beson-
ders dummen und reaktionären bürgerlichen Regierungen betrieben
wird!

Mangelhafter ökonomischer Durchblick und Orientierung an marxisti-
scher Geldideologie veranlaßt "unsere" Sandinistas zu wirtschaftlichen
Maßnahmen, die die Konterrevolution geradezu herausfordern. Ohne
eine sozialgerechte und funktionierende Wirtschafts- und Währungspoli-
tik ist jedoch eine soziale Revolution nicht zu entfalten und auf Dauer zu
stellen. Immer wieder verspielt die Linke ihre Chancen...

Das Scheitern der Weimarer Republik

Welch katastrophalen Folgen eine Fehleinschätzung der Klasseninteres-
sen und -gegensätze im Zusammenhang mit falschen Vorstellungen über
Geld, Zins und Währung in Europa gehabt haben, zeigt die Geschichte
der Weimarer Republik. Während ihrer vierzehnjährigen Existenz lebten
dort die Menschen etwa vier Jahre in einer Inflations- und ebenfalls rund
vier Jahre in einer Deflationskrise, also nur sechs von vierzehn Jahren in
einigermaßen geordneten Währungs- und Wirtschaftsverhältnissen.
Durch die totale Geldentwertung in der Inflationsphase - am Schluß
waren 4,2 Billionen Mark einen US-Dollar wert! - wurden die Arbeiter
und Kleinbürger restlos ihrer Ersparnisse beraubt, die sie durch schwere
Arbeit in einer Sechstage-Woche bei einem Zehn- bis Vierzehnstunden-
Tag erworben und sich von einem Bruchteil des heutigen Realeinkom-
mens abgespart hatten. Die Deflation bescherte über 6 Millionen Men-
schen, die meisten Lohnarbeiter, zum Teil jahrelange Arbeitslosigkeit und
zahllosen Gewerbetreibenden und Landwirten existentiellen Ruin. - Es
waren also die Arbeiter und Kleinbürger und Bauern, die in den "golde-
nen Zwanzigern" und Anfang der 30er Jahre unter der Währungspfusche-
rei, der Währungsspekulation und der Ausbeutung durch den Zins zu lei-
den hatten.

Die Betroffenheit aller Produzenten von der Ausbeutung durch die Fi-
nanzkapitalisten schildert treffend ein Hirtenbrief der österreichischen
Bischöfe aus dem Jahr 1925, der heute im Zusammenhang mit der Ver-
schuldungskrise und Zinsknechtschaft in der Dritten Welt und der frag-
würdigen Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds
(IWF) wieder außerordentlich aktuell geworden ist. An einer Stelle heißt
es: Das Kredit-, Banken- und Börsenwesen "dient den Finanzmächten,
die Völker zu bewuchern und auszurauben, dem Fleiß fast alle Erzeugnis-
se wegzustehlen und immer weitere Kreise durch Verarmung in gänzliche
Abhängigkeit und in wahre Sklaverei zu bringen. Diesen Geldmächten ist
nicht bloß die Arbeiterschaft unterworfen, sondern es sind dies auch sehr
viele Unternehmer, Klein- und Großfabrikanten, besonders aber die Ge-
werbetreibenden und der Mittelstand. Die Bankenwelt ist die herrschen-
de Macht in den Staaten geworden." (175)

Während die bürgerlichen Parteien die damaligen Geld- und Währungs-
krisen voll durchzogen und die SPD und KPD - wie der Historiker Ar-
thur Rosenberg meint -, wie 1923 (Inflation), so auch 1929-33 (Defla-
tion), "eine große historische Stunde" "einer großen Volksrevolution ge-
gen das herrschende System" versäumten, (176) haben die Nationalsoziali-
sten die Gunst der Stunde genutzt. Ihr linker Flügel um die Brüder Stras-
ser und der NS-Zinstheoretiker Gottfried Feder polemisierten in gleicher
Weise gegen die "Plutokratie" und "Hochfinanz" wie die katholischen Bi-
schöfe in dem zitierten Hirtenbrief und wie zuvor Tucker und andere An-
archisten der proudhonistischen Richtung (s. Kap. 1). Die linken Nazis
vertraten zwar eine staatssozialistische und - ähnlich wie der faschisti-
sche, konservative und rassistische Flügel der NSDAP - eine antisemiti-
sche Position, wendeten sich jedoch entschieden gegen das Finanz- und
Bodenkapital und versprachen dem Proletariat "Arbeit und Brot" und
den Kleinbürgern und Bauern die "Brechung der Zinsknechtschaft". (177)
Nicht zuletzt wegen ihres zinsorientierten Antikapitalismus konnten sie
recht überzeugend und mit Erfolg ein Bündnis von Kleinbürgern, Arbei-
tern und bestimmten Randschichten propagieren. So forderte Feder "ei-
ne geschlossene Front der ganzen werktätigen Bevölkerung (...) von be-
sitzlosen Arbeitern (...) über die gesamte bürgerliche Schicht der Beam-
ten und Angestellten, des bäuerlichen und kleingewerblichen Mittelstan-
des hinweg, die in Gestalt von Wohnungselend, Bodenzinsen, Bankzin-
sen usw die unbarmherzige Gewaltherrschaft des Geldes zu spüren be-
kommen, bis weit hinauf zu den führenden Köpfen, Erfindern und Di-
rektoren unserer Großindustrie, die alle samt und sonders mehr oder we-
niger in den Krallen des Großleihkapitals stecken, für die es als erste Le-
bensaufgabe immer heißt: Renten, Zinsen, Dividenden erarbeiten für die
hinter den Kulissen spielenden Geldmächte. Nicht minder gehören auch
alle Kreise der Intelligenz, Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Wissen-
schaftler sowie die übrigen Angehörigen der freien Berufe hinzu." (178)

So unausgegoren viele Vorstellungen der National"sozialisten" über
Geld, Zins und Währung auch waren (der von der SA zum Krüppel geprü-
gelte Gesellianer Benedict Uhlemayr hat das gründlich am Beispiel von
Feders Zinstheorie belegt (179)), so hatten ihre Parolen gegen das Finanzka-
pital im Zusammenhang mit den Folgen der monetären Krisen - Enteig-
nung der Mittelschichten durch die Inflation und verheerende Arbeitslo-
sigkeit in der Deflation - erheblich dazu beigetragen, kleinbürgerliche
und proletarische Massen für sich zu mobilisieren und zusammenzufüh-
ren. Der Kommunist Rosenberg hat diesen Vorgang aus eigenen Erfah-
rungen beschrieben: "Die radikalisierten Volksmassen, die weder von der
KPD noch von der SPD erfaßt werden konnten, strömten seit 1929 den
Nationalsozialisten zu. (... ) Das Programm der NSDAP von 1920 verlang-
te die Verstaatlichung aller Trusts, die Abschaffung des arbeits- und mühe-
losen Einkommens, die Brechung der Zinsknechtschaft, die sofortige
Kommunalisierung der Großwarenhäuser usw (Otto Strasser und seine
norddeutschen Anhänger später auch die Verstaatlichung allen Bodens;
K. S.). Als die Partei sich seit 1929 in allen Teilen Deutschlands verbreite-
te, erneuerte sie (genauer gesagt die faschistische und konservative Cli-
que Göring, Goebbels, Himmler etc. um Hitler; K. S.) auf der einen Seite
ihre alten Beziehungen zur Schwerindustrie und zu den Großbanken, und
auf der anderen (sozialistischen; K. S.) Seite strömten ihr viele Tausende
von ehrlichen Sozialisten zu, die da hofften, Hitler werde das verwirkli-
chen, woran die marxistischen Parteien gescheitert waren. (...) In der SA
trafen sich stellungslose Akademiker und arbeitslose Proletarier, darun-
ter viele frühere utopisch-radikale Kommunisten, mit den alten Frei-
korpsführern." (180)

Die Bedeutung des zunehmenden materiellen Elends für das Wachsen
der nationalsozialistischen Bewegung belegt der Gesellianer Schumann/
Leuchtenberg mit einer grafischen Darstellung. Sie zeigt die erstaunlich
präzise Parallelentwicklung von Arbeitslosenzahlen und Stimmen für die
NSDAP bei den Reichstagswahlen (s. Grafik 14). - Was beweist den Zu-
sammenhang von Ökonomie und Politik deutlicher?

Trotz vieler theoretischer Mängel und politischer Differenzen in der
NSDAP hat sie Anfang der 30er Jahre ein - wie sich zeigen sollte -
durchaus brauchbares Wirtschaftsprogramm zur Überwindung der Defla-
tionskrise vorgelegt, das Ähnlichkeiten hatte mit Keynes' Vorschlägen ei-
ner monetären Konjunkturpolitik, wie Heinz Höhne in einer Spiegel-Se-
rie über die Machtergreifung Hitlers schreibt. (181) Daß jedoch die NSDAP,
wie Höhne behauptet, die einzige Kraft gewesen sei, die einen Ausweg
aus der Krise wies, ist falsch. Es gab damals - neben Gewerkschaftern
mit ähnlichen finanzpolitischen und etatistischen Vorstellungen zur Über
windung der Deflationskrise - noch die Gesellsche Freiland-Freigeld-
Bewegung, die ein realistisches monetäres Instrumentarium zur Krisen-
überwindung vorzuweisen hatte. Darauf hat Gerhard Ziemer in seinem
Buch mit dem bezeichnenden Titel "Inflation und Deflation zerstören die
Demokratie" ausdrücklich hingewiesen. (182) Und das beweisen auch die vie-
len erfolgreichen Schwundgeld-Experimente in allen Teilen der Welt (s.
Kap. 4 u. Text 6).

Diese Möglichkeit, von der der amerikanische Ökonom Irving Fisher
glaubte, sie hätte "die Vereinigten Staaten in drei Wochen aus der Krise
herausbringen" können, (183) wurde von den "demokratischen" Machtha-
bern nicht genutzt, entsprechende Selbsthilfeinitiativen sogar (s. Kap. 4)
gewaltsam unterdrückt. Die bürgerlichen Parteien, die Sozialdemokraten
und die Kommunisten lehnten monetäre Maßnahmen zur Überwindung
der Deflationskrise strikt ab. Der ehemalige SPD-Funktionär, zwischen-
zeitliche (und unfreiwillige, wie er sagt) NS-Parteigenosse und heutige
Freisoziale Hans Schumann hat das in seiner Broschüre "Woran Weimar
scheiterte" (unter dem Pseudonym Max Leuchtenberg) ausführlich doku-
mentiert. Wenn wir seiner Zitatensammlung vertrauen wollen (was mir
meine Erfahrung mit Sozialdemokraten erlaubt), verstieg sich der
Währungs- und Finanzexperte der SPD, Professor Nölting, korrekt auf
der Linie seines Meisters Marx (s. Kap. 11), zu der Behauptung: "Die
Geldkrisen sind im wesentlichen interne Vorgänge im Bereich des Kapi-
tals, häuslicher Hader der Bourgeoisie, ein sich in einer höheren Region
vollziehendes und sich selbst aufhebendes Kampfspiel." (184) Der SPD-Ge-
nosse Ernst Heilman, Mitglied des Reichstags, stellte im Freien Wort die
heute absurd erscheinende, damals jedoch weit verbreitete Behauptung
auf: "Zur Wiederankurbelung der Wirtschaft führt kein anderer Weg als
die systematische Preissenkung." (185) Mit diesen schwachsinnigen und
selbstmörderischen Vorstellungen unterstützten sie ideologisch die kata-
strophale Deflationspolitik des bürgerlichen "Hungerkanzlers" Brünning
(Mitglied der Zentrums-Partei, Vorläuferin der CDU/CSU). Das war ei-
ne Geldpolitik, die den Faschisten, Konservativen und Rassisten um Hit-
ler und mit ihnen dem Finanzkapital und der Schwerindustrie (gegen Otto
und Gregor Strassers Widerstand!) den Weg zur Staatsmacht ebnete. (186)
Für diese sozialdemokratischen Marx-Apologeten war das Geld eben nur
ein bedeutungsloser "Schleier" über jenen Produktionsmitteln, die sie
verstaatlichen wollten. "Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen wollen,
die Krise sei ein Zirkulationsproblem", tönte damals Siegfried Aufhäuser,
ebenfalls Mitglied der SPD und des Reichtstags und Gewerkschaftsfüh-
rer, "so können wir uns als Sozialisten begraben lassen." (187) Viele seiner
Genossen (wie z. B. mein Vater, ebenfalls Anhänger dieser schleierhaften
Theorie) haben sich dann, unfähig, die Geld-, Währungs- und Zirkula-
tionskrise zu meistern und damit die Weimarer Republik zu retten, tat-
sächlich in den KZs der NS-Faschisten "begraben" lassen.

Erstaunlich ist, daß es heute noch Linke gibt, die dieser obskuren Geld-
schleier-Ideologie anhängen. Zu ihnen gehört Rudi Ratlos, ebenso emsi-
ger wie unqualifizierter Ökobank-Kritiker. Auch er begreift das Geld le-
diglich als einen "Schleier", der problem- und ziemlich funktionslos über
der Produktionssphäre wabert wie der Morgennebel über einer Waldwie-
se. Wenn jedoch die rote Sonne der marxistischen Kapitalanalyse über ihr
aufgeht und der Nebel sich verflüchtigt hat, dann blickt Rudi durch: er
sieht die "Wirklichkeit": Kraut und Rüben. (188)

So, wie die marxistischen Mehrwert Theoretiker glauben, der Wert der
Ware Arbeitskraft und damit auch ihr Preis: der Lohn, hänge im Wesentli-
chen von ihren Reproduktionskosten ab (s. Kap.11), ebenso glauben die-
se Arbeitswert-Theoretiker, auch der Wert des Geldes werde allein von
seinem Arbeitswert bestimmt. So, wie der Wert der Goldmünze (oft, aber
nicht immer!) von den Produktionskosten ihres Goldgehalts bestimmt
wird, so der Geldschein von den Produktionskosten des Papiers, aus dem
er besteht, von den Druckkosten seiner Beschriftung, von drei Minuten
Arbeitslohn für seine Herstellung etc. , macht vielleicht 1,50 Mark, also ist
ein Tausendmarkschein 1,50 Mark wert! Schon zu Marxens Zeit war be-
kannt, daß ein Tausendmarkschein nicht für 1,50 Mark und auch nicht un-
bedingt für 900 Goldmark zu haben ist. Doch mit fast religiöser Inbrunst
glauben Genossen wie Rudi Ratlos ebenso wie die Weimarer SPD-Genos-
sen - entgegen aller empirischen Erfahrung - immer noch an die Geld-
schleier-Theorie der verstaubten Klassiker, von denen Marx einer ihrer
letzten und hervorragensten ist. Zum Beleg seines phänomenalen Geld-
und Währungsverständnisses eine kleine Kostprobe aus einer berühmten
Schrift des großen Meisters: "Das Gesetz, daß die Quantität der Zirkula-
tionsmittel bestimmt ist durch die Preissumme der zirkulierenden Waren
und die Durchschnittsgeschwindigkeit der Geldumlaufs, kann auch so
ausgedrückt werden, daß bei gegebener Wertsumme der Waren und gege-
bener Durchschnittsgeschwindigkeit ihrer Metamorphosen, die Quanti-
tät des umlaufenden Geldes oder Geldmaterials von seinem eigenen Wert
(Edelmetallwert; K. S. ) abhängt. Die Illusion, daß umgekehrt die Waren-
preise durch die Masse der Zirkulationsmittel und letztere ihrerseits
durch die Masse des in einem Lande befindlichen Geldmaterials be-
stimmt werden, wurzelt bei ihren ursprünglichen Vertretern in der abge-
schmackten Hypothese, daß Waren ohne Preis (er bildet sich im Zirkula-
tionsprozeß! K. S.) und Geld ohne Wert (Papiergeld! K. S) in den Zirkula-
tionsprozeß eingehen, wo sich dann ein aliquoter Teil des Warenbreis mit
einem aliquoten Teil des Metallbergs (und den Banknoten etc. ! K. S.) aus-
tauscht." (189)

Kein Wunder, daß die Inflationsrate in der VR Vietnam 1.000% be-
trägt! (189a) (Siehe Quantitätstheorie, Kap. 5.)

Mit derartigem geistigen Rüstzeug ausgestattet, mußten die Sozialde-
mokraten in der Weimarer Republik währungspolitisch versagen und muß
Rudi Ratlos geldtheoretisch seinem Pseudonym (?) alle Ehre machen.
Er ist der Auffassung, das Geld diene allenfalls als "Schmiermittel" der
Wirschaft. Da er gewiß nicht meint, als Schmiermittel in Form von Partei-
enbestechungsgeld, sondern, um den reibungslosen Zirkulationsprozeß
zu garantieren, ist zu fragen, was er den machen will, wenn dieses
Schmiermittel versagt, die Zirkulation heiß läuft und schließlich - wie
1932/33 - zum Stillstand kommt. Da weiß auch Ratlos keinen Rat. Au-
ßer Spott und Nörgelei hat er den "Geldfetischisten" - zu denen er auch
den marxistischen Finanztheoretiker Hilferding zählt! - nichts anzubie-
ten. Ein Ritter von der traurigen Gestalt eines Sancho Pansa in den Huf-
stapfen des klapprigen Gauls eines Don Quichotte namens Karl Heinrich
Marx.

Acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb die Gewerkschaftszei-
tung Metall: "Zweimal wurde das soziale Gefüge des deutschen Volkes in
den Grundfesten erschüttert; während der großen Inflation des Jahres
1923 und nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929. Oh-
ne diese Katastrophen wäre der Nationalsozialismus niemals eine Macht
geworden." (190) - Eine späte, zu späte Erkenntnis, die 50 Millionen Men-
schen das Leben gekostet hat, und die zu vielen Linken bis heute nicht
durchgedrungen ist.

Chancen eines "Dritten Weges"

Es hat den Anscheint, als würde gegenwärtig eine ähnliche weltweite Fi-
nanzkrise heranreifen wie 1929, (191) die noch verschärft wird durch die Öko-
logiekrise, das (hoffentlich gestoppte) gigantische Wettrüsten und durch
die Bodenrechtsprobleme und die Bevölkerungsexplosion in der Dritten
Welt. Dem könnten wir eine positive Perspektive abgewinnen, wenn wir
wirklich an die Wurzeln der Probleme gehende gesellschaftliche Verände-
rungen herbeiführen wollten. Denn wenn tatsächlich ein großer Kladde-
radatsch am Horizont heraufzieht, dann würde sich damit ein ähnliches
Vakuum jenseits der etablierten Machthaber in Ost und West und in der
Dritten Welt für eine neue sozialrevolutionäre Bewegung auftun, wie in
den 20er Jahren und Anfang der 30er Jahre, für einen "Dritten Weg" oder
- wie es der damalige, wahrscheinlich von Stalins Henkern ermordete
kommunistische Verleger Willi Münzenberg formulierte - für eine
"dritte Front". Damals haben die Faschisten und Nationalsozialisten die-
sen Freiraum ausgefüllt - und für die Zwecke des Kapitals mißbraucht.
Heute kommt es darauf an, daß eine wirkliche Alternativbewegung zum
herrschenden System diese sich möglicherweise eröffnende historische
Chance nutzt und diesen Leerraum zwischen allen Parteien ausfüllt: als
dritte Kraft jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus, im Bündnis
mit allen vom Privat- und Staatskapitalismus, Feudalismus, Rassismus
und Patriarchat betroffenen Menschen. (192)

Mit Schrecken hat offenbar Heiner Geißler, Generalsekretär einer
"christlichen" Partei, die z. B. den NS-Blutrichter Dr. Erwin Albrecht zu
einem ihrer Mitglieder zählt, (193) in der Partei der Grünen diese "dritte
Front" vermutet, als er sie als Nachfolgerin der NS-Faschisten diffamier-
te. ("Es zittern die morschen Knochen", gell, Heinerle?) Wenn er jedoch
die Wirtschaftsprogramme der Grünen gelesen hat, wird er sicherlich wie-
der ruhig schlafen können. Mit grünen Politikern, die den Kapitalismus
und das gegenwärtige Bodenunrecht akzeptieren und in Hessen unseren
Genossen Günter Sarre dem Bündnis mit dem "stinkenden Leichnam"
SPD (Rosa Luxemburg) opfern, und von denen heute viele mit den Kon-
servativen liebäugeln, ist nur noch Staat zu machen. Rudolf Bahro, der
den weltweiten Trend auf der Suche nach einem "dritten Weg" als eine hi-
storische Chance, die die Grünen bereits vertan zu haben scheinen, be-
griffen hat, hat diesen reformbewegten, jedoch prokapitalistischen Bil-
dungsbürgern und beamteten Lehrern konsequenterweise den Rücken
gekehrt.

Anders als die zentralistische, hierarchische und ineffektive marxisti-
sche Staats- und "Plan"wirtschaft, deren Vertreter sich primär auf die Ar-
beiterklasse, die ihnen längst davongelaufen ist, stützen wollen; anders
auch als die liberale Ausbeutungs- und Krisenwirtschaft, deren soziale Ba-
sis - auf Grund des Scheiterns der marxistisch orientierten Linken -
nicht nur die Kapitisten und Grundrentner, sondern auch die Kleinbür-
ger, Bauern, und Arbeiter sind; und anders als das ökonomische Flick-
werk der Grünen, das gewiß nicht die "Massen" vom Hocker reißen wird,
hat Gesells libertäre Geld-, Zins- und Bodenlehre der großen Mehrheit
der Bevölkerung - zumindest objektiv - ein Programm anzubieten,
das an die wichtigsten Wurzeln ökonomischer, sozialer und ökologischer
Probleme geht. Wenn es auch die heutigen Anhänger und Schüler Ge-
sells - von Helmut Creutz, Dieter Suhr und einigen wenigen anderen ab-
gesehen - kaum schaffen, aus ihrem Sektendasein herauszukommen,
so konnten sie nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Gemeinden West-
deutschlands immerhin ebensoviele Stimmen bei Wahlen ergattern wie
heute die Grünen. (194) Vor allem aber hat die Schwundgeldtheorie in der
Praxis nicht nur bewiesen, daß sie einen entscheidenden Beitrag zur Über-
windung von Absatzkrisen und Arbeitslosigkeit leisten kann, sondern
auch, daß sie in bestimmten Situationen alle produktiven Klassen vereini-
gen kann. So hat in Schwanenkirchen das Schwundgeld im Interesse der
Arbeiter und des Unternehmers eines stillgelegten Bergwerks dieses wie-
der in Betrieb gesetzt. In Wörgl hat der Gemeinderat und sein Wohlfahrts-
ausschuß einstimmig die Ausgabe der "Arbeitsbestätigungsscheine" be-
schlossen. Die Gemeindemitglieder - Arbeiter, Händler, Bauern - ha-
haben diese Projekte einhellig befürwortet. Und Nachbargemeinden be-
gannen, dieses Geldexperiment zu kopieren. (195) In Frankreich wurden
1956 die "Freie Gemeinde von Lignieres und Berry" und 1958 die "Freie
Gemeinde von Marans" ins Leben gerufen, die ebenfalls ein Tauschmittel
unter Umlaufzwang herausgaben. In der "Commune Libre de Marans"
gründeten die Einwohner zu diesem Zweck eine "Vereinigung der Ge-
schäftsleute, Handwerker, Landwirte und Lohnempfänger". Aus der
Hortungs- und Einlösungsgebühr ihres autonomen Geldsystems, die sat-
zungsgemäß verteilt werden mußte, konnte die Gemeinde sogar "den
Lohnempfängern 10% Treueprämie (für die Benutzung des Tauschmit-
tels; K.S.) zahlen". (196) Und ähnlich wie in Deutschland, Österreich und
Frankreich, hat Gesells "Freigeld"-Idee auch in den Gemeinden vieler an-
derer Länder die Produzenten unter ein gemeinsames Wirtschaftsexperi-
ment vereint (s. Kap. 4). (64)

Gesell zur Gegengewalt

Gesell war sich allerdings im Klaren darüber, daß der Kampf der Produ-
zenten gegen das Finanz- und Bodenkapital letztendlich kein Pullover-
stricken sein würde. In der Erwartung, daß bei radikalen ökonomischen
und gesellschaftlichen Umwälzungen "die letzten hundert Meter geschos-
sen" werden würde (wie er einmal gesagt haben soll), und in der Überzeu-
gung, daß eine "kleine Gruppe entschlossener Männer genügt (...), um
ein unbewaffnetes Volk zu beherrschen", wie das z. B. die Leninisten in
der Sowjetunion (u. a. mit der blutigen Liquidierung der nicht ausrei-
chend bewaffneten Kommune von Kronstadt und der anarchistischen
Bauernrätebewegung in der Ukraine 1921 (197)) vorgeführt haben, und wie
das konservative Militärs heute immer noch praktizieren, forderte Gesell
bereits 1913 die Volksbewaffnung.

Er war zwar grundsätzlich für den Kampf der Argumente, vertraute
aber nicht darauf, daß die besseren Argumente und Mehrheitsbeschlüsse
die herrschenden "Kleptokraten" veranlassen könnten, kampflos ihre
Machtpositionen und Wirtschaftsprivilegien aufzugeben. Seine Erfahrun-
gen als Volksbeauftragter für Finanzen in der Münchener Räterepublik,
die von der Reichswehr im Verein mit Freikorps und präfaschistischen
Gruppen und unter der Regie des sozialdemokratischen "Bluthundes"
Noske mit Gewalt und 499 standrechtlich erschossenen Arbeitern zer-
schlagen worden ist, (198) haben ihn in seiner militanten Einschätzung bestä-
tigt: "Vor einem einfachen Beschluß einer parlamentarischen Mehrheit
werden die, deren Lebensinteressen wir angreifen, niemals die Waffen strek-
ken. " (198a)

Als Individualanarchist und Anarchofeminist versteht Gesell unter
Volksbewaffnung nicht die Bewaffnung ferngesteuerter Massen männli-
chen Geschlechts (SA etc.), sondern die Bewaffnung jedes einzelnen Bür-
gers ohne Ausnahme - nicht nur die Bewaffnung der Männer, sondern
auch die der Frauen. In einer Auseinandersetzung mit der anarchistischen
Zeitschrift "Der freie Arbeiter" schrieb er bereits 1913: "Das Volk muß be-
waffnet sein! In jedes Haus gehört ein Gewehr mit Munition. In jedes
Dorf gehört neben die Feuerspritze ein Geschütz. Als Korrelat dazu an
Stelle des Geistes der Demut und Unterwürfigkeit, der in Kirchen und
Schulen der Jugend eingeflößt wird, der unbändige Geist der Freiheit,
Selbständigkeit, Selbstverantwortung, der alle Ketten zerbricht. (...) Sor-
gen wir dafür, daß jeder Bürger, jede Bürgerfrau, jeder Knabe, jedes
Mädchen bewaffnet sei - bis an die Zähne. Auf die Waffen allein ist wirk-
lich Verlaß." (199) Denn, so schreibt er zehn Jahre später: "Es muß etwas
Neues geschehen, und gegen dieses Neue wird sich der Kapaitalismus stem-
men. Wenn das Kommando 'Vorwärts auf der ganzen Linie' des durch die
Not neu geeinten Proletariats ertönen wird,

dann folgt unausbleiblich das Massengemetzel" (200)


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