Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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7. Weiterentwicklung der Freigeld-Lehre

"Zwischen dem Gemeinschaftsbesitz und dem Eigen-
tum werde ich eine Welt aufbauen."

P. J. Proudhon

Es ist nicht nur Keynes' Verdienst, daß er Gesells Erkenntnisse zu würdi-
gen wußte, sondern auch, daß er dessen "halbe Theorie des Zinses" durch
seine fundierte Liquiditätstheorie ergänzt hat. Das ist wichtig, weil das
Problem der Geldhortung im Zeitalter der "schleichenden Inflation" kei-
ne große Rolle mehr spielt, wohl aber die "Joker"-Stellung des Geldes auf
dem Markt und sein daraus resultierender Liquiditätswert.

Bis in die 70er Jahre war die Inflation die "Peitsche" (Suhr), die das
Geld in Umlauf zwang (wobei allerdings zu bedenken ist, daß eine direk-
te, bewußt und sinnlich wahr genommene Geldbesteuerung von 5% psy-
chologisch stärker auf den kleinen Geldbesitzer wirkt, als ein durch eine
inflationistische Geldentwertung verschleierter Kaufkraftverlust von
5%). Vorübergehend hat diese "Peitsche" nicht nur zu einer erheblichen
Reduzierung der Realzinsen, sondern sogar zu Negativ-Zinsen in einigen
Industrienationen geführt (s. Spiegel-Grafik, Anm. 231). Doch der kon-
junkturbelebende und unter Umständen zinsdrückende Effekt des infla-
tionistischen "Schwundgeldes" wurde durch eine, die Interessen des Fi-
nanzkapitals fördernde und fälschlicherweise als "Keynesianismus" de-
klarierte Wirtschaftspolitik des Staates und der Zentralbank untergraben.
In den 70er Jahren entwickelte sich eine "Stagflation": Inflation bei
gleichzeitig hohen Zinsen und Rückgang der Konjunktur mit Firmenplei-
ten und mittlerweilen rund 2,5 Millionen Dauerarbeitslosen. (91) In der
BRD hatten wir 1986/87 sogar eine stabile Währung, was allerdings ohne
ein Geld unter "Umlaufzwang" der Konjunktur erst recht keinen Auf-
trieb gibt, da unter diesen Umständen das Hortungsproblem wieder rele-
vant wird.

Um die heutigen Probleme auf den Begriff zu bringen, hat insbesonde-
re Suhr scharfsinnige aktuelle Analysen geliefert und unter Einbeziehung
der Keynesschen Liquditätstheorie und des Transaktionswertes des Gel-
des die Freiwirtschaftslehre korrigiert und weiterentwickelt. (92) In einer
Rezension von Suhrs Buches Geld ohne Mehrwert (67) in der freiwirtschaftli-
chen Zeitschrift für Sozialökonomie (93) macht Werner Onken das deutlich:

"Zunächst relativiert Suhr die in der freiwirtschaftlichen Theorie eine
zentrale Rolle spielende Hypothese, daß ein Teil der Geldmenge gehortet
werde und auf dem Markt als wirksame Nachfrage fehle. Geld werde in
verhängnisvollem Umfang nur (wie z. B. in der Weltwirtschaftskrise) bei
niedrigem Zins und stabiler oder deflationärer Währung gehortet. Heut-
zutage sorgen 'die Peitsche der Inflation und das Zuckerbrot der Zinsen
dafür, daß kein Geldschein zu lange in der Tasche, daß kein Sichtguthaben
unnötig groß gehalten wird'."

Folglich stützt Suhr "seine Argumentation nichf auf die Hortbarkeit des
Geldes, sondern auf die Sonderstellung des Geldes als 'generalisiertes
Tauschmedium', die bereits Proudhon mit der Charakterisierung des Gel-
des als 'König des Marktes' thematisiert hatte: 'Das Geld spielt unter den
Waren und Diensten eine gleiche Rolle wie der Joker im Kartenspiel.'
Während die Waren und Dienste nur an bestimmten Orten des Marktes
und auch nur zu bestimmten Zeiten auf dem Markt begehrt sind, ist das
Geld an jedem Ort und zu jeder Zeit begehrt. Der Besitzer des Geldes ist
deshalb gegenüber dem Besitzer von Waren und Diensten im Vorteil. Im
Gegensatz zur Auffassung der orthodoxen Neoklassik, für die das Geld
ein harmloses neutrales Tauschmittel ist, hebt Suhr die 'kapitalistische
Parteilichkeit des Geldes' hervor.

Aufgrund seiner Sonderstellung hat das Geld, .. einen nach Märkten ge-
spaltenen Wert': Auf den Warenmärkten hat es den üblichen 'Kaufkraft-
Nennwert' - auf dem Kapitalmarkt dagegen kraft seiner Jokereigen-
schaft noch den besonderen 'Liquiditätswert', der es dem Geldbesitzer
gestattet, für die Herleihe seines Geldkapitals eine besondere 'Liquidi-
tätsverzichtsprämie' in Form des Zinses zu verlangen. Suhr erklärt den
Zins also nicht wie Gesell als eine Prämie für den Verzicht des Geldkapi-
taleigners auf eine Hortung seines Geldkapitals, sondern mehr im Sinne
von Keynes als eine Prämie für den Verzicht auf die Ausnutzung der Joker-
vorteile und als Preis für den Genuß dieser Vorteile. Dieser Erklärungsan-
satz verdient es, weitergedacht zu werden."

Als zinserpressender "Joker" bewirkt das Geld eine Verzerrung der
Märkte und eine Zusammenballung des Geldes in den Kassen jener, die
keinen Bedarf an Waren, sondern ein Interesse am Kassieren von Zinsen
(= "Interesse") haben, die wiederum ihre Kassen ohne Bedarf füllen:

Das Geld übt nach Suhr einen 'unwiderstehlichen monetären Magne-
tismus' aus: Indem es sich ohne eigene Leistung immer mehr durch Zins
und Zinseszins vermehrt, bewirkt es eine monetäre Asymmetrie der
Märkte'. Es führt einerseits zur monetären Überschwemmung der Kapi-
talmärkte, auf denen 'Kassen mit Geld ohne Bedarf' anschwellen, und an-
dererseits zur monetären Austrocknung der Märkte für Waren und Dien-
ste, auf denen 'Kassen mit Bedarf ohne Geld' entstehen.

Außerdem verhindert es ein reibungsloses 'Recycling der Gelder' zwi-
schen den verschiedenen Kassen, weil die Zinsen als 'dysfunktionale mo-
netäre Transaktionskosten' dieses Recycling erschweren.

Und nicht zuletzt vermindert seine permanente 'Fehlallokation' (225) die
für einen intakten Markt unerläßliche Fähigkeit des Geldes, bedarfsge-
rechte Preisinformationen zu vermitteln. Es 'bringt die transtemporalen
Preisgefüge aus dem Gleichgewicht'.

Wegen dieser geldordnungsbedingten falschen Strukturen der kapitali-
stischen Marktwirtschaft fordert Suhr, das bestehende 'Geld mit Mehr-
wert' durch ein 'Geld ohne Mehrwert', d. h. durch ein Geld zu ersetzen,
das seine Liquidität zwar behält, dessen Liquiditätsvorteil aber mit Hilfe
von Durchhaltekosten abgeschöpft wird und das geeignet ist, '..etwas
mehr strukturelle Gerechtigkeit in die Ordnung der Marktwirtschaft hin-
einzubringen'.

Anders als bei Gesell soll dem Geld also nicht in erster Linie seine Hort-
barkeit genommen werden, sondern Suhr geht es darum, den Jokervorteil
des Geldes zu neutralisieren und so den 'König des Marktes' (Proud-
hon) zum Diener der Wirtschaft zu machen. Die Verhinderung des Hor-
tens sieht er dabei eher als 'willkommenen Nebeneffekt' dieser Änderung
des Geldes an.

Auch in der praktischen Ausgestaltung der Durchhaltekosten des Gel-
des geht Suhr andere Wege als Gesell. Während letzterer die Haltung von
Bargeld kostenpflichtig machen wollte, schlägt Suhr vor, neben dem Bar-
geld auch das Giralgeld in den Rang eines gesetzlichen Zahlungsmittels
zu erheben und dann nur dieses mit den Durchhaltekosten zu belasten, in-
dem sie wie andere Bankgebühren einfach vom Konto abgebucht werden.
Suhr erwartet, daß sich dann nach dem Greshamschen Gesetz das Giral-
geld als Zahlungsmittel durchsetzt und das Bargeld weitgehend ver-
drängt."

Onken bleiben zwar Zweifel, ob sich der Kapitalismus "so einfach 'vom
Konto abbuchen' läßt", empfiehlt aber allen Anhängern Gesells Suhrs
Buch zur Pflichtlektüre.

Ich meine, dieses wie noch einige andere Schriften Suhrs (92) sollte jeder
lesen, der nach fundierten Kapitalismusanalysen und nach den Ufern ei-
ner wirklich alternativen Ökonomie Ausschau hält. Daß Suhr kein Anar-
chist ist, eher ein Hegelianer und ein Ordoliberaler wie Ludwig Ehrhard
(der der Freiwirtschaftslehre positiv gegenübergestanden haben soll),
sollte Anarchos nicht stören. Doch Silvio Gesell, der Erbe Proudhons und
konsequenter Gegner des Kapitalismus und des Staates, hat auf jeden
Fall die gleiche Beachtung in der anarchistischen Bewegung verdient, wie
sie Marx in der kommunistischen und sozialistischen (bedauerlicherwei-
se) entgegengebracht worden ist. (93a)


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