Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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6. J. M. Keynes' Gesell-Kritik und seine Erklärung des Zinses

"Das Übergewicht, welches Gold und Silber über die
anderen Waren erlangten, das Privileg, welches ihnen
unter allgemeiner Zustimmung zuteil wurde, den
Reichtum zu repräsentieren und als allgemeines Wert-
schätzungsmittel aller Produkte zu dienen, lieferten
die Gelegenheit. Sobald das Gold der König des Tau-
sches, das Symbol der Macht, das Werkzeug alles
Glücks geworden war, wollte jedermann Gold haben;
und da es unmöglich für jedermann Gold geben
konnte, so war es nur noch gegen eine Prämie zu erhal-
ten; seine Benutzung bekam einen Preis."

P. J. Proudhon

Da keine Theorie vollkommen ist, müßte nach dem Gesetz der Wahr-
scheinlichkeit auch in der Geld- und Zinslehre Gesells ein Fehler stecken.
In der Tat weist sie immerhin eine Unvollständigkeit auf, auf die John
Maynard Keynes in seiner 'Allgemeinen Theorie' hingewiesen hat. (80) Dort
bescheinigt er Gesell zwar, daß dieser - wie er selbst und anders als die
Klassiker einschließlich Marx - "deutlich zwischen dem Zinsfuß und der
Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals", also zwischen Geldzins und Kapi-
talzins, unterscheide, und daß er erkannt habe, "daß es der Zinsfuß (des
Geldes; K. S.) ist, welcher der Wachstumsrate des Realkapitals (und da-
mit auch einem Absinken des Kapitzinses; K. S.) eine Grenze setzt", und
"daß der Zinsfuß eine reine geldliche Erscheinung ist". Das beweise Ge-
sell mit der Beobachtung, daß der reale Zinsfuß des Geldes (Nominalzins
minus Inflations- bzw. plus Deflationsrate) - anders als die Grenzlei-
stungsfähigkeit des Produktivkapitals (der Kapitalzins) - durch alle
Zeitalter hindurch (relativ) beständig geblieben ist. (81) Gesell "zeigt, daß es
nur das Bestehen eines Geldzinsfußes ist, der es möglich macht, aus dem
Ausleihen von Warenvorräten ein Erträgnis (den Kapitalzins; K. S.) zu er-
zielen" - eine außerordentlich wichtige Einsicht! Gesells Robinsonade
in der Natürlichen Wirtschaftsordnung (18) sei "eine ganz ausgezeichnete
wirtschaftliche Parabel - so gut wie nur irgend etwas dieser Art, was ge-
schrieben wurde -, um diesen Punkt darzulegen" (s. Text 3).

Gesells Zinstheorie habe jedoch "einen großen Fehler", meint Keynes.
Gesell erkläre zwar, "warum der Geldzinsfuß im Gegensatz zu den mei-
sten Warenzinssätzen nicht negativ sein kann, übersehe aber vollständig
die Notwendigkeit einer Erklärung, warum der Geldzinsfuß positiv ist,
und er unterläßt es, zu erklären, warum der Geldzinsfuß nicht durch den
Standard beherrscht wird (wie dies von der klassischen Schule behauptet
wird), der vom Erträgnis produktiven Kapitals gesetzt wird."

Gesell erklärt den Zins und seine Positivität durchaus, und zwar damit,
daß das Geld - anders als die übrigen Waren - wegen seiner fehlenden
Durchhaltekosten eine Vormachtstellung besitzt, die ihm einen "Bonus"
(Keynes) auf dem Markt verschafft. Da das eine Vorzug vor den anderen
Waren ist, muß der daraus resultierende "Urzins" positiv sein.

Gesell hat allerdings nicht eingehend erklärt, warum "gehortet" und
warum lieber das Tauschmittel Geld verschatzt wird, als z. B. Edelmetalle
und Edelsteine. Keynes kritisiert daher, daß ihm ein anderer, besonders
wichtiger Faktor zur Erklärung des Zinses, "daß ihm die Vorstellung der
Vorliebe für Liquidität entgangen" sei und er daher - trotz "Einfälle tie-
fer Einsicht" - "nur gerade eben verfehlte, bis zum Kern der Sache vor-
zudringen".

Nach Keynes haben die Menschen eine "natürliche" Sparneigung und
eine "Liquiditätsvorliebe", ein Interesse daran, ihre Ersparnisse jederzeit
und an jedem Ort verfügbar zu haben (z. B., um preisgünstige Angebote
wahrnehmen zu können, zu Spekulationszwecken auf dem Waren-, Devi-
sen-, Wertpapier- und Grundstücksmarkt usw. ). Die liquideste ("flüssig-
ste") Sparform ist 1. die Bargeldhortung (Kassenhaltung) und 2. die Giral-
geldhortung. Den Verzicht auf diese Liquiditätsformen läßt sich der Geld-
besitzer durch eine Prämie vom Geldleiher - von jenem, dem er diese
Liquidität überträgt - bezahlen: mit der "Liquiditäts(verzichts)prä-
mie". Die untere Grenze - das, was der Sparer für die Aufgabe der Li-
quidität mindestens verlangt - entspricht der unteren Grenze des Gesell-
schen "Urzinses": 3% Netto- oder Realzins. Die obere Grenze entspricht
dem Kreditzins, dem Zins, den der Kreditnehmer seiner Bank zahlt. Die-
ser Bruttozins setzt sich zusammen aus dem Urzins, der Hausseprämie
(bzw. der Inflationsausgleichsrate), der Risikoprämie, den Kreditverwal-
tungskosten und aus einem Teil des Diskontzinses. (82) Die Höhe
dieser Liquiditätsprämie ergibt sich aus der Art des Kredits und aus
dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Liquidität auf dem
Geld- und Kreditmarkt. Sie kann jedoch nicht wesentlich unter den unte-
ren Urzinsfuß von 3% fallen - solange keine Durchhaltekosten das Li-
quiditätsangebot auf dem Kreditmarkt verstärken.

Dieter Suhr belegt, daß Gesell diesen Liquiditätsvorteil des Geldes
durchaus nicht völlig übersehen hat. Gesell zeigt am Beispiel des Wech-
sels, daß dieser eine geringere Liquidität besitzt, als das bare Geld, und
zwar, weil er weniger beweglich ist als Geld, da er "nur von einer Vertrau-
enshand in die andere" kommt, "nicht teilbar genug" und "an bestimmte
Gesetze" und "bestimmte Zeiten und Orte gebunden" ist. (83) Nicht von
Geld gedeckt, würde er einen geringeren Zinsfuß haben als Bargeld, was
Proudhon offenbar auf die Idee brachte, den Warenaustausch mit durch
Waren gedeckten Wechseln und eine Tauschzentrale zu organisieren.

Suhr hat außerdem darauf hingewiesen, daß Gesell einen anderen wich-
tigen Vorzug des Geldes behandelt hat, den wiederum Keynes vernachläs-
sigt hat: daß im Tauschverkehr Ware - Geld - Ware Kosten gespart wer-
den. Denn es ist billiger, Geld als Tauschvermitter zu nutzen, als Ware ge-
gen Ware direkt oder über eine Tauschbank auszutauschen. Diesen Vor-
teil lassen sich diejenigen mit Zinsen bezahlen, die den Fabrikanten,
Händlern, Lohnempfängern und Verbrauchern ihr angesammeltes Geld
als Tauschmittel zur Verfügung stellen. (84)

Das Geld hat also drei Vorzüge, die zum positiven Zins führen: 1. Es
eignet sich vorzüglich als Sparmittel, da es keine Durchhaltekosten verur-
sacht (Gesell); 2. es besitzt einen höheren Liquiditätswert als andere Spar-
mittel (Gesell/Keynes); 3. es hat einen erheblichen Transaktionskosten-
vorteil vor anderen Tauschmitteln und -verfahren (Gesell/Suhr). Diese
Vorzüge machen das Geld zum "König des Tausches" (Proudhon), verlei-
hen ihm seine "Joker"-Stellung auf dem Markt (Suhr).

Durchhaltekosten für Geld

Obwohl Gesells Theorie unvollständig ist, schreibt Keynes, habe er sie
"weit genug entwickelt, um zu einem praktischen Schluß zu kommen, der
den Kern dessen in sich tragen mag, was notwendig ist", um diesen Be-
herrscher der Volkswirtschaft vom Thron zu stoßen. Mit diesem
"praktischen Schluß" meint Keynes die von Gesell vorgeschlagene Bela-
stung des Geldes mit "Durchhaltekosten". Die vorgeschlagene "Form",
mit der Keynes offenbar das von Gesell entwickelte Klebemarken-Verfah-
ren bzw. das von seinem Fachkollegen Irving Fisher in USA propagierte
"Stempelgeld"-Verfahren (85) meint, hielt er allerdings für "nicht durchführ-
bar". Die Praxis hat diese Einschätzung jedoch widerlegt. Außerdem sind
heute längst praktikablere Techniken entwickelt worden, die sich auch im
nationalen und Weltmaßstab praktizieren ließen. (65)

Desweiteren war Keynes nicht mit der Höhe der Durchhaltekosten ein-
verstanden. Seiner Meinung nach würden die von Gesell anvisierten
5,2% p. a. "unter den bestehenden Verhältnissen zu hoch sein, aber die
richtige Zahl, die von Zeit zu Zeit geändert werden müßte, könnte nur
durch Versuch und Irrtum erreicht werden". Nach Keynes Meinung sollte
der Preis der Marken "ungefähr gleich dem Überschuß des Geldzinsfußes
(...) über diejenige Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals sein, die einer
Rate der Neuinvestitionen entspricht, die mit Vollbeschäftigung verein-
bar ist".

Schließlich bestünde eine besondere Schwierigkeit, auf die Gesell nicht
gefaßt gewesen sei: "daß das Geld nicht einzigartig darin ist, daß ihm eine
Liquititätsprämie anhaftet, sondern in dieser Beziehung nur im Grad von
vielen anderen Waren abweicht". Ersatzmittel für Liquidität wären z. B.
"Bankgeld, täglich abrufbare Darlehen, ausländisches Geld, Juwelen und
die Edelmetalle im allgemeinen" und der Boden.

Ganz abgesehen davon, daß Gesell durchaus die unterschiedlichen Li-
quiditätswerte einzelner Güter bewußt waren (s. Wechsel-Beispiel,
oben), ist dazu folgendes zu sagen: "Bankgeld" (Buchgeld) kann oder
soll ebenfalls mit Liquiditätsgebühren belastet werden; sie können direkt
vom Bankkonto abgebucht werden.

"Ausländisches Geld" (Devisen) - vorausgesetzt, es unterliegt keinen
Durchhaltekosten·, z. B. inflationistischen - würde nach dem Gresham-
schen Gesetz (66) als "gutes" (wertbeständiges) Geld vom "schlechten" (mit
Durchhaltekosten versehenem und nur als Tauschmittel fungierendem)
Schwundgeld aus der Zirkulation weitgehend verschwinden und dort kein
Störfaktor mehr sein. Es fungiert nur noch als harmloses Sparmittel.

Juwelen, Edelmetalle etc. unterliegen ebenfalls dem Greshamschen
Gesetz. Auf Grund ihrer geringen Durchhaltekosten werden gerade sie
bei Einführung von Durchhaltekosten für Geld als Sparmittel Verwen-
dung finden und somit nicht im Wirtschaftskreislauf zirkulieren. Benötigt
der Besitzer seine "gesparten" Wertgegenstände als Investitions- und
Kaufmittel, dann wird er kaum mit diesen Edelsteinen, Goldbarren oder
Bildern von Picasso einen Espresso, eine Hose, eine Fahrkarte, eine Nek-
kermann-Reise, eine Drehbank oder seine Miete bezahlen können. Wer
kann und will jedesmal das Gewicht und den Feingehalt des Goldes, den
Wert der Juwelen und Gemälde feststellen? Er wird seine Wertsachen ge-
gen das liquidere Geld eintauschen müssen. Das aber ist mit Kosten ver-
bunden: entweder muß er sich als Händler betätigen, was einen Ar-
beitsaufwand erfordert, oder er muß seine Wertsachen einem Händler
verkaufen, der von ihrem Marktpreis eine Handelsspanne abzieht.
Außerdem unterliegen sie z. T erheblichen Preisschwankungen. Das min-
dert ihren Liquiditätswert, damit auch ihren Wert als Kreditmittel und
folglich auch ihre Liquidiätsprämie: den Zins.

Juwelen und ungeprägte Edelmetalle eignen sich unter Umständen
als Sparmittel, schon weniger gut als Kreditmittel, kaum als Tauschmittel.
Daran ändert auch die Belastung des Bar- und Giralgeldes mit Durchhal-
tekosten nichts. Erst wenn auch Sparkonten mit höheren Durchhalteko-
sten belastet werden würden, als ihr Liquiditätsvorteil vor den Sachwer-
ten ausmacht, würden die Wirtschaftssubjekte es vorziehen, in Form von
Gold und Juwelen zu sparen. In jedem Falle wäre jedoch die Trennung der
Tauschfunktion (die dann ausschließlich dem Geld vorbehalten bliebe)
und der Sparfunktion des Geldes (die dann Sparguthaben und/oder Sach-
werte übernehmen würden) vollzogen und damit "der Zweck der Geldre-
form erreicht" (Winkler (86)).

Der mögliche Einwand, unregelmäßiges Anlegen und Auflösen von
Gold- und Juwelenschätzen könnte dann zu Konjunkturschwankungen
führen, ist unbegründet. Denn mit entsprechenden Veränderungen der
Geldmenge und eventuell auch des Gelddurchhaltekosten-Satzes ließe
sich dem, falls dieses Problem überhaupt auftaucht, leicht entgegenwir-
ken.

Für die Höhe des Zinsfußes eines Edelmetall- oder Juwelenhortes ist
gewiß nicht ohne Bedeutung, daß - wie Keynes sagt - das Geld "eine
größere Liquiditätsprämie als irgend eine andere Ware hat" (Hervorhe-
bung von Keynes!) und daß dieses für Geld "fundamental" ist. (87) Die Li-
quiditätsprämie von Edelsteinen und -metallen muß demnach also niedri-
ger sein, als zumindest jene des heutigen Geldes.

Gilt das auch für den Zinsfuß von Juwelen und Edelmetallen, wenn die-
se mit dem Schwundgeld konkurrieren müssen? Diese Frage beantwortet
die Keynessche Zinsformel. (88) Da sie für die Erklärung der Ursprünge der
unterschiedlichen Zinsarten und auch für die Zinstheorien Gesells und
Proudhons außerordentlich aufschlußreich ist, will ich sie näher erläu-
tern.

Keynes' Zinsformel

Nach Keynes kommt der Zins durch die Summe von drei einem Wirt-
schaftsgut anhaftende Faktoren zustande: den "Ertrag" aus der Nutzung
des Gutes minus den "Durchhaltekosten" dieses Gutes plus seinen "Li-
quiditätswert". Diese drei Faktoren q, c und l, bezogen auf 100 Wertein-
heiten und auf eine Nutzungsdauer von einem Jahr, ergeben z, den Zins-
satz oder Zinsfuß eines Gutes:

z = q - c + l

Der Ertrag (q) ist der Gewinn aus der wirtschaftlichen Nutzung eines
Gutes, ein Ergebnis seiner besonderen Produktivitätssteigerung der
menschlichen Arbeitskraft und/oder seiner günstigen Marktlage. Produk-
tiv im Sinne Keynes' ist z. B. Werkzeug, also Kapital (k), ebenso Boden
(b), nicht aber Geld (g). Das Geld hat jedoch einen außerordentlich ho-
hen Liquiditätswert (l); bei Kapital und Boden ist er etwa gleich Null. Ka-
pitalien - Produktionsmittel, Gebrauchsgüter (z. B. Wohnhäuser) und
Waren - verursachen jedoch unterschiedlich hohe Durchhaltekosten (c).
Geld unterliegt Durchhaltekosten nur bei Inflation; bei Deflation sind sie
sogar negativ: bei Hortung eines Geldschatzes steigt seine Kaufkraft im
Laufe der Zeit! Bei Festwährung - von ihr gehen wir aus - sind sie
gleich Null. Auch der Boden verursacht keine Durchhaltekosten; bei Bo-
denwertsteigerung sind auch sie negativ.

Die Werte von q (yield/output), c (wastage/carrying cost) und l (liquidi-
ty-premium) beziehen sich, wie gesagt, immer auf den einjährigen Ein-
satz eines Gutes im Wert von 100 einer Währungseinheit. Wenn wir in die
folgenden Formeln für den Geldzinsfuß (gz), den Kapitalzinsfuß (kz) und
den Bodenzinsfuß (bz) die der Realität in etwa entsprechenden Werte des
Ertrags (q), der Durchhaltekosten (c) und der Liquidität (l) einsetzen, die
sich bei den drei Güter-(Kapital-)arten Geld, Kapital (im engeren Sinne)
und Boden in Prozenten und in einem Jahr ergeben, und sie miteinander
vergleichen, dann erkennen wir die Eigentümlichkeiten und qualitativen
Unterschiede dieser drei Kapitalarten und das jeweils spezifische Zustan-
dekommen ihrer Zinsarten: des Geldzinses, der Kapitalrendite und der
Bodenrente:

gz = 0 - 0 + 5 = 5

kz = 10 - 5 + 0 = 5

bz = 3 + 2 + 0 = 5

Wir sehen: Geld ist Liquidität schlechthin (in unserem Zahlenbeispiel
l= 5; wir sollten hier jedoch seinen Transaktionswert als mit einbezogen
betrachten (88a)). Kapital bedeutet Kosten (c = 5) und Ertrag (q = 10), Bo-
den Ertrag (q = 3) plus Wertzuwachs (c = - 2).

Können wir auch für den vierten Wirtschaftsfaktor, die menschliche
Arbeit, einen Zinsfuß errechnen? Für den "freien" Arbeiter nicht. Zwar
hat auch er einen hohen Produktivitätswert und hohe Durchhaltekosten
in Form seiner Reproduktionskosten, er hat jedoch nicht nur keinen Li-
quiditätswert, sondern auch keinen Preis, der auf ihn als Träger der Ar-
beitskraft selbst bezogen wäre: nicht der ganze Mensch, sondern nur sei-
ne Leistung ist käuflich. Statt eines Zinses bezieht er aus dieser Leistung
einen Arbeitsertrag.

Anders beim Sklaven. Er ist, wie eine Maschine, käuflich. In ihn kann
also Zins forderndes Geld investiert werden, und wie bei einer Maschine,
muß der Ertrag des Sklaven mindestens seine Durchhaltekosten und die-
sen Zinsfuß abdecken. Der Sklave erhält für seinen Lebensunterhalt nur
diese Durchhaltekosten. Der Überschuß fällt seinem Besitzer als Rendite
zu. Hier wird der Unterschied zwischen jeder Form eines freien Arbei-
ters - auch eines Lohnarbeiters - gegenüber der eines Sklaven deut-
lich.

Wenn wir festzustellen versuchen, welchen Zinsfuß die spezifische Li-
quiditätsform Juwelen (j) hat, dann können wir bei ihr (ähnlich wie bei
der Edelmetall-Liquidität) mit etwa den folgenden Werten rechnen:

jz = 0 - 0 + 2 = 2

Stellen wir nun dieser Liquidität die spezifische Liquidität von
Schwundgeld in Form von Bar- und Giralgeld (s) mit Durchhaltekosten
(c) in Form einer Geldsteuer in Höhe von 5%:

sz = 0 - 5 + 5 = 0

und die etwas weniger liquide Ersparnis (e) in Form eines Schwundgeld-
Sparguthabens (es) mit Durchhaltekosten von 3% :

sez = 0 - 3 + 4 = 1

gegenüber. Wie ein Vergleich der Formeln nahelegt, wird die Neigung, Er-
sparnisse in Form von Juwelen anzulegen (Preisstabilität vorausgesetzt),
geringfügig größer sein als die, Sparkonten anzulegen - vorausgesetzt,
es besteht die Absicht, langfristig zu sparen. Wer mittelfristig sparen will,
wird es vorziehen, ein leicht auflösbares und 1:1 gegen Bar- oder Giral-
geld eintauschbares Sparkonto anzulegen, dessen Guthaben die Bank als
Kredit in die Zirkulation bringt. Bei obigem Geldsteuersatz können die
Kreditgeber jedoch allenfalls eine Liquiditätsverzichtsprämie von 1%
(plus Kreditverwaltungskosten) im Jahr fordern. Juwelenbesitzer werden
für ihre Darlehn auf 1% Nettozins heruntergehen müssen, um mit den
Schwundgeld-Sparkonten konkurrieren zu können. Da auch Schwundgel-
der aus Kassenhaltungen und Girokonten auf dem kurzfristigen Kredit-
markt angeboten werden, deren Liquiditätsverzichtsprämien um (netto)
0% herum osziellieren, werden die kurzfristigen Kredite für die Kredit-
verwaltungskosten, die langfristigen für vielleicht 1% (Netto-)Zins zu ha-
ben. Damit sind jene Anlagen zu finanzieren, die einen Netto-Kapitaler-
trag (Kapitalzins) ab plus 1 bis 2% abwerfen.

Wie sich aus Keynes' monetärer Zinsformel ableiten läßt, kann eine Er-
höhung der Geldsteuer (c), z. B. auf 7%, den Zinsfuß sogar ins Minus
bringen ! :

sz = 0 - 7 + 5 = -2

In diesem Falle wird auch der Kontensparer eine Gebühr von vielleicht
2% für die "Aufbewahrung" seines Geldes bezahlen müssen! (Wer seine
Kartoffeln oder Möbel einlagert oder sein Auto in einer Garage unter-
stellt, muß schließlich auch dafür bezahlen, daß sein Eigentum nicht zu
schnell verrottet, warum nicht auch derjenige, der seine in Geld umge-
wandelten Produkte und Dienstleistungen gut aufbewahren lassen will?)
Durch diese "Lagergebühr" für Geld wird sich zwar die Neigung, in Juwe-
len etc. statt auf Schwundgeld-Sparkonten zu sparen, erhöhen, die Tren-
nung der Tausch- und Sparfunktion und die Negativzinsen bleiben jedoch
erhalten.

Was geschieht nun unter den Bedingungen eines zinsfreien Kreditsy-
stems?

Langfristig verschwindet ein großer Teil des aus der Kapitalknappheit
resultierenden Ertrages (q) aus dem Produktiv-, Gebrauchs- und Waren-
kapital. Wenn Vollinvestition erreicht ist, sehen die volkswirtschaftlichen
Durchschnittswerte in der Kapital-Zinsformel dann so aus:

kz = 5 - 5 + 0 = 0

Mit der Überwindung des Geldzinses und dem Absterben der Kapital-
rendite ist auch der Kapitalist dahingeschieden - nicht aber der Boden-
rentner! Da Boden nicht vermehrbar ist, wird er auch ohne Geldzins eine
Rente abwerfen: für ihn gibt es keine Vollinvestition. Da die Bodenpreise
langfristig steigen, sind seine Durchhaltekosten negativ (s. Boden-Zins-
formel). Folglich ist der Boden ein vorzügliches Sparmittel! Keynes sagt,
es habe Zeiten gegeben, wo "ohne Rücksicht auf sein Erträgnis" die "Be-
gierde nach dem Besitz von Land" so groß war, daß sie "dazu beigetragen
hat, den Zinsfuß (des Geldes wegen der hohen Geldnachfrage zwecks Bo-
denkaufs; K. S.) hoch zu halten". "Freilich", meint Keynes, "wäre nach
Gesells System diese Möglichkeit durch Verstaatlichung des Landes (muß
heißen: Vergesellschaftung in den Händen der Mütter; s. Kap. 9) ausge-
schaltet worden". Bodenrente und Bodenwertzuwachs würden zwar wei-
terbestehen, jedoch abgeschöpft und an die Produzenten der folgenden
Generationen - an die Mütter - und an ihre Kinder umverteilt werden.
Kauf und Spekulation mit Boden wären dadurch unmöglich gemacht. Zu-
gang zum Boden ist nur noch möglich über Pachtverträge mit dem "Müt-
terbund".

Keynes' IWF Konzept

Den "hinter dem gestempelten Geld liegenden Gedanken" hält Keynes
für "gesund". Er meint, es sei "in der Tat möglich, daß Mittel gefunden
werden könnten, um ihn in bescheidenem Rahmen in der Wirklichkeit an-
zuwenden".

Diesen ganz und gar nicht bescheidenen Rahmen glaubte Keynes mit
seinem Plan einer internationalen Clearing-Union gefunden zu haben, die
in weltweitem Rahmen ähnlich funktionieren würde, wie in kleinem Rah-
men die freiwirtschaftliche Wirtschaftsring-Genossenschaft (WIR) in Ba-
sel oder Suhrs Idee seiner "Oeconomia Augustana" (88b), mehr oder weni-
ger Synthesen von Proudhons Tauschbank- und Gesells Schwundgeld-
Konzept. Der notwendige Fonds sollte aus Regierungsmitteln aufgefüllt
werden und die Besitzer von Bancor-Guthaben sollten ebenso "Strafzin-
sen" zahlen, wie die Schuldner Kreditzinsen! Dadurch würden die Besit-
zer von Guthaben ein Interesse daran haben, ihre Zahlungsbilanz-Über-
schüsse durch Importe abzubauen, was den Export der Schuldnerländer
ankurbeln, zum schnellen Abbau auflaufender Schulden und zu ausgegli-
chenen Handelsbilanzen führen würde. (89)

Dieser als amtliches Dokument von der britischen Regierung auf der
Weltwährungskonferenz in Bretton Woods 1944 vorgelegte "revolutionä-
re" (Hankel) Vorschlag von Keynes wurde auf Betreiben der US-Groß-
banken torpediert. Statt dessen sind aus der Konferenz die heute beste-
henden Organisationsformen der Weltbank und des Internationalen Wäh-
rungsfonds (IWF) hervorgegangen, offensichtlich kapitalfreundliche In-
stitutionen, die den Menschen in der Dritten Welt mehr schaden als nüt-
zen. (89a)

Auch wenn Gesell seine Analyse nicht bis in die letzten Winkel vorgetrie-
ben hat, dürfen wir Keynes sicherlich zustimmen, wenn er Gesells theore-
tische Leistung auf ökonomischem Gebiet höher einschätzt als die von
Marx. In der Tat hat Gesell, der die Geld- und Zinstheorie Proudhons we-
sentlich weiterentwickelt hat, (6) mit seiner zins- und zirkulationsorientier-
ten Kapitalismusanalyse mehr für die Erklärung und die Überwindungs-
möglichkeiten von Ausbeutung, Konjunkturkrisen und Arbeitslosigkeit
geleistet, als der Proudhon-Verächter Marx mit seiner, die Funktionen des
Geldes und des Zinses ignorierenden und auf die historische Entwicklung
der Produktivkräfte fixierten, Kapitalanalyse.

Für Marx ist zwar auch "klar, daß der Besitz (von) 100 Pfd. St. ihrem
Eigner die Macht gibt, den Zins, einen gewissen Teil des durch sein Kapi-
tal produzierten Profits, an sich zu ziehen". (90) Wieso das aber "klar" ist,
hat er nirgens klargestellt. Denn der Besitz allein garantiert noch keinen
Zins! Statt dessen polemisiert Marx gegen die Vorstellung, nach der dem
Geld eine "eingeborene geheime Qualität" (90a) innewohnen soll, die
den "Zinsfetischisten" zur Rechtfertigung der Zinseszinsakkumulation
diene. Er hat diese "eingeborene geheime Qualität" des Geldes bedauer-
licherweise nicht erkannt. So konnte er sie noch nicht einmal mit der Vor-
machtstellung des Geldes auf Grund seiner Schlüsselstellung auf dem
Markt (wie Proudhon) und auf Grund seiner fehlenden Durchhaltekosten
(wie Gesell), geschwiege denn mit seiner hervorragenden Liquidität und
der Liquiditätsvorliebe der Menschen (wie Keynes) erklären. Damit be-
gab er sich der Möglichkeit, die schwachen Argumente der "Zinsfetischi-
sten" zur Rechtfertigung des Zinses und der Zinseszinsakkumulation zu
entkräften, jener Zinsanbeter, die so tun, als würden die Zinsen am Geld
wachsen, wie die Äpfel am Baum. Statt dessen behauptet Marx -
ganz in der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie - das Geld sei
ein neutrales, allen Waren gleichgestelltes "Äquivalent" (90b) und "die Min-
destgrenze des Zinses (sei) ganz und gar unbestimmbar. Er kann zu jeder
beliebigen Tiefe fallen". (90c) Das jedoch kann der Zins eben wegen der Vor-
zugsstellung des Geldes gerade nicht. Proudhons Geld- und Zinstheorie,
vor allem aber Gesells Geld- und Warenanalyse und ein Vergleich
der aus der Keynesschen Zinsformel abgeleiteten Geld-, Kapital- und Bo-
denzinsformel belegen eindeutig die Überlegenheit des Geldes über alle
anderen wichtigen Wirtschaftsfaktoren (außer Boden), und sie zeigen,
worin diese Vormachtstellung besteht: in der hervorragenden Liquidität
des Geldes, in seinem Transaktionskostenvorteil und im Fehlen von Durch-
haltekosten.

An dieser Stelle wird der entscheidende Gegensatz von Proudhon, Ge-
sell und Keynes zu Marx und Engels und der fatale Grundirrtum der aus
der klassischen Zinstheorie abgeleiteten marxistischen Wirtschaftstheo-
rie deutlich. Die Folgen können wir an der Praxis des "real existierenden
Sozialismus" ablesen.


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