Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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4. Wenn Geld doch "stinkt"! - "Rostende" Tauschmittel in Theorie und Praxis

"Wenn alle Produkte einen gleich leicht auszutau-
schenden Wert hätten wie das Geld, so würden alle Ar-
beiter dieselben Vorteile genießen, wie die Inhaber
der baren Münze; jeder besäße in seiner Produktions-
fähigkeit eine unerschöpfliche Quelle des Reich-
tums."

"Den Tauschverkehr organisieren, heißt die Herabset-
zung des Kapitalzinses bis ins Unendliche, bis zur Ver-
nichtung organisieren, es heißt den Sieg der Arbeit
über das Kapital sichern...

P. J. Proudhon

Obwohl sich Gesell gegen das Wachstum des Finanzkapitals wendete, be-
grüßte er seiner Zeit das Wachstum des Realkapitals. Das können wir so
heute nicht mehr akzeptieren; wir dürfen aber auch nicht übersehen, daß
materieller Reichtum ein hohes Maß an Produktionsmitteln voraussetzt.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch, daß ein hohes Angebot an Sachka-
pital auf den Kapitalzins drückt und ihn schließlich zum verschwinden
bringt! Voraussetzung ist allerdings, daß ein Zustand der "Vollinvestition"
(Keynes) erreicht wird, womit dann auch das Wirtschaftswachstum im We-
sentlichen abgeschlossen wäre. Vollinvestition markiert die Grenze des
"natürlichen" Wachstums einer Volkswirtschaft.

Vollinvestition ist das Gegenstück zur Unter- und Überinvestition. (55) Sie
verkörpert die für die Befriedigung der Nachfrage der Konsumenten nach
Gütern und Dienstleistung ausreichende Bereitstellung von Produktions-
mitteln in der Wirtschaft: das makroökonomische Gleichgewicht zwi-
schen der Nachfrage nach Produkten und dem Angebot an Produktions-
mitteln. Vollinvestition bedeutet, daß weder das Realkapital durch den
Geldzins künstlich verknappt wird (was Unterinvestition bedeutet), noch
daß über den Verbraucherbedarf hinausgehende Investitionen zum
Zweck der Zinseszinsakkumulation getätigt werden (Überinvestition).
Vollinvestition ist der Zustand des wirtschaftlichen Gleichgewichts bei
Vollbeschäftigung und Null-Zins. Über Produktion und Neuinvestitionen
(was Wirtschaftswachstum bedeutet) entscheiden dann die Besitzer ihres
"vollen Arbeitsertrages" (56) und nicht die Besitzer akkumulierter Zinsen.
Genauer gesagt: Die Produzenten (???) entscheiden entsprechend ihren Bedürf-
nissen "basisdemokratisch" durch ihre individuelle Nachfrage nach Gütern
und Dienstleistungen auf dem Markt, ob zusätzlich investiert wird und die
Wirtschaft wachsen soll, und nicht die Finanzkapitalisten entsprechend ih-
ren Zinsinteressen mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht.

Mit Vollinvestition ist jener Zustand erreicht, den, wie Keynes, auch
Proudhon und Gesell anstrebten und den Keynes so beschreibt: "Ich bin
überzeugt, daß die Nachfrage nach Kapital streng begrenzt ist, in dem Sin-
ne, daß es nicht schwierig wäre, den Bestand an Kapital (außer Boden,
wie Keynes wohl wußte) bis auf einen Punkt zu vermehren, auf dem seine
Grenzleistungsfähigkeit auf einem sehr niedrigen Stand gefallen wäre.
Dies würde nicht bedeuten, daß die Benützung von Kapitalgütern sozusa-
gen nichts kosten würde, sondern nur, daß der Ertrag aus ihnen nicht viel
mehr als ihre Erschöpfung durch Wertverminderung und Veraltung, zu-
sammen mit einer gewissen Spanne für das Risiko und die Ausübung von
Geschicklichkeit und Urteilsvermögen, zu decken haben würde. Kurz ge-
sagt, der Gesamtertrag von dauerhaften Gütern während ihrer Lebens-
dauer würde, wie im Falle von Gütern von kurzer Dauer, gerade ihre Ar-
beitskosten der Erzeugung plus einer Entschädigung für Risiko und die
Kosten der Geschicklichkeit und Aufsicht decken.

Obschon dieser Zustand nun sehr wohl mit einem gewissen Maß von In-
dividualismus vereinbar wäre, würde er doch den sanften Tod des Rent-
ners bedeuten, und folglich den sanften Tod der sich steigernden Unter-
drückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals aus-
zubeuten.

Hier entpuppt sich Keynes als Antikapitalist (was von Sozialdemokra-
ten, die ihn lediglich als Staatsinterventionisten schätzen, ignoriert wird).
Denn: Vollinvestition ist ein Zustand, in dem Produktionsmittel und Waren
des Zinses entledigt und somit kein Kapital mehr sind! (58) Um diese Entkapi-
talisierung zu erreichen, ist die Gleichstellung der Ware mit dem Geld
(Proudhon) bzw. des Geldes mit der Ware (Gesell) unumgänglich.

Die Idee der "rostenden Banknoten"

Anders als durch Tauschbanken, wie sie Proudhon und andere vor ihm ge-
plant hatten, wollten Gesell und zur gleichen Zeit und unabhängig von
ihm Nicolas A. L. J. Johannsen die Gleichstellung von Ware und Geld
durch die Schaffung eines Tauschmittels erreichen, das sich, wie es Rudolf
Steiner formuliert, ebenso "abnutzt" wie die übrigen Waren. Sie wollen
das durch die Belastung des Geldes mit einer "Geldsteuer" (Johann-
sen (59)), mit einer Nutzungs- oder Rückhaltegebühr erreichen, ähnlich, wie
es Bibliotheken machen, die jene Leser mit Säumnisgebühren belasten,
die ausgeliehene Bücher nicht termingerecht zurückbringen und sie da-
durch anderen vorenthalten, oder die Bundesbahn, die für nicht entlade-
ne Güterwagen Standgebühren von ihren Kunden verlangt. Ein Geld mit
"Standgebühren", das auch der US-amerikanische Ökonom und Fürspre-
cher Gesells, Irving Fisher, die Anarchisten Gustav Landauer und Erich
Mühsam (s. Text 4 u. 8) und der Anthroposoph Steiner für "sehr wertvoll"
und "außerordentlich wichtig" halten. (60)

Diese Idee von einem Geld, das sich wegen seiner ganz konkreten
Abnutzung nicht kostenlos horten läßt, ist 2.300 Jahren alt! Bereits der
grichische Aussteiger und Anarchophysiokrat Diogenes, Sohn eines rei-
chen Bankiers, forderte, daß das Geld mit metallischem Eigenwert abge-
schafft und durch Münzen aus wertlosem Stoff ersetzt wird. Seine Mün-
zen sollten aus Knochen bestehen. Aus diesem Stoff hergestellt, würden
sie durch Gebrauch verschleißen und auf diese Weise vergänglich werden.
Ihr Tauschwert würde allein von ihrer merklich schwindenden Kaufkraft
und nicht von einem unvergänglichen stofflichen Eigenwert bestimmt
werden. Bei Verschatzung würden sie sich zwar nicht abnutzen, jedoch
verwesen und unangenehm stinken. Das alles würde ihre Besitzer zwin-
gen, dieses Geld in den Umlauf zu bringen. Die Knochenmünzen würden
ausschließlich und alleiniges Tauschmittel sein, während das unvergängli-
che und geruchlose Gold und Silber allein als Sparmittel verwendet wer
den würde. (61)

Lykurg ließ in Sparta, wie Cristel Neusüß und Marlene Kück berichten,
die Goldmünzen gegen Eisenmünzen austauschen. Bei Eisenmünzen mit
ihrem geringen metallischen Eigenwert "müsse der Schatzbildner ganze
Wagenladungen in sein Haus transportieren und lagern, und so was würde
auffallen". Auf diese Weise könne die Geldhortung, die auch Lykurg für
schädlich hielt, leicht kontrolliert und unterbunden werden. (61) Bemer-
kenswert erscheint mir, daß gehortetes Eisengeld rostet, dadurch an me-
tallischem Eigenwert und somit auch an Kaufkraft verlieren könnte
("Schwundgeld" bei unveränderlichem Preisniveau!). Voraussetzung ist
allerdings, daß (wie Marx angenommen hat) der Metallwert tatsächlich
den Tauschwert der Münzen bestimmt, was bekanntlich - siehe Papier-
geld (189) - nicht der Fall sein muß.

Gesell entwickelte die Technik "rostender Banknoten". Es sollten
Geldscheine unterschiedlicher Stückelung ausgegeben werden, die wö-
chentlich oder monatlich mit einer Marke im Wert von 0,1 bzw. 1/2 Pro-
zent ihres Nennwertes beklebt werden und nur mit diesen Marken ihren
aufgedruckten Nennwert behalten. Das entspricht einer Gebührenbela-
stung des einzelnen Geldscheins von 5,2 bzw. 6% im Jahr, etwa soviel, wie
nach Gesells Meinung auch der jährliche "Schwund" aller Waren im
Durchschnitt beträgt. Ohne Gebührenmarken würde sich die Kaufkraft
der Geldscheine also exponentiell entwerten und der Angebotsdruck um
so spürbarer werden, je länger sie der Zirkulation entzogen blieben. Die
Klebemarken könnten bei Banken, Sparkassen, Postämtern und ähnli-
chen Institutionen gekauft werden. Sind die Geldscheine vollgeklebt,
können sie bei diesen Institutionen zu ihrem Nennwert gegen neue einge-
tauscht werden. (62)

Da die Geldbesitzer sich vor dieser "Steuer" drücken wollen, werden
sie ihr Geld so schnell wie möglich wieder ausgeben, es also nicht horten.
Damit wäre die Doppelfunktion des Geldes als Tausch- und Sparmittel be-
seitigt: es hat mit der Sparfunktion auch seine "Riegel"-Funktion in der
Zirkulation verloren und ist nur noch "Schlüssel" zum Markt. Dieses
"Schwundgeld" (Gesell) kann dann von seinem Besitzer auf zwei Wegen
ausgegeben werden: Er kann dafür Produkte kaufen, oder - wenn er ge-
leistete Arbeit sparen will - seine in Geld "geronnene" Arbeitsleistung
an andere Käufer verleihen; in beiden Fällen bleibt die Kauf- und Tausch-
funktion des Geldes erhalten. Will er beides nicht, dann kann er sein Ar-
beitseinkommen entsprechend seiner Ersparnis durch Arbeitszeitverkür-
zung einschränken! Schließlich ist Freizeit auch ein wertvolles, der Be-
dürfnisbefriedigung dienendes Gut.

Wer jetzt sparen will, muß es in Sachgütern tun, auf Sparkonten oder er
muß sein Geld als Kredit anlegen: Darlehen geben, Wertpapiere kaufen
etc. Das führt zu einem Angebotsdruck von Geld auch auf dem Kredit-
markt und damit zum Sinken des Kreditzinses. Ist der Angebotsdruck des
Geldes in der Volkswirtschaft quantitativ gleich dem aller relevanten Wa-
ren und der Kreditnachfrage, dann erhält der Geldverleiher nicht mehr
die qualitative Überlegenheit des hortbaren Geldes vor den nicht-hortba-
ren Waren in Form des "Urzinses" (Gesell). Der Schwundgeld-Geber
wird sich im Durchschnitt und im allgemeinen - wie bei einem Warenkre-
dit in einer geldlosen Wirtschaft (s. Gesells Robinsonade, Text 3) - mit
der Vereinbarung zufrieden geben müssen, nach Ablauf der Kredit-
frist die Kaufkraft in Form von Geld zurückzuerhalten, die er selbst erar-
beitet und verliehen hat. Er bekommt also nach Ablauf dieser Frist keinen
größeren Anteil am Sozialprodukt zu Lasten des Kreditnehmers, als er
selbst produziert hat.

Außerdem kann er nicht ohne eigenen materiellen Schaden Tauschmit-
tel periodisch aus dem Wirtschaftskreislauf herausziehen und dadurch Ab-
satzstockungen hervorrufen. Auf Grund der Gebührenlast für Geldhor-
tung kann er diesen gesellschaftlichen "Schlüssel" zum Markt nicht mehr
ungestraft durch Hortung in ein privates Sparmittel und damit in einen
"Riegel" des Marktes (Proudhon) verwandelt. Dadurch werden auch
Währungsspekulationen erschwert, die, wie wir in Kap. 3 gesehen haben,
auf Geldhortung basieren.

Auch Keynes ist der Ansicht, daß "Durchhaltekosten" für Geld ein Mit-
tel sein könnte, um Konjunkturkrisen und Arbeitslosigkeit zu überwin-
den. "Jene Reformatoren", schreibt er, "die in der Erzeugung künstlicher
Durchhaltekosten des Geldes ein Heilmittel gesucht haben, zum Beispiel
durch das Erfordernis periodischer Abstempelungen der gesetzlichen
Zahlungsmittel zu vorgeschriebenen Gebühren, sind somit auf der richti-
gen Spur gewesen; und der praktische Wert ihrer Vorschläge verdient, er-
wogen zu werden." (63)

Schwundgeld-Experimente

Diese Tauschmittel-Umlaufsicherung ist keine blasse Theorie; sie ist nicht
nur erwogen, sie ist auch praktiziert worden. Und selbst in beschränktem
Rahmen kleiner, autonomer Selbsthilfe-Initiativen von Bürgern und Ge-
meinden und in Form des primitiven Klebegeld-Verfahrens hat es sich be-
währt: das Geschäftsleben kam wieder in Gang und die Arbeitslosigkeit
wurde erheblich reduziert. Diese Schwundgeld-Experimente hat es, wie
Werner Onken berichtet, u. a. in Deutschland, Österreich, in der
Schweiz, in Frankreich, Spanien, in den USA und in Brasilien gegeben. (64)

Der erste "Freigeld"-Versuch wurde 1926 von Hans Timm und Helmut
Rödiger vorbereitet. 1929 gründeten sie die Wära-Tauschgesellschaft.
"Nach zwei Jahren gehörten der Tauschgesellschaft bereits mehr als ein-
tausend Firmen aus allen Teilen des damaligen Deutschen Reiches als
Mitglieder an. Unter ihnen waren Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien,
Molkereien, Restaurants, Reformhäuser, Schlachtereien, Blumenläden,
Friseursalons, Handarbeitsläden, Möbelgeschäfte, Elektrohändler, Fahr-
radgeschäfte, verschiedene Handwerksbetriebe, Druckereien, Buch-
handlungen und Kohlenhandlungen."

Im Herbst 1930, mitten in der großen Weltwirtschaftskrise, wurde mit
Hilfe eines Wära-Kredits ein 1927 in Konkurs gegangenes Braunkohle-
bergwerk in Schwanenkirchen im Bayrischen Wald wieder in Betrieb ge-
nommen. "Während die Massen von Arbeitslosen anderenorts große Not
zu leiden hatten, kam die lokale Wirtschaft in Schwanenkirchen, Hengers-
berg und Schöllnach wieder in Gang. Alsbald war die Rede von der 'Wä-
ra-Insel im Bayrischen Wald', wo die Arbeitslosigkeit gebannt war und wo
die umlaufenden Wära-Scheine einen steigenden Absatz der Waren ver-
mittelten", schildert Onken dieses "Wunder von Schwanenkirchen".

Im Oktober 1931 verbot Finanzminister H. Dietrich im Zuge der Not-
verordnungen (!) diese sich netzartig ausbreitende Bürgerinitiative. Diet-
rich war Minister jener Regierung, die durch die berüchtigte Brünning-
sche Deflationspoilitik Hitler den Weg zur Macht ebnete.

Ein weitere Schwundgeld-Initiative wurde weltberühmt: die der Tiroler
Landgemeinde Wörgl (s. Bericht, Text 6). Dort beschloß der Wohlfahrts-
ausschuß der 4.200-Seelen-Gemeinde auf Vorschlag ihres sozialdemokra-
tischen Bürgermeisters Michael Unterguggenberger am 5. Juli 1932 mit
den Stimmen aller Parteien die Durchführung seines Schwundgeld-Not-
programms. Auch hier wurde der Umlauf der kurz darauf ausgegebenen
"Arbeitsbestätigungen" mit einer allmonatlich fälligen einprozentigen
Strafgebühr für Hortung gesichert. Auch hier kam das Geschäftsleben
wieder in Gang, und während die Arbeitslosigkeit im übrigen Österreich
um 10% anstieg, ging sie in Wörgl im selben Zeitraum um 25% zurück.

Auch hier begann das Experiment Kreise zu ziehen: "Die Tiroler Ge-
meinden Hopfengarten, Brixen und Westendorf mit insgesamt 16.000
Einwohnern beschlossen (ebenfalls) die Ausgabe von Arbeitsbestäti-
gungsscheinen."

Doch auch hier wurde die Entwicklung gestoppt. Auch hier schaltete
sich die Staatsgewalt ein und ließ diese erfolgreiche Bürgerinitiative ge-
gen Absatz- und Beschäftigungskrise durch ein Gerichtsurteil verbieten.
"Am 15. 9.1933 mußten die Arbeitsbestätigungsscheine wieder aus dem
Verkehr gezogen werden", mit den entsprechenden wirtschaftlichen und
letztendlich auch politischen Folgen (s. Kap.13). - Auch hier bestätigte
sich Tuckers wie Gesells Kritik an der kapitalverbundenen, destruktiven
Gewalt des Staates (s. Kap.1).

Obwohl die gesamte Weltwirtschaft in Agonie lag, trotz des umständli-
chen Klebemarken-Verfahrens und trotz Einführung des "Freigeldes" in
kleinen, von der Gesamtwirtschaft abhängigen Gemeinden, war dieses
anarchistische Geld, wo immer es im Sinne Gesells praktiziert worden ist,
erfolgreich. Neuerdings versucht Margrit Kennedy in einer norwegischen
Gemeinde ein weiteres Schwundgeldexperiment anzutörnen.

Heute sind praktikablere Methoden der Umlaufsicherung entwickelt wor-
den. Zur Bargeldbesteuerung könnten z. B. drei verschieden gekenn-
zeichnete Serien aller Banknoten-Stückelungen herauszugeben werden.
An einem vorher nicht bekannten Tage X wird eine der drei Serien, die
vorher ebenfalls unbekannt ist, zum Umtausch aufgerufen. Innerhalb ei-
ner ausreichenden Frist können die Noten dieser Serie bei Banken, Spar-
kassen, Postämtern usw. gegen neue eingetauscht werden, anderenfalls
werden sie ungültig. In gleicher Weise kann auch mit den Münzen verfah-
ren werden, wenn es notwendig sein sollte. Beim Umtausch wird eine Ge-
bühr erhoben, die in einem Jahr insgesamt etwa 5% des gesamten Bar-
geldumlaufs ausmacht. Von dieser Gebühr werden die Kosten des Um-
tauschverfahrens finanziert, Überschüsse wie Steuermittel verwendet. (65)

Wenn einmal im Jahr eine Serie aufgerufen wird und der einzelne Bür-
ger mit 200 DM betroffen ist, weil er so viele aufgerufene Scheine zufällig
in der Tasche hat, dann erhält er beim Umtausch dieser Summe 170 DM
zurück. Für 200 DM Kassenhaltung zahlt er also maximal 30 DM Geld-
steuer im Jahr, im Durchschnitt jedoch lediglich 10 DM - keine große
Summen für kleine Geldbesitzer.

Ganz anders sieht es jedoch für jene aus, die große Summen zu Speku-
lationszwecken liquide halten. Jede Million würde seinem Besitzer im
Durchschnitt 50.000, maximal 150.000 DM im Jahr kosten. Und wenn das
nicht reichen sollte, diese Geldvermögen zinslos in den Verkehr zu brin-
gen, könnte die Geldsteuer noch ganz erheblich heraufgesetzt werden.
Die Einnahmen könnten für gemeinnützige Zwecke verwendet werden
und würden so allen Bürgern zugute kommen. - Warum den Hund der
Oma besteuern, aber nicht den Geldsack des schmarotzenden, superrei-
chen Finanzkapitalisten?

Dieter Suhr hat den Vorschlag gemacht, das Giralgeld zum gesetzlichen
Zahlungsmittel zu erheben und eine Liquiditätsgebühr als Durchhalteko-
sten von den Guthaben der Girokonten abzubuchen. Nach dem Gresham-
schen Gesetz (66) würde dieses "schlechte" Buchgeld das "gute" Bargeld
weitgehend aus der Zirkulation verdrängen und sich so als allgemeines
Tauschmittel ausbreiten. (67)

Schwundgeld in der Geschichte

Nicht nur die Theorie der "stinkenden" und sich "abnutzenden" Münzen,
auch die Praxis des umtausch- und gebührenpflichtigen Papiergeldes ist
nichts neues. Wie Hans Weitkamp berichtet, brachte die Ming-Dynastie
in China 1375 Geldscheine in den Verkehr, die nur zwei Jahre gültig
waren und dann gegen einen Abzug von 2 bzw 3% ihres Nennwertes um-
getauscht werden mußten. Auch diese geringe Besteuerung, die bis ins 15.
Jahrhundert praktiziert wurde, verhinderte laut Pirenne die Geld-"Hor-
tung". (68)

Aber auch im europäischen Mittelalter ist eine ähnlich Technik der
Geld-"Verrufung" praktiziert worden, und zwar in Deutschland, Polen
und Österreich. Es war die Zeit der Brakteaten, jener Münzen, die eben-
falls regelmäßig umgetauscht werden mußten, zunächst beim Regierungs-
antritt eines Fürsten, später nach Jahresfrist und schließlich zwei
bis vier Mal im Jahr. Für ihre Neuprägung wurde ein erheblicher "Ab-
schlag" (20 - 25%) für den "Schlagschatz" des Prägemeisters und des
Fürsten erhoben. Wie das Schwundgeld Gesells und der Mings, konnte
auch der Brakteat nicht ungestraft dem Wirtschaftskreislauf entzogen und
verschatzt werden: die "Riegel"-Funktion des Geldes war gebrochen,
und trotz der zu hohen Abgaben und des lästigen, weil zu häufigen Um-
tausches entfaltete sich eine erstaunliche Wirtschaftsblüte.

Initiator war der Magdeburger Erzbischof Wichmann. (Er war von Bar-
barossa eingesetzt worden, jenem Kaiser, dem die Deutschen in der Kyff-
häuser-Sage nachtrauerten.) Um sich Einnahmen zu verschaffen und
ohne zu ahnen was er damit bewirkt, hat er die damalige Münzverru-
fung ab 1152 zur vollen Entfaltung gebracht. Erst 200 Jahre später wurde
sie wieder eingeschränkt, und Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der lä-
stige "Dünnpfennig" endgültig durch den "ewigen Pfennig" ersetzt.

Über genau diesen Zeitraum schreibt Adolf Damaschke: "Die Zeit
etwa vom Jahre 1150 bis zum Jahre 1450 ist eine Zeit außerordentlichen
Aufschwungs, eine Zeit der Blüte der Volkswirtschaft, wie wir sie uns
heute kaum mehr vorzustellen vermögen." In der Tat war das die Zeit, in
der in Städten, die, wie Köln, noch nicht einmal 30.000 Einwohner zähl-
ten, die gewaltigen gotischen Dome gebaut wurden, mit primitiven tech-
nischen Mitteln und nicht finanziert von reichen Mäzenen, sondern vom
Volke selbst. Zu dieser Periode gehört die Zeit von Ende des 13. bis Ende
des 15. Jahrhunderts, als in Nord-, Mittel- und Osteuropa mit der Deut-
schen Hanse der Handel aufblühte und Lübeck und Wisby, Hamburg und
Nürnberg, Bremen und Reval, Danzig und Augsburg große, reiche und
politisch selbständige Städte wurden. Ein Zeitalter, in der die "Stadtluft
frei machte" und "die Bauern silberne Knöpfe trugen", wie es in Chroni-
ken heißt. Wo, wie der Anarchist Rocker schreibt, der Staat noch unent-
wickelt war und das autonome Leben der Gemeinden und Gemeinschaf-
ten in voller Blüte stand. - Und es war "die lange Epoche des Mittelal-
ters, (die) von Geldkrisen verschont geblieben" ist, wie der Ökonom
Geattens feststellt! (69)

Sinnlich eindrucksvoll vermittelt uns Damaschke das damalige Leben
und Treiben in dieser für das heutige Verständnis "unterentwickelten"
Agrargesellschaft:

"Die Arbeitszeit war günstig. Die Schicht für Bergbauer und Schmelzer
betrug bis Mitte des 15. Jahrhunderts allgemein sechs Stunden." "Viel-
fach wurde von den Handwerksgesellen mit Erfolg auch noch die Freiga-
be des Montags ("blauer Montag"; K. S.) mit der Begründung gefordert,
die Gesellen brauchten den freien Tag, um Zeit für Beratung ihrer Angele-
genheiten, für Übungen in Waffen und zum Baden zu haben!" "Da die
Zahl der streng innegehaltenen Sonn- und Feiertage mindestens 90 (im
Jahr; K. S.) betrug, so brauchten die Handwerksgesellen, wenn sie auch
noch die Freiheit des Montags erkämpft hatten, in der Woche durch-
schnittlich nur vier volle Tage zu arbeiten, und auch an diesen Tagen war
für geregelte Arbeitszeit gesorgt." "In Bremen verdiente ein Maurer um
1400 täglich 3 Groot, während ein fettes Schwein mit 24 Groot bezahlt
wurde." "Mehrfach durchbrachen die Handwerksknechte sogar das einfa-
che Lohnsystem und arbeiteten mit dem Meister 'auf den dritten oder hal-
ben Pfennig', d. h. sie erhielten vom Ertrag der gemeinsamen Arbeit ein
Drittel oder die Hälfte als ihren Anteil."

Die Frauen standen gleichberechtigt mit den Männern im Berufs- und
Zunftleben: "Mehr als der vierte Teil aller Steuerpflichtigen wurde (..)
zeitweise von selbständigen Frauen gebildet, wobei natürlich alle Frauen,
die in Klöstern, Spitälern, Anstalten lebten, nicht mitgerechnet sind."
Auch die wissenschaftlichen Berufe waren den Frauen nicht verschlos-
sen. Hier kam in erster Reihe die Heilkunde in Betracht." "Von 1389 -
1497 sind aus Frankfurt a. M. 15 Ärztinnen bekannt geworden, darunter
3 Augenärztinnen und 4 Judenärztinnen."

Der Lebensstandard des "gemeinen" Volkes war auffällig hoch. Um
das üppige Leben der Lohnabhängigen zu zügeln, verordneten die Herzö-
ge Ernst und Albrecht von Sachsen: "Den Werkleuten sollten zu ihrem
Mittag- und Abendmahle nur vier Essen, an einem Fleischtage eine Sup-
pe, zwei Fleisch und ein Gemüse, auf einen Freitag und einen anderen
Tag, da man nicht Fleisch isset, eine Suppe, ein Essen grün und dörre Fi-
sche, zwei Zugemüse; so man fasten müsse, fünf Essen, eine Suppe, zwei-
erlei Fisch und zwei Zugemüse und hierüber 18 Groschen, den gemeinen
Werkleuten aber 14 Groschen wöchentlicher Lohn gegeben werden
(...)." (70)

Damaschke führt diese dreihundertjährige Wohlstandsperiode allerdings
nicht auf die fehlenden Geldkrisen, sondern auf das in vielen Gemeinden
vorherrschende Gemeineigentum am Grund und Boden, auf die Möglich-
keit der Landbevölkerung, in die aufblühenden Städte abwandern zu kön-
nen, und vor allem auf die Besiedlung des nord- und ostelbischen Raums
seit 1230 durch deutsche und niederländische Bauern mit Hilfe des
Deutschritterordens zurück. Vor allem dadurch, aber auch durch die gro-
ße Teile der Bevölkerung dahinraffenden Pestepidemien, sei der Boden,
das wichtigste Produktionsmittel der damaligen Agrargesellschaft und
gleichzeitig auch der Feudalherren, entvölkert worden. Auf Grund dieser
günstigen ökonomischen Situation für die Leibeigenen, Hörigen und
Zinsbauern gegenüber dem aufkommenden Feudaladel konnten die Bau-
ern Teile ihres alten germanischen Bodenrechts erhalten oder gar zurück-
gewinnen und bessere Pacht-, Lohn- und Arbeitsbedingungen aushan-
deln. Das hätte zu dem für damalige Verhältnisse hohen Lebensstandard
breiter Bevölkerungsschichten geführt.

Diese Bodensituation bleibt von den Freiland-Freigeld-Anhängern
Fritz Schwarz und Karl Walker, die diese Zeit als Schwundgeld-Epoche
beschreiben, (71) erstaunlicherweise unbeachtet, während der Bodenrefor-
mer Damaschke die Eigenartigkeit des damaligen Geldsystems über-
sieht. Es dürfte wohl kein Zweifel sein, daß sowohl das "Freigeld des Mit-
telalters" (Schwarz), wie auch die fallende Grundrente durch das "Frei-
land"-Angebot des Ostens zur Blüte der Gotik und zum Volkswohlstand
geführt haben. Diese positive historische Geld- und Bodenerfahrung ver-
leiht der Forderung Gesells und anderer Anarchisten nach einer Reform
sowohl des Geldwesens wie des Bodenrechts ihre besondere Legitimität.

Als die Ostlandbesiedlung nach 1410 zu Ende ging und der letzte Brakteat
Mitte des 15. Jahrhunderts wieder abgeschafft und durch den "ewigen
Pfennig", der jetzt im Strumpf und in der Schatztruhe verschwand, ersetzt
worden war, ging auch der Volkswohlstand zurück und die sozialen Kon-
flikte nahmen erheblich zu. 1489, kaum 40 Jahre nach der Abschaffung
des mittelalterlichen Schwundgeldes, wurde das Buch "Der Hexenham-
mer", die berüchtigte Anleitung zur Folter, von der katholischen Kirche in
Rom herausgegeben, und mit ihm nahmen die Hexenverfolgungen un-
glaubliche Ausmaße an. Zur gleichen Zeit begann der Aufstieg der mäch-
tigen Finanzkapitalisten Fugger und Welser, die ihre Geldschätze gegen
hohe Zinsen den Fürsten und Kaisern für ihre blutigen Machtkämpfe lie-
hen. 1525 entbrannte die Bauernrevolution, 1533 scheiterte die Kommu-
ne der Wiedertäufer in Münster mit ihrer militanten Frauenbewegung (71a)
und so fort. - Auf das "finstere" Mittelalter folgte die Zeit der Renais-
sance: die Zeit der Wiederbelebung des antiken Geistes des römischen pa-
triarchalischen Sklavenhalterstaates.


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