Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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Klaus Schmitt

 

GELDANARCHIE UND ANARCHAFEMINISMUS

Zur Aktualität der Geld-, Zins- und Bodenlehre Silvio Gesells
 

I. Teil: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus - ein anarchistisches Konzept

 

1. Gibt es eine anarchistische Wirtschaftstheorie?

"Worauf beruht die Zirkulation in der Ökonomie der
Gesellschaft? - Auf dem baren Gelde.
Was ist ihr bewegendes Prinzip? - das Geld.
Was öffnet und verschließt den Erzeugnissen die
Tür des Marktes? - das Geld."

P. J. Proudhon

Ich war vielleicht ein Dutzend Lenze jung, als ich - ahnungslos und trotz
guter sozialdemokratischer Kinderstube - mit einer anarchistischen
Wirtschaftstheorie infiziert wurde. Schuld daran war ein freundlicher Herr
mittleren Alters, dessen Namen ich vergessen habe und der in einer alten
Bauernkate in Schleswig-Holstein Meerschweinchen und weiße Mäuse
züchtete. Während er mir Nachwuchs für meinen Zoo verkaufte, traktier-
te er mich mit den anarchischen Ideen eines gewissen Silvio Gesell, insbe-
sondere mit dessen "Schwundgeld"-Erfindung. Dieses "Geld unter Um-
laufzwang" würde, so versicherte er mir, für einen geschlossenen Wirt-
schaftskreislauf sorgen und dadurch bewirken, daß alle Menschen immer
"Arbeit" hätten. Um ein Urteil bemüht, berichtete ich umgehend meiner
Mutter von diesem merkwürdigen Arbeitsbeschaffungsprogramm. Statt
jedoch auf diese "Freigeld" Theorie einzugehen, erzählte mir diese ehe-
malige "Falken"-Aktivistin begeistert von der sozialistischen "Arbeiter-
jugend". Können die Alten denn nur von Arbeit reden, dachte ich, und
hatte erst einmal die Schnauze voll von "Politik". Doch trotz meiner fru-
strierenden Arbeitserfahrungen beim Geschirrabtrocknen und Erbsen-
pellen ließ mich die ausgefallene Geld-, Zins- und Zirkulationstheorie
dieses seltsamen "Akraten" und "Physiokraten" nie mehr ganz los. Selbst
dann nicht, als ich während der Jugendrevolte in den 60er Jahren von den
faszinierenden Theorien und Aktionen Rudi Dutschkes, Fritz Teufels,
Herbert Marcuses und Wilhelm Reichs bewegt und geprägt worden war.
Immer, wenn das Problem der Ausbeutung und der Arbeitslosigkeit auf-
tauchte und wenn bei Überlegungen zu alternativen Wirtschaftskonzep-
ten das Zins-, Währungs- und Bodenproblem relevant wurde, tauchte
auch Gesells Freiland-Freigeld Theorie aus meinem schlechten Gedächt-
nis wieder auf. So zum Beispiel während der Berliner Häuserkämpfe 1981
im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Informationen über die öko-
nomischen Hintergründe der Sanierungs- und Bodenspekulationen. Ge-
sells Zinstheorie lenkt uns zwangsläufig auf die Tatsache, daß der Geld-,
Kapital- und Bodenzins - im wesentlichen ein arbeitsfreies Einkommen
für die Kreditgeber und Kapitaleigentümer - 50 bis 80% des Mietpreises
für Wohnungen und Gewerberäume ausmacht (s. Grafik 1).

Viele Gesell-Anhänger bezeichnen seine Lehre als "Dritten Weg" zur
Lösung der "sozialen Frage", jenseits von Privatkapitalismus und Staats-
sozialismus, was wir beides auch Staatskapitalismus nennen können. Der
Altgesellianer Will Noebe grenzt Gesell zusammen mit dem Föderalisten
und Zinsgegner P J. Proudhon als "Tauschsozialisten" ab von den Zentra-
listen und Kommunisten Marx und Engels als "Produktionssozialisten"
einerseits und von den staatsbejahenden und pro-kapitalistischen Sozial-
demokraten und von dem bürgerlichen Ökonomen John Maynard Key-
nes als "Interventionssozialisten" andererseits. (1) Tatsächlich läßt sich Ge-
sells Zins- und Zirkulationsanalyse und Freiland-Freigeld-Lehre jenseits
der kapitalistisch-liberalistischen wie auch jenseits der marxistisch-zen-
tralistischen und sozialdemokratisch-staatsinterventionistischen Ökono-
mie einordnen, allerdings auch jenseits demokratisch-kollektivistischer
Planwirtschafts-Vorstellungen, wie sie zum Teil in der heutigen Alterna-
tivszene und von Anarcho-Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten ver-
treten werden. (2) Mit den Marxisten hat Gesell lediglich die Gegnerschaft
gegen den "Mehrwert", die Zinsen, mit den Liberalen lediglich die·Forde-
rung nach ökonomischer Freizügigkeit, nach Marktwirtschft, gemeinsam.
Von seiner Stellung zu Keynes wird noch (u. a. in Kap. 6) zu sprechen
sein.

Gesell, der 1862 im deutsch-belgischen Grenzgebiet, in St. Vith, gebo-
ren wurde und bis 1930 in Deutschland, Argentinien und in der Schweiz
als Unternehmer, Bauer und Agitator seiner Lehre lebte, steht in der Tra-
dition individual- und sozialanarchistischer Ideen und Versuche, die Ar-
beiter, Bauern und Kleinbürger durch die Brechung des Geld- und Bo-
denmonopols und aller Produktions- und Handelsbeschränkungen von
Armut, Ausbeutung und Wirtschaftkrisen zu befreien. Wie die Proudho-
nisten, wollte er die Abschaffung der Zinsen und der Konkunkturkrisen
durch die Herstellung von ungehindertem Wettbewerb auf der Grundlage
autonomer Eigeninitiative und durch die Herstellung von Tausch- und
Kreditgerechtigkeit in einem ungestörten, weltweiten Handelsverkehr.
Er war, wie sie, gegen Kapital- und Machtkonzentration, für die Beseiti-
gung aller Zollschranken und für internationale Freizügigkeit in der Wahl
des Wohn- und Arbeitsortes für alle Menschen dieser Erde an allen Orten
unseres Planeten. Und nicht zuletzt war er für die Überwindung der re-
pressiven Sexualmoral und der Erziehung und für die Befreiung der Müt-
ter und Kinder von den materiellen und sozialen Abhängigkeiten im Pa-
triarchat. Zu diesem Zweck wollte er den Boden vergesellschaften und
die Bodenrente an die Mütter und Kinder verteilen - eine in dieser Radi-
kalität in der anarchistischen wie in allen anderen sozialen Bewegungen
wohl einmalige feministische Forderung (s. Kap. 9). Und er war, wie alle
Anarchisten, eingeschworener Staatsfeind.

1881, in der ersten Nummer seiner Zeitschrift Liberty, schrieb der US-
amerikaische Anarchist Benjamin R. Tucker in dem Artikel 'Unsere Ziele':
"Der Staat ist von jemand als 'notwendiges Übel' bezeichnet worden; er
muß unnötig gemacht werden. Denn der Kampf dieses Jahrhunderts ist
der Kampf mit dem Staat: dem Staat, der den Menschen erniedrigt; dem
Staat, der die Frauen prostituiert; dem Staat, der die Kinder verdirbt;
dem Staat, der die Liebe einzwängt; dem Staat, der die Gedanken er-
stickt; dem Staat, der das Land monopolisiert; dem Staat, der den Kredit
beschränkt; dem Staat, der den Austausch einengt; dem Staat, der müßi-
gem Kapital die Macht des Wachstums verleiht und vermittels Zins, Ren-
te, Profit und Steuern die tätige Arbeit ihrer Erzeugnisse beraubt." (3)
Auch der "Akrat" Gesell sah im Staat den verlängerten Arm des Kapi-
tals und des Grundeigentums, die mit seiner Hilfe die Befreiung von Aus-
beutung und Knechtschaft verhindern, und auch er wollte ihn aktiv "ab-
bauen". Fast ein halbes Jahrhundert nach Tucker, 1927, schrieb er im Vor-
wort zu seiner Utopie 'Der abgebaute Staat': "Der Weg zur Akratie führt
selbstverständlich über die Leiche des Kapitalismus, denn der Kapitalis-
mus ist Ausbeutung, und der Ausbeutungsapparat bedarf zu seinem
Schutz einer zentralistischen Macht, und diese Macht heißt Staat." (4)
Wie bei Tucker, hat auch Gesells Staatsfeindlichkeit ihre Begründung
nicht nur in dem Ziel, Herrschaft und Unterdrückung abzuschaffen, son-
dern ebenso auch darin, durch die Befreiung vom Herrschaftsinstrument
Staat die machtpolitischen Voraussetzungen zur Veränderung der ökono-
mischen Verhältnisse zu schaffen.

Die wirtschaftlichen Hauptursachen für die sozialen Ungerechtigkeiten
sah Tucker - ähnlich wie Gesell - in den "drei Arten von Wucher: Geld-
zins, Bodenrente und Wohnungsmiete und (im monopolistischen; K. S.)
Tauschgewinn". Die Analyse dieser drei Ausbeutungsmittel (im "Miet-
zins" stecken vor allem Geld- und Bodenzins; s. Grafik 1) beantwortet
nach Tucker die Frage, wer jenen Überschuß (Marx: "Mehrwert") erhält,
den die Arbeiter produzieren, aber nicht konsumieren: die Geldverleiher,
die Grundeigentümer und die Handelsmonopolisten. (5)

Von Proudhon...

Bei ihrer Argumentation im Kampf gegen Zins, Renten und Monopolge-
winne beriefen sich Tucker, William B. Greene, Lyssander Spooner, Ar-
thur Mülberger und andere Individual- und Sozialanarchisten auf den be-
reits erwähnten französischen Anarchisten und Föderalisten Pierre Jo-
seph Proudhon (1809-1865). Proudhon ist der Begründer einer eigenstän-
digen anarchistischen Wirtschaftstheorie, die Gesell auf den Begriff ge-
bracht hat und deren zentralen Einsichten auch die Grundlagen der Key-
nesschen Geld-, Zins- und Konjunkturtheorie bilden (wie wir noch sehen
werden). (6) Das ist eine bedeutende Tatsache, die von den heutigen Anar-
chisten völlig übersehen wird. Diese immer noch aktuelle wirtschaftstheo-
retische Tradition ist mit der Ausbreitung der autoritären, staatssoziali-
stisch-marxistischen Arbeiterbewegung fast völlig verdrängt worden und
in Vergessenheit geraten. (7)

Proudhons Anliegen war es, die "Gegenseitigkeit" im Verkehr der
Menschen wiederherzustellen. In 'Organisation des Kredits und der Zirku-
lation' schreibt er: "Die Gegenseitigkeit ist in der Schöpfung das Prinzip al-
les Daseins und in der sozialen Ordnung das Prinzip der sozialen Wirklich-
keit, die Formel der Gerechtigkeit." (8) Die Voraussetzung zur Gegenseitig-
keit ist seiner Meinung nach die Herstellung der "Tauschgerechtigkeit" im
ökonomischen Bereich: der "Mutualismus". Im Gegensatz zum "Produk-
tionssozialisten" Karl Marx (1818-1883), der die Ursachen der sozialen
Ungerechtigkeiten und der Wirtschaftskrisen primär in der Produktions-
sphäre der Volkswirtschaft suchte, führt der "Tauschsozialist" Proudhon
Ausbeutung und Krisen ursächlich auf die monopolartige Vormachtstel-
lung des Goldgeldes im Waren- und Kreditverkehr und auf das damit ver-
bundene Ungleichgewicht in der Zirkulationssphäre der Wirtschaft zu-
rück. Nach Meinung Proudhons erfüllt dieser "König des Marktes" seine
Tauschfunktion nur unvollkommen: dieses Geld ist nicht nur ein "Schlüs-
sel" zum Markt, sondern ebenso auch ein "Riegel", der sich immer wie-
der zwischen die Produzenten schiebt und den Austausch ihrer Produkte
blockiert. (9) Weil dieses Edelmetallgeld willkürlich aus dem Wirtschafts-
kreislauf herausgezogen werden kann, entstehen periodisch Nachfrage-
lücken. Das hätte zur Folge, daß die Produktion eingeschränkt, Arbeiter
entlassen und Unternehmer pleite gehen würden.

Außerdem würde das Geld auf Grund seiner monopolartigen Schlüssel-
stellung in der Zirkulation es seinen Besitzern ermöglichen, einen Zins
von jenen zu erpressen, die auf angesammeltes Geld als Kredit angewie-
sen sind. Diesen Zins muß das Sachkapital erwirtschaften, was bewirkt,
daß auch dieses einen Zins abwirft: die Rendite.

Da der Boden ein unvermehrbares, monopolartiges, aber außerordent-
lich wichtiges Produktionsmittel und Gebrauchsgut ist, wirft auch er ei-
nen Zins ab: die Rente. Sie fließt den Grundeigentümern zu, gleichgültig,
ob sie ihren Boden verpachten bzw. (zusammen mit einer Wohnung oder
Gewerberäumen) vermieten oder selbst bewirtschaften.

Geldzins, Kapitalrendite und Bodenrente reduzieren einerseits die Ar-
beitseinkommen und erscheinen andererseits in den Preisen der Produkte
und belasten so die Kaufkraft aller Verbraucher. Diesen "Mehrwert" er-
halten die Finanzkapitalisten und Eigentümer von Realkapital und Bo-
den als arbeitsfreies Einkommen.

Das ist der Kern der proudhonistischen Kapitalismusanalyse.

Um die Ausbeutung der Produzenten durch Zins und Rente zu beseiti-
gen und die periodisch wiederkehrenden Wirtschaftskrisen zu verhin-
dern, forderte Proudhon die Sozialisierung der privaten Grundren-
te, (10) einen auf Dauer geschlossenen Wirtschaftskreislauf und - als zen-
trales Anliegen seiner Wirtschaftstheorie - die Gleichstellung der Waren
einschließlich der Ware Arbeitskraft mit dem Geld. In seinem Hauptwerk
'Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld', dessen er-
ste Auflagen er Proudhon widmete, zitiert Gesell einen entsprechenden
Kernsatz Proudhons: "Verschafft der Volkswirtschaft einen geschlosse-
nen Kreislauf, d. h. einen vollkommenen und regelmäßigen Güteraus-
tausch, erhebt Ware und Arbeit auf die Rangstufe des baren Geldes, und
die menschliche Gemeinschaft ist gesichert, die Arbeit vernunftgemäß ge-
ordnet." (11)

Um das Ziel eines geschlossenen Wirtschaftskreislaufs und die Abschaf-
fung des Geldzinses zu erreichen, wollte Proudhon das damalige Gold-
geld überflüssig machen. Zu diesem Zweck wollte er den Austausch der
Produkte direkt und bargeldlos über eine "Tauschbank" als Clearingstelle
und damit gleichzeitig den "zinslosen Kredits" organisieren, was er wegen
seiner damaligen Verhaftung jedoch nicht verwirklichen konnte. (Ein
Konzept, aus dem die Ökobanker lernen könnten! Doch ihre Ökobank
wird wohl eine ebenso kapitalistische werden, wie die Raiffeisenbanken
oder die Bank für Gemeinwirtschaft...) (12)

Daß und wie Tauschbanken funktionieren und daß sie Proudhons Ziel,
die Zirkulation in Gang zu bringen und den Kreditzins zu reduzieren, tat-
sächlich erfüllen können, zeigen die Tauschbörsen, die heute wieder in
den USA und vereinzelt auch in Europa erfolgreich praktiziert werden.
Siegfried Fröhlich berichtet in Capital darüber:

"Alle arbeiten nach dem gleichen Konzept: Die Mitglieder - mög-
lichst viele, möglichst unterschiedlicher Branchen - bieten Waren und
Dienstleistungen an, ohne dafür Bezahlung in Geld zu verlangen. Für je-
de Lieferung oder Leistung an ein Mitglied erhalten sie statt dessen eine
Gutschrift auf ihrem Konto bei der Tauschhandelsfirma. Im Gegenzug
können sie Waren oder Dienstleistungen jedes beliebigen anderen Mit-
glieds in Anspruch nehmen, ohne dafür bar bezahlen zu müssen. Ledig-
lich ihr Tauschkonto wird entsprechend belastet. Doch auch, wenn das
Konto noch keine Gutschrift aufweist, können Mitglieder kaufen: Je nach
Bonität erhalten sie auf ihrem Konto einen Kredit in Tauscheinheiten ein-
geräumt, den sie über eine spätere Leistung ausgleichen können.

Das Tauschsystem verbindet für die Mitglieder zwei Vorteile miteinan-
der: Benötigte Waren oder Dienstleistungen können statt mit knappem
Bargeld oder teuren Bankkrediten mit eigenen Waren oder Dienstleistun-
gen bezahlt werden. Dies wiederum bringt zusätzlichen Umsatz, der
sonst - wenn überhaupt - nur über kostspielige Werbung zu erreichen
wäre. Leistungsfähige Computer besorgen die Kontoführung und spei-
chern vor allem Angebote und Bedarf aller Mitgliedsfirmen, so daß pot-
entielle Geschäftspartner in Sekundenschnelle zusammengebracht wer-
den können." (13)

Hugo Godschalk und die Zeitschrift 'Impulse' berichten, daß heute
mehr als 100.000 Unternehmen mit einem geschätzten Umsatz von 12 bis
200 Milliarden Dollar bzw. von 30 Milliarden Dollar Umsatz in den USA
in Barter-Clubs organisiert sind. In der Bundesrepublik gibt es vier
Tauschbörsen: in Witten, Köln, Herford und Hamburg. In der Schweiz be-
steht seit 1934 die von dem Gesell-Anhänger Werner Zimmermann und
dem Reformhaus-Kaufmann Paul Enz gegründete Wirtschaftsring-Ge-
nossenschaft (WIR). (14) Ihre realen Tausch- und Krediterfolge widerlegen
die auch von Gesell erhobene Behauptung, die Proudhonsche Tauschban-
ken Theorie sei nicht funktionsfähig und in der Praxis gescheitert. (15)

... zu Gesell

Vom gleichen zins- und zirkulationstheoretischen Ansatz wie Proudhon,
aber von einer genaueren Begründung der Vormachtstellung des Geldes
ausgehend, hat Gesell eine weniger umständliche und kostspielige Lö-
sungsmöglichkeit des Zins- und Zirkulationsproblems aufgezeigt. Er hat
Proudhons Forderung, Produkte und Arbeitskraft auf die Rangstufe des
Geldes hinaufzuheben (weil kaum möglich), umgekehrt, sein Konzept ge-
wissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt: er fordert (weil technisch
leichter realisierbar) die Herabsetzung des Geldes auf die Rangstufe der
Ware und Arbeit. Er will das mit einem Geld erreichen, das ebenso wie
die Waren einem "Schwund" und damit ebenfalls einem Angebotszwang
unterliegt wie alle übrigen im Tauschverkehr relevanten Waren einschließ-
lich der Ware Arbeitskraft. Die Kaufkraft seines Nominalwertes soll je-
doch stabil bleiben. Er glaubt, auf diese Weise das Geld, das heute auch
Spar- und zinserpressendes·Kreditmittel ist, auf seine Funktion als Wert-
maßstab und Tauschmittel beschränken, mit der Ware gleichstellen und
den kontinuierlichen Warenverkehr herstellen zu können.

Gesell leitet seine Forderung nach einem "Schwundgeld", einem Geld
mit Durchhaltekosten, aus seiner über Proudhons Einsichten hinaus ent-
wickelten Geld- und Warenanalyse ab. Wie Proudhon ist auch er der Mei-
nung, daß das Geld gegenüber den übrigen Waren eine Vormachtstellung
einnimmt. Nach Proudhon liegt diese "königliche" Stellung in seiner
Funktion als "Schlüssel" zum Markt, aber auch als "Riegel" der Zirkula-
tion. Nach Gesell liegt diese Vormachtstellung außerdem in der Tatsache
begründet, daß sich Geld und als Geld fungierendes Edelmetall - anders
als die durch Gold- und Papiergeld auszutauschenden Waren - wegen
fehlenden (Wert-)"Schwundes", wegen, wie der bürgerliche Ökonom
John Maynard Keynes sagt: fehlender "Durchhaltekosten", "hor-
ten" (verschatzen) läßt und deshalb als "Riegel" in der Zirkulation fun-
giert.

Ein simpler Vergleich von Geld und Ware macht diesen außerordentlich
wichtigen Unterschied deutlich: Der Bauer muß seine Produkte mög-
lichst schnell auf den Markt bringen, weil sonst die Verluste durch Mäuse-
fraß, Fäulnis usw., also durch den Warenschwund, zu hoch werden. Der
Händler muß seine Konserven, Kleider usw. möglichst schnell verkaufen,
um die Lagerungskosten niedrig zu halten, um wegen des Modewandels
nicht auf seinen Waren sitzenzubleiben usw Der Fabrikant muß seine Ma-
schinen produzieren lassen, um ihre Stand- und Wartungskosten etc.
durch den Verkauf ihrer Produkte abdecken zu können und um mit dem
Zeitdruck der technischen Entwicklung neuer, wirtschaftlicherer Produk-
tionsmittel durch rechtzeitige Abschreibung der vorhandenen Anlagen
schrittzuhalten. Insbesondere der Lohnarbeiter muß als Eigentümer sei-
ner Arbeitskraft diese auf dem Arbeitsmarkt anbieten, wenn er und seine
Familienangehörigen nicht materielle Not leiden oder gar verhungern sol-
len. Selbst der Hauseigentümer hat Instandhaltungskosten etc. Außer
dem Boden ist nur noch eine Ware, und dazu noch jene, die als Tauschver-
mittler aller übrigen Waren fungieren soll, diesem Angebotsdruck auf
dem Markt (von einer Inflation abgesehen) nicht (oder vergleichsweise
geringfügig) unterworfen: das heutige Geld

Gold- und Silbergeld rostet nicht; es kann ohne nennenswerte Kosten
in Truhen verschatzt, in Matratzen versteckt und unter alten Bäumen ver-
graben und bei Bedarf wieder hervorgeholt werden. Heute kann auch Pa-
piergeld in Kassen und Tresoren "vergraben" werden; die Kosten dieser
Spar-, Hortungs- und Kassenhaltungsmethode sind nicht höher als die der
primitiven Schatzgräberei. Sie erfordern schlimmstenfalls eine einmalige
Ausgabe für die Installation eines Tresors. Sie stehen jedenfalls in keinem
angemessenen Verhältnis zu den Durchhaltekosten, die die allermeisten
Waren verursachen, die mit diesem Geld untereinander ausgetauscht wer-
den sollen und für die Zirkulation relevant sind. Das gilt insbesondere für
die Ware Arbeitskraft. Alle beutigen Geldformen (Bar und Buchgeld) ei-
nerseits und alle übrigen Waren andererseits unterscheiden sich also auf
Grund ihrer unterschiedlichen physischen Natur folgendermaßen: Die
Werterhaltung der Waren erfordert (der Lagerungzeit und Warenart ent-
sprechende) Durchhaltekosten, die Werterhaltung des Geldes erfordert kei-
ne. (16)

Dieser qualitative Vorteil der fehlenden Durchhaltekosten bei Geld ver-
schafft diesem Wirtschaftsfaktor einen ganz eintscheidenden "Bonus"
(Keynes) auf dem Markt: Er führt über den Kreditmarkt quantitativ zu ei-
ner leistungsungerechten Einkommensverteilung in der Volkswirtschaft
zu Gunsten der Besitzer von angehäuften Tauschmitteln. Nach Gesell des-
halb, weil die fehltenden Durchhaltekosten es den Geldbesitzern ermög-
licht, dieses so lange zurückzuhalten, bis ihnen ein arbeitsfreies Einkom-
men in Form des Zinses von jenen produktiven Kreditnehmern angeboten
wird, die auf diese Geldhorte angewiesen sind, um Investitionen und
Handel tätigen, um arbeiten und leben zu können.

Die Höhe des Zinssatzes wird durch die Höhe jener Kosten begrenzt,
die andere Tausch- und Kreditformen erfordern, auf die die Wirtschafts-
subjekte ausweichen können. Dazu gehören die Proudhonschen Tausch-
banken ebenso, wie das Gesellsche "Freigeld". Der Geldverleih durch oli-
gopolistische Großbanken, mehr noch das Geldschöpfungsmonopol ei-
ner Zentralbank, die (Diskont-)Zinsen verlangt, und - was kaum beach-
tet wird - das gegenwürtige Geld ohne Durchhaltekosten treiben den
Zinsfuß nach oben.

Keine moralische Empörung altgriechischer Philosophen, kein christli-
ches, jüdisches oder moslemisches Zinsverbot, keine "Volkserziehung,
wie sie der NS-Möchtegern-Zinsbrecher Feder gefordert hat, kann die
privaten Geldbesitzer zwingen, den Kreditnehmern "seine", in Wirklich-
keit gesellschaftlichen, durch einen Hoheitsakt des Staates bzw. der No-
tenbank ins Leben gerufenen Tauschmittel ohne einen Tribut zur Verfü-
gung zu stellen. Nicht einmal der Hunger kann große Geldschätze in die
Zirkulation zurücktreiben, denn die Superreichen brauchen nicht an die
Substanz ihrer Millionenvermögen zu gehen, um ihren Hunger zu stillen.
Diejenigen jedoch, die auf dieses öffentliche Zirkulationsmittel angewie-
sen sind, müssen die privaten Geldbesitzer mit Konsumanreizen - was
bei Millionenvermögen irrelevant ist - oder mit diesem Tribut namens
Zins - ködern, damit die Geldbesitzer dieses öffentliche Zirkulations-
mittel herausrückt und der Öffentlichkeit wieder zur Verfügung stellen.
Die Möglichkeit der straflosen Hortung dieses gesellschaftlichen Zirkula-
tionsmittels durch Private ist nach Gesell die Ursache für die Möglichkeit,
ein arbeitsfreies Einkommen in Form des Zinses zu erpressen, und die Ur-
sache für die periodischen Unterbrechungen der Zirkulation und den da-
mit verbundenen Möglichkeiten der Anhäufung müheloser Einkommen
mittels Währungsspekulationen. Aber auch der Zins selbst, so hat Gesell
herausgefunden, führt zu Konjunkturschwankungen und Wirtschaftskri-
sen. Geld und Geldzins, lehrt die anarchistische Zirkulationstheorie, sind
wesentliche Ursachen für Ausbeutung, Krisen und Kapital- und Macht-
konzentration (s. Kap. 2 u. 3). Und heute wissen wir, daß der Zins auch
ganz wesentlich zum Wirtschaftswachstum und damit indirekt zur Um-
weltzerstörung beiträgt.

Selbstverständlich ist nur der Anteil am Kreditzins arbeitsfreies Ein-
kommen, der übrig bleibt, wenn die Kreditverwaltungskosten, die Risiko-
prämie und (gegebenenfalls) die Inflationsrate abgezogen worden sind. (82)
Gesell nennt diesen Zinsanteil, dessen Höhe er mit 3 bis 4% angibt, den
"Urzins". (17)

Den logischen Beweis für seine Zins- und Kapitaltheorie hat Gesell in
der Natürlichen Wirtschaftsordnung mit seiner Robinsonade geliefert (18) (s.
Text 3). Ganz im Sinne Proudhons zeigt er dort auf, daß in einer geldlosen
Tauschwirtschaft der Gläubiger beim Verleihen von Produkten vom
Schuldner keinen (Ur-)Zins erpressen kann und daß es dort somit auch
keinen Kapitalismus und ("Freiland" vorausgesetzt; s. Kap. 8 u. 9) keine
Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft durch andere geben kann.
Wenn jemand sparen muß, um später notwendige Investitionen tätigen zu
können (z. B. im Falle Robinsons, der für drei Jahre Lebensmittel zur Ver-
fügung haben muß, weil er in dieser Zeit einen Kanal bauen will und so
lange keine Zeit hat für die Jagd und den Ackerbau), dann ist es bereits
zum Vorteil für den Kreditgeber, wenn er vom Schuldner lediglich die
Menge und Qualität an Gütern zum vereinbarten Zeitpunkt zurücker-
hält, die er diesem geliehen hatte: der Gläubiger spart dann die Durchhal-
tekosten für seine Ersparnisse, die auftreten würden, wenn er diese Güter
aufbewahren müßte. Der Schuldner andererseits braucht keine Mehrar-
beit für Zinsen zu leisten; er zahlt lediglich das zurück, was er erhalten
hat. Da er den Kredit umgehend verbraucht, wird auch der Schuldner
kaum mit Durchhaltekosten belastet. Beide ziehen also einen Vorteil aus
dem Kreditgeschäft, aber keiner beutet die Arbeitskraft des anderen aus:
Arbeitswert wird gegen gleichen Arbeitswert ausgetauscht. In diesem
"tauschgerechten" Wirtschaftskreislauf gibt es nicht nur keinen "Riegel",
der den Güteraustausch blockiert und Arbeitslosigkeit erzeugt, sondern
auch keinen den Produzenten vorenthaltenen "Mehrwert".

Um Tauschgerechtigkeit und einen ungestörten Güteraustausch sicher-
zustellen, bedarf es jedoch nicht der Abschaffung des Tauschmittels Geld.
Mit seiner qualitativen Unterscheidung von Geld einerseits und allen üb-
rigen (für den Tauschverkehr relevanten) Waren andererseits gibt Gesell
eine Begründung für die Riegel- und Ausbeutungsfunktion des Geldes,
die eine andere sozialökonomische Therapie ermöglicht, als sie Proudhon
mit seinem Tauschbank-Konzept vorgeschlagen hat: das Schwundgeld-
und Festwährungs-Konzept. Das werde ich später (Kap. 4, 5 u. 6) darstel-
len.

Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmesituationen, in denen der Ei-
gentümer von Produkten und Produktionsmitteln aus ihnen einen Son-
dergewinn, wie z. B. in Kriegs- und Krisenzeiten, bei Naturkatastro-
phen, schlechten Ernten oder in der besonderen Notlage von einzelnen
Menschen (19), herausschlagen kann. Doch dort, wo Freizügigkeit und un-
beschränkter Wettbewerb herrschen, wo keine künstlichen (heutiges
Geld, Zölle, Steuern, Subventionen, zeitlich unbeschränkter Schutz von
Erfindungen usw. ) und keine natürlichen (beschränktes Angebot des Pro-
duktions- und Gebrauchsmittels Boden und seiner Schätze und Natur-
kräfte) Monopole bestehen bzw. unvermeidliche Monopolgewinne (Bo-
denrente) sozialisiert werden und wo es keine Konjunkturkrisen gibt, ver-
schwindet die Ausbeutung der Arbeitskraft durch Zinsen, Renten, Speku-
lationsgewinne und andere Extraprofite. Auf einem geldlosen Waren- und
Kreditmarkt werfen Produkte und Dienstleistungen und von Menschen-
hand geschaffene Produktionsmittel langfristig und im Durchschnitt kei-
ne Rendite ab und sind daher (unter diesen Bedingungen) kein Kapital.
Erst mit der Einführung des Privateigentums an Grund und Boden (s.
Kap. 8) und des hortbaren Geldes - eines Tauschmittels, das gleich-
zeitig Spar- und Kreditmittel sein kann - entstanden der Geld-, Kapital-
und Bodenzins, die wesentlichen Ursachen für die Ausbeutung der
menschlichen Arbeitskraft durch einige wenige Schmarotzer und für Kon-
junkturkrisen. Gesell verurteilt also nicht das Geld in seiner nützlichen
Funktion als Tauschmittel (und Wertmaßstab), sondern jenes Geld, das als
Riegel der Zirkulation und als Mittel der Ausbeutung durch den Zins fun-
gieren kann. Er will das Geld ebensowenig abschaffen wie den Boden; er
will den Boden und die Bodenrente vergesellschaften und das Geld unter
Umlauf zwingen, es entprivatisieren und entkapitalisieren: ein "Geld oh-
ne Mehrwert" (Dieter Suhr (67)) schaffen. Das glaubt er mit Durchhalteko-
sten für Geld, mit einer Hortungsgebühr, einer Art "Geldsteuer", die als
"negativer Zins" die Geldhortung und Zinserpressung verhindert, errei-
chen zu können (dazu Näheres in den Kap. 4, 6 u. 7).

Gesells Geld-, Zins-, Zirkulations- und Bodentheorie sind der vorläufige
Endpunkt einer eigenständigen anarchistischen Wirtschaftstheorie. Wei-
terentwickelt, könnte sie vielleicht die gleiche Bedeutung für den libertä-
ren Sozialismus gewinnen, wie sie Marxens unvollständige Kapitalismus-
analyse bedauerlicherweise für den gescheiterten autoritären Staatssozia-
lismus gehabt hat, der nichts anderes bewirkt hat, als den Kapitalismus als
Staatskapitalismus zu reproduzieren. Voraussetzung ist allerdings, daß wir
begreifen, daß das Geld- und Zinsproblem und das Privateigentum an
Grund und Boden keine Lappeleien sind, die wir beim Aufbau alternati-
ver Wirtschaftsformen und im Kampf für eine neue Gesellschaft folgenlos
vernachlässigen könnten.


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