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Universität Bern

Geld, Zins und Natur
in der heutigen Marktwirtschaft
im Lichte neuerer Kritiker

Ein Versuch einer theologisch-ethischen Orientierung
über das aktuelle Geld- und Zinssystem auch in bezug auf Natur und Umwelt mit Diskussion eines modifizierten Geldsystems

 

Akzessarbeit im Fach Ethik

Begleitet durch Prof. W. Lienemann

Eingereicht bei der Evang.-theol.
Prüfungskommission des Kantons Bern

von
Peter Hiltbrand
Pfarrhaus
CH-3814 Gsteigwiler

abgeschlossen 11. Mai 1994
nachgedruckt 19. September 1998

 

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Biographischer Zugang zum Thema

1.2 Das Thema: Geld, Zins und Natur

1.2.1 Eingrenzung

1.2.2 Besondere Schwierigkeiten

1.3 Systematik

1.3.1 Fragestellungen und Ziel der Arbeit

1.3.2 Methodik

1.3.3 Aufbau der Arbeit

2 Der Kritikerpool

2.1 Silvio Gesell

2.2 Hans Christoph Binswanger

2.3 Hans Diefenbacher / Ulrich Ratsch

2.4 Ulrich Duchrow

2.5 Andere

3 Kritikpunkte am Geld- und Zinssystem

3.1 Verteilungsproblematik

3.1.1 Darstellung des Sachverhaltes

3.1.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

3.1.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

3.1.4 Fazit

3.2 Verschuldungsproblematik

3.2.1 Darstellung des Sachverhaltes

3.2.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

3.2.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

3.2.4 Fazit

3.3 Wachstumsproblematik

3.3.1 Darstellung des Sachverhaltes

3.3.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

3.3.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

3.3.4 Fazit

3.4 Umweltproblematik

3.4.1 Darstellung des Sachverhaltes

3.4.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

3.4.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

3.4.4 Fazit

3.5 Zusammenfassung

 

4 Kriterien für ein verantwortbareres Geldsystem

4.1 Das Ideal in der realen Marktwirtschaft

4.2 Natürliche Wirtschaftsordnung

4.3 Theologische Kriterien und Zielvorstellungen

4.3.1 Theologische Kriterien

4.3.2 Eigene Zielvorstellungen

4.4 Zusammenfassung

5 Ein modifiziertes Geldsystem im Kreuzfeuer

5.1 Ein modifiziertes Geldsystem nach Abschnitt 4

5.1.1 Neue Spielregeln

5.1.2 Auswirkungen, Probleme und Ansätze zur Überwindung

5.2 Mokassin-Prinzip als Test für ein modifiziertes Geldsystem

5.2.1 Position des Eigentümers

5.2.2 Position des Lohnempfängers

5.2.3 Position der Natur

5.3 Verantwortung und Möglichkeiten der Christen

6 Schlussbetrachtungen

6.1 Offene Fragen – Rückblick und Ausblick

6.2 Persönlicher Lernprozess

6.3 Drei Texte zum Ausklang

6.3.1 Nach Psalm 15, 1-5

6.3.2 Nach Psalm 24, 1-6

6.3.3 Über die Zeit, das Geld und die Börse

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Biographischer Zugang zum Thema

In meiner Jugendzeit beschäftigten mich die grossen Fragen nach der Gerechtigkeit, nach den Gründen von Kriegen und nach den Zukunftsperspektiven der Welt sehr. Als ich realisierte, dass die Missstände und Probleme dieser Welt auch etwas mit mir zu tun haben, suchte ich nach Lösungen und Antworten für meine Fragen. Von politischen und religiösen Lösungsversprechen, vom Kommunismus bis zur Scientology probierte ich vieles aus, um Grundlagen zu finden, welche ein gerechteres und zukunftsgerichteteres Leben auf der Welt ermöglichen. Schliesslich habe ich eine ganz persönliche Antwort im Glauben an Jesus Christus gefunden.

Doch genügt es, für sich selbst zu leben? Genügt es, einfach die Hoffnung auf das Himmelreich zu haben und nebenher leiden viele Millionen Menschen auf dieser Erde nicht zuletzt unter einem ungerechten Wirtschaftssystem? Weder die grossen Probleme der Welt noch die ganz gewöhnlichen Schwierigkeiten in den zwischenmenschlichen Beziehungen werden mit einem Rückzug auf das persönliche Heil automatisch gelöst. Da ist harte Arbeit erforderlich sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich, wenn nach dem rechten Handeln gefragt wird. Eben damit beschäftigt sich die Ethik.

Mit der Zeit reifte in mir die Erkenntnis, dass die wirtschaftlichen Gegebenheiten einen grossen Einfluss auf das soziale Verhalten von Einzelpersonen oder ganzen Nationen haben. Dabei spielt das Geld- und Zinssystem eine bestimmende Rolle, weil letztlich alle wirtschaftlichen Aktivitäten über Geld und die damit verbundenen Spielregeln abgewickelt werden. Entscheidend ist auch die jeweilige wirtschaftliche Stellung der beteiligten Personen. Je nach Standort im Wirtschaftssystem werden die Vor- und Nachteile unserer Wirtschaftsordnung entsprechend unterschiedlich empfunden und beurteilt.

Verschiedenste wirtschaftliche Positionen habe ich selber hautnah erlebt. Mein Vater war Landwirt und im Nebenerwerb selbständiger Dachdecker; in beiden Arbeitszweigen habe ich mitgearbeitet. Ich erlebte, wie mein Vater vom Pächter durch Erbschaft zu einem Land- und Hauseigentümer wurde und welche Veränderungen sich daraus ergeben haben. Als Lehrling und Arbeiter in einem Industriebetrieb lernte ich die Wirtschaft als Arbeitnehmer kennen. Als Kassier einer Kirchgemeinde waren Anlageprobleme zu lösen, und als Amtsvormund bekam ich einen Augenschein über soziale Probleme, wie beispielsweise die Schuldenproblematik. Von daher habe ich Verständnis für die verschiedensten Lebenssituationen und wirtschaftlichen Positionen.

Heute versuche ich, meinen eigenen Umgang mit Geld kritisch zu reflektieren. Das wird im Kontext von zunehmend komplexer werdenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Rahmenbedingungen immer schwieriger. Darum empfinde ich es als eine dringende Notwendigkeit, sich zuerst einmal mit theologischen und ethischen Fragestellungen über die Problematik des aktuellen Geld- und Zinssystems zu orientieren, ohne auf politische Präferenzen Rücksicht zu nehmen. Dabei ist es mir wichtig, mindestens die Richtung in feinen Zügen zu skizzieren, in der mögliche Lösungen zu finden sind.

 

1.2 Das Thema: Geld, Zins und Natur

1.2.1 Eingrenzung

Eine historische Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung des heutigen Geld- und Zinssystems wird ganz weggelassen. Das schliesst aber die Einsicht nicht aus, dass dieses System geschichtlich gewachsen ist. Darum kann und muss es auch hinterfragt werden. Die Funktionsweise des heutigen Geldsystems entspricht nicht einfach einem Naturgesetz. Dieses Geldsystem ist letztlich von Menschen bewusst oder unbewusst entwickelt und gestaltet worden. Darum ist es erlaubt und notwendig, die empirisch festgestellten Problembereiche unseres Geldsystems auf deren Ursachen, Wirkungen und Alternativen hin zu durchleuchten.

Ebenso lasse ich die Aufarbeitung der biblischen Hintergründe weg und mache nicht den Versuch, die spezifischen Probleme, Fragestellungen und Lösungsansätze der Bibel direkt auf die heutige Situation zu transformieren. Ich nehme lediglich einige theologische Ansätze auf, die für unser Thema Kriterien für einen verantwortbareren Umgang mit Geld und Zins bringen.

In der Auseinandersetzung mit Geld, Zins und Natur beschränke ich mich auf den Kontext der Marktwirtschaft und mache keinen Bezug zu sozialistischen oder anderen Wirtschaftssystemen. Das ist gewiss eine Vereinfachung, doch sind nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die meisten Staaten der Ansicht, dass sie letztlich ein marktwirtschaftliches System haben. Es ist in bezug auf Geld, Zins und Natur kein prinzipieller Unterschied zu einer Planwirtschaft auszumachen. Darum erscheint diese Beschränkung zulässig.

Diese Arbeit hat nicht den Anspruch, wirtschaftswissenschaftlich zu sein. Ich erlaube mir darum, beim Gebrauch von Zahlenmaterial auch Sekundärquellen zu benützen. Jedoch wird die prinzipielle Richtigkeit der Aussagen angestrebt, um eine theologisch-ethische Orientierung über das aktuelle Geld- und Zinssystem zu ermöglichen.

 

1.2.2 Besondere Schwierigkeiten

Nachdem die Thematik eingegrenzt ist, zeigen sich weitere Schwierigkeiten, die nur in einer weitaus umfangreicheren Abhandlung in Ansätzen lösbar wären. Dort, wo sich die Ökonomen streiten, die Zielvorstellungen und Interessenstandpunkte derart divergieren, ist es schwer oder gar unmöglich, eine für alle überzeugende Darstellung und Beurteilung des Themas zu finden.

Die Beschreibung der Standpunkte innerhalb der aktuellen Ökonomie muss etwas farblos bleiben. Ich orientiere mich dabei an normalen Lehrbuchdarstellungen ohne Differenzierung spezieller Wirtschaftstheorien. Auch untersuche ich die Probleme nicht gesondert nach betriebswirtschaftlichen, nationalökonomischen oder weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern übernehme die Betrachtungsweise der jeweils verwendeten Autoren. Die Gefahr dabei ist, dass Probleme auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verglichen werden. Das beinhaltet aber auch die Chance, die grossen Zusammenhänge und die Auswirkungen des herrschenden Geldsystems in einer grösseren Tiefenschärfe trotz der exemplarischen Darstellung zur Geltung zu bringen.

Jeder Autor hat seine eigene Terminologie, die nicht immer kompatibel ist mit den anderen. Beispielsweise versteht ein Autor unter Kapital die Finanzmittel und ein anderer die Maschinen, Fabriken und Anlagen, mit denen Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen erzeugt werden. Ebenso schwanken die Bezeichnungen für die ärmeren und reicheren Länder der Erde sehr.

Die Problembereiche (Verschuldung, Wachstum, Umwelt und Verteilung) werden in dieser Arbeit fast ausschliesslich von der Geldseite her betrachtet. Das ergibt eine gewisse Einseitigkeit in der Betrachtungsweise, die aber die Existenz von anderen Ursachen für die Problembereiche weder leugnet noch verharmlost.

Eine gewisse Ausweitung der monetären Sichtweise bringt der Einbezug der menschlichen Arbeit und des Bodens, bzw. der Natur in bezug auf das Geldsystem. Auf diese Zusammenhänge wird an geeigneter Stelle immer wieder verwiesen.

 

1.3 Systematik

1.3.1 Fragestellungen und Ziel der Arbeit

Im Normalfall wird das heutige Geld- und Zinssystem kaum in Frage gestellt, und nur sehr selten hat jemand ein ungutes Gefühl, wenn er für sein Geld Zinsen bekommt. Immer wieder kommt es zu Schuldenkrisen, weil die Gläubiger die Kredite nicht mehr bedienen können. Wir erleben wirtschaftliche Schwierigkeiten, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Die Umweltschäden und der Ressourcenverschleiss sind nur schwer zu kontrollieren, wobei die Schäden vielfach nicht die Verursacher zu tragen haben. Nicht zuletzt nehmen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte sowohl regional als auch global ständig zu. Was sind die Ursachen dieser Entwicklungen?

Noch nie waren so viele Menschen direkt abhängig von Lohnarbeit, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Konvertierung von Arbeit und Gütern erfolgt über Geld. Darum ist es nicht gleichgültig, wie das Geldsystem aufgebaut ist. Viele Menschen haben nur eine sehr unpräzise Vorstellung vom Geld, seinen Funktionen und Auswirkungen. Irgendwie ist es eine Art Heiligtum, das nicht hinterfragt werden darf. Darum stelle ich folgende Fragen, deren Beantwortung das Ziel der vorliegenden Arbeit ist.

  1. Welches sind die Hauptprobleme im Zusammenhang mit Geld, Zins und Natur heute?
  2. Welchen Anteil an den Ursachen der verschiedenen Problembereiche hat das aktuelle Geld- und Zinssystem?
  3. Welche Kriterien sollte ein ethisch verantwortbareres Geldsystem erfüllen?
  4. Wie müsste das aktuelle Geld- und Zinssystem modifiziert werden, damit die Kriterien für ein ethisch verantwortbareres Geldsystem besser erfüllt und damit die negativen Auswirkungen minimiert werden?
  5. Wie sehen dann die Wirkungen auf verschiedene Personengruppen aus, und wie könnten allfällige Widerstände gegen ein modifiziertes Geldsystem überwunden werden?
  6. Was können Christen tun, selbst wenn sich am Geld- und Zinssystem nichts ändert?

In diesem Fragenkatalog wird nach einem besseren Zustand des Wirtschaftssystems gefragt und gestrebt. Damit wird ein klares Werturteil ausgesprochen, welches besagt, dass der gegenwärtige Zustand nicht optimal ist und besser sein könnte. Die Evidenz dieses Werturteils und die Möglichkeit eines modifizierten Geldsystems sollen in dieser Arbeit geprüft werden. Das Ziel ist es, eine theologisch-ethische Orientierung über das Geld- und Zinssystem in der heutigen Marktwirtschaft zu erarbeiten, ohne den Bezug zur Natur zu vernachlässigen. Es ist meine feste Hoffnung, dass diese Orientierung hilfreich ist für das Verständnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen und für die Lebenspraxis als Christ.

 

1.3.2 Methodik

Nach den Fragestellungen muss eine geeignete Methodik gewählt werden, damit die gestellten Fragen im Rahmen der Möglichkeiten dieser Arbeit beantwortet werden können. Dazu erscheinen die folgenden methodischen Schritte sinnvoll:

  1. Der eigentliche Gegenstand des Themas, das Geld- und Zinssystem, wird nicht systematisch beschrieben, aufgeschlüsselt oder definiert. Nur im Zusammenhang mit den Kritikpunkten werden einzelne Aspekte des Geld- und Zinssystems näher betrachtet.
  2. Um das aktuelle Geld- und Zinssystem kritisch zu beleuchten, werden verschiedene Kritiker zusammengefasst zu einem Kritikerpool. Die Auswahl erfolgte nach Hinweisen von Prof. W. Lienemann. Es sollten unterschiedliche Standpunkte vorhanden sein. Der Kritikerpool kann in einzelnen Bereichen noch durch zusätzliche Autoren ergänzt werden.
  3. Das aktuelle Geld- und Zinssystem soll auf seine Hauptkritikpunkte hin untersucht werden. Es werden diejenigen Kritikpunkte aufgenommen, welche vom Kritikerpool mehrfach aufgeführt werden. Eine Beschränkung auf wenige Punkte erscheint sinnvoll.
  4. Im nächsten Schritt erfolgt die Konfrontation, d.h. die Diskussion und Beurteilung der Kritikpunkte durch eine kurze Darstellung des Sachverhaltes mit anschliessender Beurteilung durch die aktuelle Ökonomie und den Kritikerpool.
  5. Danach sollen ethische Kriterien für ein verantwortbareres Geldsystem aufgeführt werden. Sie werden der verwendeten Literatur entnommen und ergänzt durch eigene Vorstellungen.
  6. Im letzten Schritt wird ein hypothetisches und nach den erarbeiteten Kriterien modifiziertes Geldsystem entworfen. Danach wird es auf seine Wirkungen, Plausibilität und Realisierbarkeit hin getestet. Das geschieht mit Hilfe des Mokassin-Prinzips, das im Abschnitt 5.2 erklärt wird.

1.3.3 Aufbau der Arbeit

Aus den Fragestellungen und der gewählten Methodik ergibt sich eigentlich schon der Aufbau der Arbeit, der auch im detaillierten Inhaltsverzeichnis ersichtlich ist. Bis zum Abschnitt 2 werden die Voraussetzungen geschaffen, damit vier Hauptkritikpunkte am aktuellen Geld- und Zinssystem im Abschnitt 3 untersucht werden können.

Im Abschnitt 4 werden einige Kriterien zusammengetragen, nach denen ein verantwortbareres Geldsystem funktionieren sollte.

Im Abschnitt 5 wird dann ein hypothetisches, nach den eben erarbeiteten Kriterien modifiziertes Geldsystem in Ansätzen skizziert und auf seine Wirkungen und Grenzen hin geprüft.

2 Der Kritikerpool

Die Auswahl und die Funktion des Kritikerpools wurde bereits im Abschnitt 1.3.2 behandelt und erläutert. Hier sollen nur die Eckdaten der jeweiligen Autoren genannt werden mit einer kurzen Charakterisierung oder Zusammenfassung des jeweils verwendeten Buches. Es ist hier nicht möglich, die Autoren in ihrem gesamten Wirken entsprechend zu würdigen.

 

2.1 Silvio Gesell

Silvio Gesell lebte von 1862 bis 1930, also bis kurz nach der Wirtschaftskrise von 1929. Er hat zwischen 1891 und 1926 über 30 Schriften verfasst, die sich im weiteren Sinn mit Ökonomie befassen. Das hier verwendete Buch, "Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld", erschien erstmals 1916.

Seine Analyse des aktuellen Zustandes kann durch eine Gleichung ausgedrückt werden:

Lohnschatz = Preis des Arbeitserzeugnisses minus Kapitalzins minus Bodenrente

Der Lohn soll genau dem Wert des Arbeitserzeugnisses entsprechen und nicht durch Kapitalzinsen und Bodenrenten verkleinert werden. Sein Ziel ist es, dass das gesamte Arbeitserzeugnis in den Lohnschatz fällt. Dazu sind nach Gesell gleichzeitig zwei Dinge erforderlich:

  1. Die Bodenrente muss anders verteilt werden. Der Staat kauft den im Privateigentum befindlichen Boden über Staatsschuldscheine auf, und das so entstandene Freiland verpachtet er langfristig nach Angebot und Nachfrage. Mit den Pachterträgen werden vorerst die Schuldscheine verzinst und mit der Zeit abbezahlt, was unter der Bedingung von Punkt 2. möglich erscheint. Wenn dann der Kaufpreis abbezahlt ist, können die Pachterträge wieder auf alle pro Kopf verteilt werden. Der Grundgedanke dahinter ist, dass der Boden das Eigentum des Volkes ist und nicht Gegenstand von Streitigkeiten und Kriegen sein darf.
  2. Der Kapitalzins muss minimiert werden nicht durch Verbote, sondern durch ein neues Geld, das sogenannte Freigeld. Auf diesem Freigeld wird je nach Liquidität ein bestimmter Negativzins bzw. eine Nutzungsgebühr erhoben. Das durch den Negativzins dem Geldkreislauf entzogene Geld kann zur Steuerung der Geldmenge mit dem Ziel der Preisstabilität wieder sozial (und ökologisch) sinnvoll eingesetzt werden. Der Grundgedanke dahinter ist, dass das Geld wieder zu einem reinen Tauschmittel für Waren und Arbeit wird. Weil die Waren über die Zeit an Wert verlieren oder Lagerkosten verursachen, hat der Geldeigentümer heute einen Vorteil gegenüber dem Warenbesitzer. Er kann daher eine Gebühr für den Austausch oder die Weitergabe des Geldes verlangen, welche dem Zins entspricht. Genau diese Gebühr will Gesell nach seinen Vorschlägen durch den Negativzins beseitigen, damit das Geld als Tauschmittel ohne Zins zur Verfügung steht.

Man kann Silvio Gesell alles Mögliche vorwerfen. Ja, vielleicht ist er naiv oder idealistisch. Aber ist es sinnvoll, seine Theorien einfach in Bausch und Bogen zu verdammen, nur weil die Realisierbarkeit als unmöglich erscheint und die Widerstände als unüberwindbar gelten? Ich denke, dass es unklug ist, wenn man sich den Rahmen der Lösungsmöglichkeiten von aktuellen Problemen zu eng steckt. Vielfach liegen wirkliche Lösungsmöglichkeiten gerade ausserhalb der bisherigen Denkschemen. Wenn die bessere Verteilung der Bodenrente und die Beseitigung der Zinsspirale als wünschenswertes Ziel erscheinen, dann ist es unabdingbar notwendig, seine Analysen und Ansätze, auch in der Konfrontation mit modernen Problembereichen, auf ihre Wirkungen und Lösungsmöglichkeiten hin zu testen.

Als aktuelle Ergänzung verwende ich das Buch von Margrit Kennedy, "Geld ohne Zinsen und Inflation", das 1991 in deutscher Sprache erschienen ist.

 

2.2 Hans Christoph Binswanger

Der international anerkannte Ökonom, Hans Christoph Binswanger (Jahrgang 1929), ist Professor für Volkswirtschaft an der Hochschule St. Gallen. Eines seiner Bücher, "Geld und Natur, das wirtschaftliche Wachstum im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie", erschien 1991. Ich verwende vor allem den ersten Teil des Buches als kritische Stimme. Darin beschreibt er die Mechanismen des Wirtschaftswachstums, die in Konflikt geraten mit den ökologischen Wachstumsgrenzen. Seine Analysen gipfeln im Dilemma, dass entweder die Wirtschaft wächst und die Natur schrumpft, oder dass die Natur bewahrt wird und die Wirtschaft schrumpft.

 

2.3 Hans Diefenbacher / Ulrich Ratsch

Hans Diefenbacher (Jahrgang 1954) hat Volkswirtschaft studiert und Ulrich Ratsch (Jahrgang 1943) ist Physiker. Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg mit den Arbeitsgebieten im Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Entwicklung.

Ihr Buch, das hier verwendet wird, trägt den Titel "Verelendung durch Naturzerstörung, von den politischen Grenzen der Wissenschaft" und ist 1992 erschienen. Sie beschreiben die begrenzte Aussagekraft der ökonomischen Wissenschaft und kritisieren, dass der Boden und die Natur in der aktuellen Ökonomie aus dem Kreis der Produktionsfaktoren verbannt wurde.

Sie kritisieren die bisherige Berechnung des Bruttosozialproduktes BSP, welche sich nur an monetären Interessen orientiert, und propagieren eine ökologisch und sozial korrigierte Berechnung für das Sozialprodukt, um den wirklichen Erfolg der Wirtschaft zu messen. Sie thematisieren die Probleme Armut, Reichtum, Bevölkerungswachstum und Verschuldung auch im Zusammenhang mit dem Ressourcenverbrauch.

 

2.4 Ulrich Duchrow

Ulrich Duchrow ist Professor für Systematische Theologie mit den Schwerpunkten Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Universität Heidelberg. Er ist Regionalbeauftragter für Mission und Ökumene der Evangelischen Landeskirche in Baden. Sein 1986 veröffentlichtes Buch, "Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche?", dient auch als Grundlage dieser Arbeit. Ulrich Duchrow macht in seinem Buch sehr engagierte Aussagen wie etwa folgende:

Der Dämon des Profits Weniger auf Kosten der Verarmung Vieler hat das gesamte Weltwirtschaftssystem total erfasst - mit allen Nebenwirkungen von Diskriminierung und Unterdrückung von Menschenrechten. Über 30 Mill. Hungertote pro Jahr als systematische Folge der heutigen weltwirtschaftlichen Mechanismen fordern von uns ein ebenso klares Bekenntnis wie 6 Millionen getötete Juden in Nazideutschland und 20 Mill. entrechtete in Südafrika.

Er möchte das Weltwirtschaftssystem zu einem Bekenntnisfall der Kirche und der Christen machen analog zu den Barmer Thesen von 1934. Er beschreibt auch einige Ansätze zur Überwindung der klassischen und neoklassischen Ökonomie.

2.5 Andere

Zur Beschreibung der aktuellen Ökonomie und der Problembereiche verwende ich hauptsächlich die "Volkswirtschaftslehre" von Rolf Dubs und das "Wirtschaftsbuch Schweiz" von Rudolf H. Strahm, sowie das soeben erschienene Folgewerk des Weltbestsellers, "Die Grenzen des Wachstums", von Dennis L. Meadows und seinen Mitautoren.

Zum einen oder anderen Themenbereich verwende ich noch weitere Literatur, die ich als Ergänzung und Abrundung der Aussagen verwende. Für die theologischen Aussagen beziehe ich mich auf die Wirtschaftsethik II von Arthur Rich und auf ein Studiendokument des ÖRK.

Ich denke, dass diese Hinweise genügen, um einen kurzen Überblick über die verwendete Literatur zu geben. Wir dürfen gespannt sein, was die Befragung der Autoren in bezug auf das Geld- und Zinssystem in der heutigen Marktwirtschaft für Resultate ergibt und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können.

3 Kritikpunkte am Geld- und Zinssystem

Aus der Lektüre der Kritiker kristallisieren sich hauptsächlich vier Kritikpunkte heraus. Das sind die Verteilungs-, die Verschuldungs-, die Wachstums- und die Umweltproblematik. Diese Problembereiche sind sehr eng miteinander verknüpft. Folgende Grafik zeigt die möglichen Verbindungen und gegenseitigen Abhängigkeiten.

Die ungleiche Verteilung der Geldmittel verschärft das Verschuldungsproblem, welches wiederum negative Auswirkungen auf die Umweltverschmutzung und den Ressourcenverbrauch hat. Rein quantitatives Wachstum verursacht einen Raubbau an der Umwelt und verschärft die Verteilungsungerechtigkeit. Ungerechte Verteilung von Land und Finanzmitteln fördert die Umweltbelastung in reichen und armen Ländern. Eine hohe Verschuldung treibt notwendigerweise das Wachstum an, damit die Schulden verzinst werden können. Wirtschaftswachstum wird vielfach über Schulden finanziert.

Diese allgemeinen Aussagen sind noch keine festen Werturteile. Sie zeigen aber, dass zur adäquaten Beschreibung der Zusammenhänge eigentlich ein Beschreibungsnetz oder ein Hologramm erforderlich wäre, was aber in einer linear abgefassten Arbeit nur schwer möglich ist. Also muss um der vermeintlichen Klarheit willen auseinandergenommen werden, was eigentlich zusammen gehört. Wir wollen aber festhalten, dass die in diesem Abschnitt behandelten Kritikpunkte am aktuellen Geld- und Zinssystem als Ganzes betrachtet werden müssen, weil sich die verschiedenen Aussagen überschneiden.

Die Kritikpunkte können nur exemplarisch eher im Stil einer Zusammenstellung dargestellt werden. Eine umfassende Darstellung würde den Rahmen gänzlich sprengen.

Bei der Befragung des Kritikerpools nehme ich absichtlich die Kritik von Silvio Gesell zum Ausgangspunkt. Diese Ausgangskritik und sein Lösungsansatz werden dann durch die anderen Kritiker korrigiert, ergänzt und aktualisiert. Daraus ergibt sich die Grundlage für das hypothetische, modifizierte Geld- und Wirtschaftssystem.

3.1 Verteilungsproblematik

3.1.1 Darstellung des Sachverhaltes

Zunächst ist zu klären, was denn eigentlich zu verteilen ist. Was zu verteilen ist, kann mit dem Oberbegriff Nutzen ausgedrückt werden. Der Nutzen bezieht sich einerseits auf die Rendite von Finanzkapital; dabei kann das Finanzkapital in irgendeiner Form vorliegen wie z.B. Geldmittel, Aktien, Anlagen in Liegenschaften und im speziellen auch in Boden. Andererseits bezieht sich der Nutzen, der zur Verteilung ansteht, auch auf den Lohn für geleistete Arbeit.

Ebenso wie der Nutzen müssen aber auch die Lasten verteilt werden. Oder anders gefragt: Woher kommt der Nutzen, woraus ist er entstanden, und wie wird er verteilt? Für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen sind immer neben der Lohnarbeit auch die Natur, die Umwelt und die Ressourcen unsere Erde beteiligt. Ohne Naturgebrauch oder Naturverbrauch und ohne Lohnarbeit ist heute keine Produktion im industriell oder monetär erfassbaren Sinn mehr möglich.

So zeigt es sich, dass der Nutzen aus der Natur in erster Linie dem Eigentümer von Boden und Bodenschätzen zufliesst. Indirekt über den Lohn gelangt dieser Nutzen auch an den Lohnempfänger, wenn auch in geringerem Mass. Die einzige Partei, die leer ausgeht, ist die Natur, welche selten einen wirklichen Nutzen von den in ihr lebenden Menschen hat. Dieser Sachverhalt wird dann im Abschnitt 3.4 noch verdeutlicht und im Abschnitt 5.2.3 versuche ich der Natur ein Gesicht zu geben, ohne sie gleich zu vergöttlichen oder absolut zu setzen. So kommt es immer auf den Zusammenhang, auf die Gesamtschau der Dinge an.

Folgende Grafik veranschaulicht, wie der Nutzen normalerweise zwischen Natur, Lohn und Eigentum ausgetauscht bzw. verteilt wird. Die Dicke der Pfeile deutet die Menge des jeweiligen Nutzens an, der verschoben wird.

Diese Betrachtungsweise bezieht sich ganz auf den Austausch von Geld und Ressourcen zwischen den drei Bereichen Eigentum, Lohn und Natur. Die Existenz, die Funktion und die Rolle des Schöpfers dieser Erde wird einfach ignoriert oder ausgeklammert. Wem gegenüber sind die beteiligten Subjekte verantwortlich? Oder anders gefragt, wem gehört die Natur, wer darf daraus Nutzen ziehen, und wer ist für die Natur verantwortlich? Die Frage nach der Verantwortlichkeit ist m.E. sehr zentral. Im Abschnitt 4.3.2 versuche ich zu zeigen, dass sowohl diejenigen, die vom Eigentum leben, als auch die Lohnempfänger gegenüber der Natur und dahinter auch gegenüber Gott verantwortlich sind.

Doch nun wieder zur Verteilungsproblematik im engeren Sinn. Es geht hier ganz allgemein um die Verteilung des Nutzens. Der Nutzen beinhaltet das Eigentumsrecht auf Einkommen und Vermögen in jeglicher Form und von beliebiger Herkunft. Der Boden und grösstenteils auch die Ressourcen bilden einen Teil des Vermögens.

Nun, wie sieht die Einkommensverteilung aus? Dazu einige Zahlen.

Die durchschnittlichen jährlichen pro Kopf Einkommen unterscheiden sich weltweit:

Pro-Kopf-Einkommen (1977) in US-$ [pro Jahr]

Bevölkerung
(1977)

Länder
(Auswahl)

Die Reichen
über 6’000

434 Mio.

Schweiz, USA, BRD, Frankreich, Kanada [...]

Die Wohlhabenden
3’000 bis 6’000

602 Mio.

Japan, England, Italien, Spanien [...]

Der Mittelstand
600 bis 3’000

660 Mio.

Brasilien, Mexiko, Türkei, Argentinien [...]

Die Armen
360 bis 600

1089 Mio.

China, Nigeria, Philippinen, Marokko [...]

Die Ärmsten
unter 360

1310 Mio.

Indien, Bangladesch, Indonesien, Pakistan, Ägypten, Äthiopien [...]

Diese Zahlen stammen aus dem Jahre 1977. Das bedeutet, dass die durchschnittlichen Einkommen bis heute etwa um den Faktor 2 erhöht werden müssten. Dabei ist der durchschnittliche Einkommensunterschied von den Ärmsten zu den Reichsten mit ca. Faktor 20 tendenziell nicht geringer geworden. Im Gegensatz dazu hat die Bevölkerung in den armen und ärmsten Ländern stärker zugenommen als in den reichen, was die Situation auch nicht verbessert.

Die Einkommen unterscheiden sich auch innerhalb der Länder: Folgende Tabelle zeigt das Verhältnis der Einkommen vom reichsten Fünftel zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung in verschiedenen Ländern für das Jahr 1986.

Land

Verhältnis der Einkommen reichste zu ärmste 20% der Bevölkerung

Bundesrepublik

5,0 : 1

Schweden

5,6 : 1

Schweiz

5,7 : 1

USA

7,5 : 1

Frankreich

8,6 : 1

Kenia

23,0 : 1

Brasilien

33,0 : 1

Die Einkommensverteilung nach dem Steuerabzug zeigt in der Schweiz folgendes Bild:

Noch deutlicher unterscheiden sich die Vermögen in der Schweiz:

Die Einkommens- und Vermögensverteilung ist in den ärmeren Ländern eher noch krasser. Weiter unterscheiden sich die Einkommen noch

Diese kurzen Hinweise zeigen eindrücklich, wie die Unterschiede national schon beträchtlich sind, aber international betrachtet werden sie geradezu unerträglich. Doch was sagen schon Durchschnittswerte aus? Auf die Einzelpersonen bezogen können die Differenzen noch viel gravierender sein.

 

3.1.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

Nach der allgemeinen Auffassung kann nur verteilt werden, was vorher erarbeitet wurde. Ein Produktivitätszuwachs sollte hälftig auf die Kapitalerträge und Löhne verteilt werden. Wenn das in der Vergangenheit tatsächlich der Fall gewesen wäre, dann würden die Einkommens- und Vermögensunterschiede nicht so stark ausfallen. Zwischen 1982 und 1989 sind in der Schweiz die Einkommen der Arbeitnehmer um 45% gestiegen, die Unternehmergewinne um 90%, die Dividenden der Aktionäre um 80% und der Gesamtwert der Schweizer Aktien (Börsenkapitalisierung) stieg in dieser Zeit von 77 auf 264 Milliarden Franken, also um 343%.

Akzeptiert wird auch, dass der Staat eine gewisse, meist umkämpfte Umverteilung von den hohen zu den niedrigen Einkommen über die progressiven Steuern vornimmt. Hohe Einkommen werden gerechtfertigt, weil sie auch entsprechende Investitionen ermöglichen, die wiederum die Wirtschaft positiv beeinflussen. Es ist dabei m.E. nicht einsichtig, dass nur hohe Einkommen verzinsliche Investitionen tätigen sollen und können. Wenn die Einkommen besser verteilt wären, könnte der Normalbürger sicher ebensogut sparen und investieren.

Der Zins wird heute durch verschiedene Theorien gerechtfertigt:

Diese Theorien haben m.E. einen gewissen Erklärungswert, wenn es um kleine Geldbeträge geht. Aber sind solche Theorien noch ethisch verantwortbar, wenn es um Millionenbeträge geht, die im Eigentum von einzelnen Personen sind?

Allgemein anerkannt wird auch, dass die reicheren Nationen einen gewissen Prozentsatz des Sozialproduktes BSP für die Entwicklungshilfe einsetzen sollen, um die grossen Gegensätze unter den Ländern zu mildern. Im Jahr 1989 leistete die Schweiz öffentliche Entwicklungshilfe von 878 Millionen Franken, was 0,31% des BSP entspricht. Dieses Geld löste Zahlungen für Waren, Dienstleistungen und Entwicklungsexpertenlöhne von 907 Millionen Franken in der Schweiz aus! Der grösste Teil der Entwicklungshilfe wird also in den Industrieländern selbst ausgegeben. Öffentliche Entwicklungshilfe wird so zur Wirtschaftsförderung im eigenen Land.

Doch wollen wir einmal den Kritikerpool befragen und nachvollziehen, wie er die Verteilungsproblematik beurteilt.

3.1.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

In der einleitenden Beschreibung im Abschnitt 2.1 wurde festgestellt, dass Silvio Gesell den gegenwärtigen Zustand des Finanzsystems in bezug auf den Lohn beurteilt. Damit wird seine Zielrichtung und sein Anliegen deutlich:

Das ganze Arbeitserzeugnis ohne irgend welchen Abzug für Grundrenten und Kapitalzins soll in den Lohnschatz ausgeschüttet und restlos unter die Schaffenden verteilt werden.

Diese Aussage kann man zusammenfassend auf folgende Gleichung bringen, welche die Verteilungsproblematik zwischen Lohn, Kapitalzins und Bodenrente veranschaulicht.

Lohnschatz = Preis des Arbeitserzeugnisses minus Kapitalzins minus Bodenrente

Sein Anliegen ist es also, dass der Lohnschatz nicht durch Kapitalzins und Bodenrente verkleinert wird. Was die Bodenrente und damit den Gebrauch und die Verteilung der Naturgüter betrifft, werde ich bei der Behandlung der Umweltproblematik im Abschnitt 3.4 weiter vertiefen.

Silvio Gesell bestreitet also die Legitimität des Kapitalzinses als Einkommen, das nicht aus Arbeit stammt. Dass durch die Zinslasten tatsächlich eine massive Umverteilung stattfindet, möchte ich durch folgende Grafik illustrieren:

Diese Zahlen entsprechen dem Stand von 1982 in der BRD. Jede Haushaltsgruppe entspricht je 2.5 Mio. Haushalten. Das Total der Negativsalden entspricht dem Total der Positivsalden. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass per Saldo die ärmeren 90% der Haushalte insgesamt über 85 Mia. DM im Jahr 1982 an die reicheren 10% der Haushalte für Zinsen bezahlt haben. Diese Zahlen stimmen unter der Annahme, dass in einem durchschnittlichen Preis und damit auch in den Gesamtausgaben eines Haushaltes ca. 30% Kapitalkosten enthalten sind. Weitere Hintergründe werden dazu im Abschnitt 3.2.3 im Zusammenhang mit der Verschuldung besprochen. Weil die Vermögen schneller wachsen als die Lohneinkommen, nimmt die Umverteilung von unten nach oben ständig zu (vgl. mit Abschnitt 3.1.2).

Welche Gründe führt Silvio Gesell gegen das heutige Geld- und Zinssystem auf? Die eigentliche Funktion, die das Geld haben sollte, ist die Vermittlung des Warentausches. Das Geld sollte ein reines Tauschmittel sein für Arbeit gegen Waren und umgekehrt. Dabei ist der eigentliche Geldstoff unwichtig, weil das Geld ja nicht gegen eine garantierte Goldmenge eingetauscht werden kann. Nach Gesell wird das Geld heute nur noch gegen Zinsen weitergegeben. Damit wird der Warentausch mit einer Abgabe belastet. Diese Abgabe entspricht dem Zins und das nennt er Ausbeutung. Wer Geld hat, soll lediglich ein Anrecht darauf haben, dem Geldwert entsprechende Waren zu kaufen und nicht mehr. Er lehnt den Zins als private Besteuerung des Warentausches rigoros ab.

Als weitere negative Auswirkungen des gegenwärtigen Geldsystems beschreibt er die immer wiederkehrenden Konjunkturzyklen und Wirtschaftskrisen. Diese sind bedingt durch positive Rückkopplungen, welche keineswegs als "positiv" im Sinne von "gut" zu beurteilen sind. Solche positiven Rückkopplungen sind schwer zu kontrollieren, weil die resultierende Grösse wieder "positiv" auf die Anfangsgrösse einwirkt. Er beschreibt das am Beispiel von Angebot und Nachfrage bei steigenden oder fallenden Preisen. Wenn die Preise steigen, ist die Nachfrage gross und die Preise steigen noch mehr; es entsteht ein Gütermangel bzw. ein Nachfrageüberhang. Wenn die Preise tendenziell sinken, dann verkleinert sich die Nachfrage, und die Preise sinken noch mehr; es entsteht eine Absatzkrise.

Als weiteres Beispiel möchte ich hier die Beobachtung anführen, dass das Zinsniveau über den Zeitraum der letzten 40 Jahre korreliert mit den Arbeitslosenzahlen. Auf den Zeitpunkt mit den höchsten Zinssätzen folgt mit zwei bis drei Jahren Verzögerung der Zeitpunkt mit den höchsten Arbeitslosenzahlen. Sobald die Zinssätze auf dem Höhepunkt sind und zu fallen beginnen, steigt die Arbeitslosigkeit noch weitere zwei bis drei Jahre, bis auch diese zu sinken beginnt. Auf solche Zyklen und Rückkopplungen komme ich noch einmal im Abschnitt 3.2 im Zusammenhang mit der Verschuldungsproblematik zu sprechen.

Ein Wirtschaftssystem sollte natürlicherweise negative Rückkopplungen aufweisen, die das System stabilisieren. Gesell möchte also ein anderes Geld, das er im Ansatz folgendermassen beschreibt:

Geld, das wie eine Zeitung veraltet, wie Kartoffeln fault, wie Eisen rostet, wie Äther sich verflüchtigt, kann allein sich als Tauschmittel von Kartoffeln, Zeitungen, Eisen und Äther bewähren. Denn solches Geld wird weder vom Käufer noch vom Verkäufer den Waren vorgezogen. Man gibt dann nur noch die eigene Ware gegen Geld her, weil man das Geld als Tauschmittel braucht, nicht, weil man vom Besitz des Geldes einen Vorteil erwartet.

Auf einen kurzen Nenner gebracht beinhaltet sein Lösungsansatz, dass die Geldwertcharakteristik an die Wertcharakteristik von Waren angepasst wird. Nach seinem Vorschlag wird dies durch die gewaltlose und zwanglose Einführung von Freigeld erreicht. Das Freigeld verliert genau wie die Waren jährlich etwa 5% an Wert, was einem Negativzins entspricht. Dieser Prozentsatz kann entsprechend dem durchschnittlichen Wertverlust der Waren angepasst werden. Die Zentralbank, welche den Negativzins einnimmt, kann damit die Geldmenge steuern mit dem Ziel der Preisstabilität oder dem Ziel von stabilen Wechselkursen mit anderen Ländern. Die Zentralbank kann also die eingenommenen Negativzinsen an den Staat übergeben, damit dieser beispielsweise die Steuern senken kann. Oder die Zentralbank kann die Einnahmen aus den Negativzinsen einfach vernichten, wenn es nötig ist, die Geldmenge zu verringern.

Wo liegt die Problematik? Die praktische Verwirklichung stösst an die Grenzen des Machbaren. Das von Gesell angeregte Markensystem ist unflexibel und unpraktisch und braucht hier nicht weiter erklärt zu werden. Eine praktikable Lösung ergibt sich erst, wenn das Umlaufgeld nur noch in bargeldloser Form vorliegt. Dann ist die periodische Erhebung des Negativzinses eine leichte Sache, da einfach jede Woche eine automatische Abbuchung erfolgen kann. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die gewünschten Wirkungen erst mit einiger Verzögerung eintreten und in letzter Konsequenz auch eine Bodenreform erfordern (vgl. dazu Abschnitt 3.4), weil sonst das Geld in die Bodenspekulation fliessen würde, um entsprechende Renten daraus zu erzielen.

Die gewünschten und angestrebten Wirkungen sollen hier kurz aufgelistet werden:

Nach diesen komprimierten Ausführungen über die Anschauungen von Silvio Gesell befragen wir nun noch weitere Kritiker aus dem Kritikerpool.

Hans Diefenbacher und Ulrich Ratsch behandeln das Verteilungsproblem unter dem Aspekt von Armut und Reichtum. Sie gehen von der Frage aus, was denn eigentlich Armut sei, und wie man sie bestimmen kann. Dazu unterscheiden sie drei Definitionen von Armut.

  1. Die materielle Armut bemisst sich am physischen Existenzminimum. Wenn das Jahreseinkommen unter einen bestimmten Grenzwert sinkt (z.B. 370 Dollar), wird von absoluter Armut gesprochen. Nach dieser Definition leben deutlich über eine Milliarde Menschen in absoluter Armut (vgl. mit Abschnitt 3.1.1).
  2. Die relative Armut orientiert sich an den Unterschieden von mehreren Vergleichswerten (Indikatoren) bezogen auf ein bestimmtes Gebiet. Relativer Reichtum in einem Gebiet oder Land kann in einem anderen Land relative Armut bedeuten.
  3. Die sekundäre Armut bezieht sich auf die mangelnde Befriedigung von kulturellen und sozialen Bedürfnissen. Geringe Selbstachtung, Isolation und mangelnde Bildung stellen für die betroffenen Menschen eine schwere Belastung dar. Sekundäre Armut ist nicht einfach zu messen.

Jede Definition hat ihre Vor- und Nachteile. Jede Messzahl hat nur eine beschränkte Aussagekraft, weil es in jeder Einkommenskategorie wiederum grosse Unterschiede gibt. Einkommen aus der Selbstversorgung wird nicht berücksichtigt, obwohl es die Lage im Einzelfall erheblich verbessern kann. Auch die Umrechnung von einer schwachen Währung in US-Dollar kann das Bild verzerren.

Nach der Beschreibung der Armut, die sich im wesentlichen mit der Darstellung im Abschnitt 3.1.1 deckt, stellen Diefenbacher / Ratsch die Frage nach der Herkunft des Reichtums. Etwa 5-25% der Vermögenden sind durch die Umsetzung von Erfindungen, durch die Teilhabe an einem wachsenden Industriezweig, durch Eigentum an natürlichen Ressourcen, durch Ausnutzung von Gesetzeslücken oder durch reines Glück zu ihrem Vermögen gekommen.

Die anderen 75-95% der Vermögenden haben ihr Vermögen durch die Rendite ihrer Geldanlagen gebildet. Investiert wird nur, wenn eine Rendite von ca. 20% erwirtschaftet werden kann, bevor davon noch die Steuern abgezogen werden müssen. Investitionsmöglichkeiten mit einer solchen Rendite werden immer seltener. Die reale Wertschöpfung (Wirtschaftskraft) hinkt zunehmend der Vermehrung des Geldes hinten nach. Damit verlieren die riesigen Geldwerte zunehmend ihre reale Basis, was die Gefahr eines Zusammenbruchs dieses Systems erhöht.

Die Geldanlagen müssen aus dem Bruttosozialprodukt verzinst werden. Das Bruttosozialprodukt wird aber im Vergleich zu den Geldvermögen immer kleiner. Das führt zu einer dauernden Umverteilung von den Armen zu den Reichen, bzw. zu einer Konzentration der Vermögen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Anzahl der Menschen, die in Armut leben ebenso vergrössert wie der Reichtum in Geldwerten.

Genau diese weltwirtschaftliche Situation nimmt Ulrich Duchrow in einer seiner Thesen zum Anlass, das Weltwirtschaftssystem aus einer christlichen Perspektive sehr prononciert zu hinterfragen. Das Weltwirtschaftssystem führt zu Machtballungen, die nicht mehr sozial kontrollierbar sind. Die heutigen Macht- und Wirtschaftsverhältnisse führen dazu, dass jährlich über 30 Millionen Menschen an Hunger sterben. Das ist aber nur die Spitze von Not, Elend und Unterdrückung, welche Menschen erleiden müssen.

Duchrow stellt die scharfe Frage: "haben Räuber, Nutzniesser und Beraubte, die sich alle Christen nennen, eucharistische Gemeinschaft, auch wenn die Räuber notorisch weiterrauben, indem sie ihren Raub entweder verschleiern oder die Tatsache und das Ausmass des Raubes verdrängen?" Eine solche Darstellung und Beurteilung der Situation hätte weitreichende Konsequenzen für die kirchliche Praxis, wenn die Situation als solche erkannt würde. Doch liegt die Problematik m.E. darin, dass viele wohlhabende Christen sich gar nicht bewusst sind, dass ihre Einnahmen aus Geldanlagen und Bodenrenten möglicherweise einem Raub entsprechen. Hier fehlt ganz eindeutig die nötige Selbsterkenntnis. Sehr oft ist es so, dass sich Reiche und Arme gar nicht beim Abendmahl treffen, weil sie geographisch und von der sozialen Schicht her getrennt leben. Auf diese Weise ist es sehr leicht, die eigene Schuld zu verdrängen. Hier ist noch sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Christen und ihre Kirchen sind immer wieder dazu aufgerufen, in kritischen Situationen Stellung zu beziehen, um wieder Bekennende Kirche zu werden.

Wenn die Häresie der Deutschen Christen zur Zeit des Nationalsozialismus darin bestand, für die eigene Machterweiterung der deutschen arischen Herrenrasse den Namen Christi zu missbrauchen, so heisst heute die Frage der Verwerfungssätze von Barmen: Wo wird heute die Macht oder Machterhaltung der weissen Rasse, speziell der Reichtum und Macht besitzenden Klasse dieser weissen Rasse, mit allen Mitteln der Propaganda, der Wirtschaftsmechanismen, der militärischen und anderer Gewalt direkt oder indirekt mit dem Namen Christi begründet?

Weiter weist Duchrow darauf hin, dass die Akteure, welche für die wirtschaftlichen Missstände und Ungerechtigkeiten verantwortlich sind, nur schwer zu bestimmen sind. Lediglich die Wirkung, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, lässt sich klar erkennen.

Der freie Markt und seine eigenen Gesetze dürfen nicht verabsolutiert werden. Sie sind nicht einfach naturgegeben, sondern sie sind von Menschen gemacht. Wenn die Regeln des freien Marktes akzeptiert werden, dann kann es letztlich keine ethische Verantwortung mehr geben. Es kann dann höchstens noch das Marktsystem als Ganzes ethisch diskutiert werden. Gerade darum sind wir aufgerufen, den freien Markt zu hinterfragen.

Zu den Regeln des freien Marktes gehört, dass jeder sein Selbstinteresse und seine Bedürfnisse in der Wirtschaft verabsolutieren darf. Der Nutzen, der Konsum und der Profit dürfen beliebig maximiert werden. Aber nur die Mächtigen können ihre Selbstinteressen wirklich durchsetzen; die Mehrheit der Weltbevölkerung ist davon ausgeschlossen. Die Rede vom "freien Markt" ist eigentlich eine Ideologie zur Verschleierung von Eigeninteressen. Der Markt hat seine eigenen Gesetze. Niemand will verantwortlich sein für die Auswirkungen der Marktmechanismen, die viele Millionen Menschen in tiefe Armut und in den Tod bringen. Alles läuft ja völlig legal nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft. Nun ist nicht der Markt an sich abzulehnen, sondern nur seine Totalisierung.

Arthur Rich hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht:

Sind die sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher oder politischer Strukturen von einer Art, die in Gegensatz zu den Ansprüchen des Menschengerechten tritt, dann kann man füglich von einem strukturell Bösen sprechen. Es ist das Böse, das in den Strukturen selber steckt. […] Ökonomisch äussert sich das in der Absolutierung des Selbstinteresses als das eigentliche Grundmotiv des Wirtschaftens. Das Selbstinteresse in seiner relativen Legitimität wird nicht, wie Gott es will, relational zu den ebenso legitimen Interessen der anderen wahrgenommen, sondern monokratisch behauptet.

Was können wir daraus schliessen? Es sollten einerseits die Strukturen und Mechanismen unseres Wirtschaftssystems radikal überprüft und verändert werden. Andererseits müssen Bedürfnisse wie Zins- und Rentenforderungen oder ein übermässiger Naturverbrauch ethisch verantwortet werden. Es ist unsere Aufgabe, in dieser Richtung aktiv zu werden.

 

3.1.4

Fazit

Als Ergebnis der Untersuchungen über die Verteilungsproblematik können zusammenfassend folgende Punkte festgehalten werden:

Mögliche Ansätze zur Entschärfung der Verteilungsproblematik:

Diese Vorschläge können nur andeutungsweise und vorläufig die Richtung zeigen, in der weiter geforscht und vor allem gehandelt werden sollte.

3.2 Verschuldungsproblematik

3.2.1 Darstellung des Sachverhaltes

Eine Verschuldung hat zwei Komponenten. Einerseits besteht sie aus dem tatsächlich erhaltenen Kredit, der wieder zurückbezahlt werden muss. Durch die Inflation wird dieser Teil der Schuld in seinem Wert tendenziell verringert. Andererseits besteht eine Verschuldung aus der Verpflichtung, einen bestimmten Zins für den Kredit zu zahlen (Begründung siehe Abschnitt 3.1.2). Da allzu häufig die Zinsen nicht erwirtschaftet werden können, werden sie einfach durch neue Kredite bezahlt. Damit steigt die Verschuldung durch Zins und Zinseszins in jedem Fall exponentiell an (siehe auch Abschnitt 3.3). Der Zinsanteil übersteigt sehr bald den eigentlichen Kredit.

Von Verschuldung muss eigentlich immer gesprochen werden, wenn direkt oder indirekt über die Preise ein Zins oder eine Rente bezahlt wird. Dazu gehört auch die Bodenrente, weil der Boden, der sich im Privateigentum befindet, nur gegen eine Rente zum Gebrauch weitergegeben wird.

Im speziellen kann zwischen Privatverschuldung und Staatsverschuldung unterschieden werden. Bei der Privatverschuldung spielt neben dem Bereich der Kleinkredite die Hypothekarverschuldung eine grosse Rolle. 1981 betrug in der Schweiz die gesamte Hypothekarverschuldung 181,6 Milliarden Franken, was pro Kopf der Bevölkerung Fr. 28’246.- ausmacht. Im gleichen Jahr betrug das Bruttosozialprodukt BSP 177,3 Milliarden Franken, also weniger als die Hypothekarverschuldung! 70% der Schweizer sind Mieter. Von einem durchschnittlichen Mietpreis fallen etwa 70% auf die Zinskosten und 30% oder weniger fallen auf Unterhalt, Abschreibungen, Verwaltung und Steuern. Das Hauptproblem bei der privaten Verschuldung ist, dass diese Verschuldung über die Mieten und die Güterpreise nicht offensichtlich, sondern versteckt ist (siehe Abschnitt 3.2.3). Das erschwert das Verständnis für die Tragweite der Zinsproblematik für viele Menschen sehr, und es fehlt die Einsicht, dass daran etwas geändert werden sollte (mehr dazu im Abschnitt 5).

Die Staatsverschuldung wird besonders in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten zu einem Problem. Heute wird gefordert, dass sich der Staat antizyklisch verhält, dass er also in Zeiten der Rezession die Ausgaben erhöhen soll. In diesem Zeitpunkt sind aber die Einnahmen meistens rückläufig, was die Staatsverschuldung erhöht. In wirtschaftlich guten Zeiten sollte der Staat die Schulden zurückzahlen und Reserven bilden. Das wird aber gern versäumt. Die Staatsverschuldung in Prozenten des Bruttosozialproduktes zeigt 1987/1989 im internationalen Vergleich folgendes Bild:

Die Schulden in den USA wachsen besonders rasch. Um das Ausmass dieser Entwicklung bei einem dauernd grossen Haushaltsdefizit zu verdeutlichen, zitiere ich einen amerikanischen Autor, Larry Burkett. Er ist Präsident einer christlichen Finanzberatungsfirma.

Die US-Bundesregierung hat inzwischen eine Schuldenlast von 4 Billionen Dollar, die praktisch nicht zurückgezahlt werden kann. Wenn bis zum Jahr 2000 der Schuldenberg auf 20 Billionen Dollar angewachsen ist, werden allein die Zinsen alle von den Amerikanern bezahlten Steuern aufzehren.

Die Schilderung mag vielleicht übertrieben erscheinen. Es ist aber zu bedenken, welch rigorose Sparmassnahmen unter welchen Folgen für die Bevölkerung heute eingeleitet werden müssten, damit die Schuldenlast mindestens nicht weiter steigt.

Doch wie werden diese Sachverhalte, die hier nur angedeutet werden können, weiter beurteilt?

3.2.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

Als eigentliches Problem wird die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer betrachtet. Sie betrug Ende 1990 rund 1,2 Billionen Dollar (vgl. mit Abschnitt 3.2.3). Christian Suter hat die Verschuldungssituation der Entwicklungsländer untersucht und festgestellt, dass die globalen Schuldenkrisen von 1820-1986 ein zyklisches Muster aufweisen. Er hat das Ausmass der jeweiligen Krisen grafisch so dargestellt:

Die Hauptresultate der Untersuchungen von Christian Suter gebe ich hier in geraffter Form weiter, weil ich denke, dass das für das Verständnis der Auswirkungen unseres heutigen Geld- und Zinssystems hilfreich ist.

Aktuelle Reaktionsmuster auf die internationale Verschuldung beschreibt auch Rudolf Strahm. Es wird versucht, durch den Internationalen Währungsfonds IWF die Schulden zu sanieren, indem die Schuldnerländer gezwungen werden, die Staatsausgaben unter grossen Opfern für die verarmende Bevölkerung zu senken und vermehrt für den Export zu produzieren. Eine andere Möglichkeit besteht in der Umschuldung, d.h. fällige Kredite und Zinszahlungen werden einfach durch neue Kredite bezahlt. Das verzögert und verschlimmert den Kollaps nur. Nach Strahm erfolgt die Schuldentilgung am wahrscheinlichsten durch die Inflation oder eine direkte Abwertung von verschuldeten Währungen. Die zusammenfassende Beurteilung von Rudolf Strahm sei hier zum Schluss dieses Abschnittes wegen ihrer Prägnanz und Klarheit zitiert:

Welches Reaktionsmuster auch in Zukunft praktiziert werden wird, eines gilt auf jeden Fall: Die Schulden der Dritten Welt werden nicht einfach von selber verschwinden. Sie müssen von jemandem bezahlt werden, sei es vom armen Volk in den Entwicklungsländern oder sei es von den Steuerzahlern, den Mietern und den Konsumenten bei uns. Am wenigsten tragen wohl jene die Tilgungslast, die die Schuldenberge verursacht und aus ihnen Nutzen gezogen haben.

 

3.2.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

Was an den Schulden als negativ zu beurteilen ist, sind nicht die Schulden an sich, sondern deren überproportionale Vergrösserung. Die Geldvermögen wachsen exponentiell, weil sie normalerweise an eine Rendite oder Zins gekoppelt sind. In dem Masse, wie die Geldvermögen durch steigende Zinserträge wachsen, steigt auch die Verschuldung und entsprechend auch die Zinslasten. Das reale Arbeitseinkommen ist mindestens in den Entwicklungsländern tendenziell rückläufig, und es herrscht ein vermehrter Zwang zu wirtschaftlicher Expansion.

Die Verschuldung der Dritten Welt stellt ein grosses Problem dar, weil die Möglichkeiten dieser Länder zur Zahlung von Zinsen und zur Rückzahlung der Kredite beschränkt sind und die Auswirkungen auf die arme Bevölkerung sehr schnell unerträglich werden. Doch absolut gesehen sind die Auslandschulden aller Länder der Dritten Welt (1,2 Billionen Dollar) rund 8mal kleiner als die Inlandschulden allein in den USA (Stand 1987).

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die private Verschuldung und die Staatsverschuldung in den reichen Ländern wie den USA oder der Schweiz keine Rolle spielen. Wie wir im Abschnitt 3.1 gesehen haben, bewirkt die Verschuldung und die damit zusammenhängenden Zinszahlungen eine Umverteilung von den Schuldnern zu den Kreditgebern. Für einen verschuldeten Staat bedeutet es eine Einschränkung seiner Handlungsfreiheit, wenn ein beträchtlicher Teil (10 % und mehr) der Steuereinnahmen für die Zinszahlungen aufgewendet werden müssen.

Ein ganz spezielles Problem stellt aber die versteckte Verschuldung dar, die in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen enthalten ist. Für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen braucht es Eigenkapital und meistens auch Fremdkapital zur Finanzierung von Maschinen und Gebäuden. Auf beiden Kapitalarten muss eine entsprechende Rendite herausgewirtschaftet werden, die über den Preis realisiert wird. Der Zinsanteil in den Preisen schwankt von ca. 10% (bei lohnintensiven Dienstleistungen) bis zu 70% und mehr (bei den Mieten). Ein durchschnittlicher Zinsanteil in den Preisen von 30-50% darf angenommen werden.

Was bedeutet das konkret? Nehmen wir an, eine Familie in der Schweiz tätigt Ausgaben von Fr. 60’000.- pro Jahr. Wenn nun in den Preisen durchschnittlich etwa ein Drittel Zinskosten enthalten sind, entfallen auf die versteckten Zinskosten etwa Fr. 20’000.-, was einer Zahlung von Zinsen gleichkommt. Diese Fr. 20’000.- entsprechen bei 5% Kapitalzins einer Verschuldung von Fr. 400’000.-. Wenn man noch die Staatsverschuldung mitberücksichtigt, welche über die Steuern finanziert werden muss, dann ergibt sich eine Verschuldung einer durchschnittlichen Familie von ca. einer halben Million Franken.

Das ist eine direkte Folge davon, dass jedes Kapital nur zur Investition weitergegeben wird, wenn ein entsprechender Zins dafür realisiert werden kann. Der Motor für die Investitionen besteht also in der Erwartung von Überschüssen, die über den Zins abgeschöpft werden können. Wenn nun, wie im Abschnitt 3.1.3 beschrieben, das Geld mit einem Negativzins belastet würde, dann muss das Geld auch bei einem sehr geringen Prozentsatz oder sogar zu 0% Zins weitergegeben werden, um damit Investitionen zu finanzieren. Dies geschieht in der Erwartung, gleichviel Geld zurückzuerhalten, wie an Kredit gewährt wurde. Das ist immer noch besser, als das Geld zu horten und dem natürlichen Zerfall (Negativzins) von etwa 5% auszusetzen. Die Umlaufsicherung des Geldes wird dann nicht mehr durch die Zinserwartung gesichert, sondern durch die Erhaltung des Geldwertes oder anders gesagt, durch die Vermeidung des Negativzinses.

Hans Diefenbacher und Ulrich Ratsch befassen sich in ihrem Buch auch mit der internationalen Verschuldung und deren Ursachen, Wirkungen und Lösungsmöglichkeiten.

Ende 1988 betrugen die Auslandschulden vieler Entwicklungsländer 30-55% ihres Bruttosozialproduktes. Eine weitere Messgrösse für das Ausmass der Verschuldung ist die Schuldendienstquote. Sie drückt das Verhältnis der effektiven Zins- und Tilgungszahlungen im Verhältnis zu den Exporterlösen aus. 1990 sind das in Afrika etwa 30% und in Lateinamerika gegen 40% des Exporterlöses, der für Zins- und Tilgungszahlungen aufgewendet werden muss.

Im Ausland verschuldete Länder sind gezwungen, Handelsbilanzüberschüsse zu realisieren, damit auch nur die Schuldzinsen bezahlt werden können. Aber ebenso sind die Industrieländer bestrebt, Exportüberschüsse zu erzielen. Im Jahr 1989 hat die Schweiz 45% der Güterproduktion exportiert und vom gesamten Absatz in der Schweiz stammt nur 40% aus dem Import. Das Total des Ertragsbilanzüberschusses zwischen 1981 und 1990 betrug ganze 106 Milliarden Franken. Viele Entwicklungsländer haben sich zu Nettokapitalexporteuren entwickelt. Die Schuldentilgung und die Zinszahlungen an das Ausland sind grösser als die Zuflüsse an Geldmitteln.

Welche Folgen ergeben sich daraus, wenn verschuldete Länder eine positive Handelsbilanz erzielen müssen? Der jeweilige Staat muss die Importe drastisch senken, was diese Importgüter stark verteuert. Ebenso werden trotz meist hoher Inflation die Sozialleistungen abgebaut und die Löhne tief gehalten. Das führt zu einer zunehmenden Verarmung von grossen Teilen der Bevölkerung mit Begleiterscheinungen wie Hunger, steigende Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit und Verelendung. Einen grossen Teil der Schuldenlasten haben die Armen zu tragen.

Um die Exporte zu steigern, wird besonders in den verschuldeten Ländern ein Raubbau an natürlichen Ressourcen betrieben. Auch werden immer wieder naturgefährdende Projekte mit Krediten finanziert, weil diese besonders gewinnversprechend sind (vgl. dazu Abschnitt 3.4).

Solange die betroffenen Länder weiter einen externen Schuldendienst in der aufgezeigten Höhe leisten müssen, wird dieser Prozess des Ressourcenabflusses und der Verelendung kaum zu stoppen sein. Die aus Krediten, Zinsen und Zinseszinsen aufgetürmten Schulden sind für viele Länder der Dritten Welt spätestens seit 1985 unbezahlbar geworden.

Die hohen Zinsen auf dem Weltmarkt (um 15%), jede Aufwertung des Dollars und die Verschlechterung der Austauschverhältnisse für Waren (Terms of Trade) verschlechtern die Situation noch. Schuldenerlasse gab es bisher nur vereinzelt. Vielfach werden Kredite, die nicht mehr verzinst werden können, einfach durch neue Kredite ersetzt; Zinsen werden mit Krediten bezahlt. Eine solche Umschuldung verlagert die Probleme nur in die Zukunft.

Welche Lösungen sehen Diefenbacher / Ratsch, um die Verschuldungsproblematik zu entschärfen? Kurz zusammengefasst nennen sie vier Punkte:

Nach meiner Beurteilung zielen diese Forderungen in die richtige Richtung. Doch sind es vielfach nicht mehr als fromme Wünsche, die an der harten Realität unseres heutigen Geld- und Wirtschaftssystems scheitern. Wie ist es einem arbeitslosen Mitteleuropäer begreiflich zu machen, dass er mehr für Rohstoffe und Produkte aus Schuldnerländern bezahlen soll, wenn die zusätzlichen Einnahmen dann doch nur für Zinszahlungen verwendet werden müssen? Selbst wenn alle die oben genannten Punkte erfüllt würden, bedeutet es noch lange nicht, dass damit die Verschuldungsprobleme gelöst wären. Dann bleiben immer noch die immensen Staatsverschuldungen der Industrienationen. Allein die Vereinigten Staaten hatten 1992 über 3 Billionen Dollar Schulden und die Auslandschuld soll bis 1994 auf 1 Billion Dollar steigen (vgl. mit Abschnitt 3.2.1).

Um das Ausmass, die Schärfe, die menschliche Tragik und die Ungerechtigkeit hinter der Verschuldungsproblematik zum Abschluss dieses Abschnittes zu verdeutlichen, gebe ich einen Vergleich aus einem Studiendokument des ÖRK wieder. Zwischen 1982 und 1990 haben die Entwicklungsländer dem Norden nur für Zinsen und Schuldenrückzahlungen 1345 Milliarden Dollar bezahlt. Im gleichen Zeitraum flossen aber insgesamt 418 Milliarden Dollar weniger Geldmittel (z.B. neue Kredite) in diese Länder. Zum Vergleich: Nach dem 2. Weltkrieg haben die USA gemäss dem Marshallplan 14 Milliarden Dollar nach Europa für den Wiederaufbau überwiesen; das entspricht im Jahr 1991 etwa 70 Milliarden Dollar. Somit haben die Entwicklungsländer zwischen 1982 und 1990 über den Schuldendienst den reichen Norden entsprechend sechs Marshallplänen unterstützt. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?

 

3.2.4

Fazit

Als Ergebnis der Untersuchungen über die Verschuldungsproblematik können zusammenfassend folgende Punkte festgehalten werden:

Mögliche Ansätze zur Entschärfung der Verschuldungsproblematik:

3.3 Wachstumsproblematik

3.3.1 Darstellung des Sachverhaltes

Bevor ich einzelne Aspekte der Wachstumsproblematik aufgreife, wollen wir einmal das Wesen von Wachstum und dabei besonders das exponentielle Wachstum genauer anschauen.

Lineares Wachstum ist dem menschlichen Empfinden vertraut, da gibt es keine Überraschungen. Wenn jemand jedes Jahr Fr. 100.- in ein Sparschwein hineintut, dann hat er nach 10 Jahren Fr. 1000.- und nach 60 Jahren Fr. 6000.- gespart.

Exponentielles Wachstum hingegen finden wir immer dann, wenn sich eine Grösse periodisch um einen bestimmten Prozentsatz vermehrt und die resultierende Grösse wieder zur Ausgangsgrösse wird, die sich wieder um diesen Prozentsatz vermehrt. Jedes prozentuelle Wachstum verläuft über mehrere Perioden hinweg betrachtet exponentiell, und es liegt systemtechnisch gesprochen eine positive Rückkopplung vor. Ein klassisches Beispiel ist der Zins und Zinseszins auf einem Anfangskapital. Wenn jemand Fr. 100.- zu 7% Zins anlegt, dann verdoppelt sich seine Einlage ca. alle 10 Jahre. Folgende Grafik zeigt den Unterschied zum linearen Wachstum eines Vermögens:

Was bedeutet das konkret? Wenn jemand Fr. 100.- zu 7% Zinsen anlegt, dann steigt sein Vermögen in 60 Jahren exponentiell auf fast Fr. 6’000.- an, ohne irgend etwas dafür zu tun. Ein anderer aber legt jedes Jahr Fr. 100.- in sein Sparschwein und hat nach 60 Jahren auch Fr. 6’000.-. Er hat jedes Jahr auf Fr. 100.- verzichtet. Auch wenn durch die Inflation sein jährlicher Verzicht immer etwas geringer wird, so hat er doch insgesamt real ca. Fr. 3’000.- selber erarbeitet. Der erste Anleger hat nur einmal Fr. 100.- erarbeitet. Der Rest bis auf Fr. 5795.- muss von den Zinszahlern erarbeitet werden.

Eine weitere Grösse, die etwa gebraucht wird, um die Wirkungen von exponentiellem Wachstum zu beschreiben ist die Verdoppelungszeit. Das ist die Zeit, in der sich eine exponentiell wachsende Grösse periodisch verdoppelt. Die Zinseszinsformel und die Faustregel für die Verdoppelungszeit seien hier angegeben:

Bei einer Wachstumsrate von jährlich 0,1% dauert es ganze 700 Jahre bis sich eine Grösse verdoppelt hat. Bei 7% Zins dauert es 10 Jahre und bei 10% Zins 7 Jahre, bis sich das Anfangskapital verdoppelt hat. Normalerweise wird ein reales, d.h. ein inflationsbereinigtes Wirtschaftswachstum von etwa 3% angestrebt. Das bedeutet eine Verdoppelung der Wirtschaftsleistung in 23 Jahren und in den nächsten 23 Jahren wieder eine Verdoppelung, was dann schon der vierfachen Wirtschaftsleistung zu Beginn entspricht.

Nach der allgemeinen Beschreibung von exponentiellem Wachstum ist weiter zu unterscheiden zwischen wachsenden Grössen, die sich strukturell bedingt selber reproduzieren können und solchen, die das nicht können.

Zur ersten Gruppe gehören die Bevölkerung, das Industriekapital im Sinne von Maschinen und Gebäuden und auch das Finanzkapital. Positive Rückkopplungen bewirken, dass eine bestimmte Bevölkerung noch mehr Bevölkerung erzeugt. So wuchs die Weltbevölkerung von 1971 bis 1991 von 3,6 auf 5,4 Milliarden Menschen, wobei die jährliche Zuwachsrate trotz leicht abnehmender Wachstumsrate gestiegen ist.

Zuwachs der Weltbevölkerung 1971 und 1991

Jahr

Bevölkerung

Wachstumsrate / Jahr

Zuwachs / Jahr

1971

3,6 Mrd.

2,1%

76 Mio.

1991

5,4 Mrd.

1,7%

92 Mio.

Zur zweiten Gruppe mit tendenziellem Wachstum gehören die Nahrungsmittelproduktion, die Nutzung von Ressourcen und die Umweltverschmutzung. Diese können sich strukturell bedingt nicht selber erneuern, vermehren oder regenerieren. Damit werden die Grenzen deutlich. Eine exponentiell wachsende Bevölkerung und Wirtschaft steigert auch die Umweltverschmutzung und den Ressourcenverbrauch. Die Ressourcen (Luft, Erde, Wasser, Bodenschätze etc.) sind endlich, und die Natur hat nur eine begrenzte Aufnahmekapazität für Abfälle und Schadstoffe.

Durch den technischen Fortschritt können die Ressourcen effizienter eingesetzt und die Umweltverschmutzung gedämpft werden. Ebenso ist eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion möglich. Der Aufwand dafür wird immer grösser und die Erschliessung von nutzbaren Bodenflächen ist begrenzt.

Mögliche Verhaltensformen von Bevölkerung und Wirtschaft veranschaulichen die folgenden Grafiken:

Ein dauerndes Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft ist nur möglich, wenn die Grenzen der Umweltbelastung und des Ressourcenverbrauchs (Tragfähigkeit) noch weit weg liegen oder sich selber erweitern.

 

Diese Kurve entspricht einem natürlichen Wachstum wie beispielsweise dem Grössenwachstum bei Pflanzen und Tieren. Das Wachstum orientiert sich an der konstanten Obergrenze, den Möglichkeiten des Systems. Das Wachstum wird rechtzeitig eingeschränkt, damit keine Grenzüberziehung entsteht.

Wenn die Signale einer begrenzten Tragfähigkeit des Systems ungenügend oder verspätet aufgenommen werden, entsteht eine Grenzüberziehung. Falls die Regenerierfähigkeit der begrenzenden Faktoren nicht dauernd geschädigt wird, kann sich das System wieder einschwingen.

Wenn die Signale zur Begrenzung des Wachstums missachtet werden und dabei die Regenerierfähigkeit der begrenzenden Faktoren dauernd und unwiederbringlich geschädigt wird, dann erfolgt ein Zusammenbruch auf ein tiefes Niveau mit stark eingeschränkten Grenzen der Tragfähigkeit.

Nach der Beschreibung der strukturellen Zusammenhänge von Tragfähigkeit und Wachstum in bezug auf Bevölkerung und Wirtschaft stellt sich die Frage, was das heutige Geld- und Zinssystem damit zu tun hat.

Für das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum gibt es viele Ursachen. In Ländern mit einem jährlichen Bruttosozialprodukt BSP (im Jahr 1989) von unter 3’000 Dollar pro Kopf der Bevölkerung liegen die Geburtenraten zwischen 20 und 50 Neugeborenen auf 1000 Einwohner. Wenn das durchschnittliche BSP aber über 3’000 Dollar liegt, sind die Geburtenraten fast durchwegs unter 20 Kinder pro Jahr auf 1000 Einwohner. Das Wachstum der Geldvermögen, das vor allem in den reicheren Ländern zu beobachten ist, verschärft die Verteilungsproblematik (siehe Abschnitt 3.1) und die Armut in den bereits armen Ländern.

Um eine nachhaltige, langfristig stabile Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen, müssen die Grenzen des Wachstums von Bevölkerung, Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung wahrgenommen werden. Dann ist es wichtig, rasch auf diese Wahrnehmung oder Rückmeldung der Grenzen zu reagieren. Der Verbrauch von sich erschöpfenden Rohstoffen muss durch effizientere Nutzung, Einschränkung oder durch Substitution entsprechend reduziert werden. Gleichzeitig dürfen die sich regenerierenden Ressourcen (Boden, Wasser, Luft, etc.) nicht übernutzt werden.

Die Vermutung liegt nun darin, dass mit dem aktuellen Geld- und Zinssystem das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung nur schwer möglich ist, weil es geradezu der Motor eines exponentiellen Wachstums in verschiedenen Bereichen ist. Eine langfristige Entwicklung der Bevölkerung und der Wirtschaft, die sich an den Grenzen der ökonomischen, sozialen und ökologischen Tragfähigkeit des Weltsystems orientiert, erfordert heute ein Wirtschaftssystem, welches mit einem begrenzten oder qualitativen Wachstum noch gut funktioniert, ohne dass Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltverbrauch zunehmen.

 

3.3.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

Nach der gängigen Ökonomie ist es das Ziel einer Volkswirtschaft, den allgemeinen Wohlstand zu vergrössern, indem das Volksvermögen und das Volkseinkommen bei gleichmässiger Verteilung dauernd gesteigert wird. Bis in die Gegenwart misst fast jede Wirtschaftspolitik ihren Erfolg am realen Wirtschaftswachstum. Etwa 3% reales Wachstum werden angestrebt, damit keine negativen Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit und Verteilungskämpfe (z.B. um den Teuerungsausgleich) entstehen.

Die Entwicklung einer Volkswirtschaft verläuft in grobe Phasen aufgeteilt etwa folgendermassen: In einer ursprünglichen, naturnahen Gesellschaftsform gibt es praktisch kein Wirtschaftswachstum. Mit der industriellen Entwicklung steigt die Wachstumsrate deutlich an und erreicht ihr Maximum dann, wenn sich die Volkswirtschaft zur vollen Reife entwickelt hat. Dabei werden viele Ressourcen mit moderner Technik ausgenützt. Beim Übergang zur Massenkonsumgesellschaft sinkt die Wachstumsrate. Die Umweltbelastung und der Ressourcenverbrauch aber bleiben dauernd hoch. Die Arbeitslosigkeit und Verteilungskämpfe um Arbeit, Lohn und Zinsen nehmen zu. In der Schweiz stieg das reale Bruttosozialprodukt BSP zwischen 1906 und 1945 um 0,7% pro Jahr, zwischen 1945 und 1973 um 5% pro Jahr und zwischen 1973 und 1990 noch um 1,4% jährlich.

Viele Entwicklungsländer und Schwellenländer (2.Welt) bemühen sich, ein starkes Wirtschaftswachstum zu erzielen. Durch steigende Exporte müssen die Investitionen verzinst und amortisiert werden, was wieder auf die Bedeutung der Auslandschulden hinweist (vgl. mit Abschnitt 3.2). Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, müssen die Preise für die Produkte niedrig gehalten werden. Das ist nur mit sehr tiefen Löhnen möglich. Auch die Vorschriften gegen die Umweltverschmutzung und den Ressourcenverschleiss befinden sich auf einem tiefen Niveau (vgl. mit Abschnitt 3.4).

Weltwirtschaftlich gesehen, können zwei Arten von Wirtschaftszyklen unterschieden werden. Das Wirtschaftswachstum schwankt in kurzfristigen konjunkturellen Zyklen von 3 bis 5 Jahren. Durch eine geeignete Konjunkturpolitik wird versucht, diese Zyklen auszugleichen, damit ein kontinuierliches Wachstum erzielt wird. Neben den kurzfristigen Konjunkturschwankungen werden auch langfristige Wirtschaftszyklen beobachtet, die aber noch wenig erforscht sind. Technologische Durchbrüche (Mechanisierung, Eisenbahnen und Maschinen, Elektrizität und Chemie, Motorisierung und Auto, Elektronik und Informatik) führen und führten zu einem wirtschaftlichen Wachstum, das dann jeweils in einer Krise endet. Als Krisenbeginn werden die Jahre 1815, 1875, 1929 und 1973 genannt. Die Krisen sind unterschiedlich stark und folgen in einem Abstand von 60 bis 44 Jahren. Die Zeit zwischen den Krisen nimmt tendenziell ab. Zur Begründung wurden verschiedenste Krisen- und Konjunkturtheorien entwickelt, die hier nicht weiter ausgeführt werden können.

Neu an der Entwicklung ist die starke Steigerung der Arbeitsproduktivität. Von 1972 bis 1990 stieg in der Schweiz die Produktion um 26% bei einer Steigerung der Erwerbstätigen um nur 8%. Das bedeutet, dass auf diesem Stand der technischen Entwicklung das Ziel einer Vollbeschäftigung nicht mehr erreichbar ist und mit einer wachsenden Sockelarbeitslosigkeit gerechnet werden muss. Der Produktionsfaktor Arbeit wird durch den Produktionsfaktor Kapital ersetzt. Auf diese Weise steigen auch die Auseinandersetzungen um die Verteilung der Arbeit. Die zusätzlichen Investitionen müssen auch verzinst werden, was zum grössten Teil über den Konsum der Lohnempfänger finanziert wird, d.h. über die Preise. Dadurch verschieben sich die Einkommen weiter von der Lohn- auf die Kapitalseite (siehe Abschnitt 3.1).

Auch das Bruttosozialprodukt BSP wird kritisch betrachtet. So erscheint im BSP die unbezahlte Hausfrauenarbeit nicht, welche je nach Land 30-50% des BSP ausmachen kann. Ebenso wird der Verbrauch von Ressourcen wie Wasser, Luft usw. nicht bewertet, ausser wenn Kosten für deren Reinigung anfallen. Auch ein Autounfall oder ein Verbrechen verursacht eine Steigerung des BSP (Reparaturen, Spitäler, Polizei etc.).

Wenn die Produktion (Bruttonutzen / BSP) ständig steigt und die Folgekosten dazu überproportional steigen, dann kommt der Zeitpunkt, wo trotz steigender Produktion der Nettonutzen abnimmt. Für die Bestimmung dieses Zeitpunktes ist es von entscheidender Bedeutung, wie der Nutzen oder die Folgekosten definiert und finanziell bewertet werden. Eine Berechnung des BSP, die sich an ökologischen Kriterien, an der Lebensqualität und an den Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung orientiert und sich in entsprechenden Produktepreisen niederschlägt, ist bei den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nur schwer realisierbar.

 

3.3.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

Um wieder bei Silvio Gesell anzufangen, muss gleich seine Theorie vom Freigeld (siehe Abschnitt 2.1) selbst kritisiert werden. Er lebte anfangs dieses Jahrhunderts, als das Wirtschaftswachstum noch über jeden Zweifel erhaben war und als Ziel von allen Ökonomen vertreten wurde.

Das Freigeld wird den Bau von Häusern, Fabriken, Schiffen in unbegrenzter Menge gestatten; es wird den Volksmassen erlauben, nach Herzenslust zu arbeiten, zu schwitzen und die bettelhafte Armut, die das Gold hinterliess, zu verfluchen.

Nach seinen Vorstellungen sind der Produktion keine Grenzen gesetzt. Nach Gesell ist es notwendig, dass genügend Sachgüter (Realkapitalien) produziert werden, damit durch ein grösseres Angebot diese Sachgüter keinen Zins bzw. Rente mehr abwerfen können. Damit nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage beispielsweise die Hypothekarzinsen gegen 0% gehen, ist es erforderlich, vorübergehend mehr Wohnungen zu bauen, bis das Angebot so gross ist, dass auf Wohnungen neben der Amortisation, dem Unterhalt und Verwaltungskosten keine Rendite mehr erwirtschaftet werden kann.

Die Geldvermögen steigen gegenüber dem Sozialprodukt überproportional (vgl. mit Abschnitt 3.1.2). Zwischen 1950 und 1991 stieg das BSP in der Bundesrepublik um den Faktor 22, das Geldvermögen um den Faktor 75 und die Bankkredite um den Faktor 88. Wenn einmal die Zinsen für Kredite gegen 0% tendieren, dann werden die Geldvermögen durch den Zins nicht mehr überproportional gegenüber dem Lohn wachsen können. Dadurch wird die ungerechte Umverteilung über die Zinsen aufgehoben. Der Zwang zu immer mehr Investitionen, welche indirekt über die Preise verzinst werden müssen, fällt weg.

Wenn die Zinsen gegen 0% sinken, werden auch die Preise um 30-50% fallen. Die dadurch steigende Kaufkraft der Lohnempfänger (die bisherigen Zinszahler) muss gesamthaft gesehen nicht unbedingt zu einem Wachstumsschub infolge steigender Nachfrage führen, weil die Nachfrage der bisherigen Zinsbezüger entsprechend zurückgeht; es entsteht eine Nachfrageverlagerung. Damit ist die Akkumulation von Geldvermögen über den Zins gestoppt. Geldvermögen können dann nur noch durch direkte Arbeit gebildet und anschliessend wieder aufgebraucht werden für Güter und Dienstleistungen entsprechend der vorher geleisteten Arbeit.

Was für Folgen und weitere Konsequenzen ergeben sich daraus?

Damit sich die Wirtschaft ökologisch, nachhaltig und harmonisch entwickelt, müssen die Ansprüche der Konsumenten beschränkt werden. Das kann durch Verordnung von mehr Musse und Freizeit (Arbeitszeitverkürzungen) oder durch vermehrte, sozial gestaffelte Abschöpfung der neu gewonnenen Kaufkraft geschehen. Mit diesem Geld können nun ökologisch sinnvolle Projekte finanziert werden. Dies ist bei einem Geldsystem ohne Zinsen im grossen Ausmass viel eher realisierbar, weil die Kauf- und Investitionskraft allgemein höher und besser verteilt ist. Eine Neudefinition von Reichtum, die sich nicht am Luxus der Reichen orientiert, sondern Beziehungen und Lebensqualität zum Massstab setzt, drängt sich auf. In einer Gesellschaft, wo die Lohnabhängigen nicht mit direkten und indirekten Zinszahlungen zugunsten einer kleinen Minderheit belastet werden, haben die Menschen mehr Möglichkeiten mit den Mitmenschen und der Umwelt solidarisch zu sein.

Wir wollen aber das Wirtschaftswachstum noch genauer untersuchen.

Hans Christoph Binswanger beschreibt den Zwang zum Wirtschaftswachstum im Zusammenhang mit der Dynamik der Geldwirtschaft. Die Wirtschaft funktioniert nur, wenn in der betriebs- und volkswirtschaftlichen Rechnung die Gewinne dominieren. Das ist nur möglich durch einen dauernden Zufluss von Geld über die Banken, die Kredite gewähren; das nennt man Geld- oder Kreditschöpfung. Diese Kredite müssen natürlich gewinnbringend investiert werden, damit die Zinsen dafür bezahlt werden können. Die Gewinne werden (teilweise) wieder neu investiert und der Kapitalstock oder die verzinslichen Investitionen wachsen exponentiell. Das reale Wirtschaftswachstum stammt entweder aus der gesteigerten Arbeitsleistung (Arbeitsteilung, Rationalisierung, Steigerung von Wissen und Können) oder aus der Ausbeutung der Natur.

Wenn nun der Zugriff auf die Natur durch Gesetze erschwert wird, sinken die Gewinnaussichten für das investierte Kapital und der Druck auf die Arbeit, bzw. die Löhne steigt. In wirtschaftlichen Krisensituationen kommt sofort der Ruf nach Deregulierung, d.h. Lockerung der Umweltschutz- und Arbeitsrechtsbestimmungen (vgl. mit Abschnitt 3.4).

Damit in Zukunft weder die Wirtschaft, noch die Natur in eine Krise gerät, bzw. zusammenbricht, sollte nach Binswanger ein qualitatives Wachstum angestrebt werden. Das kann durch Gebote und Verbote, oder durch die Umgestaltung der Marktwirtschaft geschehen, indem die ökologischen und sozialen Kosten in die Preise einbezogen werden.

Was sind die Ursachen für den Wachstumszwang, der ein qualitatives Wirtschaftswachstum erschwert? In der Wirtschaft werden alle Werte durch Kapital ausgedrückt. Jedes Kapital beinhaltet den Anspruch, dass es verzinst werden muss. Darüber hinaus bekommt ein in Investitionsgüter angelegtes Kapital seinen Wert dadurch, dass mit den Investitionsgütern in Zukunft mehr produziert wird, und ein grösserer Gewinn erzielt werden kann. "Die Mehrproduktion ist ein notwendiger Bestandteil des Kapitalisierungsprozesses."

Die folgenden Ausführungen dienen dazu, den prinzipiellen Wachstumszwang im aktuellen Geld- und Wirtschaftssystem begreiflich zu machen (vgl. dazu die Zusammenstellung in der folgenden Tabelle weiter unten).

Um dem investierten Kapital eine "ewige" Lebensdauer zu verschaffen, werden die Abschreibungen auf den Investitionsgütern für Ersatzinvestitionen verwendet. Diese Ersatzinvestitionen können natürlich auch für neue, bessere Investitionsgüter auch in anderen Produktionszweigen verwendet werden. Dann bekommt das investierte Kapital (K0 ) den Kapital- oder Barwert einer ewig gleichen Rente. Das gilt unter der Voraussetzung, dass die Gewinnrate ( j ) grösser ist als der Zinssatz (i ), damit sich das grössere Risiko einer Investition gegenüber einer reinen Kreditanlage auszahlt. Das ursprünglich investierte Kapital (K0 ) wächst exponentiell in dem Masse, wie die Gewinne wieder reinvestiert werden; K0 wächst also exponentiell in Funktion der reinvestierten Gewinne (cj ). Der Barwert einer ewig gleichen Rente (z.B. der Aktienkurs) ist um so höher, je grösser die Gewinnrate gegenüber dem Zinssatz ist.

"Wenn aber ein Teil des Gewinns wieder reinvestiert wird, so steigen die Erwartungen über die Dividendenausschüttungen in der Zukunft. Der Kapital- oder Barwert der Kapitalanlage ist dann nicht gleich dem Barwert einer ewig gleichen Rente, sondern gleich dem Barwert einer ewig wachsenden Rente. […] Der Kapital- bzw. Barwert der Kapitalanlage errechnet sich aus der Summe der (erwarteten) steigenden Dividenden."

Damit werden die zukünftigen Gewinne bereits im Barwert der ewig wachsenden Rente vorweggenommen. Bei jeder Investition entsteht ein Kapitalgewinn. Dieser entspricht der Differenz zwischen dem Barwert einer ewig wachsenden Rente und der Kapitalanlage (Kt ). Demgegenüber ist die Rendite bezogen auf den Kurswert einer Aktie sehr gering; in der Beispielrechnung beträgt er 2,86%.

Wachstum von Kapital, Barwert und Kapitalgewinn (Beispielrechnung)

i = Zinssatz = 5 % = 0,05

j = Gewinnrate = 10 % = 0,1 r < i < j

c = reinvestierter Gewinnanteil = 30 % = 0,3

K0 = Anfangskapital = 100 Einheiten

Kt = Kapital nach t Jahren

r = Rendite =

 

 

Kapitalwert einer ewigen Investition nur Ersatzinvestitionen

Kapitalwert einer ewigen Investition mit Nettoinvestitionen

 

nach Jahren

Kapital einer ewig gleichen Rente

Barwert einer ewig gleichen Rente

Barwert einer ewig wachsenden Rente

Kapitalgewinn
ohne Rendite

t

heute

100

200

350

250

10

134

268

470

336

20

180

360

632

452

30

242

484

850

608

40

326

652

1142

816

50

438

876

1534

1096

Was für Folgerungen und Beobachtungen ergeben sich daraus?

  1. Durch die Vorwegnahme eines zukünftigen Gewinns einer Anlage (z.B. einer Aktie) erhöht sich der Kapitalwert schlagartig. Wenn die Gewinnrate beispielsweise durch verschärfte Umweltschutzbestimmungen bis auf die Zinsrate sinkt, dann ergibt sich ein absoluter Vermögensrückgang, der in den meisten Fällen zu einem Realverlust führt.
  2. Dauerndes Wachstum ist nötig zur Kapitalerhaltung. Wenn aus Gründen der Naturerhaltung generell auf Nettoinvestitionen verzichtet würde, dann hat dies zur Folge, dass der Kapital- oder Barwert in der Beispielrechnung um 43% sinkt; der Barwert einer ewig wachsenden Rente sinkt auf den Barwert einer ewig gleichen Rente. "Eine blosse Stabilisierung auf der Einkommensseite [Beschränkung auf ewig gleiche Rente] führt zu einem Verlust auf der Vermögensseite."
  3. Eine blosse Begrenzung des Wachstums führt unweigerlich zur Krise. Es entsteht das Dilemma zwischen Wirtschaftswachstum und Naturschrumpfung oder Naturerhaltung und Wirtschaftsschrumpfung. Damit ist der Widerstand der Kapitaleigentümer gegen eine Wachstumsschrumpfung zugunsten der Natur vorprogrammiert. Nur wenn Zinssatz und Gewinnrate gleichzeitig sinken, bleibt nach den obigen Formeln der Barwert einer Kapitalanlage erhalten. Der Zinssatz ist aber in der vergangenen Jahrhunderten nie unter 2,5% gefallen. Darum ist das Dilemma nach Binswanger auch so nicht zu lösen.
  4. "Geld- und Kreditschöpfung setzen Wachstum, d.h. Nettoinvestitionen, voraus, und durch Wachstum wird es möglich, die Geldmenge zu vermehren, ohne dass […] die Preise proportional zur Geldmenge steigen." Das Wachstum der Finanzwerte setzt sich durch und ist stärker als das Wachstum der Realwerte. Dadurch wird das Finanzsystem insgesamt labiler und die Gefahr eines Zusammenbruchs steigt.
  5. Die Formeln für die Barwerte stimmen nur für positive Zinssätze und Gewinnraten. Wenn nach den Vorschlägen von Silvio Gesell, die weiter oben behandelt wurden, das allgemeine Zinsniveau tatsächlich gegen 0% gesenkt werden könnte, dann müssten bei gleichbleibenden Gewinnraten theoretisch die Barwerte (Aktienkurse) gegen unendlich steigen. Dieser Sachverhalt wirft m.E. die Frage auf, ob mit dem aktuellen Geldsystem überhaupt ein begrenztes, qualitatives Wachstum eingeleitet werden kann. Wenn es das Ziel ist, das Finanzsystem zu stabilisieren und die Natur zu erhalten, dann müssten das Aktienrecht, die Funktionsweise der Finanzmärkte und der Geltungsbereich des Geldes verändert werden.

Wo ist hier ein Ausweg aus dem Dilemma zu finden, wenn nicht durch den Einbezug der ökologischen Kosten ins Preissystem und die radikale Überprüfung des aktuellen Geldsystems?

Hans Diefenbacher und Ulrich Ratsch stellen fest, dass das kontinuierliche Wirtschaftswachstum immer noch das Ziel der aktuellen Wirtschaftspolitik ist. Das Wirtschaftswachstum wird dem Wachstum des Sozialproduktes gleichgesetzt. Darum kritisieren die zwei Autoren die heutige Berechnungsart des Bruttosozialproduktes BSP, weil diese ein ökologisch orientiertes und nachhaltiges Wirtschaften behindert.

Das Bruttosozialprodukt entspricht der Summe aller verkauften Güter und Dienstleistungen in einem bestimmten Wirtschaftsraum pro Jahr. Damit das BSP über mehrere Jahre verglichen werden kann, wird das reale Bruttosozialprodukt verwendet, welches inflationsbereinigt ist. Diefenbacher / Ratsch geben sechs Kritikpunkte am BSP wieder:

  1. Die Berechnung des BSP berücksichtigt die Verteilung der Einkommen und Vermögen nicht.
  2. Die Berechnung des BSP bezieht sich nur auf Geldkapital. Der Verschleiss an Ressourcen, Boden und Humankapital wird finanziell nicht bewertet.
  3. Unbezahlte Arbeit wie Hausarbeit, Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe werden nicht berechnet.
  4. Naturleistungen (Rohstoffe, Erhohlungsraum, Entsorgungsort für Abfälle etc.) werden gratis verwendet. Die ökologischen Kosten werden im BSP nicht erfasst.
  5. (Vermeidbare) Unfälle, Krankheiten, Drogensucht, Entsorgung von Abfällen etc. senken die Wohlfahrt und steigern das BSP. Das BSP ist also ein fragwürdiges Mass für die Wohlfahrt.
  6. Immaterielle Güter wie Freizeit, gute Lebensqualität, intakte Landschaft und Ruhe werden im BSP nicht erfasst.

Die Kritik an der heutigen Berechnung des BSP bezweckt, dass der wirtschaftliche Erfolg an der tatsächlichen Wohlfahrt und Lebensqualität gemessen wird. Wenn schon etwas wachsen soll, dann sicher die Wohlfahrt, aber nicht auf Kosten von Natur oder Menschen. Als Ersatz für das BSP wird der Index für nachhaltiges Wirtschaften ISEW aufgeführt und diskutiert. Zur Berechnung des ISEW werden fünf Änderungen an der Berechnungsart des BSP vorgenommen:

  1. Je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, desto weniger wird ein Wachstum des privaten Verbrauchs als Steigerung der Wohlfahrt angesehen.
  2. Unbezahlte Hausarbeit (und unbezahlte Pflege von Angehörigen?) wird erfasst.
  3. Investitionen in langlebige Konsumgüter, Strassen, Erziehung und Bildung werden nur nach ihrem jährlichen Nutzen in das ISEW einbezogen.
  4. Alle wohlfahrtsmindernden Ausgaben werden vom BSP abgezogen. Dazu gehören beispielsweise Ausgaben für Werbung, Arbeitsweg, Krankheitskosten infolge Umweltschäden, jegliche Umweltbelastungen und Umweltschäden, jede Ausbeutung von nicht erneuerbaren Ressourcen.
  5. Zuletzt werden noch Investitionen von Ausländern im Inland subtrahiert und umgekehrt Investitionen im Ausland addiert.

Wenn nun nach diesen Korrekturen ein Index für nachhaltiges Wirtschaften ISEW berechnet wird, so zeigt dieser Index interessante Ergebnisse für die USA.

Diese Grafik zeigt, wie das BSP durchschnittlich über 2,2% pro Jahr zunimmt und der ISEW seit 1969 deutlich rückläufig ist. Von 1951 bis 1985 ist der ISEW im Durchschnitt jährlich um 0,53% gesunken. Für Deutschland ergeben sich ähnliche Ergebnisse. Bei kontinuierlich steigendem BSP sinkt der Index für nachhaltiges Wirtschaften seit 1980 stark ab.

Solche Zahlen dürfen nicht absolut betrachtet werden, weil deren Berechnung sehr von der jeweiligen Wertung der Faktoren abhängig ist. Sie zeigen aber eine deutliche Tendenz auf. Steigendes Bruttosozialprodukt bedeutet nicht automatisch auch steigende Wohlfahrt. Vielleicht haben die industrialisierten Nationen den Punkt bereits überschritten, wo das steigende BSP zum Schaden für die Wohlfahrt von Menschen und Natur wird. Die Kritik an der Berechnung des BSP ist m.E. mehr als berechtigt. Hier kann der Schlüssel liegen, um eine neue Sicht für qualitatives Wachstum zu gewinnen, die zu einem Umdenken führt.

 

3.3.4 Fazit

Als Ergebnis der Untersuchungen über die Wachstumsproblematik können zusammenfassend folgende Punkte festgehalten werden:

Mögliche Ansätze zur Entschärfung der Wachstumsproblematik:

3.4 Umweltproblematik

3.4.1 Darstellung des Sachverhaltes

Nun kommen wir zum letzten Problembereich, der wiederum eng mit den vorher besprochenen zusammenhängt. Zur Beschreibung der Umweltproblematik übernehme ich das Raster, das Meadows / Randers in ihrem Buch "Neue Grenzen des Wachstums" anwenden. Sie unterscheiden zwischen Quellen und Senken.

Zu den Quellen gehören alle Ausgangsmaterialien, Energie in jeder Form und Bodenschätze, die dann im globalen Öko- und Wirtschaftssystem aufgenommen, verbraucht und umgewandelt werden. Dadurch entstehen Abfälle und Schadstoffe, die in den verschiedensten Senken abgelagert werden. Das können Schutthalden sein oder auch die Luft und das Wasser.

Nun kann man unterscheiden zwischen sich regenerierenden und sich nicht regenerierenden Quellen (und Senken). Den sich regenerierenden Quellen wie Nutzböden, Wasser und Wald darf nicht mehr entnommen werden, als sich gleichzeitig wieder regenerieren kann. Bei einer Übernutzung bricht die Liefermöglichkeit einer oder mehrerer Quellen zusammen, weil dadurch die Fähigkeit zur Selbstregeneration zerstört wird. So dürfen beispielsweise nicht mehr Fische gefangen werden, als gleichzeitig wieder durch Vermehrung entstehen.

Zu den Quellen, die sich nicht selbst regenerieren können, gehören Erdöllager und Bodenschätze jeglicher Art. Damit eine kontinuierliche Nutzung möglich bleibt, dürfen diese nicht rascher abgebaut werden, als zur gleichen Zeit sich selbst regenerierende Quellen für die gleiche Art der Nutzung geschaffen werden können. Im gleichen Mass, wie beispielsweise die Erdöllager zur Neige gehen, müssen die ausgefallenen Energiekapazitäten durch sich regenerierende Energieträger substituiert werden. Das könnte in diesem Fall durch Sonnenkollektoren geschehen. Die sich nicht regenerierenden Quellen werden immer zahlreicher, bzw. deren Kapazität geringer. Es zeigt sich, dass die Nutzung der Bodenschätze mit der Zeit immer aufwendiger wird, weil deren Konzentration an den verbleibenden Fundorten tendenziell abnimmt. Ebenso ist die Substitution begrenzt und mit Aufwand und Kosten verbunden.

Durch die Nutzung der Quellen in der Wirtschaft entstehen Schadstoffe und Abfälle, die in den Senken landen. Die Senken dürfen nur soweit belastet werden, dass deren Aufnahmekapazität, d.h. deren Fähigkeit Schadstoffe in ungefährliche Stoffe umzuwandeln, nicht überschritten wird. Sonst kann es leicht geschehen, dass eine Senke als System zusammenbricht. Wenn z.B. ein See infolge Überdüngung umkippt und stirbt, verliert er die Fähigkeit zur Aufnahme von Düngemitteln ganz.

Die Kapazität der Quellen und der Senken ist beschränkt. Damit eine kontinuierliche Durchsatzmenge von den Quellen über das Wirtschaftssystem zu den Senken gewährleistet ist, dürfen diese Kapazitäten nicht überzogen werden. Sicher werden immer noch neue Quellen gefunden und erschlossen und durch eine effizientere und schonendere Weise sparsamer genutzt. Auch können die Senken durch verbesserte Umweltschutzmassnahmen geschont werden. Doch alle diese Massnahmen erfordern Zeit und Aufwand. Darum gibt es eindeutig Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, wenn ein Zusammenbruch wie im Abschnitt 3.3.1 beschrieben, vermieden werden soll.

Die Umweltlast ist von verschiedenen Faktoren abhängig:

Die Umweltlast entspricht dem Durchsatz von den Quellen zu den Senken. Sie ist abhängig von der Bevölkerungszahl, welche gerade in den ärmeren Ländern rasch steigt. Neben den politischen und religiösen Rahmenbedingungen ist die Armut eine bedeutende Ursache für die Bevölkerungsexplosion.

Seit Jahrhunderten hat sich in den reichen Ländern ein riesiger Kapitalstock aufgebaut, der sich nun ständig weiter vermehrt. Die meisten Grundbedürfnisse und Verbraucherwünsche können in den wohlhabenden Ländern leicht gedeckt werden. […] Das Bevölkerungswachstum der reichen Länder ist gering. Deshalb kann deren Industrie viele Investitionsgüter produzieren und ist nicht gezwungen, relativ hohe Dienstleistungen zu erbringen, um den Grundbedürfnissen einer rasch wachsenden Bevölkerung, vor allem im Gesundheitswesen und in der Ausbildung nachzukommen. Das Bevölkerungs- und Kapitalsystem wirken so zusammen, wie es die zynische Formel beschreibt: "Die Reichen werden reicher, und die Armen kriegen Kinder."

Auf diesen Sachverhalt wurde bereits im Abschnitt 3.3.1 hingewiesen. Die Umweltlast ist auch abhängig vom Wohlstandsfaktor, der sich zusammensetzt aus der Nachfrage und dem Durchsatz der Güter. Gerade in den reichen Ländern ist der Ressourcenverbrauch pro Kopf gegenüber den armen Ländern sehr hoch. In den Entwicklungsländern könnte die Bevölkerungsentwicklung durch eine Steigerung des Wohlstandes stabilisiert werden. Im Gegenzug dazu müsste die Nachfrage und die Menge der verbrauchten Güter in den Industrieländern eingeschränkt werden. Dem steht entgegen, dass die Bevölkerungsexplosion die Armut in den Entwicklungsländern vergrössert. Im Gegensatz dazu ermöglicht die Vermehrung des Reichtums in den Industrieländern eine zusätzliche Nachfrage nach Gütern. Um diesem Dilemma entgegen zu wirken, ist eine gerechtere Verteilung der Geldmittel nötig (siehe Abschnitt 3.1).

Der Technikfaktor beschreibt den Zusammenhang, dass die Umweltlast um so kleiner wird, je effizienter und emissionsärmer die eingesetzte Technik ist. Der Einsatz von effizienten und emissionsarmen Techniken erfordert einen entsprechenden politischen Willen und die nötigen finanziellen Mittel, die aber gerade in den ärmeren Ländern fehlen.

 

3.4.2 Beurteilung nach der aktuellen Ökonomie

Das Umweltschutzproblem wird als solches erkannt; z.B. werden folgende vier Ziele für den Umweltschutz genannt:

Zur Verwirklichung dieser Ziele werden verschiedene wirtschaftspolitische Massnahmen für den Schutz der Umwelt vorgeschlagen. Dazu zählen Regelungen, die dem Verursacher von Umweltschäden die Kosten belasten (Verursacherprinzip). Eine weitere wirksame Massnahme wäre die Besteuerung von natürlichen Ressourcen und von Emissionen nach ökologischen Kriterien. Ein Beispiel dafür ist die CO2 Abgabe. Weiter könnten direkte Eingriffe in die Wirtschaft durch Verbote und verschärfte Umweltschutzbestimmungen die Umweltbelastung verringern. Solche Massnahmen werden aber nur sehr harzig eingeführt, da sehr schnell ein Konkurrenznachteil gegenüber denjenigen Ländern geltend gemacht wird, die solche Abgaben und Vorschriften nicht kennen.

Der Verwirklichung einer ökologischen Kostenwahrheit auf nationaler Ebene stehen grosse Widerstände entgegen. Selbst wenn solche Umweltabgaben international eingeführt würden, wäre die Ablehnung der reichen Länder vorprogrammiert, weil sie durch den pro Kopf der Bevölkerung grösseren Ressourcenverbrauch und Emissionsausstoss per Saldo die Bevölkerung der armen Länder entschädigen müssten. Durch die Verwirklichung der ökologischen Kostenwahrheit würde sich möglicherweise zeigen, dass sich eine immer weiter gesteigerte Produktion nicht mehr lohnt, weil der Nettonutzen abnimmt (vgl. dazu Abschnitt 3.3).

 

3.4.3 Beurteilung durch den Kritikerpool

Wie wir bereits mehrfach festgestellt haben, ist der Wert der Natur, der in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen enthalten ist, völlig unterbewertet. Der ökonomische Nutzen aus Natur, Umwelt und Boden ist sehr ungleich verteilt.

Die neuzeitlichen Nationalstaaten beruhen auf dem Territorialprinzip. Die Erde ist durch Grenzen aufgeteilt in verschiedene Staaten. Diese wiederum sind unterteilt in verschiedene Gebiete und Parzellen, die sich teilweise im Staats- und grösstenteils im Privateigentum befinden. Nach der Analyse von Silvio Gesell müssen solche Territorien immer wieder verteidigt werden. Das bedeutet "Völkerrecht ist Krieg – Menschenrecht ist Frieden." Tatsächlich wurden und werden unter irgendeinem ideologischen Vorwand immer wieder Kriege geführt, um ein bestimmtes Gebiet, Rohstoffe und Ressourcen zu verteidigen, oder mit Gewalt zu erobern.

Weil für die Benützung des Bodens dem Eigentümer die sogenannte Bodenrente bezahlt werden muss, hat der Boden die gleiche Funktion wie verzinsliches Finanzkapital. Darum kann die Bodenrente auch unter dem Aspekt von Geld und Zins betrachtet werden. Der Ansatz von Gesell geht dahin, dass alle staatlichen und privaten Vorrechte auf den Boden aufgehoben werden.

Der Erde, der Erdkugel gegenüber sollen alle Menschen gleichberechtigt sein, und unter Menschen verstehen wir ausnahmslos alle Menschen – ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Bildung und körperlichen Verfassung. Jeder soll dorthin ziehen können, wohin ihn sein Wille, sein Herz oder seine Gesundheit treibt. […] Kein Einzelmensch, kein Staat, keine Gesellschaft soll das geringste Vorrecht haben. Wir alle sind Altangesessene dieser Erde.

Das Vorrecht besteht darin, dass für den Boden eine Privatbodenrente erhoben werden kann. Um dieses Vorrecht aufzuheben, kauft der Staat den Grundbesitzern den gesamten Boden für eine angemessene Entschädigung ab. Die Höhe dieser Entschädigung richtet sich nach den momentan realisierbaren Pachtzinsen. Nehmen wir an, für ein Grundstück wird 1 Million Franken Pachtzins pro Jahr bezahlt. Das entspricht bei 5% Zins einem Grundstückpreis von 20 Millionen Franken in kapitalisierter Form. Diese Entschädigung wird den Grundbesitzern über verzinsliche Staatsschuldscheine ausbezahlt.

Der Boden ist dann Eigentum des Volkes und nicht mehr Eigentum von Privatpersonen und auch nicht Eigentum des Staates. Der Staat darf m.E. nicht der Idee verfallen, dass er nun zu eigenen Zwecken über den Boden verfügen darf; der Staat soll eine rein dienende Funktion haben. Der Boden wird nun öffentlich nach Angebot und Nachfrage an Private und Firmen langfristig verpachtet. Mit den eingenommenen Pachtzinsen werden die Staatsschuldscheine verzinst. Soweit ist es eigentlich ein Nullsummenspiel; der Grundeigentümer zieht aus den Staatsschuldscheinen den Zins, den er vorher über die Bodenrente eingenommen hat.

Der Sinn dieser Prozedur kommt erst dann zur Geltung, wenn gleichzeitig das Freigeld eingeführt wird (siehe Abschnitt 3.1.3). Wenn durch die entsprechenden Massnahmen die Zinsen gegen 0% fallen, müssen die ausgegebenen Staatsschuldscheine mit der Zeit nicht mehr verzinst werden. Dadurch wird es möglich, diese nach und nach abzuzahlen. Die eingenommenen Pachtzinse können dann immer mehr für ökologische und soziale Aufgaben verwendet werden. Nach dem Vorschlag von Silvio Gesell soll dieses Geld unter alle Frauen und Kinder verteilt werden. Das sind heute vielleicht Fr. 700.- pro Person und Monat, die nicht über Steuergelder, sondern durch den Gebrauch der Erde auf der wir leben, finanziert werden. Dies hat eine unerhört emanzipatorische Wirkung für diejenigen Frauen und Männer, die heute unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung leisten. Welches Befreiungspotential in einer solchen Regelung steckt, kann nur erahnt werden.

Wo liegen aber die Probleme?

Es wird etwa eingewendet, dass ein Grundeigentümer besser zum Boden schaut als ein Pächter. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Eigentumsrecht auf Boden nicht vor kurzfristigen Interessen, Raubbau und Zerstörung schützen kann. Andererseits können Pächter durch langfristige Pachtverträge (bis lebenslänglich) und durch geeignete Vertragsbestimmungen, bzw. Auflagen, dazu motiviert werden, den Boden ökologisch schonungsvoll zu nutzen.

Ein weiteres Problem stellt sich mit der Einführung einer solchen Bodenreform. Ist deren Einführung auch allein auf nationaler Ebene möglich und sinnvoll, oder funktioniert das nur, wenn möglichst viele Länder mitmachen? Etliche weitere Fragen bleiben hier ungeklärt.

Die Vorteile eines solchen Bodensystems sind unübersehbar. Das Bewusstsein, dass die Erde nur ein anvertrautes Gut ist, würde im täglichen Leben selber erlebt. Da es allen Menschen möglich ist, angebotenes Land zu pachten, ist auch die Freizügigkeit in bezug auf den Wohnort verbessert und die Zölle und Staatsgrenzen werden mehr und mehr überflüssig; eine sehr moderne Forderung. Das Prinzip, dass der Boden einen ökologischen Geldwert hat, der allen Menschen gehört, müsste ausgeweitet werden auf alle Naturgüter. Jeder Verbrauch von Ressourcen und jede Belastung der Senken durch Abfallstoffe müsste entsprechend den ökologischen Kosten dem Verursacher finanziell belastet werden. Wer sich ökologisch verhält, wird belohnt. Eine ökologische und sozial sinnvolle Produktion und Wirtschaftsentwicklung wird auf diese Weise gefördert und vielfach erst ermöglicht.

Hans Christoph Binswanger zielt in eine ähnliche Richtung. Er stellt fest, dass bei der Produktion von Gütern der Mehrertrag, der sich in einem zu verteilenden Geldwert ausdrückt, zu einem grossen Teil aus der Natur stammt. Auf diese Weise wird die Natur ausgebeutet. Der entsprechende Mehrertrag oder Gewinn kommt nicht vorwiegend aus der Arbeit oder einer besonderen Leistung. Durch die Produktion wird Natur in Waren verwandelt, die für Geld verkauft werden. Dieses Geld lässt sich im Gegensatz zur Natur beliebig vermehren. So kommt es zu einem Missverhältnis zwischen Geld und Natur. Das Geld beinhaltet fast beliebig wachsende Ansprüche an die Nutzung der Natur, welche die Möglichkeiten der Natur sehr bald übersteigen. Sein prinzipieller Lösungsansatz drückt sich in folgender Formulierung aus:

Die Geld-Schöpfung, die im Belieben des Menschen steht, muss der Natur-Schöpfung, die nicht Sache des Menschen ist, untergeordnet werden.

Die Geld-Schöpfung entspricht eigentlich dem Sozialprodukt. Nach seiner These steigt dieses überproportional nicht nur wegen dem technischen Fortschritt, sondern auch wegen dem zunehmenden Raubbau an den nicht vermehrbaren, bzw. nicht regenerierbaren Vorräten der Natur.

Warum ist das so? Der Boden, die Bodenschätze und die sogenannt freien Güter wie Luft und Wasser geraten zunehmend von einem allgemeinen Gebrauch zu einem industriellen, geldwirtschaftlichen Gebrauch. Die Natur wird so zu einem Geldkapital, das sich meistens im Privateigentum befindet. Sobald die Natur zu einem Kapital wird, muss dieses Naturkapital entsprechend rentieren und sich verzinsen. Beispielsweise kann der Eigentümer von einem Erdölfeld einen Preis für das geförderte Erdöl verlangen, der deutlich über den Kosten der Gewinnung liegt. Diese Mehreinnahmen entsprechen dem Zins auf dem Kapitalwert des Erdölfeldes. Damit werden bestimmte Ressourcen rentenpflichtig und zwar um so mehr, je knapper diese Ressourcen werden.

Interessanterweise hat die Rente oder die Zinsbelastung auf Ressourcen den positiven Aspekt, dass die Ressourcen vorübergehend weniger stark angeboten und genutzt werden, weil in Zukunft ein höherer Preis dafür erwartet wird. Die Naturgüter bekommen paradoxerweise erst dann einen Preis und tragen zum Sozialprodukt bei, wenn diese bereits knapp sind. Hier stellt sich m.E. die Frage, wer den Nutzen aus den knappen Naturgütern ziehen darf. Heute ist dieser Nutzen sehr ungleich verteilt (siehe Abschnitt 3.1). Andererseits greift die Lenkung des Ressourcenverbrauchs über den Preis erst dann, wenn die entsprechende Ressource bereits irreversibel ausgebeutet oder in ihrer Regenerationsfähigkeit geschädigt ist.

Die Lenkung des Ressourcenverbrauchs greift nicht bei den sogenannt freien Gütern wie Wasser, Luft und dem nicht kommerziell genutzten Boden, weil diese nur einen sehr geringen Preis haben. Sie dienen als Abfallkübel, der fast gratis zur Verfügung steht. Nach Binswanger können die Gegensätze zwischen Ökonomie und Ökologie nicht ausgeglichen werden. Selbst dann nicht, wenn alle ökologischen Kosten nach dem Verursacherprinzip auf die Preise überwälzt werden, und zusätzlich in der staatlichen Investitionspolitik und Gesetzgebung geeignete Umweltschutzkriterien eingebaut werden.

Zur Begründung unterscheidet er zwischen einem ökologischen und einem ökonomischen Kreislauf. Im ökologischen Kreislauf entspricht die Produktion der Reproduktion, und der Konsum übertrifft die Reproduktion nicht. Alle Abfälle werden wieder verwendet. Durch negative Rückkopplungen stellt sich ein Fliessgleichgewicht ein, das sich an einer Sättigungs- oder Kapazitätsgrenze der Natur annähert (vgl. mit zweiter Grafik auf Seite * im Abschnitt 3.3.1). Auf diese Weise funktionieren die meisten Lebensprozesse.

Im Gegensatz dazu werden im ökonomischen Kreislauf bei der Produktion und dem Konsum natürliche Ressourcen verbraucht und Abfälle produziert. Diese Abfälle können mit technischen Mitteln nur unvollständig und unter grossem Aufwand wieder in Ressourcen verwandelt werden. Dadurch nimmt die Entropie als Mass für die Unordnung ständig zu. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die Konzentration der Rohstoffe weltweit abnimmt, was den Aufwand zur Extraktion oder Gewinnung dauernd vergrössert.

Der ökonomische Kreislauf hat starke Wachstumstendenzen, und es ist kein wirksamer Bremsfaktor zu erkennen, der die Wirtschaft auf einem für die Umwelt erträglichen Niveau stabilisieren könnte. Darum muss es zu einem Zusammenprall des ökologischen und ökonomischen Systems kommen.

Die Wirtschaft und das Sozialprodukt wachsen exponentiell (siehe Abschnitt 3.3). Immer mehr Menschen verbrauchen immer mehr Ressourcen und produzieren immer mehr Abfall. Dadurch wird die Natur empfindlich gestört, der Umweltverzehr steigt überproportional zum Wirtschaftswachstum, und auch die Kosten für den Umweltschutz steigen überexponentiell. So kann es geschehen, dass das Sozialprodukt ständig steigt, und die Lebensqualität plötzlich zu sinken beginnt; der Nettonutzen sinkt bei steigendem Sozialprodukt. Weil es rentiert, neben den Ersatzinvestitionen auch immer wieder neue Nettoinvestitionen zu tätigen, wächst der Kapitalstock dauernd und damit auch die Wirtschaft. Die Natur wird kapitalisiert und dem Wachstumszwang des Geldes unterworfen.

Wenn der Zusammenprall der ökonomischen und ökologischen Entwicklung verhindert werden soll, "müssen wir den exponentiellen Wachstumstrend der Wirtschaft in einen der Entstehung der Welt entsprechenden logistischen Entwicklungsprozess, d.h. in ein neues ökonomisch-ökologisches Kreislaufsystem, einmünden lassen." Die ökologischen Grenzen lassen sich nicht beliebig erweitern, auch mit dem Einsatz von sehr viel Energie zu konstanten Preisen nicht. Die sogenannten Back-Stop-Technologien (Plutoniumenergie und Fusionsenergie), mit denen aus Erde irgendwelche Rohstoffe in beliebiger Menge hergestellt werden können, scheitern daran, dass sie die Erdatmosphäre aufwärmen. Diese Erwärmung hat äusserst negative Auswirkungen auf das Klima der Erde. Die Anwendung dieser Technologien verlagert das Problem nur auf einen anderen Bereich. Auch die grosstechnologische Verwendung der Solarenergie ist begrenzt durch die erforderliche Bodenfläche, welche gar nicht für eine solche Nutzung frei ist. Der Boden ist bereits heute sehr knapp. Die Natur hat Grenzen, die nicht einfach ungestraft überschritten werden können.

Warum wird die Natur mit ihren Grenzen in der Wirtschaft nicht, zu wenig oder zu spät wahrgenommen? Welche Rolle spielt die Natur in der ökonomischen Theorie?

In der ökonomischen Theorie wird der Zusammenhang der Produktion mit den Produktionsfaktoren in einer Produktionsfunktion ausgedrückt. Auf diese Produktionsfunktion beziehen sich auch Hans Diefenbacher und Ulrich Ratsch, um den Wert der Natur in der ökonomischen Theorie aufzuzeigen.

Das Sozialprodukt (Produktion) P ist in der aktuellen ökonomischen Theorie nur abhängig von Arbeit A, vom eingesetzten Kapital K und vom Fortschritt F. Aus dieser Produktionsfunktion ergeben sich zwei Beobachtungen.

  1. Nach dieser Theorie ist ein fast unbegrenztes Wachstum der Produktion möglich und vorprogrammiert. Die Arbeitsleistung steigert sich etwa parallel zum Bevölkerungswachstum. Das eingesetzte Kapital muss nach den Gesetzen der Kapitalanlage exponentiell zunehmen, und es ist beliebig vermehrbar. Auch der technische Fortschritt und der Zuwachs an Wissen und Können sind grundsätzlich nicht begrenzt. In dieser Produktionsfunktion sind keine wirklich begrenzenden Faktoren enthalten.
  2. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die Natur. Wo in früheren Wirtschaftstheorien noch Arbeit und Boden als wesentliche Produktionsfaktoren aufgefasst wurden, so fällt heute der Boden, die Umwelt und die Natur vollständig unter das Kapital. Die endliche Natur wird durch unendlich vermehrbare Geldwerte ausgedrückt. Das allein ist ein Widerspruch in sich selbst. Die nutzbaren Naturgüter werden kapitalisiert und befinden sich im Privateigentum. Dieses Eigentum an Boden und Naturgütern verlangt wie jedes Kapital nach einer Rente. Die Bodenrente wird zu einem Ertrag des Kapitals.

Diese Analyse bestätigt auch Hans Christoph Binswanger.

Das wichtigste Ergebnis unserer Untersuchung sei vorweggenommen. In der Stufenfolge der ökonomischen Theorien wurde aus der Kooperation von Arbeit und Boden eine Kooperation von Arbeit und Kapital, […]. Der Boden und die übrigen Ressourcen wurden dabei in das Kapital einbezogen und den Gesetzen des Kapitals unterstellt. […] Die Produktion im Sinn der Geldschöpfung (Notengeld, Buchgeld) ist weitgehend von den Bedingungen der Natur unabhängig.

Die Zerstörung der Umwelt ist eine direkte Folge davon, dass die Natur in der ökonomischen Theorie nur noch als Kapital betrachtet wird, das eine entsprechende Rendite abwerfen muss.

In diesem Zusammenhang sind mir drei Gedanken wichtig geworden.

Diefenbacher / Ratsch weisen noch auf mögliche Zusammenhänge zwischen Armut, Reichtum und Naturzerstörung hin. Diese seien hier als Abrundung der Problematik aufgeführt:

Wie können aber diese unglücklichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen entschärft werden? Die Erste Welt sollte die Produktion und den Konsum von Gütern durch Steigerung der Effizienz und durch eine kluge Beschränkung der Bedürfnisse ökologisch und ressourceschonend gestalten. Länder mit starkem Bevölkerungswachstum hingegen sollten durch brauchbare Familienplanungsprogramme das Wachstum der Bevölkerung stoppen. Das kann aber nur gelingen, wenn die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass die soziale Gerechtigkeit in den armen Ländern verbessert werden kann. Wie die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändert und die Ansprüche der Reichen gesenkt werden sollen, wird m.E. auch in der Arbeit von Diefenbacher / Ratsch zu wenig deutlich.

 

3.4.4

Fazit

Als Ergebnis der Untersuchungen über die Umweltproblematik können zusammenfassend folgende Punkte festgehalten werden:

Mögliche Ansätze zur Entschärfung der Umweltproblematik:

3.5 Zusammenfassung

Bei der Darstellung der verschiedenen Problembereiche ist immer wieder aufgefallen, wie eng sie eigentlich miteinander verbunden sind. Obwohl viele Detailfragen nicht ausführlich behandelt werden konnten, kristallisieren sich m.E. grundsätzlich zwei Schwerpunkte heraus, die sowohl die Ursachen für die beschriebenen Probleme, als auch die Ansätze zu einer positiven Veränderung enthalten.

Der Finanzbereich

Im Bereich des Geldes haben wir gesehen, dass eine allgemeine Senkung des Zinsniveaus eine deutliche Entschärfung der Problemsituation bringen würde. Das Geld sollte wieder zu einem reinen Tauschmittel für Waren und Arbeit werden, ohne dass mit Geld wieder zusätzliches Geld "verdient" werden kann. Die Ökonomie ist gefordert, ein Finanzsystem zu entwickeln, welches den Zwang zum Wachstum ausschliesst.

Die Realisierung dieser Lösungsziele ist vielleicht utopisch, aber durchaus nicht unmöglich. Weil das Finanzsystem von Menschen geschaffen wurde, kann es auch von Menschen wieder verändert werden. Darum formuliere ich folgendes Postulat:

Die Menschen sollten vom Anspruch des Geldes auf Zinsen und Renditen befreit werden.

Der Umweltbereich

Im Bereich der Umwelt zeigte es sich, dass mit dem Wachstum des BSP auch ein Wachstum der Umweltbelastung einhergeht. Durch die konsequente Umsetzung der ökologischen Kosten auf die Preise könnte der Naturverbrauch reduziert werden. An den Naturgütern sollten alle Menschen gleichermassen ein Nutzungsrecht haben.

Wir sind uns gewohnt, unsere Erde aus der Perspektive von Besitz, Herrschaft und Territorium anzusehen. Um das langfristige Überleben von Mensch und Natur zu sichern, sollten wir umdenken. Darum formuliere ich folgendes Postulat:

Die Natur sollte von den Besitz- und Rentenansprüchen des Kapitals

zum Nutzen aller Menschen befreit werden.

4 Kriterien für ein verantwortbareres Geldsystem

Im Abschnitt 3 wurden verschiedene Kritikpunkte am aktuellen Finanzsystem beleuchtet. Als Ergebnis habe ich zwei Postulate formuliert, die ausdrücken, was eigentlich geschehen sollte, um die Probleme im Zusammenhang mit dem aktuellen Geld- und Wirtschaftssystem nachhaltig zu entschärfen.

Nun müssen wir aber noch einmal zurückfragen nach den Begründungsmustern oder den Kriterien für ein verantwortbareres Wirtschaftssystem. Das schliesst die Annahme ein, dass ein Wirtschaftssystem mit seinen Regeln und Auswirkungen im finanziellen Bereich überhaupt verantwortet werden muss. Diese Annahme ist aber heute keineswegs selbstverständlich. Die Verantwortung wird gerne wegen den "unumstösslichen" Gesetzen des freien Marktes abgelehnt. Wem gegenüber müssen sich eigentlich die Menschen verantwortlich fühlen?

Um Kriterien für ein verantwortbareres Geldsystem zu finden, ist es sinnvoll, ein Frageraster aufzustellen:

Diese Fragen sind als Leitlinien zu verstehen, um den Sinn und die Zielrichtung der Kriterien für ein verantwortbareres Geldsystem besser einordnen zu können. Es wird nicht möglich sein, in den nächsten Abschnitten immer alle Fragestellungen zu behandeln. Darum bleiben die Darstellungen beispielhaft und unvollständig.

 

4.1 Das Ideal in der realen Marktwirtschaft

Eine ideale Marktwirtschaft kann wie folgt beschrieben werden. Die reine Marktwirtschaft ist ein freiheitliches Wirtschaftssystem, das die individuellen Wünsche und Ziele ins Zentrum stellt. Die Steuerung der Wirtschaft erfolgt über den Markt, wo Angebot und Nachfrage über den Preismechanismus und die Konkurrenz optimal ausgeglichen werden. Als positive Triebkraft gilt die individuelle Nutzen-, Effizienz- und Gewinnmaximierung. Wenn es jedem einzelnen Wirtschaftssubjekt finanziell gut geht, dann geht es allen gut. Das Gewinnstreben wird durch das Privateigentum gewährleistet. Das Privateigentum kann wiederum zur Gewinnsteigerung eingesetzt werden, und es beinhaltet gleichzeitig die Grundlage für die individuelle Kaufkraft.

In der idealen Marktwirtschaft müssen die gesteckten Ziele auch durch ein entsprechendes Geld- und Finanzsystem unterstützt werden. Diese Ziele sind

Die Ziele der idealen Marktwirtschaft sind nicht zu kritisieren. Selbst die reale Marktwirtschaft hat unbestreitbare Vorteile. Die persönliche Entscheidungs- und Wahlfreiheit sind wertvolle Freiheiten (Güter). Die reale Marktwirtschaft ist wirtschaftlich effizient und hat für einen Teil der Menschen einen grösseren Wohlstand gebracht.

Wo liegen die Grenzen der Marktwirtschaft? In aller Kürze nenne ich hier einige Schwachstellen, die in der realen Marktwirtschaft auftreten.

  1. Die Konkurrenz wird teilweise ausgeschaltet durch die Bildung von Kartellen, Monopolen und den Einsatz von Werbung.
  2. Die Arbeit wird zu einer Ware, die nach Angebot und Nachfrage gehandelt wird, was bei Überangebot zu Arbeitslosigkeit und zu Lohndruck führt.
  3. Naturgüter, die keinen Preis haben, werden für ein unbeschränktes Wachstum verschwendet. Wenn Naturgüter einen Preis haben, befinden sie sich vielfach in Privatbesitz.
  4. Die grossen Einkommens- und Vermögensunterschiede verhindern eine gerechte Verteilung der Güter. Die Chancengleichheit ist im Finanzsystem nicht gewährleistet.
  5. Die Kapitalinteressen setzen sich gegenüber Sozial- und Umweltinteressen durch. Dann erst wird eine Marktwirtschaft kapitalistisch.
  6. Konjunkturschwankungen und Wirtschaftskrisen sind ein Indiz für die Instabilität des Systems, das nur schwer zu beeinflussen ist.

Die Liste mit den Schwachstellen der realen Marktwirtschaft ist lang. Darum wird auch immer wieder versucht, durch entsprechende Korrekturen eine soziale Marktwirtschaft zu verwirklichen. Um die Richtung zu finden, in der das aktuelle Geld- und Wirtschaftssystem verändert werden sollte, müssen wir noch nach weiteren Kriterien Ausschau halten.

 

4.2 Natürliche Wirtschaftsordnung

Unter der natürlichen Wirtschaftsordnung verstehe ich hier nicht ein bestimmtes Wirtschaftssystem. Ich beziehe mich auf allgemeine Aussagen in der verwendeten Literatur, die nicht einen speziellen theologischen oder ökonomischen Hintergrund haben. Als "natürlich" können die folgenden Aussagen und Wertvorstellungen nur insofern bezeichnet werden, als sie sich an menschlichen und ökologischen Rahmenbedingungen orientieren.

Meadows / Randers entwerfen ein Bild einer nachhaltigen Gesellschaft. Eine nachhaltige Gesellschaft und ein ihr entsprechendes Geld- und Wirtschaftssystem müssen so gestaltet sein, dass die Existenz dieser Gesellschaft über alle Generationen hinweg gesichert bleibt. Damit das möglich wird, müssen folgende Kriterien erfüllt sein (Auswahl):

Der letzte Punkt ist m.E. nur realisierbar, wenn das Finanzsystem derart abgeändert wird, dass es bei Nullwachstum nicht zusammenbricht.

Nach welchen Grundwerten richtet sich eigentlich die Wirtschaftstheorie von Silvio Gesell? Ohne zu stark ins Detail zu gehen, fallen mir zwei Werte auf, die er sehr stark verteidigt. Einerseits geht er davon aus, dass alle Menschen der Erde gegenüber gleichberechtigt sind. Territoriale Abgrenzungen verabscheut er ebensosehr wie die Ausbeutung von Boden und Naturgütern zum Nutzen von einzelnen Menschen. Andererseits soll niemand von Zinsen oder Bodenrenten leben, sondern nur durch die eigene Arbeit. Niemand darf einen Vorteil haben durch etwas, das in seinem Besitz ist. Vom Eigentum dürfen keine Forderungen nach Zins und Rendite abgeleitet werden.

Zum Schluss dieses Abschnittes gebe ich gerafft noch das weiter, was Hans Diefenbacher und Ulrich Ratsch als positive Zielrichtung angeben:

Solche Zielrichtungen werden selten in Frage gestellt. Wir wissen sehr wohl, was eigentlich zu tun wäre. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, dass diese Ziele verwirklicht werden können? Wie kann das Verhalten in Politik, Wirtschaft und im privaten Leben angemessen verändert werden? Ich denke, dass die obigen Ziele auch eine Anfrage an unser Wirtschafts- und Finanzsystem stellen. Die wirtschaftlichen Sachzwänge sind oft wirksamer als der gute Wille von Menschen.

 

4.3 Theologische Kriterien und Zielvorstellungen

Es ist nicht die Absicht und das Ziel dieser Arbeit, theologische Kriterien für ein verantwortbareres Finanzsystem auch nur ansatzweise herzuleiten und darzustellen. Ich versuche lediglich, zwei Ansätze in ihren Grundzügen vorzustellen.

 

4.3.1 Theologische Kriterien

Arthur Rich hat in zwei Bänden zur Wirtschaftsethik seine theologischen Maximen umfassend herausgearbeitet, dargestellt und auf die Wirtschaftssysteme und Ordnungsstrukturen in der Wirtschaft angewendet. Als Ziel seiner Wirtschaftsethik gibt er folgendes an:

[…] unter dem Anspruch der absoluten Forderung der Humanität aus Glauben, Hoffnung, Liebe [ist] die Verwirklichung von relativem Sinn in der Wirtschaft möglich als Kampf um Ordnungsstrukturen, die auf der Relationalität der Werte basieren und der sozialen Partizipation, der personenbejahenden Mitmenschlichkeit wie der die Umwelt in Mitwelt verwandelnden Mitgeschöpflichkeit ein Mehr an Chancen geben. Die in alledem zu postulierende Umsetzung der in den Kriterien der Humanität aus Glauben, Hoffnung, Liebe sich bekundenden absoluten Forderungen in relative Maximen, die auch in einer Welt des Unvollkommenen Bestand haben, praktikabel sind und so das Menschengerechte in der Wirtschaft faktisch fördern können, soll das Ziel dieser Wirtschaftsethik sein.

Die Kriterien und Maximen, die Arthur Rich aufführt, können folgendermassen aufgeschlüsselt werden:

Die Maximen sind menschengerecht, wenn

Nun bleibt die Frage, welche Ordnungsstrukturen in der Marktwirtschaft diese Kriterien am besten erfüllen, ohne dass der Rahmen des Sachgemässen gesprengt wird. Ein eigener Versuch, Ordnungsstrukturen in bezug auf das Finanzsystem aufzustellen, folgt im Abschnitt 5.1.

 

4.3.2 Eigene Zielvorstellungen

Bisher blieb die Betrachtungsweise fast ganz auf den innerweltlichen Bereich beschränkt. Bei theologischen Fragestellungen geht es auch um die Beziehung zu Gott. Die Frage nach Gottes Ansicht und Willen kann den Blick schärfen, um unsere Situation in einem grösseren Zusammenhang zu betrachten.

Anstatt nun grosse Theorien aufzustellen, versuche ich einige Gedanken aus der Sicht Gottes in Ichform zu formulieren, so wie ich sie mir etwa vorstellen könnte. Dieses Gedankenexperiment ist gewagt, völlig anfechtbar und kann als naiv bezeichnet werden. Doch ist nicht die menschliche Rede von Gott eine Sachgemässe?

Nach meinem Plan habe ich die Erde geschaffen nach guten Ordnungsprinzipien. Das Leben hat seinen Ursprung in mir selbst. Ich habe mich entschieden für das, was gut und lebensförderlich ist. Die Menschen habe ich geschaffen, damit ich Gemeinschaft mit ihnen haben kann. Die Erde und alles, was darauf ist, gehört mir. Wer der Natur oder einem Menschen einen Schaden antut, hat von meinem Schöpfungswerk nichts begriffen.

In ihrer anfänglichen Unkenntnis bekamen die Menschen Zweifel an meiner Güte; sie wollten alles selber wissen. Aber gerade daran bin ich interessiert, dass sich meine Menschen in vollem Bewusstsein aller Möglichkeiten des Guten und Bösen wieder auf meine Seite stellen. Darum habe ich auch meinen Sohn in die Welt geschickt, um die Menschen über meine Pläne und Absichten zu orientieren und den Erlösungsweg zu schaffen. Ich will jeden Menschen annehmen und ihm eine ewige Zukunft in meinem Reich schenken, jedem der sich mir freiwillig und von Herzen anvertraut.

Die Erde kann man vergleichen mit einer Art Aufzuchtgarten für Menschen, die einmal in meinem Reich leben sollen. Es schmerzt mich sehr, wie die Menschen miteinander und mit der Erde umgehen, und wie verantwortungslos sie gegenüber mir handeln. Es ist unbedingt nötig, dass sie die Prinzipien lernen, die ein dauerhaftes Leben auf der Erde und im Himmel ermöglichen. Denn im Himmel werden sie noch viel mehr Möglichkeiten haben, und die negativen Auswirkungen bei einem Fehlverhalten oder einem Ungehorsam werden ungleich grösser sein. Die Menschen müssen Liebe lernen! Das ist das Geheimnis des Lebens. Besonders wichtig ist eine dienende Haltung gegenüber mir und den Mitgeschöpfen. Die Erde ist den Menschen anvertraut worden. Doch sie führen sich auf wie ein Rudel wild gewordener Wölfe, die in Rangstreitigkeiten und Raubzügen ihren Lebensinhalt haben.

Ich will die Menschen und die Natur befreien von ihren Zwängen. Wieviele Menschen werden in sich gehen, umkehren und wieder das werden, was sie sein sollen, bevor ich die Aktion "Aufzuchtgarten Erde" abbreche?

Diese Ausführungen und Vorstellungen haben auch den Sinn, zum eigenen Nachdenken über solche Hintergründe aufzufordern und anzuregen. Gerade im Widerspruch und in der Auseinandersetzung mit ungewohnten Gedanken können neue Einsichten gewonnen werden.

 

4.4 Zusammenfassung

Die Ziele einer idealen Marktwirtschaft werden nicht bestritten. Weil aber die Leistungen der real existierenden Marktwirtschaft nicht befriedigend sind, werden sie von den natürlichen und theologischen Ansätzen her erweitert und konkretisiert.

Das Wirtschafts- und Finanzsystem soll so geregelt sein, dass es einerseits den Menschen gerecht wird und andererseits die Natur als Mitwelt einbezieht. Die Menschen sollen sich nach ihren Bedürfnissen und Neigungen entfalten können, aber nicht auf Kosten von anderen Menschen oder der Umwelt. Daraus ergibt sich folgende Zielrichtung für ein gegenüber Gott, den Menschen und der Natur verantwortbareres Geldsystem:

Aus dem blossen Eigentum an Geld oder Naturgütern dürfen keine Rechte abgeleitet
werden, die Mensch und Umwelt irgendwie schaden oder ein Ungleichgewicht schaffen.

Diese Zielrichtung deckt sich auffallend mit den zwei Postulaten, die ich zusammenfassend im Abschnitt 3.5 formuliert habe. Es kann natürlich eingewendet werden, dass mein Wunsch die Ursache dieser Übereinstimmung ist. Doch sollten die dargestellten Ansätze in sich selbst überzeugend genug sein.

5 Ein modifiziertes Geldsystem im Kreuzfeuer

5.1 Ein modifiziertes Geldsystem nach Abschnitt 4

Es ist sicher sinnvoll, vom bestehenden Finanzsystem auszugehen und nur diejenigen Punkte aufzuzeigen, die verändert werden müssten, damit das System als Ganzes nach den ethischen Kriterien in Abschnitt 4 verantwortbarer wird. Nach den Möglichkeiten dieser Arbeit kann nur die allgemeine Richtung angegeben werden, in der eine Lösung anzustreben ist. Hier müsste die Arbeit der Ökonomen erst recht beginnen.

5.1.1 Neue Spielregeln

Neue Ordnungsformen und Spielregeln anzugeben hat nur einen Sinn, wenn deren prinzipielle Realisierbarkeit vorausgesetzt wird. Ich sehe zwei Bereiche, in denen eine deutliche Änderung des aktuellen Finanzsystems vollzogen werden müsste. Einerseits müsste der Geltungs- und Funktionsbereich des Geldes angepasst und andererseits der Einbezug der Natur ins Geldsystem neu geregelt werden. Die nötigen Veränderungen sind in folgender Tabelle zusammengefasst. Für die jeweilige Begründung verweise ich besonders auf Abschnitt 3.

Geld

Heutiges Finanzsystem

Modifiziertes Geldsystem

Umlaufsicherung des Geldes

durch Kapitalzins
je nach Anlage 2-20%

durch Negativzins, gestaffelt nach Anlagedauer, ca. 5% für Umlaufgeld.

Zinsniveau

durchschnittlich 5%

durchschnittlich 0% für langfristige Anlagen.

Verteilung

Der Eigentümer von Kapital ist im Vorteil gegenüber dem Lohnabhängigen; Kapital verdrängt Arbeit.
Vermögen wachsen exponentiell.


Die Einnahmen aus den Negativzinsen werden zur Steuerung der Geldmenge teilweise wieder sozial verteilt.

Verschuldung

Jedes für Zins angelegte Kapital
entspricht einer Verschuldung
von anderen Menschen.

Die versteckte Verschuldung in den Preisen fällt weg. Die Schulden können nicht mehr exponentiell wachsen.

Kredite

Kredite sind durch Zinsen und Amortisation belastet.

Kredite müssen in einer kurzen Zeit zurückbezahlt werden (beschränkender Faktor).

Sparen

Nur wenige Menschen können wirklich sparen und das Vermögen durch Zinsen wachsen lassen.

Weil die versteckte Verschuldung wegfällt, können viele Menschen sparen; Erspartes = gespeicherte Arbeit.

Inflation

Die Inflation ist schwer kontrollierbar. Die Geldwertstabilität ist nicht gesichert.

Durch Anpassung des Negativzinses und die gezielte Rückführung kann die Geldmenge und damit die Inflation gesteuert werden. Die unkontrollierte Geldschöpfung fällt weg.

 

 

Natur

Heutiges Finanzsystem

Modifiziertes Geldsystem

 

 

Wachstum

Der Zwang zum dauernden Wirtschaftswachstum ist systembedingt. Entsprechender Verschleiss an Natur ist die Folge.

Nullwachstum oder ein ökologisch begrenztes, qualitatives Wachstum ist systemkonform. Der Zwang zum Wachstum entfällt.

Bewertung der Naturgüter

Die Naturgüter befinden sich zum grossen Teil im Privateigentum und bilden einen Teil des renditepflichtigen Kapitals.

Alle Naturgüter und Abfallstoffe werden nach ökologischen Kriterien finanziell bewertet und dem Verbraucher, bzw. dem Erzeuger über den Preis belastet. Der Boden wird aus dem Privateigentum herausgelöst. Pachterträge und Ökoabgaben werden verteilt.

Umweltschutz

Produktion mit Umweltverschmutzung bringt vielfach höhere Gewinne.

Umweltschutz wird nur unter Druck ausgeübt.

Durch die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips profitieren einerseits alle Menschen vom Naturgebrauch (über die verteilten Ökoabgaben) und andererseits wird der effiziente und sparsame Gebrauch belohnt.

Die aufgeführten Veränderungen sind unvollständig. Sie lassen aber erahnen, welch grosse Verbesserungen durch das modifizierte Geldsystem erzielt werden könnten. Nur vergleichsweise kleine Änderungen haben eine grosse Wirkung.

Sicher sind die Möglichkeiten zur Anpassung des heutigen Finanzsystems optimistisch beurteilt. Darum wollen wir auch nach den weiteren Auswirkungen und Problemen im Zusammenhang mit den vorgeschlagenen Modifikationen am bestehenden System Ausschau halten.

 

5.1.2 Auswirkungen, Probleme und Ansätze zur Überwindung

Wenn tatsächlich das Zinsniveau durch die Einführung eines Negativzinse gegen 0% gedrückt werden könnte (zur Einschränkung vgl. mit Abschnitt 3.3.3), dann hätte das ohne Zweifel gravierende Auswirkungen auf den Vermögensbestand und das Einkommen derjenigen Personen, welche heute vorwiegend von den Kapitaleinkünften leben. Etwas systematischer unterscheide ich folgende Problembereiche und Ansätze zur Überwindung:

Die Einführung des modifizierten Geldsystems würde gewaltige Widerstände der mächtigen und finanzstarken Bevölkerungsteile hervorrufen. Repression, Erpressung und die Drohung mit Wirtschaftskrisen und Krieg müssen erwartet werden. Beachtenswert ist die Beobachtung, dass viele Menschen meinen, dass sie vom jetzigen Finanzsystem profitieren. In Wirklichkeit aber zahlen auch sie darauf und müssen mit einer sinkenden Lebensqualität leben. Wir leben in einer Demokratie. Da sollte es doch möglich sein, eine Mehrheit für die guten Ziele zu gewinnen. Etwas traurig stimmt mich aber die Tatsache, dass viele Menschen es aufgegeben haben, die Durchsetzbarkeit von wirklichen Reformen als möglich zu erachten, weil sie meinen (vielleicht zurecht?), dass wir von den Geldmächtigen regiert und manipuliert werden. Abhilfe kann nur gezielte und beständige Information der Bevölkerung bringen. Zusätzlich kann bei zunehmender Verschärfung der Umweltproblematik mit einer wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen in diesem Bereich gerechnet werden.

Eine weltweite Einführung der vorgeschlagenen Reformen ist höchst unrealistisch. Doch ist die Realisierung auch in kleineren Gebieten (Staaten, Regionen) sinnvoll und notwendig. Es ist vorteilhaft, wenn die Reformen zuerst in kleineren Gebieten als Modellbeispiele eingeführt werden, damit die Auswirkungen, die Vor- und Nachteile sichtbar werden.

Das Informationsdefizit über das Finanzsystem und den Zusammenhang mit der Natur ist enorm. In den Schulen, den Medien und den Kirchen sollten entsprechende Modelle, Vorträge, Computerspiele, Filme und dergleichen entwickelt und angeboten werden.

Die Zeit drängt. Einerseits sehen wir schnelle politische Veränderungen in unserer Zeit. Andererseits kommen die Anpassungen im Umweltbereich zaghaft, wenig effizient und sehr spät zur Verwirklichung. Meadows / Randers haben eindrücklich gezeigt, dass wenn die Massnahmen zur Schaffung einer nachhaltigen Gesellschaft erst im Jahr 2015 und nicht schon im Jahr 1995 eingeleitet werden, ein mittleres Katastrophenszenario folgt, das ohne schmerzhafte Einbrüche der Lebenserwartung und der Nahrungsmittelproduktion nicht mehr auskommt.

Die Gefahr einer Diktatur steigt. Wenn die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme in Zukunft überhand nehmen, dann ist es leicht möglich, dass sich die Massen für einen falschen Heilsbringer begeistern lassen. Das wäre dann die Diktatur der Sachzwänge. Das Geldsystem darf niemals verabsolutiert werden. Die Gefahr des Machtmissbrauchs über das Geldsystem, besonders wenn es aus naheliegenden Gründen elektronisch und bargeldlos wird, ist nach meiner Beurteilung sehr gross. Es kann keine wirksamere Kontrolle über Menschen geben als über die Kontrolle des Geldsystems. Wer sich einem zukünftigen Machthaber des Geldsystems widersetzt, kann leicht vom Geldsystem ausgeschlossen werden, so dass er nicht mehr kaufen und verkaufen kann. Auf diese Weise ist es möglich, bestimmte Personen und Gruppen völlig zu isolieren, auszustossen und der Vernichtung preiszugeben (vgl. mit Offenbarung 13,16 f.). Die Teilhabe am Geldsystem darf nie mit Bedingungen oder Nachteilen verknüpft werden.

Einschränkungen sind nicht beliebt. Die Beschränkung der Ansprüche kann aber auch dazu führen, dass wir mehr Zeit und Musse haben. Dazu kommt noch das gute Gefühl, Teilhaber an der ganzen Erde zu sein. So wird das Teilen leichter.

 

5.2 Mokassin-Prinzip als Test für ein modifiziertes Geldsystem

Zuerst will ich erklären, was das Mokassin-Prinzip eigentlich beinhaltet und bezweckt.

Als ich in den USA einmal ein Indianer-Reservat besuchte, fand ich dort an einer Hütte folgenden Spruch: "Bevor ich nicht zwei Wochen lang in den Mokassins meines Nachbarn gegangen bin, will ich ihn nicht anklagen und verurteilen." Ich musste denken: Was die Indianer hier praktizieren, stünde auch uns Christen gut an.

Etwas theologischer formuliert es Daniel Holz-Schmid, wenn er den Positionswechsel als Paradigma der theologischen Wirtschaftsethik propagiert.

Diejenigen, die sich in der Position des Stärkeren, Reicheren, Mächtigeren befinden, sollen sich in die Position der Schwächeren, Ärmeren und Unterdrückten begeben, wenn sie die Beziehung wahrnehmen, reflektieren und neu gestalten, die sie als Mächtigere gegenüber den Unterdrückten einnehmen.

Die Liebe ist das Motiv, der Hintergrund, der uns ermöglicht, Verständnis und Einsicht in die Situation anderer Menschen zu haben, ohne diese zu verurteilen. Es hat auch einen seelsorgerischen Aspekt, wenn man als vermeintlich Starker die Position des Schwächeren einnimmt oder dessen Mokassins anzieht. Genau diesen Versuch wollen wir jetzt unternehmen.

Ich beschränke mich auf die drei Positionen, Eigentümer, Lohnempfänger und Natur. Diese charakterisieren die grundsätzlichen Stellungen, die im Wirtschaftssystem möglich sind. Es sind dies die gleichen, wie bei der einleitenden Darstellung der Verschuldungsproblematik im Abschnitt 3.1.1.

 

5.2.1 Position des Eigentümers

Der Eigentümer lebt vorwiegend aus dem Ertrag des Eigentums in Form von Boden, Sachgütern und Geldwerten. Viele Menschen sind irgendwo auch am Eigentum beteiligt. Doch reden wir hier von denjenigen Personen, die vorwiegend von der Rendite ihres Kapitals leben.

Durch die Modifizierung des Geldsystems ist diese Gruppe am stärksten betroffen, weil ihre Vermögen nicht mehr auf Kosten der Natur und auf Kosten der Lohnabhängigen wachsen können. Im Grunde ist es gar kein richtiger Verlust, denn die Vorwegnahme von zukünftigen Gewinnen in die Vermögenswerte und in die Vermögenserträge ist unverdient.

Auch die Vorstellung jetzt plötzlich nur noch Pächter auf dem vormals eigenen Land zu sein, ist für viele Bodenbesitzer unerträglich und ruft heftigsten Widerstand hervor. Normalerweise hat die Gruppe der Besitzenden die Macht, ihre Interessen gegen alle Angriffe zu verteidigen. Nur wirkliche Argumente können überzeugen und zu einer Umkehr der Verhältnisse führen.

Welche Befreiung kann das bedeuten, wenn ein Reicher seine Identität nicht mehr in seinem Besitz suchen muss, sondern seine Berufung, sein Leben und seine ganze Existenz in Gott findet und ein Diener Gottes wird. So wie der Oberzöllner Zachäus durch die Begegnung mit Jesus Christus derart berührt wurde, dass er die Hälfte seines Besitzes den Armen gab (vgl. Lukas 19,1-10), so können auch heute Menschen von Haben zum Sein befreit werden. Auch das Geld muss den Menschen und Gott dienen und darf nicht zum Gott werden.

Viele Wohlhabende sind sich weder bewusst, welche Auswirkungen das heutige Finanzsystem hat, noch dass es eine praktische Alternative gibt. Die Mehrheit der Besitzenden würde sich wahrscheinlich für mehr Stabilität im modifizierten Geldsystem entscheiden, anstatt auf die unsichere Vermehrung der Vermögen zu pochen. Zuletzt ist auch das Argument wichtig, dass mit der Bodenreform und dem konsequent angewendeten Verursacherprinzip die Natur dauerhaft erhalten und geschützt werden kann, damit die Lebensgrundlage für alle Menschen für lange Zeit gesichert bleibt.

 

5.2.2 Position des Lohnempfängers

Viele Lohnempfänger gehören auch zu den Eigentümern, wenn auch in einem geringeren Mass. Zu ihnen gehören auch Bankdirektoren und Börsenmakler, soweit sie das Geld anderer Leute verwalten und anlegen. Lohnunterschiede sind in einem gewissen Ausmass sicher gerechtfertigt. Auch viele Lohnabhängige sind sich über die Funktionsweise des Geldsystems nicht im klaren. Häufig sind sie der Ansicht, dass sie sogar davon profitieren. Sie realisieren die versteckten Zinsen in den Preisen selten. Dabei sind sie zu einem guten Teil Sklaven des Geldes und damit Sklaven der Geldeigentümer. Die Befreiung der Arbeit von der Zinsenlast könnte für die Lohnbezüger eine grosse Erleichterung bringen.

Ebenso könnte die unbezahlte Arbeit in den Familien endlich durch die sozial verteilten Bodenrenten (Pachterträge) entsprechend honoriert werden. Allein diese neue Verteilung des Nutzens aus dem Boden hat das Potential, bestehende Machtstrukturen zu durchbrechen und aufzulösen. Das macht Angst. Es ist aber auch eine Chance.

 

5.2.3 Position der Natur

Auch der Eigentümer und der Lohnempfänger sind ein Teil der Natur. Das ist eine triviale Feststellung, die aber gerne übersehen wird. Die Natur bildet die Lebensgrundlage von uns Menschen, den Pflanzen und Tieren. Es ist beängstigend, dass immer mehr Pflanzen und Tierarten aussterben oder bedroht sind. Einmal wird auch die Menschheit davon betroffen sein, wenn die Natur den ihr gebührenden Stellenwert nicht zurückbekommt.

Die Erde, die Natur ist Schöpfung Gottes. Die Natur ist nicht Gott. Sie ist vielleicht Gottes Angesicht, aber sie darf keinesfalls vergöttlicht werden. Die Erde ist allen Menschen von Gott zum Nutzen anvertraut worden. Natürliches Wachstum kennt seine Grenzen. Jedes Wirtschaftssystem, das die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung in sich trägt, entspricht den Gesetzen der Natur und letztlich auch der Idee Gottes.

 

5.3 Verantwortung und Möglichkeiten der Christen

Christen kennen die Möglichkeit der Vergebung und der Umkehr. Christen kennen Gott und seine guten Massstäbe, die in Gottes Liebe ihren Ausdruck finden und ein Leben auf der Erde erst ermöglichen. Christen sind an die Kraftquelle angeschlossen, die Mauern durchbricht und Hindernisse überwindet. Sie tragen die Hoffnung in sich, dass es eine bessere Welt gibt, für die es sich zu arbeiten lohnt, selbst wenn sich das aktuelle Finanzsystem nicht ändern lässt. Es ist unsere Verantwortung, unsere Hoffnung zu bezeugen.

Im Gegensatz zu den potentiellen Möglichkeiten, die der christliche Glaube eröffnet, sind die Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge oft erschreckend gering. Es ist darum unsere Verantwortung, uns selbst und andere über die Mechanismen des Finanz- und Wirtschaftssystems zu informieren, um anschliessend nach Alternativen zu forschen. Der Rückzug auf das eigene Seelenheil ist nicht legitim.

Was können Christen heute tun? Wir sollten unsere eigene Verschuldung soweit wie möglich abbauen, damit wir von diesen Abhängigkeiten loskommen. Zusätzlich sollten wir darauf hin wirken, dass der Staatshaushalt wieder in Ordnung kommt und die staatliche Verschuldung abgebaut wird. Reiche Christen haben die Aufgabe, sozial und ökologisch verantwortlich und nicht gewinnmaximierend ihr Geld anzulegen. Gewinne aus Finanzgeschäften sollten an die Bedürftigen weitergegeben werden.

6 Schlussbetrachtungen

6.1 Offene Fragen – Rückblick und Ausblick

Die ganze Arbeit hatte das Ziel, die sechs im Abschnitt 1.3.1 gestellten Fragen zu beantworten. Die Ergebnisse und die Schlussfolgerungen wurden bereits an den betreffenden Stellen zusammengefasst und brauchen hier nicht noch einmal aufgeführt zu werden.

Die wirtschaftlichen Zusammenhänge in bezug auf Geld, Zins und Natur sind äusserst komplex und vielschichtig. Der Versuch, diese Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen aufzuschlüsseln, blieb fragmentarisch und mosaiksteinartig. Hier besteht ein gewaltiger Forschungsbedarf nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Ökonomie.

Die Probleme werden immer offensichtlicher und die Zeit drängt, um eine Lösung anzustreben. Christen und ihre Kirchen sind herausgefordert, die moderne Versklavung von Mensch und Natur durch Zins und Rente aufzudecken und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Ist das zu krass ausgedrückt? Es geht um die Frage, was im Kontext des heutigen Finanzsystems sittlich geboten ist. Das Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten im Geldsystem ist noch stark unterentwickelt.

Je klarer und realisierbarer die Alternativen und Lösungsansätze werden, desto ethisch und sittlich dringender werden die nötigen Veränderungen am Geld- und Zinssystem. Heute ist es ganz legal, mit Geld immer wieder mehr Geld zu "verdienen" auch auf Kosten der Umwelt, soweit es die geltenden Gesetze zulassen. Wenn aber ein alternatives Geldsystem mit offensichtlichen Vorteilen das Überleben von Mensch und Umwelt auf die Dauer besser gewährleistet, dann hat niemand mehr eine Entschuldigung für sein räuberisches Verhalten gegenüber anderen Menschen und der Natur.

Darum ist es die Aufgabe aller wohlgesinnten Menschen, besonders der Theologen, Ökonomen Ökologen und Politologen, nach besseren Ordnungsformen zu forschen. Das modifizierte Geldsystem, welches im Abschnitt 5.1 skizziert wurde, kann nur ein kleiner Beitrag sein. Selbst wenn die grossen Ziele nicht erreichbar sind, sollte alles, was bei den gegebenen Umständen realisierbar ist, auch in die Tat umgesetzt werden.

Wie geht es weiter? Wenn keine einschneidenden Veränderungen an der Funktionsweise des heutigen Finanzsystems vorgenommen werden, dann wird es wie bisher zu weiteren Krisen kommen, welche die vorherigen übertreffen, weil in Zukunft die Umwelt- und Ressourcenprobleme zunehmen werden.

Meine Befürchtung ist, dass die Menschheit in einer zukünftigen, wirtschaftlichen und ökologischen Notsituation eine diktatorische Ordnungsform als vermeintliche Lösung akzeptieren wird. Meine Hoffnung ist, dass die Einsicht und der Wille zu positiven Veränderungen wachsen und sich gegen die zerstörerischen Kräfte durchsetzen werden.

 

6.2 Persönlicher Lernprozess

Das Thema hat mich von Anfang an sehr interessiert. Die Auseinandersetzung mit der verwendeten Literatur war nicht immer einfach und hat einiges an Aufwand gekostet. Doch wurde ich mit vielen neuen Einsichten und mit einem besseren Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge belohnt.

Zu Beginn habe ich mir die Aufgabe und die Lösungsmöglichkeiten einfacher vorgestellt. Es hat sich gezeigt, dass die Schwierigkeiten im Detail liegen. Manchmal war ich begeistert über die neuen Möglichkeiten, die sich auftaten. Manchmal war ich niedergeschlagen, je mehr ich die Ausweglosigkeit der besprochenen Probleme realisierte und mir die immensen Hindernisse zu deren Lösung bewusst wurden.

Mein eigener Umgang mit Geld und die Beziehung zur Natur haben sich durch diese Arbeit noch nicht stark verändert. Das Problembewusstsein hat aber deutlich zugenommen. Ich realisiere aber auch eine gewisse Hilflosigkeit und einen Mangel an Handlungsmöglichkeiten, die eine Verbesserung bewirken könnten. Es ist unbedingt notwendig, alternative Geldsysteme, welche Mensch und Natur besser gerecht werden, in der Praxis zu testen und zu verbessern.

Das Thema hat mich gepackt. Darum werde ich mich sicher weiter mit der Problematik um Geld, Zins und Natur beschäftigen und in der einen oder anderen Form aktiv werden.

 

6.3 Drei Texte zum Ausklang

Zum Ausklang gebe ich hier drei Texte weiter, quasi als Anhang. Sie sind als Gedankenanregung gedacht. Die beiden ersten Texte kontrastieren zum letzten Text. Zusammen spiegeln sie unsere Situation, in der wir herausgefordert werden, ethische und religiöse Entscheidungen zu treffen.

6.3.1 Nach Psalm 15, 1-5

Wer hat Anrecht auf Zukunft?
Wer wird das einundzwanzigste Jahrhundert gewinnen?

Wer tut, was recht ist,
und nicht im Strom des Unrechts schwimmt.

Wer kritisch bleibt gegenüber allen Propagandareden.

Wer sich bemüht,
Feindbilder zu durchschauen und sie abzubauen.

Wer sich nicht blind mit der Macht verbündet.

Wer auf Taktik verzichtet
und den Schwachen zu seinem Freund macht.

Wer zu seinem Versprechen hält,
auch wenn es ihm Verluste bringt.

Wer mit seinem Vermögen andere nicht ausbeutet,
sondern teilt und auf Zinsen verzichtet.

Wer unbestechlich bleibt und keine Geschenke annimmt
und so die Freiheit behält, den Unschuldigen zu schützen.

Wer der Unsitte ‘Eine Hand wäscht die andere!’
Einhalt gebietet und einen geraden Weg geht.

Wer in jedem Menschen seinen Partner,
Gottes Ebenbild, erkennt.

Wer dem zur Seite Steht, der sein Vertrauen auf Gott setzt.

Eine Gesellschaft, die so lebt, wird Zukunft finden,
weil Hoffnung und Vertrauen in ihr wachsen können.

 

6.3.2 Nach Psalm 24, 1-6

Die Erde gehört Gott.
Alles, was auf ihr lebt und webt, ist sein,
der Erdkreis und die, die darauf wohnen.

Gott hat Himmel und Erde, Land und Meer gegründet.
Was wir haben und sind, ist nur von ihm geliehen.

Wer darf vor Gott treten, mit ihm reden? –
Alle, die mit dem, was Gott gab, sorgfältig umgehen:
wer sauber bleibt und verantwortlich lebt;
wer vertraut und für das Gute eintritt;
wer nicht alles so dreht, wie er es gerade braucht,
sondern der Gesellschaft ehrlich dient;
wer Dunkel nicht für hell erklärt –
und das auch noch falsch beeidet.

Den wird Gott segnen und mit seiner Gerechtigkeit begaben.

Eine neue Generation wird aufstehen,
die nach dir fragt und dich sucht,
deinen Frieden, deine Gerechtigkeit, du Gott Jakobs.

 

6.3.3 Über die Zeit, das Geld und die Börse

Am Ende aller Tage, schreibt Johannes in der Apokalypse, kommt der Teufel zu uns herab. "Und er hat einen grossen Zorn. Denn er weiss, dass er wenig Zeit hat." Vielleicht sind wir selbst das Böse? Denn auch wir haben wenig Zeit.

"Die Enge der Zeit", schreibt Hans Blumenberg, "ist die Wurzel des Bösen." Menschliche Bosheit entsteht, weil "ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat."

König Midas, einer von uns Endlichen, wollte sich die unendlichen Wünsche erfüllen. Er forderte von den Göttern, dass alles, was er berührte, zu Gold werde. Bekanntlich wurde auch das Brot, das er essen wollte, zu Gold und das Wasser, mit dem er seine Lippen netzte. So verreckte er an seiner Gier.

Der Gierige galt jahrhundertelang als Unmensch, als Sünder. Denn er wird nicht reich durch Arbeit, sondern durch das Nutzen von Zeit, durch das Geschäft der Bankiers und Börsianer.

Der Scholastiker Thomas von Chobham lehrt: "So leiht der Bankier dem Schuldner nicht, was ihm gehört, sondern nur die Zeit. Die aber gehört Gott." Und: "Der Geldmensch möchte, ohne zu arbeiten und selbst im Schlafe, einen Gewinn erzielen, was gegen das Gebot des Herrn verstösst."

Jacques Le Goff interpretiert in seinem Traktat "La bourse et la vie" die Sünde jener, die Geld haben, um es zu mehren, um es zu haben: "Es ist der Handel mit Tagen und Nächten. Der Tag, das ist das Licht. Die Nacht, das ist die Ruhe, die Zeit der Stille. Tag und Nacht sind die irdischen Vertreter der beiden grossen eschatologischen Heilsmomente des Lichts und des Friedens. Mit diesen beiden höchsten Gütern treibt der Geldmensch seinen Handel."

Die erste Schweizer Münze mit Datum, ein zwei Gramm schwerer silberner Plappart, wurde 1424 in St. Gallen geschlagen. Damals vermehrten die Menschen auch Geld, aber sie mussten in den Bergwerken arbeiten. Die Arbeit schlug den Takt der Zeit. Zeitmass war Menschenmass.

Heute leben wir im Kreditgeldsystem. Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Geld ist aufgehoben. Alles Geld ist selbstvermehrend unterwegs, auch die Banknoten sind durch verzinsliche Staats- und Privattitel "gedeckt". Die Geldmenge steigt unerbittlich. Und so der Zwang zum Kaufen und zum Produzieren.

Weltweit sind 80 Billionen Franken Wertschriften unterwegs. Bei einem Zinssatz von sieben Prozent ergibt sich also der Zwang, jährlich 5,6 Billionen Sozialprodukt [mehr] zu erzeugen. Es ist die Zeit, die vorschreibt, was geschieht, nicht mehr der Mensch und seine natürlichen Wünsche. Wir sind Getriebene geworden. Es ist die Zeit, die uns regiert und ihr Bankert, der Zins.

Prediger des Heils versprechen immer das gleiche: "Die gerade Lebenden würden noch erleben, was überhaupt zu erleben sei" (Blumenberg).

Unsere Prediger sitzen vor Computer-Batterien in den Research-Abteilungen der Banken. Sie versprechen ewig steigende Gewinne, denn sie haben das System "Zeit" durchschaut. Mit ihren "Derivaten" gewinnen sie immer. Es muss nur noch Zeit ablaufen. Zeit ist Zins, und dieser Zins wird zugebucht. Geld wird nicht mehr gezahlt. Es wird gezeigt.

Alle Heilslehren aber, lehrt der Religionsforscher Benz, leben davon, dass sich "die Zeit beschleunigt". Anders lässt sich die nervös gespannte Erwartung der Adepten nicht aufrechterhalten.

Unsere Heilslehre heisst freie Marktwirtschaft. Ihre Verheissung, dass die Zukunft auf Dauer immer besser wird als die Gegenwart, erreicht sie durch einen exzellenten Beschleuniger, die Börse. Dieser Turbo-Charger erzeugt Heilserwartungen mit zunehmendem Tempo. Zuletzt 50 Prozent p.a. Gewinne (Europa), 100 Prozent (Südamerika), 150 Prozent (Emerging countries).

Sollten die Notenbanken den Zins auf null senken (und warum nicht, um endlich "richtig anzukurbeln"!), wären die Aktienkurse nahe unendlich. Doch schon bei heutigen Zuwachsraten ist der Reichtum in wenigen Jahren so gross, das[s] er unsere Vorstellungskraft sprengt.

Mit dem täglich über die Börsen der Welt geschaufelten Vermögen lassen sich Erdteile kaufen, mit sämtlichen darauf befindlichen Produktionsmitteln, Maschinen, Fabriken, Goldtresoren. In 15 Jahren werden es 200 Billionen sein. Wenn die heute Neugeborenen ins Rentenalter gehen, sind es zwei Trillionen. Unser Geldvermögen wird durch Zeitablauf ins Unendliche gebläht. Otto Liebmann schrieb 1904: "Gesetzt den Fall, es verliefe jedes Geschehen mit genau derselben Geschwindigkeit, so würde gar kein Zeitmass vorhanden sein. Der Strom des Geschehens wäre dann uferlos."

Das Geheimnis der Börse liegt in ihrem zum übrigen Weltgeschehen unterschiedlichen Tempo. Die Börse summiert alle Tatsachen, Meinungen, Gerüchte, die es zum Zeitpunkt X überhaupt gibt. Insofern hat sie "immer recht". Denn es gibt niemanden, der mehr wissen könnte als sie.

Die Börse ist zugleich Antizipationsmechanismus. Sie ist immer der Zeit voraus. Sie zwingt, die Marktteilnehmer, die Zukunft zu deuten. Die Börse ist auf Dauer ein Widerspruch in sich. Sobald nämlich alle alles wissen, kann es weder Käufer und Verkäufer geben.

Noch gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten, mit denen reagiert, gedacht, gehandelt, gelitten wird. Die Börse nennt das Arbitrage, das Nutzen von Differenzen. Früher die Arbitrage zwischen Orten. Laut erstem Buch zum Thema Wirtschaft (Chiarini, 1481) lag die Arbitrage zwischen Siena und Florenz bei fünf Prozent – für eine Strecke von 70 Kilometern! An der Amsterdamer Börse handelte ab dem 17. Jahrhundert die Arbitrage zwischen Zeiten. Termin vs. Kassa.

Heute geht es um die Arbitrage zwischen der Intelligenz der Marktteilnehmer, im Klartext: ihrer Computer. Die arbeiten zwar allesamt mit genau gleichem Tempo, doch die Bewertungen der programmierten Daten divergieren noch. Wie geht es weiter?

Die Geschwindigkeiten von Computer und Dateneingabe werden sich immer weiter angleichen. Eines Tages wird alles rund um die Uhr zur Kasse und per Termin gehandelt, um noch irgendwo eine winzige Differenz herauszukitzeln, selbst der Weltuntergang kommt am Chicago Board of Trade schon zur Notiz, der Katastrophenindex – "please trade the end of the world!".

Momentum nannten die Römer die allerkleinste erfahrbare Zeiteinheit. Es ist die Fälligkeit. Der Augenblick, da Geld und Brief zusammenfallen. Ist es vorstellbar, dass dieser Moment eintritt, dass alle Konten fällig gestellt werden, alles, was Kurs hat, verkauft wird?

Es ist vorstellbar. Es wird der Moment sein, in dem wir alles (per Datenbanken) wissen, was es zu wissen gibt. Dann hat die Zeit uns alle gleich gemacht. Wir erfahren dann auch, dass die Zinseszinsreise ein Ausflug in eine Zeit war, die es nie geben kann.

Das Publikum ahnt schon, dass sehr viel mehr nicht zu erleben ist. Wir sehnen uns nach Verlangsamung, um noch etwas von der Zeit zu haben, wir suchen Dekompression, Detemperierung.

Wir sehnen uns nach Musse, nach Nichtstun, nach "Zeithaben". Doch auch diesen Wunsch wird die Zeit verschlingen. Das Geheimnis der Welt ist, dass die Zeit keine Zeit mehr hat.

Sie ist der Teufel. Und sie wird uns zornig holen.

7 Literaturverzeichnis

Binswanger Hans Christoph, Geld und Natur. Das wirtschaftliche Wachstum im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie, Stuttgart und Wien, Edition Weitbrecht 1991.

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Duchrow Ulrich, Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche?, München, Chr. Kaiser 1986.

Gesell Silvio, Die natürliche Wirtschaftsordnung. Durch Freiland und Freigeld, Lauf bei Nürnberg, Rudolf Litzmann (1916) 91949 Hg. v. Karl Walker, 101984.

Holz-Schmid Daniel, Positionswechsel: Ein Paradigma theologischer Wirtschaftsethik, (Gesellschaft und Ethik 14), Zürich, Theologischer Verlag Zürich 1993, S. 203.

Kennedy Margrit, Geld ohne Zinsen und Inflation. Ein Tauschmittel das jedem dient, München, Wilhelm Goldmann, überarbeitete und erweiterte Ausgabe 1991, Originaltitel, Interest and Inflation Free Money, Steyerberg, Permaculture Publications 1988.

Martin Paul C., Über die Zeit, das Geld und die Börse, Sondernummer BILANZ Uhren 4/94, S. 31 f.

Meadows Donella u. Dennis / Randers Jørgen, Neue Grenzen des Wachstums, Reinbeck bei Hamburg, Rowohlt 1993, Originaltitel, Beyond the Limits, Post Mills Vermont USA, Chelsea Green Publishing Co 1992.

Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK), Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft, Genf, WCC Publications 1992.

Rich Arthur, Marktwirtschaft - Möglichkeiten und Grenzen, Sonderheft Reformatio, 42. Jg. (1993) S. 6-18.

Rich Arthur, Wirtschaftsethik, Bd. 2. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Gütersloh, Gerd Mohn 1990.

Schwarz Christian A., Der Liebe-Lern-Prozess. Die Revolution der Herzen, Mainz-Kastel, C&P Verlag 1990.

Stork Dieter, Zukunft, die heute beginnt. Die Psalmen – neu gelesen, Stuttgart, Katholisches Bibelwerk GmbH, 1992.

Strahm Rudolf H., Wirtschaftsbuch Schweiz, Das moderne Grundwissen über Ökonomie und Ökologie, Aarau und Frankfurt am Main, Verlag Sauerländer 31992.

Suter Christian, Schuldenzyklen in der Dritten Welt, Frankfurt am Main, Anton Hain 1990.


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