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Freiwirtschaftliche Bibliothek
Steenkamp 7
D-26316 Varel
Von Werner Onken
Gesells Ausgangsfrage lautete: Wie läßt sich die Eigenschaft des Geldes als wucherndes Machtmittel überwinden, ohne es dabei als neutrales Tauschmittel zu beseitigen? Die Macht des Geldes über die Märkte führte er auf zwei Ursachen zurück: Erstens ist das herkömmliche Geld als Nachfragemittel anders als die menschliche Arbeitskraft oder die Güter und Dienste auf der Angebotsseite der Wirtschaft hortbar - ohne nennenswerten Schaden für seinen Besitzer kann es aus spekulativen Gründen vorübergehend von den Märkten zurückgehalten werden. Zweitens hat das Geld den Vorteil, daß es sehr viel flüssiger ist als Waren und Dienstleistungen; wie der Joker im Kartenspiel ist es zu jeder Zeit und an jedem Ort einsetzbar. Diese beiden Eigenschaften verleihen dem Geld - vor allem den Besitzern größerer Summen - ein besonderes Privileg: Sie können den Kreislauf von Käufen und Verkäufen, Sparen und Investieren unterbrechen oder von den Produzenten und Konsumenten einen Zins als besondere Prämie dafür verlangen, daß sie auf die spekulative Kassenhaltung verzichten und das Geld in den wirtschaftlichen Kreislauf weitergeben.
Die strukturelle Macht des Geldes beruht nicht allein auf seiner tatsächlichen Hortung, sondern es genügt bereits die Möglichkeit von Kreislaufunterbrechungen, um den wirtschaftlichen Stoffwechsel im sozialen Organismus an die Bedingung zu knüpfen, daß dabei zuerst das Geld mit einem Zins bedient werde. Die Rentabilität erhält den Vorrang vor der Wirtschaftichkeit, die Produktion wird mehr am Zins des Geldes als an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Dauerhaft positive Zinssätze stören die für eine dezentrale Selbstordnung der Märkte notwendige Balance von Gewinnen und Verlusten. Gesell zufolge führen sie zu einer Erkrankung des sozialen Organismus mit einer sehr komplexen Symptomatik: Das zinstragende und darum nicht-neutrale Geld bewirkt eine leistungswidrige, ungerechte Einkommensverteilung, welche ihrerseits zu einer Konzentration von Geld- und Sachkapital,und damit zu einer Monopolisierung der Wirtschaft führt. Da die Geldbesitzer Herren über Bewegung oder Stillstand des Geldes sind, kann das Geld nicht 'von selbst' durch den sozialen Organismus fließen wie das Blut durch den menschlichen Körper. Deshalb sind eine gesellschaftliche Kontrolle des Geldumlaufs und eine richtige Dosierung der Geldmenge nicht möglich; deflationäre und inflationäre Schwankungen des allgemeinen Preisniveaus lassen sich nicht vermeiden. Und wenn sich im Auf und Ab der Konjunkturen größere Geldsummen wegen eines zeitweise sinkenden Zinsniveaus solange von den Märkten zurückziehen, bis die Aussichten auf rentable Anlagen wieder besser werden, ergeben sich Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit.
In seinen Frühschriften sprach Gesell ausdrücklich von "rostenden Banknoten" als Mittel zu einer "organischen Reform des Geldwesens". Durch sie werde das Geld, das bislang ein "toter Fremdkörper" sowohl im sozialen Organismus als auch in der gesamten Natur war, in das ewige Stirb und Werde allen Lebens integriert; es werde gleichsam vergänglich und verliere seine Eigenschaft, sich durch den Zins und Zinseszins bis ins Unendliche zu vermehren. Eine solche Reform des Geldwesens wäre eine ganzheitliche Regulationstherapie, welche die Blockaden im Geldfluß auflöst und dem kranken Sozialorganismus eine Hilfe zur allmählichen Selbstheilung von den vielfältigen konjunkturellen und strukturellen Krisensymptomen gibt, so daß er sich in seinem Gleichgewicht stabilisieren und sich in die harmonische Gesamtordnung der Natur einfügen könnte.
In seinem 1916 in Berlin und Bern erschienenen Hauptwerk "Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" legte Gesell ausführlich dar, wie sich bei einer störungsfreien Geldzirkulation Kapitalangebot und -nachfrage ausgleichen, so daß das Zinsniveau unter seine bisherige Untergrenze von real drei Prozent absinken kann. Der "Urzins", der Tribut der arbeitenden Menschen an die Macht des Geldes, verschwindet aus dem Zins, welcher nun nur noch aus der Risikoprämie und der Bankvermittlungsgebühr besteht. Die Schwankungen der Marktzinssätze um diesen neuen Gleichgewichtszins sorgen für eine dezentrale Lenkung der Ersparnisse in bedarfsgerechte Investitionen. Sie heben sich aber gegenseitig auf. "Freigeld" als ein vom " Urzins" befreites Geld wird verteilungsneutral und kann auch keinen gegen die Interessen von Anbietern und Nachfragern verstoßenden Einfluß auf Art und Umfang der Produktion mehr ausüben. Der volle Arbeitsertrag werde, so Gesells Erwartung, breite Bevölkerungsschichten in die Lage versetzen, lohn- und gehaltsabhängige Beschäftigungsverhältnisse aufzugeben und sich in privaten und genossenschaftlichen Betriebsformen selbständig zu machen.
Frühzeitig distanzierte sich Gesell von rassistischen und antisemitischen Ideologien. Obgleich er stark von Darwins Evolutionslehre beeinflußt war, widersprach er sozialdarwinistischem Denken. Einem übersteigerten Nationalismus entgegentretend, setzte er sich für eine Verständigung mit den westlichen und östlichen Nachbarn Deutschlands ein. Die Expansionspolitik der Nationalstaaten sollte durch eine machtfreie Föderation europäischer Staaten abgelöst werden. Darüber hinaus entwickelte Gesell auch Ansätze für eine nachkapitalistische Weltwährungsordnung. Er trat für einen offenen Weltmarkt ohne kapitalistische Monopole und ohne Zollgrenzen, ohne nationalen Handelsprotektionismus und ohne koloniale Eroberungen ein. Im Gegensatz zu den späteren Institutionen IWF und Weltbank, die innerhalb bestehender Unrechtsstrukturen die Interessen der Mächtigen vertreten, und auch im Gegensatz zu den gegenwärtigen Vorbereitungen einer europäischen Währungsintegration wollte Gesell eine "Internationale Valuta-Assoziation" einrichten, die ein über allen Landeswährungen stehendes neutrales Weltgeld ausgibt und so verwaltet, daß es einen Ausgleich der freien Weltbandelsbeziehungen herbeiführt.
Die große Inflation der frühen Nachkriegsjahre begünstigte ein rasches Anschwellen von Gesells Anhängerschaft auf schätzungsweise 15.000 Personen. Sie zerfiel jedoch 1924 in den gemäßigten liberalen Freiwirtschaftsbund und in den radikalen individualanarchistischen Fysiokratischen Kampfbund. Zu dieser Spaltung trug eine harte Kontroverse bei, die sich an Gesells weitreichenden Vorstellungen über einen "Abbau des Staates" entzündet hatte. Innere Flügelkämpfe schwächten die Anhängerschaft. Da es ihr nicht gelang, zu einer Massenbewegung zu werden, unternahm sie während der gesamten Weimarer Zeit vielfaltige Annäherungsversuche an die Sozialdemokratie und an die Gewerkschaftsbewegung sowie an die damaligen Friedens-, Jugend- und Frauenbewegungen. Während der großen Weltwirtschaftskrise richtete der Freiwirtschaftsbund Denkschriften an sämtliche im deutschen Reichstag vertretenen Parteien, in denen er vor den verheerenden Folgen der damaligen Deflationspolitik warnte und Vorschläge zur Überwindung der Krise unterbreitete. Diese Denkschriften blieben ohne Resonanz. Als praktische Experimente des Fysiokratischen Kampfbundes mit Freigeld öffentliches Aufsehen erregten, wurden sie 1931 im Zuge der Brüningschen Notverordnungen vom deutschen Reichsfinanzministerium verboten. Bei den Reichstagswahlen 1932 blieb eine Freiwirtschaftliche Partei ohne Erfolg. Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus verdrängten schließlich viele Anhänger Gesells ihre Einsichten in den wahren Charakter der NS-Ideologie und gaben sich trügerischen Hoffnungen hin, daß Hitler und Gottfried Feder eine 'Brechung der Zinsknechtschaft' vielleicht doch ernsthaft anstreben könnten. Sie versuchten deshalb, die NSDAP von innen durch eine Beeinflussung von Spitzenfunktionären wirtschaftspolitisch umzusteuern. Trotz bedenklicher taktischer Anpassungen an das Regime wurden die freiwirtschaftlichen Organisationen und ihre Medien im Frühjahr 1934 verboten bzw. sie lösten sich selbst auf. Zu ihrer anfänglichen Fehleinschätzung des totalitären Regimes dürften nicht nur die schmerzlichen Zurückweisungen durch die Weimarer Parteien beigetragen haben, sondern vor allem auch die Unklarheit über einen geeigneten Weg zur Realisierung der Boden- und Geldreform. In Österreich (bis 1938) und in der Schweiz bestanden Freiwirtschaftsbünde fort. Von Gesells Hauptwerk erschienen auch englische, französische und spanische Übersetzungen. Einführende Broschüren entstanden außerdem in den niederländischen, portugiesischen, tschechischen, rumänischen und serbokroatischen Sprachen sowie in Esperanto. Dementsprechend gab es kleinere Gruppen in England, Frankreich, Holland, Belgien, in der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. In Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland gingen solche Gründungen von deutschen Auswanderern aus.
Das westdeutsche Wirtschaftswunder brachte während der 50er und 60er Jahre das öffentliche Interesse an wirtschaftspolitischen Systemalternativen zum Erliegen, obwohl namhafte Nationalökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes die Bedeutung Silvio Gesells anerkannt hatten. Erst seit dem Ende der 70er Jahre führten die Massenarbeitslosigkeit, die Umweltzerstörung und die internationale Schuldenkrise zu einem Wiederanstieg des Interesses an Gesells fast vergessenem Modell einer alternativen Ökonomie. Dadurch wurde auch ein Generationenwechsel innerhalb seiner Anhängerschaft möglich.
Im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel gibt es eine Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek. In Deutschland hat die Stiftung für persönliche Freiheit und soziale Sicherheit 1983 mit dem Aufbau einer Freiwirtschaftlichen Bibliothek begonnen. Als Grundstein für eine wissenschaftliche Forschung über Silvio Gesells Theorien gibt sie seit 1988 eine auf 18 Bände angelegte Gesamtausgabe seiner Werke heraus. Hierauf baut eine Buchreihe mit dem Titel "Studien zur natürlichen Wirtschaftsordnung" auf, die mit einer Gesamtübersicht über die einhundertjährige Geschichte der NWO-Bewegung und mit einer Auswahl aus den Werken von Gesells bedeutendstem Schüler Karl Walker begann. Die Stiftung fördert auch andere Buchpublikationen zu Fragen des Bodenrechts und der Geldordnung und gibt gemeinsam mit der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft eine " Zeitschrift für Sozialökonomie" heraus. Außerdem hat sie 1988 und 1995 einen "Karl-Walker-Preis" für wissenschaftliche Arbeiten über die Verselbständigung der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft sowie über Wege zur Überwindung der Arbeitslosigkeit verliehen. Das Seminar für freiheitliche Ordnung publiziert die Schriftenreihe "Fragen der Freiheit". Daneben gibt es eine Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung, die sich zusammen mit befreundeten Organisationen in der Schweiz und in Österreich um eine Popularisierung von Gesells Gedanken bemüht. Eine Vereinigung Christen für Gerechte Wirtschaftsordnung verbindet den Denkansatz der Boden- und Geldreform mit der jüdisch christlich - moslemischen Kritik an der Bodenspekulation und am Zinsnehmen. Margrit Kennedy, Helmut Creutz und andere AutorInnen arbeiten an einer Aktualisierung von Gesells Denkansatz. Dabei geht es unter anderem um die Frage nach dem Zusammenhang des exponentiellen Wachstums der Geldvermögen und Schulden mit dem die Umwelt zerstörenden Wachstum der realen Wirtschaft, um eine Überwindung des Wachstumszwangs und um eine Verbindung der Boden- und Geldreform mit einem ökologischen Steuersystem. Einen Überblick über den derzeitigen Stand der Theorieentwicklung gibt das Buch "Gerechtes Geld - Gerechte Welt". Es enthält die Beiträge zu einer 1991 in Konstanz veranstalteten Tagung "100 Jahre Gedanken zu einer Natürlichen Wirtschaftsordnung - Auswege aus Wachstumszwang und Schuldenkatastrophe ".
Der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa brachte einen vorläufigen Triumph des westlichen Kapitalismus im Wettkampf der Systeme. Solange jedoch die Gegensätze zwischen Armut und Reichtum und als Folge davon Krisen und Kriege fortbestehen, solange die Umwelt durch exponentielles Wirtschaftswachstum zerstört wird und solange der industrialisierte Norden den Süden rücksichtslos ausplündert, bleibt es notwendig, nach Alternativen zu den herkömmlichen Wirtschaftssystemen zu suchen. Darin könnte eine Zukunftsperspektive auch für Silvio Gesells Freiland - Freigeld - Modell liegen.