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Auszug aus:
Werner Onken:
Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld
Lütjenburg: Fachverlag für Sozialökonomie, 1997
ISBN 3-87998-440-9
4 Die Bedeutung wirtschaftlicher Experimente für Gegenwart und Zukunft
Die Reihe der praktischen Freigeldexperimente - in der Schwanenkirchen und Wörgl
zweifellos die Höhepunkte waren - war lange Zeit nahezu völlig in Vergessenheit
geraten. Lediglich Otto Veit erwähnte sie in den 60er Jahren noch einmal beiläufig
in seinem "Grundriß der Währungspolitik". (42) Da während der Zeit des
deutschen
Wirtschaftswunders keinerlei Aussichten auf erneute praktische Experimente mit
einem umlaufgesicherten Geld bestanden und da auch der Versuch mißlungen war,
in Deutschland nach schweizerischem Vorbild einen "Wirtschaftsring" zu gründen,
entwickelte Karl Walker ein volkswirtschaftliches Planspiel. Dieses Planspiel sollte
es ermöglichen, volkswirtschaftliche Zusammenhänge und die Wirkungen von wirt-
schaftspolitischen Maßnahmen gleichsam in einem 'Laborversuch' zu erforschen. Es
wurde auf einer Erfindermesse in Brüssel mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet,
fand in Deutschland jedoch kaum Interesse. (43)
1983 veranstaltete die "Internationale Vereinigung fiir Natürliche Wirtschafts-
ordnung" einen Kongreß in Wörgl, um an das 50 Jahre zuvor verbotene Freigeld-
experiment zu erinnern. (44) Wenig später griff die Dichterin Luise Rinser diesen
Impuls in einem Interview auf: "Da gab es das Freigeldexperiment von Wörgl. Das
muß man nachlesen; da gibt es Bücher drüber. Dieses Experiment ist abgewürgt
worden vom österreichischen Staat. .. Ich würde allen raten, sich mit der
Wirtschaftslehre von Silvio Gesell zu beschäftigen." (45)
Im historischen Teil einer soziologischen Studie über zeitgenössische Formen des
Wirtschaftens außerhalb von Markt und Staat äußerten Claus Offe und Rolf Heinze
Skepsis gegenüber dem "etwas skurilen Finanztheoretiker Silvio Gesell". Sie
beur-
teilten das Wörgler Freigeldexperiment als eine "erfolgreiche Notstandsmaß-
nahme", deren Erfolg aber nichts mit der "eingebauten Verfallsmechanik" zu
tun
gehabt habe. Andererseits würden neuere Arbeiten von Dieter Suhr zeigen, "daß ein
Aufgreifen einiger der geldtheoretischen Vorstellungen Gesells gar nicht so abwegig
ist." (46)
Eine eindrucksvolle Würdigung erfuhr das Wörgler Freigeldexperiment durch Prof.
Erich Kaufer, Dekan der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der
Universität Innsbruck. In einer im Mai 1991 gehaltenen Promotionsansprache
nannte Kaufer das Nothilfe-Programm von Michael Unterguggenberger ein
"Meisterstück wirtschaftspolitischer Praxis" und bedauerte dessen Verbot:
"Eines
der hoffnungsvollsten Experimente praktischer Geldpolitik scheiterte an der
intellektuellen Enge der offziellen Wäihrungspolitik! ... Aber der Wörgler Bürger-
meister Michael Unterguggenberger stand mit seinem Experiment 1932 an der
Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts. Wir sollten ihm zusammen mit der
Österreichischen Nationalbank endlich ein Denkmal errichten!" (47) Inzwischen
entstanden in Wien und Berlin weitere Diplomarbeiten über das Wörgler Experi-
ment, und 1993 gab es in Künstlerkreisen am Prenzlauer Berg in Berlin ein soge-
nanntes "Knochengeld" als symbolische Freigeld-Aktion. (48)
Die Erinnerung an die praktischen Freigeldexperimente der frühen 30er Jahre ist
nicht nur von historischem Wert, sondern sie hat auch eine Bedeutung für die
Gegenwart und die Zukunft. Es gibt nämlich keinerlei Gewähr dafür, daß die schon
chronisch gewordene Krise der Wirtschaft in Zukunft nicht noch größere Ausmaße
annimmt. Spätestens dann, wenn infolge eskalierender Schulden und weiterer
Kürzungen im sozialen Bereich das soziale Netz die negativen Folgen der Krise auf
die Lebensgestaltung der Menschen nicht mehr auffangen kann, könnte die
Erinnerung an die praktischen Freigeldexperimente der 30er Jahre von Nutzen sein.
Wenn die Menschen von der Krise noch härter betroffen werden, könnten durch
private Initiativen wieder wirtschaftliche Selbsthilfe-Aktionen entstehen. Vielfältige
Anzeichen bietet hierfür die Ausbreitung von lokalen Tauschringen wie den LETs in
England und Kanada oder dem TALENT-Experiment in der Schweiz. Aufgrund der
Verbote der Wära und anderer privater bzw. kommunaler Ersatzzahlungsmittel
geben die Tauschringe gegenwärtig kein eigenes Geld aus, sondern sie vermitteln
den Austausch von Angebot und Nachfrage im Wege geldloser Verrechnungen, bei
denen Recheneinheiten wie in Berlin-Kreuzberg die "Kreuzer" oder in Frankfurt
die
"Peanuts" zugrundegelegt werden. (49) Die Deutsche Bundesbank beobachtet die
Entwicklung der Tauschringe bislang gelassen, da geldlose Verrechnungen kein
(Frei-)Geld bilden und ihr Banknotenmonopol nicht in Frage stellen. Ihr Chef-
ökonom Professor Otmar Issing betrachtet sie als "rudimentäre Formen einer rein
privaten Geldwirtschaft", als Phänomene einer sich selbst organisierenden Schatten-
wirtschaft. "Besorgnisse über die Relevanz der in D Mark denominierten Geld-
mengenaggregate sind deshalb in der Bundesbank noch nicht ausgebrochen." Ihr
Direktoriumsmitglied Wendelin Hartmann äußerte sich "... zuversichtlich, daß
solche
Ringe den offiziellen Geldkreislauf nicht ersetzen können. Irgendwann wollen die
Teilnehmer ihr Phantasiegeld auch in Dollar oder Mark umtauschen. Und wenn das
nicht funktioniert, ist der Spuk schnell vorbei." Trotz des geringen finanziellen
Volumens der Tauschringe sei aber für den Finanzminister von Interesse, daß die
Umsatzsteuer vermieden werde. "Darüber denkt man in Bonn bereits nach." (50)
Demgegenüber hebt eine neuere juristische Studie die "positive soziale Funktion von
Tauschringen" hervor und endet mit der Empfehlung, "Tauschringe gesetzlich als
gemeinnützige Organisationen anzuerkennen." (51)
In der Gegenwart und mehr noch in der Zukunft stellt sich für die Wirtschaftspolitik
die unumgängliche Frage, mit welchen Mitteln Arbeitslosigkeit, zunehmende
Polarisierung von Reichtum und Armut sowie Kaufkraftschwankungen wirksam
bekämpft und auf welchem Wege geeignete Mittel angewandt werden sollen. Die in
Schwanenkirchen und Wörgl erprobten theoretischen Vorschläge Gesells könnten in
weiterentwickelter und aktualisierter Form vielleicht ein Beitrag zur Überwindung
der wirtschaftlichen Krise unserer Zeit sein und mithelfen, der nochmaligen
Errichtung eines totalitären Herrschaftssystems rechtzeitig den Nährboden zu
entziehen. Allerdings wäre es unangebracht, den Wirtschaftspolitikern diese Vor-
schläge im Stile der seinerzeitigen Presseberichterstattung (52) als Patentrezepte
anzupreisen. Die in kleinem Rahmen erzielten Erfolge sind selbstverständlich noch
kein hinreichender Beweis für die absolute Richtigkeit dieser Vorschläge und ihre
Durchführbarkeit im großen Rahmen einer gesamten Volkswirtschaft.
Die Experimente mit der Wära und den Wörgler Arbeitsbestätigungsscheinen haben
auch deshalb nur einen begrenzten Aussagewert, weil sich dabei nur ein Bruchteil
der Theorien Gesells praktisch erproben ließ. So fehlte nicht nur ein Ansatz zu der
von ihm angestrebten Reform des Bodenrechts, sondern auch ein Versuch zur
Stabilisierung der Kautkraft der umlaufgesicherten Wära- bzw. Arbeitsbestätigungs-
scheine, der sich aufgrund des Fehlens einer lokalen Preisstatistik und des gleich-
zeitigen Vorhandenseins der offiziellen Landeswährungen gar nicht hätte durch-
führen lassen. Außerdem konnten die Freigeldexperimente nicht jenen Einfluß auf
die Höhe des Zinses nehmen, der sich der Theorie zufolge bei einer Umlaufsicherung
der gesamten in einem Land zirkulierenden Geldmenge einstellen müßte. Dabei geht
es im übrigen nicht um eine Abschaffung oder um ein Verbot des Zinsnehmens
sondern um eine Senkung des Zinsniveaus in Richtung auf einen Gleichgewichtssatz
von nahe Null, um den die Zinssätze je nach der Laufzeit der Geldausleihungen
pendeln. (53)
Bei einer pessimistischen Beurteilung der früheren praktischen Versuche mit
Freigeld ließe sich also der Vorbehalt vorbringen, daß aufgrund der Begrenztheit der
Experimente eventuelle Schattenseiten der Theorien Gesells im Verborgenen
blieben. Dagegen ließe sich bei ihrer optimistischen Beurteilung annehmen, daß die
Erfolge der Experimente erst ein kleiner Vorgeschmack auf eine stabile und
vollbeschäftigte Wirtschaft waren, die sich vielleicht durch die Anwendung dieser
Theorien im großen Rahmen verwirklichen ließe. Die Bereitschaft so vieler Städte
und Gemeinden zur Nachahmung dieser Experimente spricht zumindest für die
Richtigkeit ihrer Grundprinzipien. Wären sie falsch gewesen, hätten sie bei ihrer
praktischen Erprobung sehr schnell Schiffbruch erleiden müssen. Ein Scheitern hätte
vermutlich von ganz allein zu ihrem vorzeitigen Abbruch geführt, ohne daß es
jemals in mehreren Ländern zu Verboten gekommen wäre.
Es wäre durchaus überlegenswert, die Vorschläge Gesells zur Überwindung der
Wirtschaftskrise im Vorfeld ihrer Verwirklichung im größeren Rahmen nochmals in
einem Planspiel bzw. in einem Modellversuch auf ihre Leistungsfähigkeit hin
praktisch zu überprüfen. Dasselbe gilt auch für andere Vorschläge, denn die
verantwortlichen Wirtschaftspolitiker können in keinem Fall vorher mit Gewißheit
sagen, ob sich eine geplante wirtschaftspolitische Maßnahme im nachhinein als
richtig erweisen wird oder nicht. Jede in Erwägung gezogene Maßnahme sollte
deshalb vor ihrer allgemeinen Einführung in einem kleineren Pilotprojekt getestet
werden. Um den Erkenntniswert solcher Tests zu erhöhen, wäre es zweifellos
notwendig, ein im Vergleich zu Schwanenkirchen oder Wörgl größeres Gebiet als
'geldpolitisches Laboratorium' auszuwählen. Eine solche Modellregion müßte
mindestens die Größe eines Regierungsbezirks aufweisen und bei erfolgreichem
Verlauf noch vergrößert werden, damit - jedenfalls im Falle eines erneuten
Freigeldexperiments - nicht nur die institutionellen Voraussetzungen für die
Sicherung eines ununterbrochenen Geldkreislaufs, sondern auch für die
Stabilisierung der Kaufkraft dieses Geldes geschaffen werden können. Für ein
solches Experiment in einem regionalen Maßstab wäre freilich die Erhebung der
Geldstillstandsgebühr auf dem Wege des Beklebens der Geldscheine mit Marken ein
untaugliches Verfahren. Anstelle dieser veralteten Methode gibt es inzwischen
technisch elegantere Methoden. (54) Außerdem müßte das zu testende
umlaufgesicherte Geld für die Dauer des Modellversuchs das allein gültige
Zahlungsmittel in der Modellregion sein. Die offizielle Landeswährung hätte in ihr
solange den Status einer fremden Währung, deren Preis sich nach den üblichen
Regeln der freien Wechselkursbildung ergibt.
Allerdings kann man nicht von allen Bewohnern einer in Aussicht genommenen
Modellregion erwarten, daß sie das nötige Verständnis für die zu testende
wirtschaftspolitische Neuerung autbringen und - wie in Wörgl - ihre einmütige
Zustimmung für deren vorerst befristete Einführung in ihrem Bezirk geben. Ihre
Bereitschaft könnte aber unter Umständen geweckt werden, wenn die öffentliche
Hand einen bestimmten Geldbetrag gewissermaßen als Versicherungssumme bereit-
stellt, um die Bewohner dieser Region im Falle eines Scheiterns des Experiments
angemessen zu entschädigen oder ihre Bereitwilligkeit im Falle eines Gelingens mit
einer Prämie zu belohnen. Ein solches Mittel zum Abbau von Ängsten vor
Neuerungen und zur Risikominderung entspräche der sogenannten 'Wagnis-
finanzierung', die die öffentliche Hand auf technologischem Gebiet schon seit
längerer Zeit praktiziert.
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Dieser Text wurde im Januar 1998 ins Netz gebracht von Wolfgang Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.