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Auszug aus:

Werner Onken:
Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld
Lütjenburg: Fachverlag für Sozialökonomie, 1997
ISBN 3-87998-440-9


 

3.7 Späte Nachzügler in Frankreich und Brasilien
 
Unter völlig veränderten äußeren Gegebenheiten - an die Stelle der Deflation war
mittlerweile eine Inflation getreten - tauchte der Plan einer Selbsthilfe-Aktion zur
Gesundung einer lokalen Wirtschaft nochmals während der zweiten Hälfte der
fünfziger Jahre auf und zwar in den französischen Gemeinden Lignières-en-Berry
und Marans sowie in der brasilianischen Großstadt Porto Alegre. (40)


Lignieres-en-Berry liegt in der Nähe von St. Amand im Department Cher. Seine
Einwohnerzahl war im Zuge der Konzentration von Bevölkerung und wirt-
schaftlichen Aktivitäten auf großstädtische Ballungsräume innerhalb einer
Generation um die Hälfte auf rund 1.700 gesunken; die Landflucht ließ die Ortschaft
wie so viele ländliche Regionen veröden.


Um das örtliche Wirtschaftsleben zu fördern, wurden auf Initiative des
Bürgermeisters Tournadre und G. Lardeaus im Frühjahr 1956 zunächst eine
"Vereinigung der Geschäftsleute und Handwerker von Lignières-en-Berry" und im
Anschluß daran eine "Freie Gemeinde von Lignieres-en-Berry" gegründet. Mit
solchen freien Gemeinden konnten sich französische Kommunen einen gewissen
autonomen Hoheitsbereich verschaffen, der nicht näher durch staatliche Gesetze
geregelt war. Lignières-en-Berry erhielt auf diese Weise einen Freiraum zur
selbstbestimmten Gestaltung des örtlichen Wirtschaftslebens. Um den örtlichen
Handel zu beleben, gab die "Freie Gemeinde" bei den der "Vereinigung. . ."
angehörenden Kaufleuten und Handwerkern kostenlose Kaufgutscheine an die
Kunden ab. Finanziert waren sie aus den Beiträgen, die die "Vereinigung ..." von
ihren Mitgliedern einnahm. Die Bezeichnung 'Francs' wurde vermieden, um keinen
Konflikt mit der französischen Nationalbank zu provozieren; stattdessen erhielten
die Gutscheine den Namen 'bon d'achat'.


Da die Kunden diese Gutscheine jedoch aufbewahrten und kein Käufe damit tätigten,
war die ganze Aktion anfangs ein völliger Fehlschlag. Das Blatt wendete sich erst,
als M. Soriano aus Monte Carlo (der bereits in den dreißiger Jahren an der
"Mutuelle national d'echange" beteiligt war) durch die Presse von ihr erfuhr und
sich mit Tournadre und Lardeau in Verbindung setzte. Er verglich nicht umlaufende
Francs oder bons d'achat mit beladenen Eisenbahnwaggons, die auf ein Abstellgleis
geschoben wurden, wo ihre Ladung nunmehr verderbe. Ebenso wie die Bahn eine
Art Strafgebühr für stillstehende Waggons erhebe, müsse auch der Stillstand des
Geldes bestraft und damit ein indirekter Anstoß zum Umlauf des Geldes geschaffen
werden, damit es die Waren zügig von Hand zu Hand transportiere.


Daraufhin wurde eine Regelung getroffen, nach der die bons d'achat am 10. eines
jeden Monats mit Marken im Wert von 1 % ihres Nennwerts beklebt werden
mußten. Wer sie also vor diesen Stichtagen für den Kauf von Gütern verwendete,
konnte zu seinem eigenen Vorteil den Erwerb der Marken umgehen. Diese Maß-
nahme führte offenbar tatsächlich zu einer gewissen Belebung der örtlichen
Wirtschaft. Störungen dieses lokalen Geldkreislaufs traten jedoch immer auf, wenn
am 9. eines Monats Leute zur Gemeindeverwaltung kamen und aufgrund
mangelnden Verständnisses der Aktion ihre bons d'achat gegen eine zweiprozentige
Gebühr in französische Francs umtauschen wollten, um die 1 %-Marken nicht
kaufen zu müssen.


Im April 1957 wurde das Reglement der Aktion nochmals verändert, um sie
attraktiver zu machen. Lohnempfänger, die bereit waren, ihren in französischen
Francs erhaltenen Lohn in bons d'achat umzutauschen und diese als Zahlungsmittel
zu verwenden, erhielten fortan beim Umtausch eine Prämie in Höhe von 5 % ihres
Lohns. Die Prämien finanzierte die "Freie Gemeinde" mit den Erlösen aus dem
Verkauf der Marken. Diese "salaires + 5 % Aktion" der "Freien Gemeinde von
Lignières-en-Berry" erregte überall in Frankreich erhebliches Aufsehen. Sie löste
auch in anderen Städten und Gemeinden die Absicht aus, diesem Beispiel zu folgen.
Im April 1958 - also zwei Jahre nach dem Beginn des Experiments von Lignieres-
en-Berry - wurden auch in der Kleinstadt Marans eine "Vereinigung der
Geschäftsleute, Handwerker und Lohnempfänger der Stadt Marans" sowie eine
"Freie Gemeinde von Marans" gegründet. Die Stadt liegt nördlich von Bordeaux
unweit des bekannten Badeortes La Rochelle und hatte damals rund 3.500 Ein-
wohner. Über 80 der 120 örtlichen Geschäftsleute waren bereits Mitglied in der
Vereinigung ..." geworden, als die "Freie Gemeinde von Marans" im August 1958
die ersten bons d'achat herausgab. Aus der "salaires + 5 % Aktion" von Lignieres-
en-Berry wurde in Marans eine "salaires + 10 % Aktion".


Die Satzung der "Vereinigung der Geschäftsleute, Handwerker und Lohnempfänger
der Stadt Marans" stimmte weitgehend mit derjenigen von Lignieres-en-Berry
überein. Nur in einem - allerdings ganz entscheidenden - Punkt wich sie von ihr ab.
Und zwar unterschied die Vereinigung in Marans zwei Klassen von Mitgliedern. Zur
einen Klasse gehörten die Kaufleute und Handwerker; sie mußten beim Eintritt in
die Vereinigung eine einmalige Aufnahmegebühr und einen Jahresbeitrag zahlen
und waren außerdem verpflichtet, die in ihren Händen befindlichen bons d'achat am
10. jeden Monats mit einer 1 %-Marke zu bekleben. Zur zweiten Klasse gehörten die
Landwirte, Arbeiter, Angestellten, Rentner und Sozialhilfeempfänger. Sie brauchten
weder eine Aufnahmegebühr noch den Jahresbeitrag zu zahlen und konnten
außerdem ihre bons d'achat an den jeweiligen Stichtagen kostenlos bei der "Freien
Gemeinde" abstempeln lassen.


Damit war der Mißerfolg des Experiments von Marans vorgezeichnet. Der
Umlaufantrieb der bons d'achat war in keiner Weise ausreichend. Auch mußten sich
die Kaufleute und Handwerker gegenüber den Lohnempfängern und anderen Mit-
gliedern der Vereinigung benachteiligt fühlen. Sie gingen bald dazu über, die
Annahme der bons d'achat als Zahlungsmittel zu verweigern und ihre Waren nur
noch gegen französische Francs abzugeben. Nach einem Jahr stellte die "Freie
Gemeinde von Marans" ihre Tätigkeit wieder ein.


Unterdessen war die Selbsthilfe-Aktion der "Freien Gemeinde von Lignieres-en-
Berry" noch im Gange. Aber nachdem sich hier zwischenzeitlich bereits Angehörige
von Justiz und Polizei aufgehalten hatten, erließ General de Gaulle eine Rechts-
verordnung, die die Wirkung eines Verbots hatte. Sie bedrohte die Ausgabe und
Benutzung von Zahlungsmitteln, die den französischen Franc ergänzen oder ersetzen
sollten, mit Gefängnisstrafen von ein bis fünf Jahren bzw. mit Geldstrafen in Höhe
von 200.000 bis 20 Millionen Francs.
 
Durch den aus Frankreich stammenden, aber in Brasilien tätigen Geschäftsmann
Georges Rosier gelangten im Sommer 1958 Informationen über die "Freie Gemeinde
von Lignières-en-Berry" nach Porto Alegre. Porto Alegre ist die Hauptstadt des
Bundesstaates Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens. Die Stadt verdoppelte ihre
Einwohnerzahl allein in den fünfziger Jahren von 300.000 auf 600.000.


In Anbetracht der schweren Krise, in der sich die brasilianische Wirtschaft befand,
faßte Rosier den Entschluß, ebenfalls eine wirtschaftliche Selbsthilfe-Aktion ins
Leben zu rufen. Daraufhin entstand im Oktober die "Orecopa" (Organizacao
Economica Portoalegrense). Der Plan, umlaufgesicherte Kaufgutscheine-
sogenannte 'cautelas de compra' - auszugeben, fand nicht nur die Unterstützung von
weiteren Geschäftsleuten, sondern auch von Politikern, der städtischen Handels-
kammer und sogar des Finanzministers von Rio Grande do Sul.


Rosier machte auch den Versuch, die Staatsbank von Rio Grande do Sul dazu zu
bewegen, die cautelas de compra neben den offiziellen brasilianischen Cruzeiros
auszugeben. Nach drei Monaten signalisierte die Staatsbank: "Wir sind bereit, die
cautelas de compra auszugeben ... Aber ... wir brauchen die Genehmigung der
Sumoc, der für alle Geldfragen und Bankangelegenheiten in Brasilien zuständigen
Behörde." (41)


Von dieser Aufsichtsbehörde für das brasilianische Geld- und Kreditwesen hat die
"Orecopa" jedoch keine Nachricht erhalten. Da die Werbung fiir die geplante
"salaires + 10 % Aktion" in den Massenmedien schon angelaufen war, wollten
Rosier und der übrige Vorstand der "Orecopa" ihren Beginn nicht mehr
hinauszögern. Im November 1959 begannen sie mit der Ausgabe der cautelas de
compra, nachdem es ihnen gelungen war, mit der Zweigstelle Sao Joao der
Staatsbank von Rio Grande do Sul einen Vertrag über die Zusammenarbeit bei
Umtausch und Einlösung der cautelas de compra abzuschließen.


Da die cautelas de compra in Porto Alegre natürlich nicht das allein gültige
Zahlungsmittel und die Mitgliedsunternehmen der "Orecopa" auf vielfältige Weise
mit der übrigen Wirtschaft verzahnt waren, war es nicht möglich, einen unab-
hängigen und in sich geschlossenen Kreislauf der cautelas de compra entstehen zu
lassen. In ihrem Umlauf stellten sich Engpässe ein, besonders im Lebens-
mittelhandel. Um diesen Schwierigkeiten entgegenzutreten, eröffnete Rosier im Juni
1960 im Norden von Porte Alegre einen großen Supermarkt "Rancho Orecopa", in
dem alle Einkäufe vom Großhandel und Verkäufe an die Kunden mit cautelas de
compra abgewickelt werden sollten. Über den weiteren Fortgang dieses Experi-
mentes liegen allerdings keine Informationen vor.
 


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Dieser Text wurde im Januar 1998 ins Netz gebracht von Wolfgang Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.