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Auszug aus:

Werner Onken:
Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld
Lütjenburg: Fachverlag für Sozialökonomie, 1997
ISBN 3-87998-440-9



3.2   Die Nothilfe-Aktion der Gemeinde Wörgl und ihre internationale
        Ausstrahlung ...
 
Während die Wära-Tauschgesellschaft in Deutschland eine netzwerkähnliche
überregionale Selbsthilfe-Aktion auf privater Basis war, unternahm die Markt-
gemeinde Wörgl in Tirol auf Initiative ihres sozialdemokratischen Bürgermeisters
Michael Unterguggenberger eine Selbsthilfe-Aktion auf kommunaler Ebene. Unter-
guggenberger kannte die Theorien Gesells ebenso wie Hebecker und hatte aus der
Presse von der Wära-Insel in Schwanenkirchen gehört.


In der damals 4200 Einwohner zählenden Marktgemeinde Wörgl waren im Zuge der
internationalen Deflationskrise bis zum Frühjahr 1932 rund 400 Menschen arbeitslos
geworden. In der näheren Umgebung gab es weitere 1100 Arbeitslose. Wegen der
Absatzstockungen hatten die örtlichen Firmen die Produktion weitgehend einstellen
und ihre Beschäftigten entlassen müssen. Eine Zellulosefabrik entließ beispielsweise
350 Arbeiter, eine Zementfabrik im nahegelegenen Kirchbichl rund 50 Arbeiter.
Desgleichen waren Entlassungen in einer Sandziegelfabrik und in zwei Sägewerken
notwendig geworden. Und von den rund 300 auf der Bahnstation Beschäftigten
wurden etwa 100 entlassen (in Wörgl kreuzen sich die großen Bahnlinien Innsbruck
- Salzburg - Wien und Triest - Ljubljana - Villach - München). (12) Das örtliche
Wirtschaftsleben kam dadurch in erheblichem Umfang zum Erliegen. Infolgedessen
gingen die Steuereinnahmen der Gemeinde rapide zurück - im ersten Halbjahr 1932
konnte sie ganze 3000 Schilling an Steuern einnehmen! - und ihre finannzielle
Situation nahm katastrophale Ausmaße an. Die Verschuldung der Gemeinde belief
sich auf über 1,3 Mio. Schilling; aufgrund ausbleibender Steuereingänge war an eine
Tilgung dieser Schuld nicht zu denken, und für ihre Verzinsung mußten neue
Kredite aufgenommen werden. (13)


Um die große soziale Not in Wörgl zu bekämpfen, hatte der Bürgermeister Unter-
guggenberger in Absprache mit den am öffentlichen Leben der Gemeinde beteiligten
Einwohnern ein kommunales "Nothilfe-Programm" vorbereitet. Es hatte den
folgenden Inhalt: "Langsamer Geldumlauf ist die Hauptursache der bestehenden
Wirtschaftslähmung... Jede Geldstauung bewirkt Warenstauung und Arbeitslosig-
keit... Das träge und langsam umlaufende Geld der Nationalbank muß im Bereich
der Gemeinde Wörg1 durch ein Umlaufsmittel ersetzt werden, welches seiner
Bestimmung als Tauschmittel besser nachkommen wird als das übliche Geld. Es
sollen Arbeitsbestätigungen in drei Nennwerten zu 1, 5 und 10 Schilling
ausgegeben und in Umlauf gesetzt werden... Um das wirtschaftliche Leben in der
Gemeinde wieder aufwärts zu bringen, sollen auch nach einem ... Plane öffentliche
Arbeiten damit durchgeführt und bezahlt werden." (14)


Auf der Sitzung des örtlichen Wohlfahrtsausschusses am 5.7.1932 legte
Unterguggenberger dieses Programm zu Abstimmung vor. Es wurde von allen
Parteien unterstützt und einstimmig angenommen. Die Durchführung begann damit,
daß der Wohlfahrtsausschuß in einer Gesamthöhe von 32.000 Schilling
Arbeitsbestätigungsscheine drucken ließ und diese gegen eine entsprechende Summe
von Schillingen an die Gemeindekasse verkaufte. Die Arbeitsbestätigungsscheine
waren ebenso wie die deutschen Wära-Scheine mit einem Umlaufantrieb aus-
gestattet. Zu jedem Monatsbeginn sollten diejenigen Personen, in der Händen sich
die Scheine gerade befanden, in Höhe von einem Prozent ihrer Nennwerte Klebe-
marken kaufen und auf eigens dafür vorgedruckte Felder aufkleben. Die Gemeinde-
kasse wurde angewiesen, den Erlös aus dem Klebemarkenverkauf als Notabgabe an
einen Armenfonds weiterzuleiten.


Am 31.7.1932 begann die Gemeindekasse mit der Ausgabe der ersten Arbeits-
bestätigungsscheine, indem sie damit Löhne und Gehälter an öffentlich bedienstete
Arbeiter und Angestellte ausbezahlte. Mit diesen Scheinen wurden umgehend
Steuern entrichtet, die die Gemeinde für weitere Lohnzahlungen sowie für die Rück-
zahlung von Schulden an die Einwohner Wörgls verwendete.


Sobald die Arbeitsbestätigungsscheine auch für die Bezahlung von Waren verwendet
wurden, entstand in Wörgl neben der österreichischen Landeswährung allmählich
ein eigenständiger Kreislauf des kommunalen Ersatzgeldes. In diesem Kreislauf
waren nicht nur die Gemeindekasse und die Lohn- und Gehaltsempfänger integriert,
sondern auch die örtliche Raiffeisen Spar- und Darlehenskasse sowie die ortsan-
sässigen Geschäftsleute. Sie waren allesamt bereit, die Arbeitsbestätigungsscheine
als Zahlungsmittel anzunehmen.


Das Bestreben, der allmonatlich fälligen einprozentigen 'Strafgebühr' durch recht-
zeitige Weitergabe des Geldes auszuweichen, verbürgte einen im Vergleich zur
offiziellen Landeswährung sehr viel regelmäßigeren Umlauf der Arbeits-
bestätigungsscheine, so daß sich das Wirtschaftsleben in Wörgl langsam wieder
erholen konnte. Auch die Finanzlage der Gemeinde begann sich zu bessern. Es
gingen nicht nur Steuerrückstände bei ihr ein, sondern es wurden sogar vereinzelte
Steuervorauszahlungen geleistet.


Eher als erwartet konnte der Bügermeister deshalb die geplanten Arbeits-
beschaffungsmaßnahmen in die Wege leiten. Gemäß dem Nothilfe-Programm ließ er
mit diesen Steuereinnahmen sowie einigen Zuschüssen aus der Arbeitslosenfürsorge
und einem Notstandskredit des Bundes in Höhe von 12.000 Schilling, die
zusammengenommen einen Betrag von über 100.000 Schilling ergaben, umfang-
reiche Straßenrenovierungs- und -instandhaltungsarbeiten durchführen, ferner
Kanalisierungen, den Bau einer neuen Skisprungschanze und einer Straßen-
beleuchtung. (15) Die Löhne wurden wiederum ausschließlich mit den Arbeits-
bestätigungsscheinen bezahlt.


Während überall in Österreich die Zahl der Arbeitslosen vom August 1932 bis
August 1933 um rund 10 Prozent von 334.000 auf 366.000 anstieg, konnte sie im
Bereich der Gemeinde Wörgl im gleichen Zeitraum um 25 Prozent gesenkt werden.
(16) Nach diesem Erfolg konnte es nicht ausbleiben, daß auch das praktische
Freigeldexperiment von Wörgl schon wenige Monate nach seinem Beginn nationales
und internationales Aufsehen erregte und die Öffentlichkeit nachhaltig beeindruckte.
Wörgl wurde zu einem regelrechten "Mekka der Volkswirtschaft" (17); aus
mehreren Ländern kamen Wissenschaftler und Politiker oder sie schickten
Delegationen, um das Experiment an Ort und Stelle zu studieren. In einer Rede vor
einem Kongreß seiner Radikalsozialistischen Partei im Oktober 1934 schilderte der
ehemalige französische Ministerpräsident und mehrfache Minister Eduard Daladier
später seine Eindrücke, die er anläßlich seines Aufenthaltes in Wörgl im Sommer
1933 gewonnen hatte. Die erfolgreiche praktische Erprobung der Theorien Gesells
führte ihn zu der Überzeugung, daß sie eine Möglichkeit bieten, ". . . die Bewegung
von 1789 in wirtschaflicher Hinsicht wieder aufzunehmen." (18)


Das Freigeldexperiment von Wörgl erregte jedoch nicht nur ein spektakuläres
Aufsehen in den Massenmedien, sondern es fand auch sehr schnell Nachahmung.
Bereits fünf Monate nach seinem Beginn wurden im Januar 1933 in der 3000
Einwohner zählenden Nachbargemeinde Kirchbichl Arbeitsbestätigungsscheine in
Umlauf gesetzt. Nach dem Wörgler Vorbild erfolgte ihre Ausgabe auf dem Wege der
Auszahlung von Löhnen an Arbeiter, die die Gemeinde für den Bau eines
kommunalen Schwimmbads eingestellt hatte.


Schon bald darauf begann das Experiment von Wörgl weitere Kreise zu ziehen. Die
Tiroler Gemeinden Hopfengarten, Brixen und Westendorf mit insgesamt 16000
Einwohnern beschlossen die Ausgabe von Arbeitsbestätigungsscheinen. Vorbe-
reitungen für die Ausgabe dieses Ersatzgeldes liefen außerdem auch in Liezen
(Steiermark), Linz (Oberösterreich), St. Pölten (Niederösterreich) und Lilienfeld
(südlich von Wien). Im Juni 1933 hielt Michael Unterguggenberger in Wien einen
Vortrag vor 170 österreichischen Bürgermeistern. Sie alle hatten die Absicht,
Wörgls "Wegweiser zur wirtschaftlichen Rettung Österreichs" (19) zu folgen und
auch in ihren Städten und Gemeinden dieses Freigeld einzuführen.


Das Freigeldexperiment von Wörgl war also offensichtlich auf dem besten Wege,
sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Aus dem kleinen Wära-Funken von
Schwanenkirchen wäre in Österreich fast ein Flächenbrand entstanden, wenn die
Österreichische Nationalbank nicht ebenso wie die Deutsche Reichsbank die
Verdrängung ihrer offiziellen Landeswährung durch das Ersatzgeld gefürchtet und
auf ein Verbot der Ausgabe von Arbeitsbestätigungsscheinen hingearbeitet hätte.


Der Artikel 122 der österreichischen Notenbankgesetzgebung behielt allein der
Österreichischen Nationalbank das Recht zur Ausgabe von Geldzeichen vor. Nach
geltender Rechtsprechung stellte die Ausgabe der Arbeitsbestätigungsscheine durch
die Gemeinde Wörgl einen Verstoß gegen das Privileg der Nationalbank dar; sie war
also gewissermaßen rechtswidrig. Am 23. 7. 1932, also schon eine Woche vor der
Ausgabe der ersten Arbeitsbestätigungsscheine, war die Nationalbank über die Vor-
bereitungen zum Wörgler "Nothilfe-Programm" informiert und teilte ihrer Zweig-
stelle in Innsbruck mit, "daß wegen Abstellung dieses Unfugs im Wege der
Regierung Veranlassung getroffen worden ist. Falls Ihnen Mitteilungen wegen der
weiteren Entwicklung dieser Angelegenheiten zukommen, wollen Sie uns hiervon
auch weiterhin unverzüglich unterrichten." (20)


Der § 207 der Tiroler Gemeindeordnung verpflichtete die Behörden auf
Bezirksebene, bei etwaigen Rechtsverstößen gegen die betreffenden Gemeinden
einzuschreiten. Im Auftrage des österreichischen Bundeskanzleramtes wies die
Tiroler Landesregierung die Bezirkshauptmannschaft Kufstein deshalb an, der
Gemeinde Wörgl die Ausgabe eigenen Geldes zu verbieten. Das Verbot erging
bereits am 5. l. 1933. Bürgermeister Unterguggenberger legte jedoch sofort Berufung
gegen dieses Verbot ein und ließ die Arbeitsbestätigungsscheine weiterhin
zirkulieren. Im Juni 1933 berichtete die Innsbrucker Zweigstelle der Nationalbank
ihrem Direktorium in Wien: "Wie wir durch einen Vertrauensmann erfahren, leistet
die Gemeinde Wörgl dem Auftrag der Landesregierung, das Notgeld aus dem
Verkehr zu ziehen, keine Folge." Daraufhin wandte sich die Nationalbank an das
österreichische Finanzministerium: "Wir halten es daher zur Hintanhaltung eines
weiteren Umsichgreifens dieser Bewegung für unbedingt notwendig, daß gegen die
Gemeinde Wörgl energischer eingeschritten wird." (21) Eine Verwaltungs-
beschwerde des Wörgler Gemeinderats gegen die Tiroler Landesregierung durchlief
alle Instanzen bis hin zum Verwaltungsgerichtshof in Wien. Sie blieb aber ebenso
erfolglos wie die vorausgegangene Berufung gegen das Verbot. Am 15.9.1933
mußten die Arbeitsbestätigungsscheine wieder aus dem Verkehr gezogen werden;
zwei Monate später hat der Wiener Verwaltungsgerichtshof das Verbot der Nothilfe
Wörgl endgültig bestätigt.


Das Notenmonopol der Nationalbank war der österreichischen Regierung also
wichtiger als der Achtungserfolg, den die kleine Marktgemeinde Wörgl mit ihrer
kommunalen Nothilfe-Aktion im Kampf gegen die Wirtschaftskrise errungen hatte.
Das Verbot machte natürlich auch die Pläne der vielen anderen Städte und
Gemeinden zunichte, dem Wörgler Beispiel zu folgen. Damit war zwar ein kleiner,
aber erfolgversprechender Damm gegen die Krise eingeebnet und die Krise konnte
nunmehr ihren Lauf nehmen. Eine wachsende Arbeitslosigkeit und eine völlige
Zerrüttung der Staatsfinanzen stürzten Österreich in ein inneres Chaos. Nachdem
die christlich-sozialen Regierungen unter den Bundeskanzlern Dollfuss und (nach
dessen Ermordung) Schuschnigg den zweifelhaften Versuch unternommen hatten,
das wirtschaftlich zerfallende Land in einer Vaterländischen Front zu einigen und
mit einer autoritären Politik zu konsolidieren, fiel das Land fünf Jahre später dem
Terror des Nationalsozialismus zum Opfer. Nun konnte sich Hitler in Österreich -
das angeblich nicht aus eigener Kraft aus Chaos und Krise herausfand - als Bringer
eines neuen wirtschaftlichen Aufstiegs feiern lassen. (22)
 


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Dieser Text wurde im Januar 1998 ins Netz gebracht von Wolfgang Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.