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Auszug aus:
Werner Onken:
Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld;
Lütjenburg: Fachverlag für Sozialökonomie, 1997;
ISBN 3-87998-440-9
2 Der geistige Hintergrund
Ebenso wie die zahlreichen früheren ökonomischen Experimente hatten auch die
Versuche mit einem anderen Geld einen geistigen Hintergrund. Er bestand aus den
Theorien des deutsch-argentinischen Kaufinanns und Sozialreformers Silvio
Gesell. (1) Auch dessen zentrales Anliegen war es, die Fehlentwicklung des
klassischen Liberalismus zum Kapitalismus zu korrigieren. Gesell wollte sowohl die
Konzentration von Produktionsmitteln als auch die Anfälligkeit der Wirtschaft für
Krisen mit Kaufkraftschwankungen und Arbeitslosigkeit überwinden. Er trat jedoch
im Gegensatz zu den Theoretikern anderer sozialer Bewegungen nicht für staatliche
Eingriffe in den Markt oder gar für eine Abschaffung des Marktes ein - die in vielen
Ländern mittlerweile zu Mißerfolgen geführt hat. Stattdessen schlug Gesell
ordnungspolitische Reformen des geltenden Bodenrechts und des bestehenden Geld-
wesens als Wege zur Herstellung einer nachkapitalistischen, von jeglichen Mono-
polen befreiten Marktwirtschaft vor.
Durch eigene Erfahrungen mit einer krisenhaften Zerrüttung der Währung, die
Gesell während seiner praktischen Tätigkeit in Argentinien gesammelt hatte, fand er
die Bestätigung für die alte, zu seiner Zeit aber nicht anerkannte Quantitätstheorie
des Geldes; ihr zufolge gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der
Geldmenge und dem durchschnittlichen Preisniveau, d. h. der Kaufkraft des Geldes.
Wenn inflationäre und deflationäre Kaufkraftschwankungen sowie Unterbeschäfti-
gung vermieden und eine stabile krisenfreie Wirtschaft geschaffen werden sollen,
müsse die Menge des in Verkehr gegebenen Geldes laufend an das sich verändernde
Volumen der Güter und Dienste angepaßt werden. Gesell verfeinerte die Quan-
titätstheorie aber noch, indem er auch den tatsächlichen Umlauf des Geldes sicher-
gestellt wissen wollte. Die Störungen des Wirtschaftslebens durch die spekulative
Hortung von Geld wollte er auf folgende Weise verhindern: In regelmäßigen
Zeitabständen sollten die Geldscheine mit gebührenpflichtigen Marken beklebt
werden, d. h. die längere Haltung von Geld sollte genauso wie die Lagerhaltung von
Waren gewissen Kosten unterliegen. Keynes sprach später in seinen Untersuchungen
über die Transaktions-, Vorsichts- und Spekulationskasse von künstlichen "Durch-
haltekosten", die den Liquiditätsvorteil des Geldes neutralisieren sollten. Diesen
Kosten der den Wirtschaftskreislauf störenden Geldhaltung sollte man ausweichen
können, indem man sein Geld zügig wieder in den Kreislauf weitergibt - entweder
in Form von Ausgaben für Konsumgüter oder auf dem Wege von Spareinlagen bei
Banken, die diese für Investitionszwecke weiterverleihen. Gesell erwartete, daß die
Menschen unter solchen Umständen bemüht sein würden, die Haltung von Geld auf
ein unumgängliches Minimum zu begrenzen, und daß sie damit die Hortung ihrer
Zahlungsmittel zu ihrem eigenen Vorteil unterlassen. In der "Strafgebühr" für
gehortetes Geld erblickte er eine Art Garantie füir einen stetigen und reibungslosen
Umlauf der Zahlungsmittel. Und gerade dies ist der tiefere Sinn des von ihm so
genannten "Freigeldes", für dessen praktische Handhabung inzwischen technisch
elegantere Mittel konzipiert worden sind. (2)
Die gegen Ende des letzten Jahrhunderts während einer schweren Wirtschaftskrise
in Argentinien durchgeführte Tornquistsche Bankreform beruhte zum Teil auf
Gesells Vorschlägen (3) und trug zum gewünschten Wiederaufschwung der
Wirtschaftskonjunktur bei. Nach seiner Rückkehr nach Europa ergab sich für Gesell
eine Gelegenheit zur praktischen Erprobung seiner Theorie, als unmittelbar nach
dem ersten Weltkrieg und der deutschen Novemberrevolution am 7. April 1919 in
München die erste bayerische Räteregierung ausgerufen wurde. Auf Vorschlag ihres
Präsidenten Ernst Niekisch sowie Gustav Landauers wurde Gesell in das Amt des
Volksbeauftragten für das Finanzwesen berufen; der Schweizer Arzt und Mathe-
matiker Theophil Christen und Karl Polenske, Professor der Rechte in Greifswald,
wurden Rechnungsbeirat und Rechtsbeirat des Volksbeauftragten. (4) Nachdem
Gesell die deutsche Reichsbank in Berlin von seinen Plänen unterrichtet hatte,
telegraphierte deren Präsident Havenstein nach München: "Ich warne Sie vor
Experimenten." (5) Die Wirren der Revolution machten diesem Experiment jedoch
ein vorschnelles Ende, denn bereits eine Woche nach ihrem Amtsantritt wurde die
erste Räteregierung von Kommunisten gestürzt und durch Levien und Levine
abgelöst. Wenige Jahre später machte dann Havenstein sein Experiment mit der
Trillionen-Inflation, vor das ihn Gesell vergeblich gewarnt hatte. (6)
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Dieser Text wurde im Januar 1998 ins Netz gebracht von Wolfgang Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.