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Werner Onken:
Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung
Eine Einführung in Leben und Werk
Lütjenburg: Gauke GmbH: Verlag für Sozialökonomie, 1999
ISBN 3-87998-439-5
Seite 6-14
Silvio Gesells Leben und Werk im Überblick
Der ausführlicheren Darstellung von Silvio Gesells Leben und Werk soll hier zunächst eine kurze Übersicht über die wichtigsten Stationen seines Lebenswegs und seiner geistigen Entwicklung vorangestellt werden.(1) Die Familie Gesell war in St. Vith im Kreis Malmedy ansässig, in einem Gebiet mit wechselvoller Geschichte also, wo die französische und deutsche Kultur aufeinandertreffen. Dort wurde Silvio Gesell am 17. März 1862 als siebtes von neun Kindern geboren. Seine Mutter war eine katholische Wallonin, die in jungen Jahren den Beruf der Lehrerin erlernt hatte und vielfältige literarische, künstlerische und musikalische Interessen pflegte. Sie war sehr naturverbunden, von einem heiteren Gemüt und von einem ausgeprägten Wirklichkeitssinn. Sein Vater war Protestant, ein preußischer Kreissekretär, der im Kreis Malmedy die Steuern von der Bevölkerung zu erheben hatte.
Nach dem Besuch der Bürgerschule in St. Vith wechselte Silvio Gesell vorübergehend zum Gymnasium in Malmedy. Er mußte jedoch schon früh an den eigenen Broterwerb denken und trat deshalb in den Dienst der deutschen Reichspost ein. Die Beamtentaufbahn behagte ihm indessen nicht, und so entschied er sich, in Berlin in der Firma seiner älteren Brüder den Beruf des Kaufmanns zu erlernen und anschließend für zwei Jahre als Korrespondent in die spanische Hafenstadt Malaga zu gehen. Um mit einem Minimum an Militärdienstzeit davonzukommen, kehrte er nach Berlin zurück und erwarb sich durch eigenes Studium die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst. Als Gesell diesen Dienst mit innerem Widerstreben hinter sich gebracht hatte, arbeitete er noch eine zeitlang als kaufmännischer Angestellter in Braunschweig und Hamburg. 1887 führte ihn sein Lebensweg schließlich in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires, wo er sich selbständig machte und eine Filiale des in Berlin von seinen Brüdern geführten Geschäfts eröffnete.
Während die Industrialisierung in Europa zu jener Zeit bereits in vollem Gange war, steckte sie in Argentinien noch in ihren Kinderschuhen. Die spanische Kolonialmacht hatte eine eigenständige Entwicklung Argentiniens lange Zeit behindert. Sie war an der Ausbeutung der Silbervorkommen interessiert, nicht jedoch an der Entfaltung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe und schon gar nicht am Import von Waren aus der Kolonie, die den eigenen Erzeugnissen nur Konkurrenz gemacht hätten. Zur Entfaltung eines argentinischen Binnenhandels mit gewerblichen Produkten, besonders Weizen und Baumwolle, kam es erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Nach Erreichen der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht im Jahre 1816 setzten sogleich heftige innenpolitische Auseinandersetzungen um die Frage 'Schutzzoll oder Freihandel?' ein - eine Thematik, die auch Gesell später immer wieder beschäftigen sollte. Nach dem Sturz des Diktators Rosas trat 1853 eine liberale Verfassung in Kraft, die das Land auch für Einwanderer öffnete. Die Schafzucht begann so sehr zu expandieren, daß die Wolle für lange Zeit zum wichtigsten Exportartikel Argentiniens wurde. Außerdem stieg das Land zu einem großen Weizenexporteur auf, und das städtische Gewerbe nahm einen Aufschwung.
Ein Rückgang der Weltkonjunktur um die Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts rief auch in Argentinien sofort wieder die Geister des Handelsprotektionismus auf den Plan. Doch konnte sich die argentinische Wirtschaft bald erholen, bis sie 1890 wieder vor einer sehr schweren Krise stand. Einige Jahre zuvor war eine Goldwährung eingeführt worden. Für die expandierende Wirtschaft wurden die Golddeckungsvorschriften nun zur Fessel. Das Preisniveau sank wegen des relativen Mangels an Geld und die wirtschaftliche Entwicklung kam zum Erliegen. Bankrotte, Arbeitslosigkeit und Defizite im Staatshaushalt waren die Folgen, die die Regierung durch einen Übergang zu einer systemlosen Papiergeldwirtschaft bekämpfte. Die sich nunmehr einstellende Inflation wurde wiederum mit einer Politik des deflationären Preisabbaus beantwortet, die die Wirtschaft erneut lähmte.
Diese großen Preisniveauschwankungen gaben Silvio Gesell den Anstoß, sich im Interesse seiner eigenen Geschäfte eingehend mit dem Geldwesen zu beschäftigen. Leichter als in Europa, wo die moderne Wirtschaftsform sich bereits als eine Selbstverständlichkeit eingespielt hatte, konnte er ihre Grundprinzipien hier in Argentinien im Frühstadium ihrer Entfaltung studieren. Gesell beobachtete die Entwicklung des Preisniveaus sehr genau und gelangte zu Schlußfolgerungen, die ihm gestatteten, seine Geschäfte durch geschicktes Disponieren vor Schäden zu bewahren und sich trotz aller äußeren Wirrnisse ein ansehnliches Vermögen zu erarbeiten.
Aber die Ergebnisse seines genauen Beobachtens und Nachdenkens gereichten Gesell nicht nur zu seinem persönlichen Vorteil. Völlig unbeabsichtigt stieß er dabei auch auf eine Ursache für die Macht des Geldes über die Menschen und fand einen Weg, das Geld vom Beherrscher des Marktes zu seinem Diener umzuformen.
Alles in der Natur, so überlegte Gesell, unterliegt dem ewig gültigen Ordnungsprinzip des rhythmischen Wechsels von Werden und Vergehen - nur das Geld ist der Vergänglichkeit alles Irdischen entzogen, es steht außerhalb dieser Dynamik alles Lebendigen. Da das Geld als generalisiertes Tauschmittel liquider ist als die zu tauschenden Güter und Dienste und da es potentiell hortbar ist, stellt es sich der Wirtschaft nur unter der Bedingung als Tauschmittel zur Verfügung, daß es von ihr mit Zins 'angemessen bedient' wird. Um diese Vormachtstellung zu überwinden, muß das Geld der Natur nachgebildet werden. Die einzelnen Geldscheine sollen nach dem Vorschlag von Gesell "rosten" - daher auch ihre Bezeichnung als "rostende Banknoten" -, d.h. sie sollen periodisch an Wert verlieren bzw. mit Instandhaltungskosten behaftet sein, die ihren Liquiditätsvorteil aufheben. Sobald auch die Banknoten 'vergänglich' sind, haben sie auf dem Markt keine Vormachtstellung mehr gegenüber der menschlichen Arbeit und den Gütern sowie Diensten aller Art, so daß sie sich ohne besonderen Tribut dem Markt als Diener zur Verfügung stellen müssen. Hinzu kommt, daß bei einer nicht von Unterbrechungen gestörten stetigen Zirkulation des Geldes seine Menge so dosiert werden kann, daß die Kaufkraft der Währungen stabilsierbar wird.
Silvio Gesell hat hier nichts im Sinne einer willkürlichen Gedankenkonstruktion erfunden, sondern etwas in der Natur Vorhandenes gefunden - nämlich das elementare Ordnungsprinzip allen Lebens - und seine Übertragung auf das von Menschen eingerichtete Geldwesen empfohlen. Die Entdeckung dieses Grundgedankens zu einer der Natur gemäßen Geldordnung gab seinem Leben die entscheidende Wende. Vom Kaufmann wurde Gesell zum Sozialreformer, denn schnell erkannte er die Tragweite seiner Gedanken und ihre Bedeutung als Beitrag zur Lösung der sozialen Frage. Zwar blieb er vorerst noch weitere zehn Jahre in seinem Beruf tätig, aber schon bald begann er, seine Erkenntnisse schriftlich niederzulegen. So entstanden seine Frühschriften "Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat", "Nervus rerum" und "Die Verstaatlichung des Geldes", die in den Jahren 1891 und 1892 als Fortsetzungen in Buenos Aires erschienen. Ihnen sollte eine Fülle weiterer Broschüren, Bücher und Zeitschriftenaufsätze in deutscher und spanischer Sprache folgen.
Gesells umfangreiches Lebenswerk steht in der Tradition des großen französischen Sozialreformers Pierre Joseph Proudhon und läßt sich ordnungspolitisch als "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" bezeichnen. Damit stellt es eine doppelte Alternative dar: einerseits zur kapitalistisch verfälschten Marktwirtschaft, die sich ausgehend von Adam Smith und der neoklassischen Ökonomie in den Ländern der westlichen Welt entwickelt hat, und andererseits zur zentralen Planwirtschaft, die in Anlehnung an Karl Marx und seine Epigonen in der östlichen Hemisphäre entstanden ist.
1895 trat einer seiner Brüder als Teilhaber in sein Geschäft - die "Casa Gesell" - ein, um es fünf Jahre später ganz zu übernehmen. Silvio Gesell konnte sich dadurch aus dem Geschäftsleben zurückziehen; er siedelte in die Schweiz über, wo er für sich und seine Familie im Neuenburger Jura ein Bauerngut erwarb. Neben seiner landwirtschaftlichen Betätigung vertiefte er sich hier autodidaktisch in die Werke von Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, Pierre Proudhon und anderen großen Ökonomen sowie in die Werke von Naturwissenschaftlern und Philosophen wie Charles Darwin und Friedrich Nietzsche. Gesell verglich deren Aussagen mit den eigenen Überlegungen, prüfte seine Gedanken selbstkritisch und baute sie immer weiter zu einem Theoriengebäude aus. Sehr intensiv beschäftigte er sich auch mit den Werken von Henry George und Michael Flürscheim. Von ihnen übernahm er die Forderung nach einer Bodenrechtsreform, wandelte sie aber insofern ab, als er keine entschädigungslose Enteignung der jetzigen Eigentümer des Bodens vorschlug, sondern einen allmählichen Rückkauf des Bodens durch den Staat. Eine solche Reform des Bodenrechts hielt Gesell aus zwei Gründen für notwendig. Zum einen wollte er verhindern, daß nach einer Reform des Geldes eine Flucht in die Sachwerte einsetzt. Und zum anderen soll der Boden kein Objekt des Handels und der Spekulation sein. Gesell betrachtete ihn als ein unveräußerliches Erbe der gesamten Menschheit, zu dem alle Menschen gleichberechtigten Zugang bekommen sollten. Als Zusammenfassung aller seiner bis dahin gewonnenen Erkenntnisse erschien 1906 Gesells Werk "Die Verwirklichung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag durch die Geld- und Bodenreform".
Weitere schriftstellerische Pläne, insbesondere eine philosophische Fundierung seiner ökonomischen Lehre, ließen sich vorerst nicht ausführen. 1907 mußte Silvio Gesell vorübergehend wieder nach Argentinien zurückkehren, weil die "Casa Gesell" nach dem frühen Tod seines Bruders verwaist war. Außerdem hatte die Herausgabe seiner Bücher und Schriften seine Ersparnisse so sehr aufgezehrt, daß er daran denken mußte, sich wieder ein finanzielles Polster anzulegen. 1911 waren seine Söhne soweit herangewachsen, daß Gesell das Geschäft in ihre Hände legen und wieder nach Deutschland kommen konnte. Seinen Wohnsitz schlug er nunmehr in der von Franz Oppenheimer mitbegründeten boden- und lebensreformerischen Genossenschaftssiedlung Oranienburg-Eden bei Berlin auf.
Zu jener Zeit, als es noch unbestritten das Ziel allen wissenschaftlichen Denkens der Menschen war, sich die Natur zu unterwerfen, sie zu beherrschen und die Welt nach eigenem Bild neu zu erschaffen, machte Silvio Gesell die Natur bereits zur obersten Richtschnur seines gesamten Denkens. Für ihn bedeutete Wissen nicht Macht über die Natur und die menschliche Gesellschaft, sondern die Verpflichtung, die Natur in ihrer Eigenständigkeit zu respektieren und die menschliche Gesellschaft sowie ihr Wirtschaftsleben so zu ordnen, daß sie sich nahtlos in die gesamte Ordnung der Natur einfügen.
Mit dieser Grundeinstellung zum Leben hat Silvio Gesell das ganzheitliche Denken in vernetzten Regelkreisen um Jahrzehnte vorweggenommen. Sein unerschütterliches Urvertrauen in die Harmonie des Kosmos und sein Bestreben, die soziale Ordnung mit den in der Natur waltenden Ordnungsprinzipien in Einklang zu bringen, fanden ihren Ausdruck auch im Titel der Zeitung, die Gesell ab 1912 gemeinsam mit seinem ersten Mitkämpfer Georg Blumenthal herausgab. In Anlehnung an die alten französischen Physiokraten um Francois Quesnay gaben sie ihr den Namen "Der Physiokrat". Der große Unterschied zum mechanistischen und materialistischen Denken ihrer Zeit kann zur Erklärung der Gründe beitragen, warum Silvio Gesell und seine ersten Freunde so wenig Verständnis bei ihren Zeitgenossen fanden. Physiokratie, also die Herrschaft der natürlichen Ordnung, und kapitalistische Technokratie beruhen auf unterschiedlichen Weltanschauungen und geistigen Haltungen, die das Denken der Menschen in die ihnen gemäßen Bahnen lenken und eine gegenseitige Verständigung sehr erschweren.
In der Zeitung "Der Physiokrat" hat Silvio Gesell 1913 erstmals einen Gedanken ausgesprochen, der neben der Geld- und Bodenreform zum dritten großen Baustein seines Werkes werden sollte: der Gedanke, die aus der Verpachtung des Bodens in die Kassen der Allgemeinheit fließende Bodenrente an die Mütter nach der Zahl ihrer Kinder auszuzahlen, um ihre Erziehungsleistungen zu honorieren und sie aus der ökonomischen Abhängigkeit von ihren Männern zu befreien. Damit rüttelte Gesell also nicht nur am technokratischen Geist seiner Zeit, sondern auch noch an ihren patriarchalischen Grundfesten.
Der erste Weltkrieg machte es weitgehend unmöglich, in Deutschland für die Verbreitung von solchen Gedanken zu arbeiten. Anfang 1916 fiel "Der Physiokrat" endgültig der Kriegszensur zum Opfer, nachdem er seit Beginn des Krieges nur noch sehr unregelmäßig erschienen war. Gesell verließ deshalb Deutschland und ließ sich wieder in der Schweiz auf seinem Bauerngut nieder. 1916 erschien in Bern die erste Auflage seines Hauptwerks "Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld". Es wurde insgesamt mehr als zehnmal aufgelegt und erreichte eine Gesamtauflage von schätzungsweise 50.000 Exemplaren.(2) Später kamen englische, französische und spanische Ausgaben hinzu. Unter dem Eindruck der Schrecken des Krieges hielt Gesell 1916 und 1917 in Bern und Zürich zwei Vorträge über "Gold und Frieden?" und "Freiland - die eherne Forderung des Friedens". Sie wurden wegen ihrer Bedeutung später auch in die "Natürliche Wirtschaftsordnung" eingearbeitet.
In der Schweiz hatte sich Silvio Gesell mit dem Arzt Theophil Christen angefreundet, bevor dieser Leiter einer Röntgen-Forschungsstelle in München wurde und dort mit dem Schriftsteller und Politiker Ernst Niekisch Verbindung aufnahm. Als Gesell sich Anfang 1919 zu einem Besuch in Berlin aufhielt, erreichte ihn dort eine telegraphische Anfrage von Niekisch, ob er sich der Sozialisierungskommission der sozialdemokratischen Regierung Bayerns zur Verfügung stellen würde. Er erklärte seine Bereitschaft; doch als er in München eintraf, wurde dort gerade die erste bayerische Räterepublik ausgerufen. Mit Unterstützung von Ernst Niekisch und Gustav Landauer wurde Gesell zum Volksbeauftragten für das Finanzwesen gewählt. Einen nennenswerten Einfluß auf die Neuordnung des Geld- und Finanzwesens in Bayern konnte er allerdings nicht nehmen, da die erste libertäre Räteregierung schon nach einer Woche von einer zweiten kommunistischen Räteregierung gestürzt wurde. Nach mehrmonatiger Haft wurden Silvio Gesell und seine beiden Mitarbeiter Theophil Christen und Karl Polenske von der inzwischen von Bamberg nach München zurückgekehrten sozialdemokratischen Regierung wegen Hochverrats angeklagt. Das Standgericht sprach sie jedoch von der Anklage frei.
Für die Schweizer Behörden war Gesell durch diese Ereignisse zum 'lästigen Ausländer' geworden und sie verweigerten ihm die Rückkehr in seine schweizerische Wahlheimat. In Rehbrücke bei Potsdam fand er ein neues Domizil. Die Sorge um die Zukunft der jungen Weimarer Demokratie veranlaßte ihn, sich in Denkschriften an die Deutsche Reichsbank, an die Weimarer Nationalversammlung, an Parteien und Gewerkschaften zu wenden und die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer Demokratie zu erläutern. Doch blieben sie ebenso unbeachtet wie seine Mahnung, daß unter ungesunden wirtschaftlichen Verhältnissen auch ein Völkerbund den Weltfrieden nicht erhalten könne. Daneben unterstützte Gesell den Aufbau von Organisationen, die sich für die Verbreitung seiner Gedanken einsetzten, und verfaßte für deren Presseorgane zahlreiche Aufsätze, in denen er zum aktuellen Tagesgeschehen Stellung nahm.
Als Gegengewicht zu den starken politischen Kräften, die die Lösung der drängenden Probleme ihrer Zeit von einem immer weiteren Ausbau des Staates und der Erweiterung seiner Machtbefugnisse erwarteten, propagierte Gesell den "Abbau des Staates". In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg beschäftigte ihn in zunehmendem Maße die Frage, wie der Staat wieder auf seine eigentlichen Aufgaben zurückgeführt werden könnte.
Nachdem er 1924/25 ein letztes Mal nach Argentinien gereist war, zog Gesell wieder in die Genossenschaftssiedlung Eden. Dort verstarb er am 11. März 1930 - zu früh, um zwei erfolgreiche Experimente mit seinem Freigeld in Schwanenkirchen im Bayerischen Wald und Wörgl in Tirol noch miterleben zu dürfen, und früh genug, um den Absturz Deutschlands und Europas in die furchtbare Barbarei von Diktatur und Krieg nicht mehr mit ansehen zu müssen. -
Nahezu 40 Jahre seines Lebens hat Silvio Gesell versucht, als "ehrlicher Finder", wie er sich selbst einmal bezeichnete, der Gesellschaft seinen Gedankenfund zu übergeben. "Lange Jahre war ich in Sorge", so berichtete er 1919 in seiner Münchener Verteidigungsrede, "daß ich verunglücken könnte, ehe ich meinen Fund seinem rechtmäßigen Eigentümer ausgehändigt hätte, ehe es mir gelänge, den Bann des Totschweigens zu brechen. Seit dreißig Jahren bin ich ganz bestimmt nicht ein einziges Mal zu Bett gegangen, ohne mich zu fragen, was ich noch tun könnte, um meinen Schatz loszuwerden, um ihn zum Gemeingut zu machen. Wahrhaftig, keinem Christophorus ist je so ein schweres Kind auf die Schulter gebürdet worden."
Doch nur bei wenigen Menschen fand Silvio Gesell das erhoffte Verständnis für seine Gedanken. Anstatt diesen Fund anzunehmen, brachte die überwiegende Mehrzahl seiner Zeitgenossen ihm Ignoranz und Hochmut entgegen. Viele Enttäuschungen wurden Gesell durch dieses Unverständnis seiner Zeit bereitet. Sie machten seine zuweilen unbekümmerten Hoffnungen auf baldige Erfolge zunichte, doch vermochten sie ihm nicht seine feste Überzeugung zu nehmen, daß unserem Dasein ein Sinn zugrundeliegt und daß wir Menschen unterwegs sind zu kulturellen Hochzielen. "Unermeßliche Schätze schlummern im Menschen", heißt es im Vorwort zur dritten Auflage der "Natürlichen Wirtschaftsordnung"; sie werden einst ausgeschüttet werden, wenn die Menschen den Faden ihrer Entwicklung wieder aufnehmen werden, den sie vor langer Zeit infolge ihrer naturwidrigen Sozialordnung verloren haben. Wenn sie die Ordnung ihres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens nach dem Vorbild der Natur korrigieren werden, "wird die Menschheit den schon lange unterbrochenen Aufstieg zu göttlichen Zielen wieder aufnehmen".
Die Dauer eines Menschenalters reicht indessen nicht aus, um den nötigen Schritt zur natürlichen Ordnung der Wirtschaft vorzubereiten und zu vollziehen. Hierzu sind umfangreiche geistige Vorarbeiten erforderlich, die viele Menschen mehrerer Generationen leisten müssen. Zu dieser Einsicht gelangte Silvio Gesell jedoch nicht erst gegen Ende seines Lebens. Sie findet sich bereits in einem Brief, den er 1907 an Georg Blumenthal gerichtet hatte: "Was gilt innerhalb der Ewigkeit des Lebens die kurze Spanne eines Menschenlebens? Zeit, viel Zeit gehört zur Entwicklung, und wo man gegen alte, organisch verwachsene Vorurteile zu kämpfen hat, da darf man die Jahre nicht zählen."
Trotz alter Damoklesschwerter, die heute in Gestalt atomarer Vernichtungspotentiale über uns hängen, sei an diese Einsicht erinnert. Ängste und Ungeduld sind schlechte Ratgeber in der Frage der Wahl des richtigen Weges, der zum Ziel führen könnte. Allein beharrliches Streben nach einer gründlichen Klärung aller mit einer natürlichen Ordnung der Wirtschaft verbundenen Fragen macht dieses Ziel erreichbar.
Vorrangige Aufgabe aller, die sich dem Vermächtnis Silvio Gesells verbunden fühlen, sollte es deshalb sein, das Lebenswerk dieses Pioniers einer gerechteren und friedlicheren Welt als ein Stück des geistigen Erbes der Menschheit zu erhalten und in die sich abzeichnenden Kämpfe um die Gestaltung der Zukunft einzubringen. Es geht also nicht nur darum, Gesell posthum das verdiente Denkmal zu errichten, sondern sein geistiges Erbe zu erschließen, aus dem die zukünftige Arbeit für eine natürliche Ordnung der Wirtschaft neue Impulse empfangen kann. Dies erscheint um so aussichtsreicher, als Gesell sich aus geistigen Quellen nährte, die auch andernorts wieder reichlicher zu sprudeln beginnen.
Selbstverständlich macht die Tatsache, daß Gesells Werk vor mehr als einem halben Jahrhundert entstand, seine Aktualisierung und Modernisierung erforderlich. Zunächst soll diese Einführung die dafür nötigen Hintergrundinformationen über Gesells jeweilige Lebensstationen sowie über die Zeitumstände vermitteln. Weiterführende Untersuchungen könnten mit dem Versuch beginnen, Gesells Persönlichkeitsbild zu vervollständigen. So sehr Werner Schmid dankbare Anerkennung für seine Gesell-Biographie gebührt, so unerläßlich ist es dennoch, Nachforschungen nach weiteren Einzelheiten aus Gesells Leben anzustellen und seine Persönlichkeit aus historischen, psychologischen und ökonomischen Blickwinkeln zu beleuchten. Auch bedürfen die Zusammenhänge zwischen Leben und Werk eingehender Studien, dies insbesondere auch im Hinblick auf vergleichende Untersuchungen mit seinem großen Antipoden Karl Marx.
Sodann ist es eine bekannte Tatsache, daß auch die Schöpfer bahnbrechender Gedanken im Laufe ihres Lebens Entwicklungen unterliegen. Silvio Gesell bildet hier keine Ausnahme. Insbesondere seine religiösen und philosophischen Einstellungen waren solchem Wandel unterworfen, nicht zuletzt aufgrund der Einflüsse, die die ersten Freunde auf ihn nahmen. Auch seine Einstellung zum Staat war solchen Einflüssen ausgesetzt. Deshalb wird es notwendig sein, diese Wandlungen sehr sorgfältig zu ergründen und genau zu unterscheiden zwischen dem, was originär von Gesell stammt und dem, was er von Freunden angenommen hat. Dabei mag dann auch jene weltanschauliche Grundlegung der ökonomischen Theorien erfolgen, die von Gesell selbst nicht mehr geleistet werden konnte.
Auch die Geschichte der auf Silvio Gesell fußenden Freiwirtschaftsbewegung ist bislang nur selten Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Ohne ihre Aufarbeitung gibt es jedoch keine Kontinuität in ihrer weiteren Entwicklung. Immerhin bestehen in der Schweiz und in Deutschland zwei freiwirtschaftliche Bibliotheken, in denen alles noch verfügbare Material gesammelt und katalogisiert wurde und zur Auswertung bereitsteht. (3)
Von einigen Autoren aus der Anhängerschaft Silvio Gesells ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß es in den Brakteaten des Mittelalters ein geschichtliches Vorbild für das Freigeld gibt. Mit den periodischen gebührenpflichtigen Münzverrufungen - der "renovatio monetarum" - wurden die großen Kulturschöpfungen der Gotik in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Hier wartet ein bedeutender Forschungsgegenstand auf das Interesse von Wirtschafts- und Kulturhistorikern. Sowohl über die positiven als auch über die negativen Einflüsse des Geldes auf die Geschichte der Menschheit liegen Vorarbeiten vor, an die angeknüpft werden könnte. Schließlich eröffnen viele von Silvio Gesells Arbeiten neue Blickwinkel für die Betrachtung der Wirtschaftsgeschichte der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungen könnte in der Suche nach Vorläufern Gesells und ähnlich denkenden Zeitgenossen bestehen. Hierüber wird man zu seiner Einordnung in die Dogmengeschichte der Ökonomie gelangen. Darüberhinaus gilt es, Anknüpfungspunkte an bestehende Kulturtraditionen zu suchen. Gedankenverbindungen zwischen Gesells Werk und der europäischen Geistesgeschichte würden ein Bild von dem Platz ergeben, den Gesell in ihr einnimmt.
Besondere Bedeutung für die Modernisierung und Aktualisierung von Gesells Werk gewinnt die Frage, inwieweit aus ihm auch ein Beitrag zur Lösung der ökologischen Problematik, die zu Lebzeiten Gesells noch keine größere Rolle spielte, entwickelt werden kann. Geeignete Ansätze hierzu liegen bereits vor, doch bedürfen die Zusammenhänge zwischen Geld, Zins und Wachstum ebenso einer noch ausführlicheren Darstellung wie die Frage, wie im Rahmen einer Reform des Bodenrechts auch ein sparsamerer Umgang mit den Bodenschätzen erreicht werden kann.
Auf eine kritische und selbstkritische Aufarbeitung warten schließlich mehrere Arbeiten von wissenschaftlichen und politischen Autoren, die sich mit Gesells Theorien näher beschäftigt und sie verworfen haben. Mancherlei Einwände gegen Gesell sind in der Zwischenzeit von selbst hinfällig geworden, zum Beispiel jene, die von Verfechtern der Goldwährung oder der festen Wechselkurse vorgebracht wurden. Deren Argumente hat die Geschichte gewissermaßen selbst widerlegt, ohne daß dies größeres Aufsehen erregt hätte. Weitere Einwände mögen auf dem Wege der geistigen Auseinandersetzung entkräftet werden und auf diese Weise die Leistungsfähigkeit von Gesells Theorieansätzen beweisen. Berechtigten Einwänden sollte die Anerkennung nicht versagt werden, denn in ihrer ernsthaften Prüfung liegt die Chance, noch bestehende Schwächen in der Begründung für eine natürliche Ordnung der Wirtschaft allmählich zu beseitigen.
Über eine systematische Auseinandersetzung mit den Einwänden, die im Laufe der Jahrzehnte gegen die Theorien Silvio Gesells vorgebracht wurden, kann allmählich der Anschluß an den derzeitigen Entwicklungsstand der Ökonomie wiedergefunden werden. Gesell war indessen weit mehr als nur ein "Geld- und Finanztheoretiker", als der er in Nachschlagewerken vorgestellt wird. Das Spektrum seines Denkens reichte in andere Wissensgebiete wie die Theologie und Philosophie, Anthropologie und Geschichte, Psychologie und in die Sozial-, Rechts- und Politikwissenschaften, so daß eine Beteiligung von Vertretern dieser Disziplinen an der angestrebten Rezeption seines Werkes wünschenswert wäre.
Bis auf wenige kleinere Aufsätze, die nicht mehr erreichbar sind, konnten alle Veröffentlichungen Gesells zusammengetragen werden. Eine wertvolle Hilfe waren dabei die von Friedrich Landmann und Willy Hess geleisteten Vorarbeiten. Bereits 1931 hatte Landmann ein Verzeichnis aller ihm bekannten Arbeiten Gesells veröffentlicht. (4) Später stellte Willy Hess anhand dieses Verzeichnisses umfangreiche Nachforschungen an. 1975 konnte er ein nahezu vollständiges Werkeverzeichnis vorlegen, das seitdem noch einige Ergänzungen erfuhr. (5)
(1) Werner Schmid, Silvio Gesell - Lebensgeschichte eines Pioniers. Bern: Verlagsgenossenschaft freiwirtschaftlicher Schriften, Bern 1954
(2) Die 10. Ausgabe erfolgte 1984 im Zitzmann Verlag in Lauf bei Nürnberg. Es handelt sich um einen unveränderten Nachdruck der 1949 im gleichen Verlag erschienenen 9. Auflage. Im Rahmen der "Gesammelten Werke" sind inzwischen im Fachverlag für Sozialökonomie [Gauke GmbH Lütjenburg] weitere Ausgaben und Auflagen erschienen.
(3) Die "Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek" befindet sich im "Schweizerischen Wirtschaftsarchiv" in CH-4003 Basel, Petersgraben 51. Die "Freiwirtschaftliche Bibliothek" befindet sich in D-26316 Varel-Obenstrohe, Steenkamp 7. Kopien bzw. Microfilmaufnahmen von größeren Teilen ihres Bestandes hat die Bibliothek der Universität Bremen.
(4) Friedrich Landmann, Des Meisters Erbe - Verzeichnis der Schriften Gesells, in: Die Neue Welt - Freiwirtschaftliches Archiv 7.Jg (1931), Nr. 1-2, S.49-56; Nr. 5, S. 153-159; Nr.6, S. 187-191; Nr. 7-8, S. 230-238.
(5) Willy Hess, Die Werke von Silvio Gesell - Versuch eines vollständigen Verzeichnisses aller seiner Bücher, Broschüren, Flugblätter und Artikel, Bern 1975. Nachträge sind in den Nummern 1/1976, 5/1979 und 12/1986 der schweizerischen Zeitschrift "evolution" erschienen.
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Gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gepackt im Juni 2001 von W.Roehrig