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Stand: 17.9.2005

 

Werner Onken

 

Silvio Gesell im IDGR-Lexikon gegen Rechtsextremismus

www.lexikon.idgr.de/g/g_e/gesell-silvio/gesell-silvio.php

 

   Angesichts der Gefahr, dass die anhaltende Massenarbeitslosigkeit zum Nährboden für eine weitere Ausbreitung von rechtsextremistischen Ideologien werden könnte, verfolgt das IGDR-Lexikon des Informationsdienstes gegen Rechtsextremismus das berechtigte Ziel, Anzeichen dieser Gefahr durch aufklärende Informationen besser sichtbar zu machen.

   Das IDGR-Lexikon enthält jedoch auch einen Artikel von Monika Kirschner über Silvio Gesell, worin diesem zu Unrecht unterstellt wird, „Vertreter eines völkischen Antikapitalismus“ gewesen zu sein und der NS-Ideologie nahe gestanden zu haben. Eigenartigerweise bezieht sich Monika Kirschner bei ihrer Darstellung der Gedanken von Silvio Gesell auf keine einzige Originalquelle, obwohl Gesells Werke vollständig vorliegen. Stattdessen beruft sie sich allein auf Sekundärquellen von Jutta Ditfurth, Peter Bierl und anderen Autoren, die Gesell als Träger rechtsextremistischer Gedanken diffamiert haben. So werden Falschinformationen und Fehlinterpretationen seines Werkes über das IDGR-Lexikon weiter verbreitet.

 

Falschinformationen

 

  Monika Kirschner schreibt, dass Gesell erst ein „spätes Interesse“ an volkswirtschaftlichen Fragen entwickelt habe. Tatsächlich war er noch keine 30 Jahre alt, als seine ersten Veröffentlichungen über eine Reform des Geldes in Buenos Aires erschienen.

   Entgegen ihrer Behauptung ist er auch niemals Mitglied oder gar Vorsitzender eines „Deutschen Erneuerungsbundes“ gewesen.

   Der „Eden-Genossenschaft“ in Oranienburg hat Gesell zeitweise angehört, ohne in ihre eine leitende Funktion zu übernehmen.

   Der NS-Wirtschaftstheoretiker Gottfried Feder hat Gesells Theorien nicht übernommen. Das Gegenteil war der Fall. Feder hat sie nachweislich explizit abgelehnt: „Der gefährlichste dieser deutschen Propheten war und ist Silvio Gesell. Seine Lehre von Freiland und Freigeld hat geradezu Verheerungen angerichtet in vielen deutschen Köpfen. Die restlose Ablehnung und wissenschaftliche Erledigung der Gesellschen Irrlehre kann heute als Gemeingut des Nationalsozialismus angesehen werden.“ (Gottfried Feder, Falsche Propheten und Schwarmgeister, in: Völkischer Beobachter vom 27.10.1923)

   Eine „Silvio-Gesell-Gesellschaft“ gibt es gar nicht. Auf Gesells Gedanken bauen stattdessen eine „Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung“ sowie die „Sozialwissenschaftliche Gesellschaft“, die „Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung“, die „Christen für gerechte Wirtschaftsordnung“ und das „Seminar für freiheitliche Ordnung“ auf. Sie bemühen sich  -  durchaus nicht unkritisch  -  um eine Aktualisierung und Weiterentwicklung dieser Denkansätze und legen Wert auf eine Distanzierung sowohl gegenüber rechts- als auch gegenüber linksextremistischen Ideologien.

 

Fehlinterpretationen

 

   Gesells Ziel einer Bodenrechts- und Geldreform war im Gegensatz zur Darstellung von Monika Kirschner sehr wohl „in erster Linie wirtschaftspolitischer Art“.

   Von Darwins Evolutionslehre ließ sich Gesell erst rund 10 Jahre nach dem Erscheinen seiner Frühschriften beeinflussen. Dazu bewog ihn der Wunsch, seine wirtschaftspolitischen Ziele mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu verbinden. Außer an Darwin orientierte er sich an Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Von Darwin waren damals im übrigen alle sozialen Bewegungen beeinflusst; es gab sogar Publikationen über eine „sozialdemokratische Eugenik“.

   Es war sehr wohl die emanzipatorische Absicht Gesells, mit der Bodenrechts- und Geldreform zur Schaffung von sozialer Gleichheit beizutragen. Es ging ihm gerade nicht um die Rechtfertigung sozialer Hierarchien und er hat auch den medizinischen Fortschritt nicht abgelehnt.

   In seinen ökonomischen Reformtheorien ist nirgendwo von einer Forderung nach einer Abschaffung des Geldes die Rede. Stattdessen wollte Gesell das Geld so reformieren, dass es für alle Menschen zu einem gerechten Mittel des Tauschens und Leihens wird. Er betrachtete die gesamte Menschheit als einen „internationalen Organismus“ (Gesammelte Werke Band 5, S. 245) und entwickelte deshalb nach dem ersten Weltkrieg die Grundgedanken einer internationalen Währungsordnung, die zum Frieden zwischen den Menschen und Völkern beitragen sollte (Gesammelte Werke Band 12, S. 149 - 190).

   Die ganze Erde betrachtete Gesell dementsprechend als unveräußerliche Lebensgrundlage und Heimat aller Menschen im Universum, als ein unteilbares Wirtschaftsgebiet: „Den Schwarzen, den Roten, den Gelben, den Weißen  -  allen ohne Ausnahme gehört die Erde ungeteilt. … Der Friede fordert keine Menschenopfer, aber das Opfern köstlicher Vorrechte, liebgewonnener Vorurteile, völkischer Bestrebungen und Lebensanschauungen.“ (GW Band 10, S. 75; Band 11, S. 56 und 99)

   Die Verwendung der Bodenrente als „Mutterlohn“ war bei Gesell dem damaligen Zeitgeist entsprechend zwar auch mit geistigen Anleihen von Darwin, aber nicht mit einer rassistischen Einstellung verbunden.

   In ökonomischer Hinsicht ging es ihm mit dem „Mutterlohn“ um eine Befreiung der Mütter aus der materiellen Abhängigkeit von den ökonomisch überlegenen Vätern ihrer Kinder. Im Sinne einer Rollenflexibilisierung wäre in den Fällen, in denen Mütter erwerbstätig sind und Väter die Familienarbeit übernehmen, auch ein „Vaterlohn“ denkbar. Der Gedanke eines Entgelts für die innerhäusliche Familienarbeit war ein Vorläufer des „Elterngeldes“, dem sich die aktuelle familienpolitische Diskussion nähert.

   Bei Gesells Verbindung der ökonomischen Gleichstellung von Müttern und Vätern mit der darwinistischen Evolutionslehre ging es keineswegs um „Menschenzucht“, sondern um die Möglichkeit vor allem für Frauen, unglückliche Ehen zum Beispiel mit Alkoholikern zu beenden, ohne dadurch in wirtschaftliche Not zu geraten.

   In der späteren Anhängerschaft Gesells spielt die Verbindung von „Mutterlohn“ und Darwinismus keine Rolle mehr. Außerdem gibt es Überlegungen, die Bodenrente pro Kopf an die Bevölkerung zurückzuverteilen  -  unabhängig vom Geschlecht  -  und die ökonomische Absicherung von Familien durch eine Umverteilung von Arbeitseinkommen zu gewährleisten.

   Aufgrund seiner Auslandserfahrungen hat Gesell den damals  -  auch in den verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung  -  weit verbreiteten Ideologien von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus schon frühzeitig eine internationalistische Denkweise gegenübergestellt. Eine „Überlegenheit der weißen Rasse“ hat er nie behauptet, sondern bereits um die Mitte der 1920er Jahre vor einem Krieg zwischen menschlichen Rassen gewarnt. (Gesammelte Werke Band 14, S. 208; Band 15, S. 109, 198 – 202 und 245 – 249)

 

Fazit

 

   Es ist ebenso unsachlich wie unfair, Silvio Gesell des Rechtsextremismus zu bezichtigen, ohne die authentischen Quellen und ihre Zeitbedingtheit zu berücksichtigen und obendrein die spätere Rezeption seines Werkes nicht zur Kenntnis zu nehmen. ‚Antifaschismus’ macht sich unglaubwürdig, wenn er mit unredlichen Mitteln Denkansätze in Misskredit zu bringen versucht, die in weiterentwickelter Form vielleicht dazu beitragen könnten, die wirtschaftliche Dauerkrise zu überwinden und damit extremistischen Gefährdungen für Menschenrechte und Demokratie ihren Nährboden zu entziehen.

  Die durchweg von marxistischer Seite kommenden Attacken gegen Silvio Gesells Denkansatz einer Bodenrechts- und Geldreform sind gleichsam eine Fortsetzung des Kampfes von Marx und Engels gegen die als ‚kleinbürgerlich’ und ‚utopisch’ verunglimpften freiheitlichen Sozialisten von Proudhon über Dühring bis zu Henry George und anderen. Bei aller Fragwürdigkeit könnten diese Attacken indessen auch als Anzeichen dafür aufgefasst werden, dass die Bodenrechts- und Geldreformansätze auf ihrem Weg vom Ignoriertwerden bis zur späteren Anerkennung ihres gedanklichen Kerns als Selbstverständlichkeit die Zwischenstation des Bekämpftwerdens erreicht haben. Sie ist zwar schmerzlich, kann aber von den Nachfolger/innen Gesells auch mit Gelassenheit ausgehalten und als Chance genutzt werden, sich den Licht- und Schattenseiten ihrer eigenen Geschichte zu stellen und sich des in Menschenrechten und Demokratie verankerten Kerns der Bodenrechts- und Geldreform zu vergewissern.

 

Werner Onken