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Eduard Leemann
Dynamik des Geldes
Geldtrieb und Selbstorganisation der Marktwirtschaft
1998 Zürich
Orell Füssli Management
ISBN 3-280-02625-3
Seite 259:
Modelle gemeinschaftlicher Selbsthilfe
Als weitere Alternative
propagiert die Freigeldlehre von Silvio
Gesell eine grundsätzliche Neuordnung des Geldwesens durch Schwundgeld.
Sein Motiv ist volkswirtschaftlicher Natur. Ganz anders vom Motiv her, aber
ähnlich in den Methoden verhält es sich mit der Lehre von Rudolf Steiner, der ebenfalls nach einer neuen Verfassung des
Geldwesens sucht. Beide Konzepte bieten jedoch keine gangbare Alternative im
umfassenden Sinne zum geltenden System von Geldwirtschaft und Wettbewerb. (116)
Neben diesen Projekten findet
sich eine ganze Reihe von Modellen gemeinschaftlicher Selbsthilfe, die im
System von Geldwirtschaft und Wettbewerb - mit Ausnahmen - Platz haben, die
sich nach den geldwirtschaftlichen Spielregeln richten, aber in der einen oder
anderen Form von Geldtrieb und Wettbewerb, wie wir sie vom üblichen Muster her
kennen, abweichen. Organisationen der Selbsthilfe sind in der Regel nicht
erwerbsstrebig; das heisst, ihr Geldtrieb ist gezähmt. Gegenüber dem Wettbewerb
gibt es unterschiedliche Haltungen; entweder sie sind voll darin einbezogen
oder sie schirmen sich gegen ihn ab.
Fußnoten Seite 283:
116) Gesell legt grosses Gewicht - ich folge hier der Interpretation von
Keynes auf das Verhältnis zwischen der Grenzproduktivität des Kapitals und dem
Zinssatz und argumentiert, dass das Wachstum des Realkapitals durch den
Zinssatz begrenzt wird. Gäbe es keinen Zinssatz, müsste das reale Kapital
rapide anwachsen. Deshalb kommt es darauf an, den Zinssatz zum Verschwinden zu
bringen. Das gelingt dann, wenn die Haltung von liquiden Mitteln Kosten
verursacht. Das führte Gesell zu seinem Vorschlag des Schwundgeldes, bei dem
der Staat periodisch auf den Zahlungsmitteln eine Benützungsgebühr bzw. einen
Negativzins erhebt. Wer die Zahlungsmittel am Stichtag in der Hand hat, muss
diese Gebühr beispielsweise durch das Aufkleben von Marken auf den Banknoten
abliefern. Jedermann wird dann versuchen, den Schwarzpeter rechtzeitig weiterzugeben.
Die Idee des Schwundgeldes ist eine frontale Attacke gegen das System von Geldwirtschaft und Wettbewerb. Die geldwirtschaftlichen Spielregeln würden auf den Kopf gestellt. Während im System der Geldwirtschaft alles daran hängt, zahlungsfähig zu sein, also über Geld zu verfügen, werden die Geldbesitzer durch das Schwundgeld bestraft und gezwungen, ihr Geld rasch wieder loszuwerden. Der Geldtrieb würde durch die laufende Geldentwertung an einem neuralgischen Punkt getroffen. Die Bereitschaft zur Teilnahme am Wettbewerb müsste erlahmen; die gesamte wirtschaftliche Dynamik käme zum Erliegen.
Für Gesell gehört der Verzicht auf den Zins zu einer natürlichen
Wirtschaftsordnung. Was ist aber natürlich und was unnatürlich? Der Zins
entsteht durch keinerlei Vorschrift. Zins ist der Preis für geliehene
Liquidität. Ohne Zins ist diese Liquidität und damit auch ein Kredit nicht zu
haben. Wenn die Kreditnehmer davon nicht profitierten, würden sie den Zins
nicht zahlen. Natürlicher geht es nicht mehr; künstlich und unnatürlich wäre
dagegen die vorgeschlagene obrigkeitliche Dekretierung eines Negativzinses.
Es passt zum Bild eines
«anti-marxistischen Sozialismus» (Keynes),
dass sich das Schwundgeld nur bedingt mit dem Privateigentum verträgt. Bei
Gesell gehört Freiland zum Freigeld. Privateigentum an Grund und Boden wird
ausgeschlossen, weil damit spekuliert werden könnte. Ergänzt wird diese
Einschränkung des Privateigentums mit einer Steuerreform, welche die
Vermögensunterschiede ausgleichen soll.
Nach Steiner hat der Mensch auf dieser Welt einen biographischen
Auftrag, der nur in einer sinnvollen Arbeit bestehen kann. Das Geld soll ihm
helfen, seinen Auftrag zu erfüllen. Steiner
kann sich deshalb nicht mit einer Ordnung abfinden (er formuliert es zwar
nicht so), in welcher das Geld zum absoluten Mittel wird. Er nimmt vor allem
Anstoss an der Macht, die es den Geldbesitzern verleiht, und an der
Abhängigkeit, in welche die Lohnempfänger dadurch geraten. Er wendet sich gegen
die Anonymität der Geldwirtschaft und strebt nach einer Verpersönlichung des
Geldgebrauchs, die u.a. in bankähnlichen Einrichtungen - von denen es in
verschiedenen Ländern gegenwärtig rund 50 gibt - verwirklicht werden soll. Ihn
interessieren auch nicht so sehr die Einnahmen, auf die es in der Geldwirtschaft
doch in erster Linie ankommt, sondern die Ausgaben; deshalb ist die Aufteilung
in Kaufgeld, Leihgeld und Schenkungsgeld für ihn so wichtig.
Steiner hat seine Änderungsvorschläge, die nicht immer einfach
nachzuvollziehen sind, nicht in ein abgerundetes System gebracht, sondern sich
vielmehr mit Anstössen begnügt, die aber den Gedanken von Gesell recht nahe kommen. Die Macht des Geldes soll durch
Entwertung gebrochen werden; Steiner spricht
in diesem Zusammenhang vom alternden Geld. Es soll an Wert verlieren wie
verderbliche Waren. Die Entwertung soll nicht durch staatlichen Zwang
geschehen, sondern durch ein entsprechendes Verhalten der beteiligten Menschen.
Sie verzichten ganz oder teilweise auf den Zins; arbeitsloses Einkommen ist
verpönt. Steiner bezeichnet den Zins
als etwas höchst Unnatürliches und «völligen Unsinn». Wenn die
Liquiditätshaltung aber schon keinen Zins abwirft, verursacht sie höchstens
Umtriebe, welche die Wirkung von Entwertung haben.
Die Freigeldlehre von Gesell wird heute nur von einer kleinen
Gruppe von Anhängern ernstgenommen; praktische oder politische Bedeutung hat
sie nicht. Die Anregungen von Steiner lassen
sich anderseits nur in begrenzten Zirkeln von Personen realisieren, die von
ihrer persönlichen Überzeugung her Verständnis für die besondere Bedeutung des
biographischen Auftrages und des zugemuteten Zinsopfers aufbringen.
Gesell (1920). Keynes (1936),
S. 355 ff. (Short notes suggested by the General Theory). Suhr (1988). Schmidt-Brabant (1995).
117) Ein Beispiel dafür bildet
der WIR Wirtschaftsring in der Schweiz, der gegründet wurde, um seinen
Mitgliedern einen Vorteil im Wettbewerb und damit zusätzlichen Umsatz zu
verschaffen. Er setzt sich aus kleineren und mittleren Unternehmern vorwiegend
gewerblicher Herkunft zusammen. Inzwischen hat die Organisation eine Grösse
erreicht, dass viele Branchenkollegen um eine Teilnahme fast nicht mehr
herumkommen. Sie gibt WIR-Geld aus, das in einem gewissen Umfang (gegenwärtig
30 bis 40 %) zur Zahlung im Tauschverkehr eingesetzt werden kann; der Rest muss
in nationaler Währung beglichen werden.
Zum Mittel der Ausgabe eines
eigenen Geldes hat in der Krise der 30er Jahre auch die Gemeinde Wörgl in
Österreich gegriffen. Sie brachte ein Notgeld nach dem Modell des Freigeldes in
Umlauf, um öffentliche Arbeiten zu finanzieren und die Steuerschulden
abzubauen. Die Kollision mit der staatlichen Geldhoheit hat dem Experiment
jedoch schon nach gut einem Jahr ein Ende gesetzt.