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Bern, den 20. August 1999/6.
Februar 2006
Zins aus fünf Teilen
In Diskussionen um die
Freiwirtschaftslehre spielt das Pro und Kontra zum Zins eine wesentliche Rolle.
Diese Streitfrage bedarf einer Klärung. Dazu verhilft uns die in diesem Artikel
vorgestellte fünfgliedrige Zinsformel, die es erlaubt, genauer als bisher
zwischen gerechtfertigten Zinsanteilen und solchen, die zu Unrecht erhoben
werden, zu unterscheiden. Der darin neu aufgeführte Zinsanteil, der Wachstumsanteil
, macht dies möglich. Er beruht – nach eigenen statistischen Untersuchungen – auf
dem Produktivitätszuwachs der Wirtschaft und begründet die üblicherweise höhere
Verzinsung von Langfristkrediten im Vergleich zu Kurzfristkrediten. Diese
Zinsformel könnte den Weg weisen, alle in der Wirtschaftswissenschaft bisher
diskutierten Zinstheorien zu vereinen. Die neue Formel führt
überraschenderweise auch zu einer Teilaussöhnung der Freiwirtschaftslehre mit
der Mehrwertlehre von Karl Marx. Die fünfgliedrige Zinsformel kann somit zu
einer fruchtbaren und weiterführenden Bereicherung der Freiwirtschaftslehre beitragen.
Außerdem wird die Idee einer Kreditabschreibung
als Beitrag zum Zinsproblem in die Diskussion gebracht.
Es ist eine Jahrtausende alte Frage, ob Zins gerechtfertigt ist oder nicht. Alle Religionen verbieten das Zinsnehmen, und trotzdem wurde dieses Verbot stets umgangen. Die Religionsführer erwiesen sich hier immer als machtlos, und mit dem Aufkommen der modernen Wirtschaft mit ihrem umfassenden Geld- und Kreditverkehr ist die Frage ziemlich verstummt. Trotzdem ist sie weiterhin von allergrößter Bedeutung, ist doch Zins das Hauptproblem für die ungleiche Verteilung von Vermögen zwischen Arm und Reich.
Bei der Beurteilung des Zinses stehen sich zwei unverträgliche Meinungen gegenüber.
n Die wirtschaftsfreundliche Meinung besagt: Zins ist notwendig als Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage, um Kredite an die richtige Stelle zu lenken. Ohne Zins gibt niemand Kredite, und ohne Kredite kann die Wirtschaft nicht funktionieren.
n Die wirtschaftskritische Meinung verwirft den Zins als Instrument der Ausbeutung des Kreditnehmers durch den Kreditgeber und möchte ihn deshalb abschaffen.
Beide Meinungen stehen einander scheinbar unversöhnlich gegenüber. Zur Klärung der Frage, ob Zins gerechtfertigt ist, ist er genauer unter die Lupe zu nehmen. „Rechtfertigen“ heißt hier grundsätzlich, dass der Zahlung von Zins an den Zinsempfänger eine Gegenleistung dieses Zinsempfängers gegenüber steht oder ein Verlust, den er nicht selbst zu verantworten hat.
Die folgende Untersuchung soll zeigen, woraus sich Zins zusammensetzt, worauf seine Anteile beruhen und inwieweit diese ethisch gerechtfertigt sind. Es ist jedoch nicht ihre Aufgabe zu zeigen, welche Auswirkungen der Zins hat.
Fünf Zinsbestandteile
Der Zins, den ein Kreditnehmer für einen bankvermittelten Kredit bezahlen muss, deckt fünf Zinsbestandteile ab. Diese Bestandteile sind nicht einzeln erkennbar, weil der Zinssatz eines Kreditgeschäfts immer als Ganzes ausgehandelt wird, doch lassen sie sich statistisch mehr oder weniger gut unterscheiden. Sie haben verschiedene Grundlagen und sind dementsprechend verschieden zu beurteilen.
Die fünf Zinsbestandteile sind:
1.
Liquiditätsentgelt für den Verzicht des Kreditgebers auf seine Zahlungsfähigkeit („Liquidität“),
2.
Inflationsausgleich zur Absicherung des Kreditgebers gegen Geldentwertung (Inflation),
3.
Wachstumsanteil als Beteiligung des Kreditgebers am Produktivitätszuwachs der Wirtschaft,
4.
Risikozuschlag
wegen möglichen Ausbleibens der Kreditrückzahlung und
5.
Vermittlerentgelt für die Kreditvermittlung der Bank.
Diese fünf Zinsbestandteile sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Anschließend werden sie im Einzelnen erläutert.
In die Erläuterungen fließen Ergebnisse meiner statistischen Untersuchungen ein. Grundlage dazu war das „Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“ für den Zeitraum von 1974 bis 2003. Die Ergebnisse sind am Schluss in den Diagrammen 1 bis 3 dargestellt. Dabei definierte ich u. a. „Wirtschaftswachstum“ als „Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeit“, gemessen am Wachstum des Bruttoinlandproduktes BIP pro Erwerbstätigen. Dies verglich ich mit der Differenz zwischen den Zinssätzen für langfristige und kurzfristige Geldanlagen. Als Zinssatz für kurzfristige Anlagen nahm ich denjenigen für Dreimonats-Festgelder von über 1 Mio DM bzw. 500'000 Euro, als solchen für Langfristanlagen die Rendite von Hypothekenpfandbriefen.
Tabelle 1:
Zinsbestandteile und ihre Merkmale
Zinsbestandteil |
Grundlage |
Bedingt durch |
Ethische |
Beseitigung, |
|
1 |
Liquiditätsentgelt |
Besondere |
Geldwirtschaft |
nein |
Kostenpflichtige |
2 |
Inflationsausgleich |
Kaufkraftverlust |
ja |
Stabiler Geldwert, |
|
3 |
Wachstumsanteil
|
Wirtschaftswachstum |
Realwirtschaft |
ja |
Nullwachstum |
4 |
Risikozuschlag |
Verlustrisiko
|
ja |
Stabile Konjunktur |
|
5 |
Vermittlerentgelt |
Aufwand für |
ja |
Vermittlungsgebühr |
Das Liquiditätsentgelt
Das Liquiditätsentgelt im Zins ist derjenige Zinsbestandteil, den der Kreditgeber für seinen Verzicht auf Zahlungsfähigkeit („Liquidität“) vom Kreditnehmer erwartet. Mit dem Verleihen von Geld verzichtet er auf den Vorteil, bezahlen zu können. Deshalb müsste man diesen Zinsanteil eigentlich „Liquiditätsverzichtsentgelt“ nennen. Es handelt sich hier nicht um Konsumverzicht, sondern um Konsumaufschub auf später. Andere Namen für das Liquiditätsentgelt sind „Urzins“ bei Silvio Gesell, „Liquiditätsprämie“ bei John Maynard Keynes und „Mehrwert des Geldes“ bei Dieter Suhr.
Das Liquiditätsentgelt beruht auf der besonderen Begehrtheit des Geldes, gegen welches sein Besitzer überall und jederzeit alles erwerben kann, was zum Kauf angeboten wird. Mit keinem anderen Gut ist dies möglich. Dadurch genießt ein Geldbesitzer stets einen Vorteil gegenüber einem Anbieter von Arbeitskraft, Waren oder Dienstleistungen. Es handelt sich hier um eine systembedingte Nachfrage-Überlegenheit flüssigen Geldes. Außerdem verfällt nicht genutzte Arbeitskraft unmittelbar und verlieren Waren mit der Zeit an Wert oder verursachen Lagerkosten, Geld jedoch nur, sofern Inflation stattfindet.
Das Liquiditätsentgelt ist geldwirtschaftlich (monetär) bedingt, nicht realwirtschaftlich, d. h. es kann nur in einer Geldwirtschaft auftreten und käme in einer geldfreien Wirtschaft nicht vor.
Ohne ein Liquiditätsentgelt besteht in der heutigen Geldwirtschaft kein Kreditangebot. Es wirkt als Lockmittel für die Freigabe von Zahlungsmitteln für Kredite. Das Liquiditätsentgelt stellt einen unvermeidlichen Sockelzins (Minimalzins) dar, unter welchen der Kreditzins auch dann nicht fallen würde, wenn alle übrigen Zinsbestandteile zu null werden könnten. Das Liquiditätsentgelt legt das Mindestmaß für Kreditzinsen fest, weil kein Kreditzins geringer ausfallen kann als dieser Zinsanteil. Das Liquiditätsentgelt bestimmt daher den minimalen Geschäftserfolg, den ein Unternehmen notgedrungen erwirtschaften muss, um überleben zu können, und zwingt daher unausweichlich zum Wirtschaftswachstum.
Das
Liquiditätsentgelt wird von einer ganzen Reihe von Forschern behandelt, wenn auch
unter anderen Bezeichnungen. Es sind vor allem P. L. P. Boisguillebert
(1646–1714), J. Sonnenfels (1733–1817), P.-J. Proudhon (1809–1865), S. Gesell
(1862–1930), N. Johannsen (um 1913), J. M. Keynes (1883–1946) und D. Suhr
(1939–1990).
Das Liquiditätsentgelt ist ethisch nicht zu rechtfertigen, und zwar aus zwei Gründen:
1. Das Liquiditätsentgelt stellt für den Kreditgeber ein nicht zu rechtfertigendes Einkommen dar, weil er dafür keine Gegenleistung erbringt („arbeitsfreies Einkommen“).
2. Weil der Kreditnehmer mit der Weitergabe des Geldes beim Zahlen seine Zahlungsfähigkeit (Liquidität) verliert, ist das Zahlen eines Liquiditätsentgelts durch diesen Kreditnehmer gerechterweise nur so lange zu verantworten, wie er über die entsprechenden Zahlungsmittel verfügt (Stunden, Tage), nicht jedoch während der ganzen Laufzeit des Kredits (Monate, Jahre).
Das Liquiditätsentgelt führt zu Geldvermögensvermehrung bei den einen, also zu Bereicherung, und zu Geldvermögensminderung bei den andern, zu Verarmung.
Dieser Zinsanteil kann nicht beseitigt werden, weil Zahlungsmittel wegen ihrer umfassenden wirtschaftlichen Verwendbarkeit stets begehrter sein werden als Waren und Dienstleistungen. Nach freiwirtschaftlicher Auffassung soll er jedoch zu Gunsten der Allgemeinheit abgeschöpft werden durch eine wiederkehrende prozentuale Abgabe auf flüssige Zahlungsmittel, die zugleich einen verstetigten Zahlungsmittelumlauf sicherstellen würde („Umlaufsicherung“, bei Suhr „Mehrwertabschöpfung“).
Der Inflationsausgleich
Der Inflationsausgleich im Zins („Hausseprämie“ bei Gesell) dient dem Ausgleich des Geldwertverlustes, den der Kreditgeber während der Laufzeit des Kredits ohne diesen Ausgleich erleiden würde. Dieser Zinsbestandteil führt dem Kreditgeber berechtigterweise so viel mehr Geld zu, dass die Kaufkraft seines Geldvermögens erhalten bleibt und nicht schwindet. Dementsprechend steigen und fallen die Zinssätze mit der Inflationsrate (siehe „Geldentwertung“ in Diagramm 1). Bei stabilem Geldwert ist dieser Zinsbestandteil null.
Der Inflationsausgleich ist ebenfalls monetär bedingt, kommt also nur in einer Geldwirtschaft vor. Im Gegensatz zum Liquiditätsentgelt ist er jedoch ethisch zu rechtfertigen, weil ihm der Geldwertverlust des Kreditgebers gegenübersteht.
Der Inflationsausgleich könnte durch Anpassung der Höhe der Kreditrückzahlung an den Geldwertverlust ersetzt werden (sogenannte „Schuldenindexierung“).
Der Wachstumsanteil
Der Wachstumsanteil im Zins, eine von mir gewählte Bezeichnung, ist derjenige Anteil am Wachstum der Wirtschaft, der dem Kreditgeber zufließt. Dieses Wachstum beruht im wesentlichen auf dem Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeitskraft auf Grund des Einsatzes von Maschinen und technischer Energie.
Der Wachstumsanteil widerspiegelt sich in der Differenz zwischen den Zinssätzen für langfristige und kurzfristige Geldanlagen. Seine Höhe entspricht – nach meinen Untersuchungen – sowohl im Durchschnitt wie auch im jährlichen Auf und Ab weitgehend dem Produktivitätszuwachs der Wirtschaft (siehe „Zinssatzdifferenz“ und „Produktivitätszuwachs“ in Diagramm 3).
Der Wachstumsanteil ist realwirtschaftlich bedingt, nicht geldwirtschaftlich, und damit wirtschaftlich gerechtfertigt. Das Wirtschaftswachstum und mit ihm der Wachstumsanteil im Zins kann nicht zum Verschwinden gebracht werden, solange Technik einen Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeit mit sich bringt und Maschinen billiger arbeiten als Menschen.
Den Wachstumsanteil
gibt es auch in einer geldfreien Wirtschaft. Dazu ein Beispiel: Jemand leiht sich
von einem anderen eine Hacke, um damit Kartoffeln zu ernten. Der Entleiher gibt
dem Eigentümer der Hacke nach der Ernte zusätzlich zur Hacke einen Korb
Kartoffeln zurück, seinen „Wachstumsanteil“, weil er mit der Hacke seine
Arbeitsleistung vervielfachen, seine Produktivität steigern konnte. Ohne Hacke
hätte er mit der bloßen Hand graben müssen, ein wesentlich mühsameres Geschäft.
Der Hackeentleiher teilt seinen Produktivitätszuwachs, den er mithilfe des
geliehenen Sachkapitals Hacke erzielen kann, angemessen mit seinem Hackeverleiher,
indem er ihm etwas von seiner Ernte abgibt. Dies hat etwas mit Anstand und Anerkennung,
mit einer Art Abgeltung zu tun und geschieht nicht nur aus einem Gefühl des
Dankes heraus. In der modernen Wirtschaft erscheint der „Anstand“ als
Bereitschaft des Kreditnehmers zu einer Zinsleistung an den Kreditgeber, sofern
er mit dem Kredit einen Produktivitätszuwachs glaubt erwirtschaften zu können.
Die
Berechtigung des Kreditgebers zur Entgegennahme des Wachstumsanteils im Zins lässt
sich auch folgendermaßen begründen: Mit der Kreditsumme überlässt er dem Kreditnehmer
sozusagen seine eigene Arbeitsleistung leihweise zur Nutzung, die er zuvor zum
Erwerb dieser Kreditsumme aufgewendet hat. Es ist, als würde er auf dem Umweg
über den Kredit beim Kreditnehmer mitarbeiten oder als hätte er die zur
Produktion erforderliche Einrichtung, für deren Erwerb der Kredit verwendet
wird, in eigener Vorausleistung hergestellt und würde sie ihm zur Verfügung
stellen. Damit verdient er sich einen Anteil am Produktivitätszuwachs des
Kreditnehmers. Der Kredit ist somit Stellvertreter (Substitut) für persönliche
Mitarbeit oder Vorausarbeit des Kreditgebers im Unternehmen des Kreditnehmers.
Das
Arbeitsinstrument, das der Unternehmer zur Steigerung seiner Produktivität
einsetzt (Gerät, Maschine, Gebäude, Wissen, im Beispiel die Hacke), ist in
jedem Fall „gefrorene“ Arbeit. Dies gilt unabhängig davon, ob es selbst
hergestellt oder geliehen (gemietet, geleast) oder auf Kredit erworben ist. Das
Arbeitsinstrument selbst ist in keinem Fall „mit‑arbeitend“ oder „mit‑wertschöpfend“,
ebenso wenig der darin angelegte Kredit. Geld arbeitet nicht! Hingegen wirkt
das Arbeitsinstrument arbeitserleichternd, produktivitätssteigernd. Es trägt
bei zu einer geschickteren Nutzung menschlicher Arbeit. Der Mehrertrag bei
gleichem Aufwand an menschlicher Arbeit oder ihr Minderaufwand bei gleichem
Ertrag ist das beim Unternehmer unter Zuhilfenahme der Arbeitsinstruments
anfallende Wirtschaftswachstum bzw. sein zusätzlicher Geschäftserfolg. Die
erfahrene Erleichterung der menschlichen Arbeit „verdankt“ er der im
Arbeitsinstrument gespeicherten Arbeit, er „profitiert“ von dieser Arbeit. Dies
erlaubt es ihm, dem Verleiher des Arbeitsinstruments oder des darin angelegten
Kredits einen Teil an seinem Wachstum – nicht das Ganze – sozusagen als „Dank“
auszubezahlen und ihn so an seinem „Profit“ zu beteiligen.
Die
Produktivitätssteigerung selbst geht nicht auf Arbeit zurück, sondern auf
maschinen- und arbeitstechnische Gesetzmäßigkeiten, die den Wirkungsgrad der
menschlichen Arbeit erhöhen. Dazu gehören auch besondere Marktchancen
einschließlich vorteilhafter Preisveränderungen oder veränderte Bedingungen im
Umfeld. Manchmal schaffen neue Gesetze neue Absatzchancen oder zerstören
solche. Bei gesetzesbedingt neu geschaffenen Chancen sahnt der Staat nicht ab,
bei zerstörten entschädigt er vielfach nicht, wie es gerechtfertigt wäre.
Der
Wachstumsanteil im Zins beteiligt also die Kreditgeber mit am Zuwachs der
Produktivität der Volkswirtschaft. Ohne diesen Zinsanteil bliebe die Frage
offen, ob ein Produktivitätszuwachs nur Arbeitern, Unternehmern, ihren Abnehmern
in Form von Preisvergünstigungen sowie ihren Lieferanten in Form entsprechend
höherer Preise für ihre Produkte zukommen darf, nicht aber auch den Geldgebern
als Zinsanteil. Wie und in welchem Verhältnis der Produktivitätszuwachs zwischen
den Beteiligten aufgeteilt wird, ist allerdings eine Machtfrage. Klar ist, dass
ein Mächtiger einem weniger Mächtigen den Zugang zu etwas Lebensnotwendigem
verwehren kann. Wenn es jedoch gelingen würde, die Marktüberlegenheit des
Zahlungsmittels Geld über Waren, Dienste und Arbeit durch eine geeignete Maßnahme
zu beseitigen, wäre hier ein ganz entscheidender Machtfaktor ausgeschaltet.
Der Wachstumsanteil im Zins führt die Kredite aufgrund von Angebot und Nachfrage in die wirtschaftlich günstigste Anlage. Darin liegt die Lenkungsaufgabe des Zinses. Der Wachstumsanteil bewirkt zugleich die Verteilung eines Teils des allgemeinen Produktivitätszuwachses in der Gesellschaft. Dies ist die Verteilungsaufgabe des Zinses“.
Wegen
der Lenkungsaufgabe des Wachstumsanteils im Zins kann die Wirtschaft nicht auf
Zins verzichten. Die Frage allerdings, ob die jeweils höchste Nachfrage nach
Krediten, die weitgehend von den finanziellen Gewinnerwartungen der Nachfrager
bestimmt wird, ethisch zu rechtfertigen ist, muss sicher von anderer Warte aus
beurteilt werden. Es ist nämlich durchaus zu erwarten, dass mächtige Nachfrager
einen höheren Zins akzeptieren als durchschnittliche Nachfrager und dadurch
Kredite an sich ziehen, obwohl ihr Einsatz unter sozialen oder
umweltverträglichen Gesichtspunkten fragwürdig ist. Doch dürfte bei der Lenkung
von Krediten das Spiel von Angebot und Nachfrage immer noch eine bessere Lenkung
versprechen als gesetzliche und behördliche Maßnahmen, sofern der offene Zugang
zu den erforderlichen Informationen gesichert ist. Wir haben ja kaum noch eine
Marktwirtschaft, viel eher eine Informationswirtschaft: Wer informiert ist,
macht das Rennen!
Im
Wachstumsanteil liegt neben der Lenkungsaufgabe für Kredite auch eine Verteilungsaufgabe.
Über den Wachstumsanteil – und nur über diesen einen Zinsanteil – werden die
Kreditgeber an den Erfolgen des Wirtschaftswachstums beteiligt. Ohne diesen
Zinsanteil bliebe die Frage offen, ob ein Produktivitätszuwachs nur Arbeitern,
Unternehmern, ihren Abnehmern in Form von Preisvergünstigungen sowie ihren
Lieferanten in Form entsprechend höherer Preise für ihre Produkte zukommen
darf, nicht aber auch den Geldgebern als Zinsanteil. Das Wirtschaftswachstum
stellt nicht ausschließlich eine Leistung von kreditnehmenden Unternehmen dar,
in denen Erfolge erzielt werden, sondern ist stets Auswirkung einer gesamtgesellschaftlichen
Vernetzung von Können und Leistung. Nicht die Unternehmen und ihre arbeitenden
Angehörigen allein dürfen gesamtgesellschaftliche Erfolge an sich ziehen,
„absahnen“. Sofern wir voraussetzen dürfen, dass Kreditgeber zu ihrem in
Krediten angelegten Vermögen auf „ehrliche“ Weise, sprich „durch Arbeit“,
gelangt sind – und nach Einführung einer Umlaufsicherungsabgabe auf flüssige
Zahlungsmittel dürfen wir das –, dürfen sie über den Wachstumsanteil auch an
allgemeinen Produktivitätserfolgen der Gesellschaft teilhaben. Diese Teilhabe
fällt, wie wir noch sehen werden, schon allein marktwirtschaftlich in sich zusammen,
wenn kein Wirtschaftswachstum stattfindet. Somit halte ich den Wachstumsanteil
im Zins für ethisch gerechtfertigt.
Wie
und in welchem Verhältnis der Produktivitätszuwachs zwischen den Beteiligten
aufgeteilt wird, ist allerdings eine Machtfrage. Klar ist, dass ein Mächtiger
einem weniger Mächtigen den Zugang zu etwas Lebensnotwendigem verwehren kann.
Wenn es jedoch gelingen würde, die Marktüberlegenheit des Zahlungsmittels Geld
über Waren, Dienste und Arbeit durch eine freiwirtschaftliche Umlaufsicherung
zu beseitigen, wäre hier ein ganz entscheidender Machtfaktor ausgeschaltet.
Silvio Gesell nennt den Wachstumsanteil „Darlehenszins auf Sachgütern“. Er sagt dazu in „Die natürliche Wirtschaftsordnung“, 5. Teil, Ende Kapitel 5: „Der Zins für Sachgüter … ist ein Teil des Erzeugnisses, das der Unternehmer mit Hilfe des Darlehens mit gleichen Kosten mehr hervorbringen kann und den der Geldverleiher für sich beanspruchen kann.“ Und etwas vorher heißt es: „Darlehen in Freigeld werden so lange verzinst werden müssen, wie Realkapitalien Zins abwerfen.“ Gesell führt den Darlehenszins nicht auf seinen „Urzins“, das Liquiditätsentgelt, zurück. Er anerkennt damit unausgesprochen und unbeabsichtigt eine Produktivitätstheorie des Zinses.
Gesell
glaubte, der Darlehenszins könne nach Einführung einer freiwirtschaftlichen
Umlaufsicherung völlig zum Verschwinden gebracht werden, weil das
Darlehensangebot die Nachfrage nach Darlehen schließlich übersteigen und dadurch
der Darlehenszins zu null werden würde. Hierin gehe ich mit Gesell ausdrücklich
nicht einig. Er verkannte offensichtlich, dass stets neuartige
Investitionsbedürfnisse auftauchen, die zu neuer Kreditnachfrage führen. Es ist
ohne Weiteres abzusehen, dass Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum
und damit Nachfrage nach Investitionskrediten so lange stattfinden werden, wie
es billiger ist, Maschinen und Apparate zu entwickeln, herzustellen und mit genügend
billiger Energie zu betreiben, als Menschen zu beschäftigen.
In
diesem Zusammenhang ist es interessant, dass in Westdeutschland in den Jahren
1980 und 1981 die Zunahme der Arbeitsproduktivität, also das
Wirtschaftswachstum pro Erwerbstätigen, bei nur 0,2 und 0,8 % lag, gleichzeitig
aber die Zinsdifferenz zwischen Langfrist- und Kurzfristanlagen, die ich dem Wachstumsanteil
im Zins gleichsetze, sogar ins Negative, nämlich auf -0,2 und -0,8 %
abgerutscht war! (Siehe Diagramm 3) Das heißt, dass die Kurzfristzinssätze ungewöhnlicherweise
höher lagen als die Langfristzinssätze. Die Kapitalgeber mussten also eine
Teillast der Wirtschaft mittragen. Der Negativwert des Wachstumsanteils ist im
trotzdem positiven Gesamtzinssatz selbstverständlich nicht erkennbar, weil er
von den übrigen positiven Zinsanteilen überdeckt wird.
Im Wachstumsanteil sehe ich eine vernünftige, wirklich verständliche Begründung der Mehrwertlehre von Karl Marx, die er, wie mir scheint, der Welt eigentlich schuldig geblieben ist. Der Wachstumsanteil ist das, was er den „Mehrwert des Kapitals“ oder „Mehrwert der Produktion“ nennt. (Nicht zu verwechseln mit dem „Mehrwert des Geldes“ nach Dieter Suhr, der dem Liquiditätsentgelt entspricht.) Siehe Abschnitt “Freiwirtschaft und Karl Marx“.
Der Risikozuschlag
Der Risikozuschlag im Zins kann als Versicherungsprämie angesehen werden, die sich der Kreditgeber zahlen lässt gegen die Gefahr, dass er am Ende der Laufzeit den Kreditbetrag nicht oder nur teilweise zurück erhält. Der Risikozuschlag ist realwirtschaftlich bedingt und grundsätzlich gerechtfertigt.
Für Kredite mit hoher Sicherheit (hohe „Bonität“, „erste Adressen“), zum Beispiel gedeckt durch Grundpfänder, enthält der Zins keinen eigentlichen Risikozuschlag. Erst bei erhöhtem Risiko ist mit einem erkennbaren Zuschlag zu rechnen, vor allem bei Konsumkrediten.
Das Vermittlerentgelt
Das Vermittlerentgelt im Zins ist die Abgeltung für den Aufwand der Bank für Kreditvermittlung. Auch dieser Anteil ist realwirtschaftlich bedingt und grundsätzlich gerechtfertigt. Jedoch ist es bedenklich, diesen Aufwand als Zuschlag in eine Zinssatzbemessung einzubeziehen und über die ganze Laufzeit eines Kredits abgelten zu lassen, da der Aufwand nur zu Beginn anfällt. Das Vermittlerentgelt könnte daher durch eine einmalige Vermittlungsgebühr ersetzt und aus dem Zins herausgenommen werden.
Vorteile der fünfgliedrigen Zinsformel
Alle fünf Zinsbestandteile zusammen bestimmen den Gesamtzinssatz eines Kredits.
Die angegebene Zinsformel
hat folgende Vorteile:
1. Die fünfgliedrige Zinsformel lässt unterscheiden zwischen gerechten und ungerechten Zinsbestandteilen.
2. Die fünfgliedrige Zinsformel erlaubt das Überwinden des Widerspruchs zwischen Zinsgegnern und Zinsbefürwortern. Sie bedeutet die Verschmelzung bisher widerstreitender Anschauungen zu einer Gesamtschau. Sie gibt beiden Seiten mit guten Gründen Recht und ist deshalb kein fauler Kompromiss. Dies macht aus meiner Sicht die Stellung der Freiwirtschaft in der Zinsdiskussion unangreifbar.
3. Die fünfgliedrige Zinsformel erklärt die Tatsache, dass die Zinssätze für langfristige Kredite normalerweise höher sind als solche für kurzfristige Kredite. Eine Erklärung dieser Tatsache wie auch des zeitweiligen Gegenteils ist mir von der anerkannten Volkswirtschaftslehre nicht bekannt. – Langfristkredite dienen im Allgemeinen langfristigen Investitionen, die ihrerseits in der Wirtschaft Produktivitätszuwachs ermöglichen. Dies erlaubt es, für Langfristkredite einen höheren Zins zu zahlen als für Kurzfristkredite. Der Unterschied zwischen den beiden Zinssätzen liegt im Wachstumsanteil. Dies ist mit Zahlen aus Deutschland zu belegen. Die Differenz zwischen Kurzfrist- und Langfristzinssätzen hatte in den Jahren 1979–1989 ungefähr das gleiche Auf und Ab wie der Produktivitätszuwachs, und beide Werte haben in diesem Zeitraum praktisch die gleiche Durchschnittshöhe (1,39 bzw. 1,36 %). Ab 1996 bestätigt sich dies auch für das wiedervereinigte Gesamtdeutschland, nachdem es infolge des Anschlusses der DDR zunächst starke Abweichungen gegeben hatte. Siehe Diagramm 3.
4. Die fünfgliedrige Zinsformel lässt den Unterschied zwischen Zinsen für Investitionskredite und solchen für Konsumkredite erkennen. Der Zins für Konsumkredite enthält keinen Wachstumsanteil , weil sie keine Produktivitätssteigerung bewirken.
5. Die fünfgliedrige Zinsformel verbindet, wenn ich richtig sehe, die wesentlichen bisher bekannten Zinstheorien zu einer einzigen. Keine dieser über Generationen hinweg entstandenen Theorien befriedigt. Und keine ihrer Zinsformeln berücksichtigt das Liquiditätsentgelt. Nur J. M. Keynes als einziger anerkannter Wirtschaftstheoretiker spricht stattdessen von der „Liquiditätsprämie“ des Geldes.
An Zinstheorien zähle ich hier auf:
n
Fruktifikationstheorie
(„Boden-Fruchtbarkeits-Theorie“): Zins als Ersatz für Bodenfruchtbarkeit (A.
R. J. Turgot, Frankreich, 1727–1781),
n
Abstinenztheorie
(„Enthaltsamkeitstheorie“): Zins als Entschädigung für Konsumverzicht (N. W.
Senior, England, 1790–1864),
n
Ausbeutungstheorie
(Mehrwerttheorie der Produktion): Zins als dem Arbeitnehmer vorenthaltener
Mehrwert seines Arbeitsprodukts (K. Marx, Deutschland, 1818–1883),
n
Agiotheorie
(„Aufschlag-Theorie“): Zins aus Höherbewertung von Gegenwartsgütern gegenüber
Zukunftsgütern (E. von Böhm-Bawerk, Österreich, 1851–1914),
n
Grenzproduktivitätstheorie:
Zins entspricht der Zusatzproduktivität des zusätzlich investierten Kapitals
(J. B. Clark, USA, 1847–1938),
n
Urzinstheorie
(Mehrwerttheorie des Geldes): Zins auf Grund der höheren Begehrtheit flüssiger
Zahlungsmittel (S. Gesell, Deutschland, 1862–1930),
n
Liquiditätspräferenztheorie
(„Flüssigmittel-Vorliebe-Theorie“): Zins auf Grund der höheren Begehrtheit flüssiger
Zahlungsmittel (J. M. Keynes, England, 1883–1946),
n
Dynamische Zinstheorie:
Zins entspricht variablen Unternehmensgewinnen (J. A. Schumpeter, Österreich,
1883–1950),
n
Loanable-Fund-Theorie
(„Rentable-Anlage-Theorie“): Zins bestimmt sich nach Kreditangebot und ‑nachfrage
(B. G. Ohlin, Schweden, 1899–1979).
Tabelle 2: Zusammensetzung der Zinsarten
Zinsbestandteil |
Kreditzinsen |
Anlagezinsen |
||||||
Langfristkredit |
Kurzfristkredit |
Langfristanlage |
Kurzfristanlage |
|||||
nominal |
real |
nominal |
real |
nominal |
real |
nominal |
real |
|
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
Liquiditätsentgelt |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
Inflationsausgleich |
n |
— |
n |
— |
n |
— |
n |
— |
Wachstumsanteil |
n |
n |
— |
— |
n |
n |
— |
— |
Risikozuschlag |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
n |
Vermittlerentgelt |
n |
n |
n |
n |
— |
— |
— |
— |
Legende: n = Zinsbestandteil kommt vor; — = Zinsbestandteil kommt nicht vor
Zusammensetzung der Zinsarten
Mit den erläuterten fünf Zinsbestandteilen lässt sich angeben, wie sich die verschiedenen Zinsarten zusammensetzen und unterscheiden. Dies geht aus Tabelle 2 hervor.
1. Die Bestandteile „Liquiditätsentgelt“ und „Risikozuschlag“ kommen in sämtlichen Zinsarten vor (Spalten 2–9).
2. Der Unterschied zwischen Anlagezins und dem höheren Kreditzins, also dem, was der Anleger von der Bank als deren Passivzins erhält, und dem, was der Kreditnehmer der Bank als deren Aktivzins bezahlt, liegt im Vermittlerentgelt, auch „Zinsspanne“ oder „Bankmarge“ genannt. Der Kreditzins enthält das Vermittlerentgelt (Spalten 2–5), der Anlagezins nicht (Spalten 6–9).
3. Der Unterschied zwischen Kurzfristzinsen und den meist höheren Langfristzinsen liegt im Wachstumsanteil . Langfristzinsen enthalten ihn (Spalten 2–3 und 6–7), Kurzfristzinsen nicht (Spalten 4–5 und 8–9).
4. Der Unterschied zwischen den Zinssätzen für Investitionskredite und Konsumkredite liegt wiederum im Wachstumsanteil. Zinssätze für Investitionskredite enthalten ihn (Spalten 2–3 und 6–7), Zinssätze für Konsumkredite nicht (Spalten 4–5 und 8–9). Konsumkredite dienen dem Verbrauch und können deshalb keine Produktivitätssteigerung bewirken und keinen Geschäftserfolg abwerfen. – Zu den Konsumkrediten sind auch Staatsanleihen zu zählen, und zwar in dem Ausmaß, in dem sie zu sozialen, kulturellen und militärischen Zwecken verwendet werden. Diese Ausgaben sind zum Verbrauch bestimmt und können deshalb keinen Geschäftserfolg und keinen Produktivitätszuwachs zur Folge haben. – Konsumkredite waren auch die Kredite in vorindustrieller Zeit, gegen deren Zinsen die Religionen und die Kirche Stellung bezogen haben und die sie als Wucher verpönten und teilweise unter Strafe stellten.
5. Der Unterschied zwischen Nominalzins und dem in der Regel niedrigeren Realzins liegt im Inflationsausgleich. Dieser ist im Nominalzins enthalten (Spalten 2, 4, 6, 8), im Realzins dagegen nicht (Spalten 3, 5, 7, 9). („Nominalzins“ ist der Zins, der in Franken oder Euro usw. bezahlt bzw. erhalten wird, „Realzins“ ist seine Kaufkraft.)
In der Höhe eines
Zinsbestandteils spiegelt sich das Spiel von Angebot und Nachfrage. Seine Höhe
ist von Zinsart zu Zinsart verschieden. Insbesondere sind Vermittlerentgelt und
Risikozuschlag von Aufwand und Risiko der Bank her bestimmt. Zum Beispiel
enthalten Konsumkredite für Private einen sehr viel größeren Risikoanteil als
Investitionskredite und sind deshalb die teuersten Kredite überhaupt.
Folgerungen
Aus der fünfgliedrigen Zinsformel lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
1. Weil Zins in der heutigen Geldwirtschaft stets das Liquiditätsentgelt mit einschließt, ist er ein unmoralisches Ausbeutungs- und Bereicherungsinstrument der Kreditgeber, denen dieser Zinsanteil ohne eigene Arbeit zufließt.
2. Beide zu Beginn aufgeführten Meinungen – einerseits „Zins ist notwendig“, andererseits „Zins ist verwerflich“ – sind nebeneinander berechtigt und widersprechen sich nicht, weil sie sich jeweils nur auf Anteile im Zins beziehen und nicht auf Zins als Ganzes.
3. In einer Marktwirtschaft ist Zins notwendig, um durch seinen Wachstumsanteil Kredite in die wirtschaftlich sinnvollste Anlage zu lenken.
4. Zins ist ein sinnvolles Mittel, um Gewinne aus Geschäftserfolgen mit den Kreditgebern zu teilen, sofern diese durch Ersparnis aus Arbeit zu einer Kreditvergabe in der Lage sind und nicht durch andere Arten von Einkommen.
5. Im Ausmaß des Liquiditätsentgelts ist Zins unter den heute geltenden Bedingungen zwangsläufig ein Ausbeutungs- und Bereicherungsinstrument der Kreditgeber auf Kosten der Kreditnehmer und ihrer Geschäftspartner, weil er stets das Liquiditätsentgelt mit einschließt. Alle übrigen vier Zinsbestandteile dagegen lassen sich ethisch rechtfertigen.
6. Man darf annehmen, dass das Liquiditätsentgelt etwa dem Realzinssatz von Einmonatsfestgeld entspricht oder diesem Wert nahe kommt, weil dieser Zinssatz wegen der hohen Sicherheit dieser Art von Geldanlage praktisch keinen Risikoanteil enthält und keinen der übrigen drei Zinsbestandteile umfasst (siehe Tabelle 2 unter „Kurzfristanlage, real“). Da mir statistisch nur der leicht höhere Zinssatz für Dreimonatsfestgeld zugänglich war, benutzte ich diesen für meine Untersuchungen. Er schwankte in Deutschland in den letzten 25 Jahren zwischen 1,1 und 5,3 %, sein Durchschnitt lag bei 2,7 %. Siehe Diagramm 2.
7.
Wirtschaftswachstum
treibt, soweit es allein auf Produktivitätszuwachs zurückgeht, den Wachstumsanteil
im Zins in die Höhe; geht dagegen das Wirtschaftswachstum allein auf gesteigerte
Nachfrage zurück, z. B. die Nachfrage des Staates, dann treibt es das
Liquiditätsentgelt nach oben. In beiden Fällen steigen die Zinsen! Mit weiteren
Nachteilen für die Gesellschaft! Wirtschaftswachstum öffnet die Schere zwischen
Arm und Reich noch weiter! Nach Wirtschaftswachstum wird gerufen, um die
Miseren des heutigen Systems auszuräumen oder wenigsten zu mildern:
Überschuldung, Fusionen, Arbeitslosigkeit, Verarmung vieler, Geldmangel für
alle möglichen öffentlichen und privaten Aufgaben. Da diese Probleme jedoch
weitgehend Folge des Liquiditätsentgelts im Zins sind und nicht von einer
Wirtschaftsflaute herkommen, sind sie nicht durch Wirtschaftswachstum aus der
Welt zu räumen.
Erkenntnisse für die Freiwirtschaftslehre
1.
Vertreter der Freiwirtschaftslehre
müssen von der Vorstellung Abschied nehmen, Zins an sich sei ungerecht. Nur das
Liquiditätsentgelt im Zins muss zu null werden, nicht die Zinshöhe als Ganzes!
Die Höhe des Wachstumsanteils ist für das freiwirtschaftliche Ziel im Grunde
gleichgültig. Diese Höhe hängt von der Höhe des Wirtschaftswachstums ab. Wenn
diese Unterscheidung in der Diskussion nach außen nicht zum Ausdruck gebracht
wird, bleibt die Freiwirtschaftslehre für viele zu Recht indiskutabel! Den
anderen Zinsanteilen muss von der Geldseite her freier Lauf gelassen werden.
2. Die emotional sehr bestechenden freiwirtschaftlichen Ausdrücke „Nullzins“ und „Ersäufen des Zinses im Kapital“ oder Keynes’ Vision vom „sanften Tod des Kapitalrentners“ sind unrealistisch, falsch und irreführend, solange Produktivitätszuwachs und Konsumnachfrage stattfinden. Auch bei noch so viel Sachkapital muss und wird das Zahlungsmittel Geld knapp bleiben und seine Begehrtheit und seinen Mehrwert behalten. Die alte freiwirtschaftliche Forderung nach einer „Zinshöhe um null“ lässt sich somit nicht aufrecht erhalten und muss fallen gelassen werden. Sie ist zu ersetzen durch die Forderung nach einem „Liquiditätsentgelt von null“.
3. Der Zwang zum Wirtschaftswachstum, der nach freiwirtschaftlicher Überzeugung vom Zins ausgeht, beruht nur auf dem Liquiditätsentgelt, nicht auf den anderen Zinsbestandteilen, insbesondere nicht auf dem Wachstumsanteil. In diesem zeigt sich vielmehr die Auswirkung des Wirtschaftswachstums.
4. Die von freiwirtschaftlicher Seite zur Sicherung des Geldumlaufs vorgeschlagene Gebühr auf flüssige Zahlungsmittel („Umlaufsicherungsgebühr“) kann nur ein Absinken des Liquiditätsentgelts bewirken, mehr nicht. Aus ihrem Wesen heraus ist sie nicht in der Lage, den Zins in seinen anderen Bestandteilen anzutasten und ihn als Ganzes zum Verschwinden zu bringen. Insbesondere kann der Wachstumsanteil nicht durch eine Umlaufsicherungsgebühr oder andere geldtechnische Maßnahmen beeinflusst werden, da er nicht auf Gesetzmäßigkeiten der Geldwirtschaft beruht, sondern vom Wirtschaftswachstum abhängt. Eine Umlaufsicherungsgebühr erscheint jedoch geeignet, die Höhe sämtlicher Zinssätze um den Anteil des Liquiditätsentgelts abzusenken und so zur wichtigsten Entlastung der Kreditnehmer und der Käufer ihrer Produkte zu führen.
5.
Um die
richtige Höhe der Umlaufsicherungsgebühr zu bestimmen, scheint der sich auf dem Markt einspielende Zinssatz für
Einmonatsgelder eine brauchbare Beobachtungsgröße zu sein. Dies gilt unter
der Voraussetzung, dass dieser Zinssatz etwa dem Liquiditätsentgelt
gleichkommt, das durch die freiwirtschaftliche Umlaufsicherung zu null werden
soll. Dementsprechend muss die Umlaufsicherungsgebühr laufend so angepasst werden,
dass sich der Zinssatz für
Einmonatsgelder möglichst auf null einstellt. Auf diese Weise ließe sich stets
überprüfen, wie gut das freiwirtschaftliche Ziel erreicht wird, zwischen
Besitzern von Zahlungsmitteln und solchen von Arbeitskraft und Waren
Chancengleichheit herzustellen. Mit der vorgeschlagenen Methode könnte die
Frage nach der „richtigen“ Höhe der Umlaufsicherungsgebühr sinnvoll beantwortet
werden. So kann die Belastung der Zahlungsmittel jeder Schätzung oder gar Willkür
entzogen werden. Die Zielgröße, der Zinssatz für Einmonatsgelder von null, ist
klar definiert und für die Öffentlichkeit überprüfbar. Unter dieser Zielsetzung
muss sich die freiwirtschaftliche Diskussion heute nicht mehr um die Höhe der
erforderlichen Umlaufsicherungsgebühr kümmern.
6. Mit dem erwarteten Wegschrumpfen des Liquiditätsentgelts durch eine kostenpflichtige Umlaufsicherung halte ich den viel zitierten „Gegensatz von Kapital und Arbeit“ abgebaut und aufgehoben, der heutzutage aufgrund der besonderen Begehrtheit flüssiger Zahlungsmittel auf der Überlegenheit der Kreditgeber über die Arbeitenden beruht und den Vorrang der Zinszahlung des Kreditnehmers vor der Lohnzahlung an Arbeitende scheinbar magisch begründet. Demgegenüber wäre im Wachstumsanteil eigentlich die Spur einer realen „Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital“ zu entdecken. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit bliebe dann auf das Liquiditätsentgelt beschränkt. Welch eine Entdeckung!
7. Das Problem des sogenannt „arbeitenden“ Geldes könnte noch auf neue Fährten führen. Müsste nicht etwa die Gesellschaft als Ganzes am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt werden und nicht nur die Geldgeber? Denn die Gesellschaft bringt, wie erwähnt, das Wirtschaftswachstums letztlich als Gemeinschaftsleistung hervor. Die Beteiligung der Gesellschaft könnte theoretisch zum Beispiel durch eine besondere Besteuerung des Wachstumsanteils von Zinseinnahmen geschehen. Praktisch erscheint mir dies jedoch nicht möglich, weil der Wachstumsanteil in den Zinseinnahmen eines Steuerpflichtigen nicht erfassbar ist. Aber müsste es nicht eine laufende Wertminderung von Krediten geben, so wie Einrichtungen und Lagerbestände eines Unternehmens, die auf Kredit erworben sein können, laufend in ihrem Wert abnehmen? Diese Wertminderung wird bekanntermaßen als „Abschreibung“ in der Buchhaltung eines Unternehmens berücksichtigt. Übertragen auf Kredite würde dies bedeuten, dass der Kreditbetrag laufend um einen bestimmten Prozentsatz abgemindert wird, zusätzlich zur Tilgung. Eine solche Kreditabschreibung würde sich sowohl auf die Zinszahlung wie auch auf die Restschuld mindernd auswirken und den Kredit zu gegebener Zeit automatisch auf null abbauen, sofern er nicht vorher schon getilgt worden ist. Dies würde – gerechterweise, so meine ich – auch den Kreditgeber mit der Wertminderung von Sachwerten seines Kreditnehmers mitbelasten. Eine Kreditabschreibung könnte zum Beispiel auf die durchschnittliche Abschreibungsrate der Wirtschaft festgelegt werden, unabhängig von einer Umlaufsicherungsabgabe und einer allfälligen Inflation. Auf diese Weise würde das Unwesen ewiger Kredite, Schulden und Zinszahlungen verschwinden, wo Kreditnehmer nicht in der Lage sind, ihren Kredit zurückzuzahlen.
Freiwirtschaft und Karl Marx
Die fünfgliedrige Zinsformel liefert die Basis, um die Mehrwertlehre von Karl Marx innerhalb der Freiwirtschaft neu zu bewerten. Im Zins erscheinen zwei eindeutig voneinander unterscheidbare Mehrwerte als Bestandteile in einträchtigem, gleichzeitigem Nebeneinander. Der Marx’sche Mehrwert ist der „Mehrwert des Kapitals“ bzw. der „Mehrwert der Produktion“. In der fünfgliedrigen Zinsformel entspricht ihm der „Wachstumsanteil“. Der „Mehrwert der Produktion“ unterscheidet sich grundlegend vom „Mehrwert des Geldes“ nach D. Suhr bzw. vom „Urzins“ nach S. Gesell, in der fünfgliedrigen Zinsformel dem Liquiditätsentgelt.
Beide Zinsanteile sind auf verschiedene Weise bedingt, verursacht und begründet: der Wachstumsanteil realwirtschaftlich, das Liquiditätsentgelt geldwirtschaftlich. Damit liegt eine klare Trennung der Einflüsse von Realwirtschaft oder „Produktionssphäre“ und Geldwirtschaft oder „Zirkulationssphäre“ auf den Zins vor, welche den alten Streit zwischen Freiwirtschaftlern und Marxisten überflüssig werden lässt.
Marx definiert „Mehrwert“ als die Differenz zwischen dem gezahlten Lohn der Arbeiter und dem höheren Erlös aus ihren Arbeitserzeugnissen, den sich „die Kapitalisten“ von ihren Arbeitern als „Ausbeutung“ aneignen. Auf diese Ausbeutung führt Marx das Wachstum der Produktion und den Zins zurück.
Damit hat Marx den dauernden Produktivitätszuwachs in einer sich ständig weiter entwickelnden Wirtschaft erfasst. Dieser Zuwachs beruht in erster Linie auf dem Einsatz technischer Energie. Der Mehrwert der Produktion würde auch in einer geldfreien Wachstumswirtschaft als Abgabe an einen Verleiher von Produktionsmitteln gezahlt werden. Demgegenüber erklärt Gesell mit seinem Urzins einen Zinsbestandteil, der in einer Geldwirtschaft unabhängig vom Wirtschaftswachstum gezahlt wird, weil das Geld eine höhere Begehrtheit besitzt als alle übrigen Wirtschaftsgüter. In einer Geld- und Wachstumswirtschaft gibt es beide, den Mehrwert der Produktion und den Mehrwert des Geldes.
So ist denn auch die berühmte Marx’sche Formel G – W – G+, d. h. „Geld“ wird über „Ware“ zu „mehr Geld“, doppelt gültig: Das Mehr von „mehr Geld“ muss als Summe von Produktionsmehrwert nach Marx und Geldmehrwert nach Suhr verstanden werden. Der Mehrwert der Produktion beruht auf der Ausbeutung der Natur, der Mehrwert des Geldes auf der Ausbeutung des Menschen.
Fazit: Gesell und Marx ergänzen einander in der Zinsfrage. Beide Richtungen stehen in Bezug auf den Zins nicht mehr widersprüchlich gegeneinander, sondern erfahren ihre berechtigte Beachtung. Ein „Brückenschlag“ ist möglich ohne Preisgabe von freiwirtschaftlichen Grundsätzen und Vorschlägen und zugleich ohne Anerkennung der Marx’schen Rezepte.
Die hier gefundene Teil-Ehrenrettung von Karl Marx war keineswegs die Absicht dieser Arbeit, sondern ergab sich mir plötzlich und unwillkürlich daraus. Es liegt mir fern, den Marx’schen Weg zur Überwindung des Kapitalismus, nämlich die Verstaatlichung der Produktionsmittel zu befürworten. Auch nach der Entdeckung der fünfgliedrigen Zinsformel können wir voll zum freiwirtschaftlichen Gedankengut stehen, ja, mehr noch: Sie erlaubt uns, dieses noch überzeugter zu vertreten.
Eberhard
Knöller, Bern
Erläuterungen zu den Diagrammen
Quelle:
Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom
Statistischen Bundesamt, Wiesbaden. – Aus der Zeit vor 1979 stand kein
ausreichendes Zahlenmaterial zur Verfügung.
„Zinsdifferenz
Langfristzins – Kurzfristzins“ ist die Differenz von Hypothekenpfandbriefrendite
minus Zinssatz von Dreimonats-Festgeldern von über 1 Million DM bzw. 500'000 €.
„Produktivitätszuwachs“
ist das reale Bruttoinlandprodukt geteilt durch die Zahl der erwerbstätigen
Inländer.