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Bern, den 20. August 1999/6. Februar 2006

Zins aus fünf Teilen

In Diskussionen um die Freiwirtschaftslehre spielt das Pro und Kontra zum Zins eine wesentliche Rolle. Diese Streitfrage bedarf einer Klärung. Dazu verhilft uns die in diesem Artikel vorgestellte fünfgliedrige Zinsformel, die es erlaubt, genauer als bisher zwischen gerechtfertigten Zinsanteilen und solchen, die zu Unrecht erhoben werden, zu unterscheiden. Der darin neu aufgeführte Zinsanteil, der Wachstumsanteil , macht dies möglich. Er beruht – nach eigenen statistischen Untersuchungen – auf dem Produktivitätszuwachs der Wirtschaft und begründet die üblicherweise höhere Verzinsung von Langfristkrediten im Vergleich zu Kurzfristkrediten. Diese Zinsformel könnte den Weg weisen, alle in der Wirtschaftswissenschaft bisher diskutierten Zinstheorien zu vereinen. Die neue Formel führt überraschenderweise auch zu einer Teilaussöhnung der Freiwirtschaftslehre mit der Mehrwertlehre von Karl Marx. Die fünfgliedrige Zinsformel kann somit zu einer fruchtbaren und weiterführenden Bereicherung der Freiwirtschaftslehre beitragen. Außerdem wird die Idee einer Kreditabschreibung als Beitrag zum Zinsproblem in die Diskussion gebracht.

 


Es ist eine Jahrtausende alte Frage, ob Zins gerechtfertigt ist oder nicht. Alle Religionen verbieten das Zinsnehmen, und trotzdem wurde dieses Verbot stets umgangen. Die Religionsführer erwiesen sich hier immer als machtlos, und mit dem Aufkommen der modernen Wirtschaft mit ihrem umfassenden Geld- und Kreditverkehr ist die Frage ziemlich verstummt. Trotzdem ist sie weiterhin von allergrößter Bedeutung, ist doch Zins das Hauptproblem für die ungleiche Verteilung von Vermögen zwischen Arm und Reich.

Bei der Beurteilung des Zinses stehen sich zwei unverträgliche Meinungen gegenüber.

n   Die wirtschaftsfreundliche Meinung besagt: Zins ist notwendig als Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage, um Kredite an die richtige Stelle zu lenken. Ohne Zins gibt niemand Kredite, und ohne Kredite kann die Wirtschaft nicht funktionieren.

n   Die wirtschaftskritische Meinung verwirft den Zins als Instrument der Ausbeutung des Kreditnehmers durch den Kreditgeber und möchte ihn deshalb abschaffen.

Beide Meinungen stehen einander scheinbar unversöhnlich gegenüber. Zur Klärung der Frage, ob Zins gerechtfertigt ist, ist er genauer unter die Lupe zu nehmen. „Rechtfertigen“ heißt hier grundsätzlich, dass der Zahlung von Zins an den Zinsempfänger eine Gegenleistung dieses Zinsempfängers gegenüber steht oder ein Verlust, den er nicht selbst zu verantworten hat.

Die folgende Untersuchung soll zeigen, woraus sich Zins zusammensetzt, worauf seine Anteile beruhen und inwieweit diese ethisch gerechtfertigt sind. Es ist jedoch nicht ihre Aufgabe zu zeigen, welche Auswirkungen der Zins hat.

Fünf Zinsbestandteile

Der Zins, den ein Kreditnehmer für einen bankvermittelten Kredit bezahlen muss, deckt fünf Zinsbestandteile ab. Diese Bestandteile sind nicht einzeln erkennbar, weil der Zinssatz eines Kreditgeschäfts immer als Ganzes ausgehandelt wird, doch lassen sie sich statistisch mehr oder weniger gut unterscheiden. Sie haben verschiedene Grundlagen und sind dementsprechend verschieden zu beurteilen.

Die fünf Zinsbestandteile sind:

1.    Liquiditätsentgelt für den Verzicht des Kreditgebers auf seine Zahlungsfähigkeit („Liquidität“),

2.    Inflationsausgleich zur Absicherung des Kreditgebers gegen Geldentwertung (Inflation),

3.    Wachstumsanteil als Beteiligung des Kreditgebers am Produktivitätszuwachs der Wirtschaft,

4.    Risikozuschlag wegen möglichen Ausbleibens der Kreditrückzahlung und

5.    Vermittlerentgelt für die Kreditvermittlung der Bank.

Diese fünf Zinsbestandteile sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Anschließend werden sie im Einzelnen erläutert.

In die Erläuterungen fließen Ergebnisse meiner statistischen Untersuchungen ein. Grundlage dazu war das „Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“ für den Zeitraum von 1974 bis 2003. Die Ergebnisse sind am Schluss in den Diagrammen 1 bis 3 dargestellt. Dabei definierte ich u. a. „Wirtschaftswachstum“ als „Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeit“, gemessen am Wachstum des Bruttoinlandproduktes BIP pro Erwerbstätigen. Dies verglich ich mit der Differenz zwischen den Zinssätzen für langfristige und kurzfristige Geldanlagen. Als Zinssatz für kurzfristige Anlagen nahm ich denjenigen für Dreimonats-Festgelder von über 1 Mio DM bzw. 500'000 Euro, als solchen für Langfristanlagen die Rendite von Hypothekenpfandbriefen.


Tabelle 1: Zinsbestandteile und ihre Merkmale

Zinsbestandteil

Grundlage

Bedingt durch

Ethische
Berechtigung

Beseitigung,
Minderung oder Ersatz denkbar durch

1

Liquiditätsentgelt
Andere Namen:
„Urzins“ (S. Gesell)
„Liquiditätsprämie“
(J. M. Keynes),
„Mehrwert des Geldes“
(D. Suhr)

Besondere
Begehrtheit des Geldes
als Zahlungsmittel
(„Liquiditätsvorliebe“)
im Gegensatz zur
Begehrtheit von
Arbeitskraft und Waren

Geldwirtschaft
(monetär)

nein

Kostenpflichtige
Umlaufsicherung:
Abschöpfung des Mehrwerts des Geldes durch eine regelmäßige prozentuale Abgabe auf flüssige Zahlungsmittel zugunsten der Allgemeinheit

2

Inflationsausgleich
Anderer Name:
„Hausseprämie“
(S. Gesell)

Kaufkraftverlust
des Geldes

ja

Stabiler Geldwert,
Schuldenindexierung

3

Wachstumsanteil
Andere Namen:
„Darlehenszins auf Sachgüter“
(S. Gesell)
„Mehrwert des Kapitals“,
„Mehrwert der
Produktion“ (K. Marx)

Wirtschaftswachstum
aufgrund von:
Technischer Fortschritt,
Produktivitätszuwachs der Arbeit,
sinkende Rohstoffpreise

Realwirtschaft

ja

Nullwachstum
der Wirtschaft

4

Risikozuschlag

Verlustrisiko
des Kreditgebers gegen Ausbleiben der
Kreditrückzahlung

ja

Stabile Konjunktur

5

Vermittlerentgelt

Aufwand für
Kreditvermittlung

ja

Vermittlungsgebühr

 


Das Liquiditätsentgelt

Das Liquiditätsentgelt im Zins ist derjenige Zinsbestandteil, den der Kreditgeber für seinen Verzicht auf Zahlungsfähigkeit („Liquidität“) vom Kreditnehmer erwartet. Mit dem Verleihen von Geld verzichtet er auf den Vorteil, bezahlen zu können. Deshalb müsste man diesen Zinsanteil eigentlich „Liquiditätsverzichtsentgelt“ nennen. Es handelt sich hier nicht um Konsumverzicht, sondern um Konsumaufschub auf später. Andere Namen für das Liquiditätsentgelt sind „Urzins“ bei Silvio Gesell, „Liquiditätsprämie“ bei John Maynard Keynes und „Mehrwert des Geldes“ bei Dieter Suhr.

Das Liquiditätsentgelt beruht auf der besonderen Begehrtheit des Geldes, gegen welches sein Besitzer überall und jederzeit alles erwerben kann, was zum Kauf angeboten wird. Mit keinem anderen Gut ist dies möglich. Dadurch genießt ein Geldbesitzer stets einen Vorteil gegenüber einem Anbieter von Arbeitskraft, Waren oder Dienstleistungen. Es handelt sich hier um eine systembedingte Nachfrage-Überlegenheit flüssigen Geldes. Außerdem verfällt nicht genutzte Arbeitskraft unmittelbar und verlieren Waren mit der Zeit an Wert oder verursachen Lagerkosten, Geld jedoch nur, sofern Inflation stattfindet.

Das Liquiditätsentgelt ist geldwirtschaftlich (monetär) bedingt, nicht realwirtschaftlich, d. h. es kann nur in einer Geldwirtschaft auftreten und käme in einer geldfreien Wirtschaft nicht vor.

Ohne ein Liquiditätsentgelt besteht in der heutigen Geldwirtschaft kein Kreditangebot. Es wirkt als Lockmittel für die Freigabe von Zahlungsmitteln für Kredite. Das Liquiditätsentgelt stellt einen unvermeidlichen Sockelzins (Minimalzins) dar, unter welchen der Kreditzins auch dann nicht fallen würde, wenn alle übrigen Zinsbestandteile zu null werden könnten. Das Liquiditätsentgelt legt das Mindestmaß für Kreditzinsen fest, weil kein Kreditzins geringer ausfallen kann als dieser Zinsanteil. Das Liquiditätsentgelt bestimmt daher den minimalen Geschäftserfolg, den ein Unternehmen notgedrungen erwirtschaften muss, um überleben zu können, und zwingt daher unausweichlich zum Wirtschaftswachstum.

Das Liquiditätsentgelt wird von einer ganzen Reihe von Forschern behandelt, wenn auch unter anderen Bezeichnungen. Es sind vor allem P. L. P. Boisguillebert (1646–1714), J. Sonnenfels (1733–1817), P.-J. Proudhon (1809–1865), S. Gesell (1862–1930), N. Johannsen (um 1913), J. M. Keynes (1883–1946) und D. Suhr (1939–1990).

Das Liquiditätsentgelt ist ethisch nicht zu rechtfertigen, und zwar aus zwei Gründen:

1.    Das Liquiditätsentgelt stellt für den Kreditgeber ein nicht zu rechtfertigendes Einkommen dar, weil er dafür keine Gegenleistung erbringt („arbeitsfreies Einkommen“).

2.    Weil der Kreditnehmer mit der Weitergabe des Geldes beim Zahlen seine Zahlungsfähigkeit (Liquidität) verliert, ist das Zahlen eines Liquiditätsentgelts durch diesen Kreditnehmer gerechterweise nur so lange zu verantworten, wie er über die entsprechenden Zahlungsmittel verfügt (Stunden, Tage), nicht jedoch während der ganzen Laufzeit des Kredits (Monate, Jahre).

Das Liquiditätsentgelt führt zu Geldvermögensvermehrung bei den einen, also zu Bereicherung, und zu Geldvermögensminderung bei den andern, zu Verarmung.

Dieser Zinsanteil kann nicht beseitigt werden, weil Zahlungsmittel wegen ihrer umfassenden wirtschaftlichen Verwendbarkeit stets begehrter sein werden als Waren und Dienstleistungen. Nach freiwirtschaftlicher Auffassung soll er jedoch zu Gunsten der Allgemeinheit abgeschöpft werden durch eine wiederkehrende prozentuale Abgabe auf flüssige Zahlungsmittel, die zugleich einen verstetigten Zahlungsmittelumlauf sicherstellen würde („Umlaufsicherung“, bei Suhr „Mehrwertabschöpfung“).

Der Inflationsausgleich

Der Inflationsausgleich im Zins („Hausseprämie“ bei Gesell) dient dem Ausgleich des Geldwertverlustes, den der Kreditgeber während der Laufzeit des Kredits ohne diesen Ausgleich erleiden würde. Dieser Zinsbestandteil führt dem Kreditgeber berechtigterweise so viel mehr Geld zu, dass die Kaufkraft seines Geldvermögens erhalten bleibt und nicht schwindet. Dementsprechend steigen und fallen die Zinssätze mit der Inflationsrate (siehe „Geldentwertung“ in Diagramm 1). Bei stabilem Geldwert ist dieser Zinsbestandteil null.

Der Inflationsausgleich ist ebenfalls monetär bedingt, kommt also nur in einer Geldwirtschaft vor. Im Gegensatz zum Liquiditätsentgelt ist er jedoch ethisch zu rechtfertigen, weil ihm der Geldwertverlust des Kreditgebers gegenübersteht.

Der Inflationsausgleich könnte durch Anpassung der Höhe der Kreditrückzahlung an den Geldwertverlust ersetzt werden (sogenannte „Schuldenindexierung“).

Der Wachstumsanteil

Der Wachstumsanteil im Zins, eine von mir gewählte Bezeichnung, ist derjenige Anteil am Wachstum der Wirtschaft, der dem Kreditgeber zufließt. Dieses Wachstum beruht im wesentlichen auf dem Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeitskraft auf Grund des Einsatzes von Maschinen und technischer Energie.

Der Wachstumsanteil widerspiegelt sich in der Differenz zwischen den Zinssätzen für langfristige und kurzfristige Geldanlagen. Seine Höhe entspricht – nach meinen Untersuchungen – sowohl im Durchschnitt wie auch im jährlichen Auf und Ab weitgehend dem Produktivitätszuwachs der Wirtschaft (siehe „Zinssatzdifferenz“ und „Produktivitätszuwachs“ in Diagramm 3).

Der Wachstumsanteil ist realwirtschaftlich bedingt, nicht geldwirtschaftlich, und damit wirtschaftlich gerechtfertigt. Das Wirtschaftswachstum und mit ihm der Wachstumsanteil im Zins kann nicht zum Verschwinden gebracht werden, solange Technik einen Produktivitätszuwachs der menschlichen Arbeit mit sich bringt und Maschinen billiger arbeiten als Menschen.

Den Wachstumsanteil gibt es auch in einer geldfreien Wirtschaft. Dazu ein Beispiel: Jemand leiht sich von einem anderen eine Hacke, um damit Kartoffeln zu ernten. Der Entleiher gibt dem Eigentümer der Hacke nach der Ernte zusätzlich zur Hacke einen Korb Kartoffeln zurück, seinen „Wachstumsanteil“, weil er mit der Hacke seine Arbeitsleistung vervielfachen, seine Produktivität steigern konnte. Ohne Hacke hätte er mit der bloßen Hand graben müssen, ein wesentlich mühsameres Geschäft. Der Hackeentleiher teilt seinen Produktivitätszuwachs, den er mithilfe des geliehenen Sachkapitals Hacke erzielen kann, angemessen mit seinem Hackeverleiher, indem er ihm etwas von seiner Ernte abgibt. Dies hat etwas mit Anstand und Anerkennung, mit einer Art Abgeltung zu tun und geschieht nicht nur aus einem Gefühl des Dankes heraus. In der modernen Wirtschaft erscheint der „Anstand“ als Bereitschaft des Kreditnehmers zu einer Zinsleistung an den Kreditgeber, sofern er mit dem Kredit einen Produktivitätszuwachs glaubt erwirtschaften zu können.

Die Berechtigung des Kreditgebers zur Entgegennahme des Wachstumsanteils im Zins lässt sich auch folgendermaßen begründen: Mit der Kreditsumme überlässt er dem Kreditnehmer sozusagen seine eigene Arbeitsleistung leihweise zur Nutzung, die er zuvor zum Erwerb dieser Kreditsumme aufgewendet hat. Es ist, als würde er auf dem Umweg über den Kredit beim Kreditnehmer mitarbeiten oder als hätte er die zur Produktion erforderliche Einrichtung, für deren Erwerb der Kredit verwendet wird, in eigener Vorausleistung hergestellt und würde sie ihm zur Verfügung stellen. Damit verdient er sich einen Anteil am Produktivitätszuwachs des Kreditnehmers. Der Kredit ist somit Stellvertreter (Substitut) für persönliche Mitarbeit oder Vorausarbeit des Kreditgebers im Unternehmen des Kreditnehmers.

Das Arbeitsinstrument, das der Unternehmer zur Steigerung seiner Produktivität einsetzt (Gerät, Maschine, Gebäude, Wissen, im Beispiel die Hacke), ist in jedem Fall „gefrorene“ Arbeit. Dies gilt unabhängig davon, ob es selbst hergestellt oder geliehen (gemietet, geleast) oder auf Kredit erworben ist. Das Arbeitsinstrument selbst ist in keinem Fall „mit‑arbeitend“ oder „mit‑wertschöpfend“, ebenso wenig der darin angelegte Kredit. Geld arbeitet nicht! Hingegen wirkt das Arbeitsinstrument arbeitserleichternd, produktivitätssteigernd. Es trägt bei zu einer geschickteren Nutzung menschlicher Arbeit. Der Mehrertrag bei gleichem Aufwand an menschlicher Arbeit oder ihr Minderaufwand bei gleichem Ertrag ist das beim Unternehmer unter Zuhilfenahme der Arbeitsinstruments anfallende Wirtschaftswachstum bzw. sein zusätzlicher Geschäftserfolg. Die erfahrene Erleichterung der menschlichen Arbeit „verdankt“ er der im Arbeitsinstrument gespeicherten Arbeit, er „profitiert“ von dieser Arbeit. Dies erlaubt es ihm, dem Verleiher des Arbeitsinstruments oder des darin angelegten Kredits einen Teil an seinem Wachstum – nicht das Ganze – sozusagen als „Dank“ auszubezahlen und ihn so an seinem „Profit“ zu beteiligen.

Die Produktivitätssteigerung selbst geht nicht auf Arbeit zurück, sondern auf maschinen- und arbeitstechnische Gesetzmäßigkeiten, die den Wirkungsgrad der menschlichen Arbeit erhöhen. Dazu gehören auch besondere Marktchancen einschließlich vorteilhafter Preisveränderungen oder veränderte Bedingungen im Umfeld. Manchmal schaffen neue Gesetze neue Absatzchancen oder zerstören solche. Bei gesetzesbedingt neu geschaffenen Chancen sahnt der Staat nicht ab, bei zerstörten entschädigt er vielfach nicht, wie es gerechtfertigt wäre.

Der Wachstumsanteil im Zins beteiligt also die Kreditgeber mit am Zuwachs der Produktivität der Volkswirtschaft. Ohne diesen Zins­anteil bliebe die Frage offen, ob ein Produktivitätszuwachs nur Arbeitern, Unternehmern, ihren Abnehmern in Form von Preisvergünstigungen sowie ihren Lieferanten in Form entsprechend höherer Preise für ihre Produkte zukommen darf, nicht aber auch den Geldgebern als Zinsanteil. Wie und in welchem Verhältnis der Produktivitätszuwachs zwischen den Beteiligten aufgeteilt wird, ist allerdings eine Machtfrage. Klar ist, dass ein Mächtiger einem weniger Mächtigen den Zugang zu etwas Lebensnotwendigem verwehren kann. Wenn es jedoch gelingen würde, die Marktüberlegenheit des Zahlungsmittels Geld über Waren, Dienste und Arbeit durch eine geeignete Maßnahme zu beseitigen, wäre hier ein ganz entscheidender Machtfaktor ausgeschaltet.

Der Wachstumsanteil im Zins führt die Kredite aufgrund von Angebot und Nachfrage in die wirtschaftlich günstigste Anlage. Darin liegt die Lenkungsaufgabe des Zinses. Der Wachstumsanteil bewirkt zugleich die Verteilung eines Teils des allgemeinen Produktivitätszuwachses in der Gesellschaft. Dies ist die Verteilungsaufgabe des Zinses“.

Wegen der Lenkungsaufgabe des Wachstumsanteils im Zins kann die Wirtschaft nicht auf Zins verzichten. Die Frage allerdings, ob die jeweils höchste Nachfrage nach Krediten, die weitgehend von den finanziellen Gewinnerwartungen der Nachfrager bestimmt wird, ethisch zu rechtfertigen ist, muss sicher von anderer Warte aus beurteilt werden. Es ist nämlich durchaus zu erwarten, dass mächtige Nachfrager einen höheren Zins akzeptieren als durchschnittliche Nachfrager und dadurch Kredite an sich ziehen, obwohl ihr Einsatz unter sozialen oder umweltverträglichen Gesichtspunkten fragwürdig ist. Doch dürfte bei der Lenkung von Krediten das Spiel von Angebot und Nachfrage immer noch eine bessere Lenkung versprechen als gesetzliche und behördliche Maßnahmen, sofern der offene Zugang zu den erforderlichen Informationen gesichert ist. Wir haben ja kaum noch eine Marktwirtschaft, viel eher eine Informationswirtschaft: Wer informiert ist, macht das Rennen!

Im Wachstumsanteil liegt neben der Lenkungsaufgabe für Kredite auch eine Verteilungsaufgabe. Über den Wachstumsanteil – und nur über diesen einen Zinsanteil – werden die Kreditgeber an den Erfolgen des Wirtschaftswachstums beteiligt. Ohne diesen Zins­anteil bliebe die Frage offen, ob ein Produktivitätszuwachs nur Arbeitern, Unternehmern, ihren Abnehmern in Form von Preisvergünstigungen sowie ihren Lieferanten in Form entsprechend höherer Preise für ihre Produkte zukommen darf, nicht aber auch den Geldgebern als Zinsanteil. Das Wirtschaftswachstum stellt nicht ausschließlich eine Leistung von kreditnehmenden Unternehmen dar, in denen Erfolge erzielt werden, sondern ist stets Auswirkung einer gesamtgesellschaftlichen Vernetzung von Können und Leistung. Nicht die Unternehmen und ihre arbeitenden Angehörigen allein dürfen gesamtgesellschaftliche Erfolge an sich ziehen, „absahnen“. Sofern wir voraussetzen dürfen, dass Kreditgeber zu ihrem in Krediten angelegten Vermögen auf „ehrliche“ Weise, sprich „durch Arbeit“, gelangt sind – und nach Einführung einer Umlaufsicherungsabgabe auf flüssige Zahlungsmittel dürfen wir das –, dürfen sie über den Wachstumsanteil auch an allgemeinen Produktivitätserfolgen der Gesellschaft teilhaben. Diese Teilhabe fällt, wie wir noch sehen werden, schon allein marktwirtschaftlich in sich zusammen, wenn kein Wirtschaftswachstum stattfindet. Somit halte ich den Wachstumsanteil im Zins für ethisch gerechtfertigt.

Wie und in welchem Verhältnis der Produktivitätszuwachs zwischen den Beteiligten aufgeteilt wird, ist allerdings eine Machtfrage. Klar ist, dass ein Mächtiger einem weniger Mächtigen den Zugang zu etwas Lebensnotwendigem verwehren kann. Wenn es jedoch gelingen würde, die Marktüberlegenheit des Zahlungsmittels Geld über Waren, Dienste und Arbeit durch eine freiwirtschaftliche Umlaufsicherung zu beseitigen, wäre hier ein ganz entscheidender Machtfaktor ausgeschaltet.

Silvio Gesell nennt den Wachstumsanteil „Darlehenszins auf Sachgütern“. Er sagt dazu in „Die natürliche Wirtschaftsordnung“, 5. Teil, Ende Kapitel 5: „Der Zins für Sachgüter … ist ein Teil des Erzeugnisses, das der Unternehmer mit Hilfe des Darlehens mit gleichen Kosten mehr hervorbringen kann und den der Geldverleiher für sich beanspruchen kann.“ Und etwas vorher heißt es: „Darlehen in Freigeld werden so lange verzinst werden müssen, wie Realkapitalien Zins abwerfen.“ Gesell führt den Darlehenszins nicht auf seinen „Urzins“, das Liquiditätsentgelt, zurück. Er anerkennt damit unausgesprochen und unbeabsichtigt eine Produktivitätstheorie des Zinses.

Gesell glaubte, der Darlehenszins könne nach Einführung einer freiwirtschaftlichen Umlaufsicherung völlig zum Verschwinden gebracht werden, weil das Darlehensangebot die Nachfrage nach Darlehen schließlich übersteigen und dadurch der Darlehenszins zu null werden würde. Hierin gehe ich mit Gesell ausdrücklich nicht einig. Er verkannte offensichtlich, dass stets neuartige Investitionsbedürfnisse auftauchen, die zu neuer Kreditnachfrage führen. Es ist ohne Weiteres abzusehen, dass Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum und damit Nachfrage nach Investitionskrediten so lange stattfinden werden, wie es billiger ist, Maschinen und Apparate zu entwickeln, herzustellen und mit genügend billiger Energie zu betreiben, als Menschen zu beschäftigen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass in Westdeutschland in den Jahren 1980 und 1981 die Zunahme der Arbeitsproduktivität, also das Wirtschaftswachstum pro Erwerbstätigen, bei nur 0,2 und 0,8 % lag, gleichzeitig aber die Zinsdifferenz zwischen Langfrist- und Kurzfristanlagen, die ich dem Wachstums­anteil im Zins gleichsetze, sogar ins Negative, nämlich auf -0,2 und -0,8 % abgerutscht war! (Siehe Diagramm 3) Das heißt, dass die Kurzfristzinssätze ungewöhnlicherweise höher lagen als die Langfristzinssätze. Die Kapitalgeber mussten also eine Teillast der Wirtschaft mittragen. Der Negativwert des Wachstums­anteils ist im trotzdem positiven Gesamtzinssatz selbstverständlich nicht erkennbar, weil er von den übrigen positiven Zinsanteilen überdeckt wird.

Im Wachstumsanteil sehe ich eine vernünftige, wirklich verständliche Begründung der Mehrwertlehre von Karl Marx, die er, wie mir scheint, der Welt eigentlich schuldig geblieben ist. Der Wachstumsanteil ist das, was er den „Mehrwert des Kapitals“ oder „Mehrwert der Produktion“ nennt. (Nicht zu verwechseln mit dem „Mehrwert des Geldes“ nach Dieter Suhr, der dem Liquiditätsentgelt entspricht.) Siehe Abschnitt “Freiwirtschaft und Karl Marx“.

Der Risikozuschlag

Der Risikozuschlag im Zins kann als Versicherungsprämie angesehen werden, die sich der Kreditgeber zahlen lässt gegen die Gefahr, dass er am Ende der Laufzeit den Kreditbetrag nicht oder nur teilweise zurück erhält. Der Risikozuschlag ist realwirtschaftlich bedingt und grundsätzlich gerechtfertigt.

Für Kredite mit hoher Sicherheit (hohe „Bonität“, „erste Adressen“), zum Beispiel gedeckt durch Grundpfänder, enthält der Zins keinen eigentlichen Risikozuschlag. Erst bei erhöhtem Risiko ist mit einem erkennbaren Zuschlag zu rechnen, vor allem bei Konsumkrediten.

Das Vermittlerentgelt

Das Vermittlerentgelt im Zins ist die Abgeltung für den Aufwand der Bank für Kreditvermittlung. Auch dieser Anteil ist realwirtschaftlich bedingt und grundsätzlich gerechtfertigt. Jedoch ist es bedenklich, diesen Aufwand als Zuschlag in eine Zinssatzbemessung einzubeziehen und über die ganze Laufzeit eines Kredits abgelten zu lassen, da der Aufwand nur zu Beginn anfällt. Das Vermittlerentgelt könnte daher durch eine einmalige Vermittlungsgebühr ersetzt und aus dem Zins herausgenommen werden.

Vorteile der fünfgliedrigen Zinsformel

Alle fünf Zinsbestandteile zusammen bestimmen den Gesamtzinssatz eines Kredits.

Die angegebene Zinsformel hat folgende Vorteile:

1.      Die fünfgliedrige Zinsformel lässt unterscheiden zwischen gerechten und ungerechten Zinsbestandteilen.

2.      Die fünfgliedrige Zinsformel erlaubt das Überwinden des Widerspruchs zwischen Zinsgegnern und Zinsbefürwortern. Sie bedeutet die Verschmelzung bisher widerstreitender Anschauungen zu einer Gesamtschau. Sie gibt beiden Seiten mit guten Gründen Recht und ist deshalb kein fauler Kompromiss. Dies macht aus meiner Sicht die Stellung der Freiwirtschaft in der Zinsdiskussion unangreifbar.

3.      Die fünfgliedrige Zinsformel erklärt die Tatsache, dass die Zinssätze für langfristige Kredite normalerweise höher sind als solche für kurzfristige Kredite. Eine Erklärung dieser Tatsache wie auch des zeitweiligen Gegenteils ist mir von der anerkannten Volkswirtschaftslehre nicht bekannt. – Langfristkredite dienen im Allgemeinen langfristigen Investitionen, die ihrerseits in der Wirtschaft Produktivitätszuwachs ermöglichen. Dies erlaubt es, für Langfristkredite einen höheren Zins zu zahlen als für Kurzfristkredite. Der Unterschied zwischen den beiden Zinssätzen liegt im Wachstumsanteil. Dies ist mit Zahlen aus Deutschland zu belegen. Die Differenz zwischen Kurzfrist- und Langfristzinssätzen hatte in den Jahren 1979–1989 ungefähr das gleiche Auf und Ab wie der Produktivitätszuwachs, und beide Werte haben in diesem Zeitraum praktisch die gleiche Durchschnittshöhe (1,39 bzw. 1,36 %). Ab 1996 bestätigt sich dies auch für das wiedervereinigte Gesamtdeutschland, nachdem es infolge des Anschlusses der DDR zunächst starke Abweichungen gegeben hatte. Siehe Diagramm 3.

4.      Die fünfgliedrige Zinsformel lässt den Unterschied zwischen Zinsen für Investitionskredite und solchen für Konsumkredite erkennen. Der Zins für Konsumkredite enthält keinen Wachstumsanteil , weil sie keine Produktivitätssteigerung bewirken.

5.      Die fünfgliedrige Zinsformel verbindet, wenn ich richtig sehe, die wesentlichen bisher bekannten Zinstheorien zu einer einzigen. Keine dieser über Generationen hinweg entstandenen Theorien befriedigt. Und keine ihrer Zinsformeln berücksichtigt das Liquiditätsentgelt. Nur J. M. Keynes als einziger anerkannter Wirtschaftstheoretiker spricht stattdessen von der „Liquiditätsprämie“ des Geldes.

An Zinstheorien zähle ich hier auf:

n   Fruktifikationstheorie („Boden-Fruchtbarkeits-Theo­rie“): Zins als Ersatz für Bodenfruchtbarkeit (A. R. J. Turgot, Frankreich, 1727–1781),

n   Abstinenztheorie („Enthaltsamkeitstheorie“): Zins als Entschädigung für Konsumverzicht (N. W. Senior, England, 1790–1864),

n   Ausbeutungstheorie (Mehrwerttheorie der Produktion): Zins als dem Arbeitnehmer vorenthaltener Mehrwert seines Arbeitsprodukts (K. Marx, Deutschland, 1818–1883),

n   Agiotheorie („Aufschlag-Theorie“): Zins aus Höherbewertung von Gegenwartsgütern gegenüber Zukunftsgütern (E. von Böhm-Bawerk, Österreich, 1851–1914),

n   Grenzproduktivitätstheorie: Zins entspricht der Zusatzproduktivität des zusätzlich investierten Kapitals (J. B. Clark, USA, 1847–1938),

n   Urzinstheorie (Mehrwerttheorie des Geldes): Zins auf Grund der höheren Begehrtheit flüssiger Zahlungsmittel (S. Gesell, Deutschland, 1862–1930),

n   Liquiditätspräferenztheorie („Flüssigmittel-Vorliebe-Theorie“): Zins auf Grund der höheren Begehrtheit flüssiger Zahlungsmittel (J. M. Keynes, England, 1883–1946),

n   Dynamische Zinstheorie: Zins entspricht variablen Unternehmensgewinnen (J. A. Schumpeter, Österreich, 1883–1950),

n   Loanable-Fund-Theorie („Rentable-Anlage-Theorie“): Zins bestimmt sich nach Kreditangebot und ‑nachfrage (B. G. Ohlin, Schweden, 1899–1979).

 


Tabelle 2: Zusammensetzung der Zinsarten

Zinsbestandteil

Kreditzinsen
zu Lasten des Kreditnehmers

Anlagezinsen
zu Gunsten von Anleger bzw. Kreditgeber

Langfristkredit

Kurzfristkredit

Langfristanlage

Kurzfristanlage

nominal

real

nominal

real

nominal

real

nominal

real

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Liquiditätsentgelt

n

n

n

n

n

n

n

n

Inflationsausgleich

n

n

n

n

Wachstumsanteil

n

n

n

n

Risikozuschlag

n

n

n

n

n

n

n

n

Vermittlerentgelt

n

n

n

n

Legende: n = Zinsbestandteil kommt vor; = Zinsbestandteil kommt nicht vor

 


Zusammensetzung der Zinsarten

Mit den erläuterten fünf Zinsbestandteilen lässt sich angeben, wie sich die verschiedenen Zinsarten zusammensetzen und unterscheiden. Dies geht aus Tabelle 2 hervor.

1.    Die Bestandteile „Liquiditätsentgelt“ und „Risikozuschlag“ kommen in sämtlichen Zinsarten vor (Spalten 2–9).

2.    Der Unterschied zwischen Anlagezins und dem höheren Kreditzins, also dem, was der Anleger von der Bank als deren Passivzins erhält, und dem, was der Kreditnehmer der Bank als deren Aktivzins bezahlt, liegt im Vermittler­entgelt, auch „Zinsspanne“ oder „Bankmarge“ genannt. Der Kreditzins enthält das Vermittler­entgelt (Spalten 2–5), der Anlagezins nicht (Spalten 6–9).

3.    Der Unterschied zwischen Kurzfristzinsen und den meist höheren Langfristzinsen liegt im Wachstumsanteil . Langfristzinsen enthalten ihn (Spalten 2–3 und 6–7), Kurzfristzinsen nicht (Spalten 4–5 und 8–9).

4.    Der Unterschied zwischen den Zinssätzen für Investitionskredite und Konsumkredite liegt wiederum im Wachstumsanteil. Zinssätze für Investitionskredite enthalten ihn (Spalten 2–3 und 6–7), Zinssätze für Konsumkredite nicht (Spalten 4–5 und 8–9). Konsumkredite dienen dem Verbrauch und können deshalb keine Produktivitätssteigerung bewirken und keinen Geschäftserfolg abwerfen. – Zu den Konsumkrediten sind auch Staatsanleihen zu zählen, und zwar in dem Ausmaß, in dem sie zu sozialen, kulturellen und militärischen Zwecken verwendet werden. Diese Ausgaben sind zum Verbrauch bestimmt und können deshalb keinen Geschäftserfolg und keinen Produktivitätszuwachs zur Folge haben. – Konsumkredite waren auch die Kredite in vor­industrieller Zeit, gegen deren Zinsen die Religionen und die Kirche Stellung bezogen haben und die sie als Wucher verpönten und teilweise unter Strafe stellten.

5.    Der Unterschied zwischen Nominalzins und dem in der Regel niedrigeren Realzins liegt im Inflationsausgleich. Dieser ist im Nominalzins enthalten (Spalten 2, 4, 6, 8), im Realzins dagegen nicht (Spalten 3, 5, 7, 9). („Nominalzins“ ist der Zins, der in Franken oder Euro usw. bezahlt bzw. erhalten wird, „Realzins“ ist seine Kaufkraft.)

In der Höhe eines Zinsbestandteils spiegelt sich das Spiel von Angebot und Nachfrage. Seine Höhe ist von Zinsart zu Zinsart verschieden. Insbesondere sind Vermittlerentgelt und Risikozuschlag von Aufwand und Risiko der Bank her bestimmt. Zum Beispiel enthalten Konsumkredite für Private einen sehr viel größeren Risikoanteil als Investitionskredite und sind deshalb die teuersten Kredite überhaupt.

Folgerungen

Aus der fünfgliedrigen Zinsformel lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

1.    Weil Zins in der heutigen Geldwirtschaft stets das Liquiditätsentgelt mit einschließt, ist er ein unmoralisches Ausbeutungs- und Bereicherungsinstrument der Kreditgeber, denen dieser Zinsanteil ohne eigene Arbeit zufließt.

2.    Beide zu Beginn aufgeführten Meinungen – einerseits „Zins ist notwendig“, andererseits „Zins ist verwerflich“ – sind nebeneinander berechtigt und widersprechen sich nicht, weil sie sich jeweils nur auf Anteile im Zins beziehen und nicht auf Zins als Ganzes.

3.    In einer Marktwirtschaft ist Zins notwendig, um durch seinen Wachstums­anteil Kredite in die wirtschaftlich sinnvollste Anlage zu lenken.

4.    Zins ist ein sinnvolles Mittel, um Gewinne aus Geschäftserfolgen mit den Kreditgebern zu teilen, sofern diese durch Ersparnis aus Arbeit zu einer Kreditvergabe in der Lage sind und nicht durch andere Arten von Einkommen.

5.    Im Ausmaß des Liquiditätsentgelts ist Zins unter den heute geltenden Bedingungen zwangsläufig ein Ausbeutungs- und Bereicherungsinstrument der Kreditgeber auf Kosten der Kreditnehmer und ihrer Geschäftspartner, weil er stets das Liquiditätsentgelt mit einschließt. Alle übrigen vier Zinsbestandteile dagegen lassen sich ethisch rechtfertigen.

6.    Man darf annehmen, dass das Liquiditätsentgelt etwa dem Realzinssatz von Einmonatsfestgeld entspricht oder diesem Wert nahe kommt, weil dieser Zinssatz wegen der hohen Sicherheit dieser Art von Geldanlage praktisch keinen Risiko­anteil enthält und keinen der übrigen drei Zinsbestandteile umfasst (siehe Tabelle 2 unter „Kurzfristanlage, real“). Da mir statistisch nur der leicht höhere Zinssatz für Dreimonatsfestgeld zugänglich war, benutzte ich diesen für meine Untersuchungen. Er schwankte in Deutschland in den letzten 25 Jahren zwischen 1,1 und 5,3 %, sein Durchschnitt lag bei 2,7 %. Siehe Diagramm 2.

7.    Wirtschaftswachstum treibt, soweit es allein auf Produktivitätszuwachs zurückgeht, den Wachstumsanteil im Zins in die Höhe; geht dagegen das Wirtschaftswachstum allein auf gesteigerte Nachfrage zurück, z. B. die Nachfrage des Staates, dann treibt es das Liquiditätsentgelt nach oben. In beiden Fällen steigen die Zinsen! Mit weiteren Nachteilen für die Gesellschaft! Wirtschaftswachstum öffnet die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter! Nach Wirtschaftswachstum wird gerufen, um die Miseren des heutigen Systems auszuräumen oder wenigsten zu mildern: Überschuldung, Fusionen, Arbeitslosigkeit, Verarmung vieler, Geldmangel für alle möglichen öffentlichen und privaten Aufgaben. Da diese Probleme jedoch weitgehend Folge des Liquiditätsentgelts im Zins sind und nicht von einer Wirtschaftsflaute herkommen, sind sie nicht durch Wirtschaftswachstum aus der Welt zu räumen.

Erkenntnisse für die Freiwirtschaftslehre

1.    Vertreter der Freiwirtschaftslehre müssen von der Vorstellung Abschied nehmen, Zins an sich sei ungerecht. Nur das Liquiditätsentgelt im Zins muss zu null werden, nicht die Zinshöhe als Ganzes! Die Höhe des Wachstumsanteils ist für das freiwirtschaftliche Ziel im Grunde gleichgültig. Diese Höhe hängt von der Höhe des Wirtschaftswachstums ab. Wenn diese Unterscheidung in der Diskussion nach außen nicht zum Ausdruck gebracht wird, bleibt die Freiwirtschaftslehre für viele zu Recht indiskutabel! Den anderen Zinsanteilen muss von der Geldseite her freier Lauf gelassen werden.

2.    Die emotional sehr bestechenden freiwirtschaftlichen Ausdrücke „Nullzins“ und „Ersäufen des Zinses im Kapital“ oder Keynes’ Vision vom „sanften Tod des Kapitalrentners“ sind unrealistisch, falsch und irreführend, solange Produktivitätszuwachs und Konsumnachfrage stattfinden. Auch bei noch so viel Sachkapital muss und wird das Zahlungsmittel Geld knapp bleiben und seine Begehrtheit und seinen Mehrwert behalten. Die alte freiwirtschaftliche Forderung nach einer „Zinshöhe um null“ lässt sich somit nicht aufrecht erhalten und muss fallen gelassen werden. Sie ist zu ersetzen durch die Forderung nach einem „Liquiditätsentgelt von null“.

3.    Der Zwang zum Wirtschaftswachstum, der nach freiwirtschaftlicher Überzeugung vom Zins ausgeht, beruht nur auf dem Liquiditätsentgelt, nicht auf den anderen Zinsbestandteilen, insbesondere nicht auf dem Wachstumsanteil. In diesem zeigt sich vielmehr die Auswirkung des Wirtschaftswachstums.

4.    Die von freiwirtschaftlicher Seite zur Sicherung des Geldumlaufs vorgeschlagene Gebühr auf flüssige Zahlungsmittel („Umlaufsicherungsgebühr“) kann nur ein Absinken des Liquiditätsentgelts bewirken, mehr nicht. Aus ihrem Wesen heraus ist sie nicht in der Lage, den Zins in seinen anderen Bestandteilen anzutasten und ihn als Ganzes zum Verschwinden zu bringen. Insbesondere kann der Wachstumsanteil nicht durch eine Umlaufsicherungsgebühr oder andere geldtechnische Maßnahmen beeinflusst werden, da er nicht auf Gesetzmäßigkeiten der Geldwirtschaft beruht, sondern vom Wirtschaftswachstum abhängt. Eine Umlaufsicherungsgebühr erscheint jedoch geeignet, die Höhe sämt­licher Zinssätze um den Anteil des Liquiditätsentgelts abzusenken und so zur wichtigsten Entlastung der Kreditnehmer und der Käufer ihrer Produkte zu führen.

5.    Um die richtige Höhe der Umlaufsicherungsgebühr zu bestimmen, scheint der sich auf dem Markt einspielende Zinssatz für Einmonatsgelder eine brauchbare Beobachtungsgröße zu sein. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dieser Zinssatz etwa dem Liquiditätsentgelt gleichkommt, das durch die freiwirtschaftliche Umlaufsicherung zu null werden soll. Dementsprechend muss die Umlaufsicherungsgebühr laufend so angepasst werden, dass sich der Zinssatz für Einmonatsgelder möglichst auf null einstellt. Auf diese Weise ließe sich stets überprüfen, wie gut das freiwirtschaftliche Ziel erreicht wird, zwischen Besitzern von Zahlungsmitteln und solchen von Arbeitskraft und Waren Chancengleichheit herzustellen. Mit der vorgeschlagenen Methode könnte die Frage nach der „richtigen“ Höhe der Umlaufsicherungsgebühr sinnvoll beantwortet werden. So kann die Belastung der Zahlungsmittel jeder Schätzung oder gar Willkür entzogen werden. Die Zielgröße, der Zinssatz für Einmonatsgelder von null, ist klar definiert und für die Öffentlichkeit überprüfbar. Unter dieser Zielsetzung muss sich die freiwirtschaftliche Diskussion heute nicht mehr um die Höhe der erforderlichen Umlaufsicherungsgebühr kümmern.

6.    Mit dem erwarteten Wegschrumpfen des Liquiditätsentgelts durch eine kostenpflichtige Umlaufsicherung halte ich den viel zitierten „Gegensatz von Kapital und Arbeit“ abgebaut und aufgehoben, der heutzutage aufgrund der besonderen Begehrtheit flüssiger Zahlungsmittel auf der Überlegenheit der Kreditgeber über die Arbeitenden beruht und den Vorrang der Zinszahlung des Kreditnehmers vor der Lohnzahlung an Arbeitende scheinbar magisch begründet. Demgegenüber wäre im Wachstumsanteil eigentlich die Spur einer realen „Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital“ zu entdecken. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit bliebe dann auf das Liquiditätsentgelt beschränkt. Welch eine Entdeckung!

7.    Das Problem des sogenannt „arbeitenden“ Geldes könnte noch auf neue Fährten führen. Müsste nicht etwa die Gesellschaft als Ganzes am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt werden und nicht nur die Geldgeber? Denn die Gesellschaft bringt, wie erwähnt, das Wirtschaftswachstums letztlich als Gemeinschaftsleistung hervor. Die Beteiligung der Gesellschaft könnte theoretisch zum Beispiel durch eine besondere Besteuerung des Wachstumsanteils von Zinseinnahmen geschehen. Praktisch erscheint mir dies jedoch nicht möglich, weil der Wachstumsanteil in den Zinseinnahmen eines Steuerpflichtigen nicht erfassbar ist. Aber müsste es nicht eine laufende Wertminderung von Krediten geben, so wie Einrichtungen und Lagerbestände eines Unternehmens, die auf Kredit erworben sein können, laufend in ihrem Wert abnehmen? Diese Wertminderung wird bekanntermaßen als „Abschreibung“ in der Buchhaltung eines Unternehmens berücksichtigt. Übertragen auf Kredite würde dies bedeuten, dass der Kreditbetrag laufend um einen bestimmten Prozentsatz abgemindert wird, zusätzlich zur Tilgung. Eine solche Kreditabschreibung würde sich sowohl auf die Zinszahlung wie auch auf die Restschuld mindernd auswirken und den Kredit zu gegebener Zeit automatisch auf null abbauen, sofern er nicht vorher schon getilgt worden ist. Dies würde – gerechterweise, so meine ich – auch den Kreditgeber mit der Wertminderung von Sachwerten seines Kreditnehmers mitbelasten. Eine Kreditabschreibung könnte zum Beispiel auf die durchschnittliche Abschreibungsrate der Wirtschaft festgelegt werden, unabhängig von einer Umlaufsicherungsabgabe und einer allfälligen Inflation. Auf diese Weise würde das Unwesen ewiger Kredite, Schulden und Zinszahlungen verschwinden, wo Kreditnehmer nicht in der Lage sind, ihren Kredit zurückzuzahlen.

Freiwirtschaft und Karl Marx

Die fünfgliedrige Zinsformel liefert die Basis, um die Mehrwertlehre von Karl Marx innerhalb der Freiwirtschaft neu zu bewerten. Im Zins erscheinen zwei eindeutig voneinander unterscheidbare Mehrwerte als Bestandteile in einträchtigem, gleichzeitigem Nebeneinander. Der Marx’sche Mehrwert ist der „Mehrwert des Kapitals“ bzw. der „Mehrwert der Produktion“. In der fünfgliedrigen Zinsformel entspricht ihm der „Wachstumsanteil“. Der „Mehrwert der Produktion“ unterscheidet sich grundlegend vom „Mehrwert des Geldes“ nach D. Suhr bzw. vom „Urzins“ nach S. Gesell, in der fünfgliedrigen Zinsformel dem Liquiditätsentgelt.

Beide Zinsanteile sind auf verschiedene Weise bedingt, verursacht und begründet: der Wachstumsanteil realwirtschaftlich, das Liquiditätsentgelt geldwirtschaftlich. Damit liegt eine klare Trennung der Einflüsse von Realwirtschaft oder „Produktionssphäre“ und Geldwirtschaft oder „Zirkulationssphäre“ auf den Zins vor, welche den alten Streit zwischen Freiwirtschaftlern und Marxisten überflüssig werden lässt.

Marx definiert „Mehrwert“ als die Differenz zwischen dem gezahlten Lohn der Arbeiter und dem höheren Erlös aus ihren Arbeitserzeugnissen, den sich „die Kapitalisten“ von ihren Arbeitern als „Ausbeutung“ aneignen. Auf diese Ausbeutung führt Marx das Wachstum der Produktion und den Zins zurück.

Damit hat Marx den dauernden Produktivitätszuwachs in einer sich ständig weiter entwickelnden Wirtschaft erfasst. Dieser Zuwachs beruht in erster Linie auf dem Einsatz technischer Energie. Der Mehrwert der Produktion würde auch in einer geldfreien Wachstumswirtschaft als Abgabe an einen Verleiher von Produktionsmitteln gezahlt werden. Demgegenüber erklärt Gesell mit seinem Urzins einen Zinsbestandteil, der in einer Geldwirtschaft unabhängig vom Wirtschaftswachstum gezahlt wird, weil das Geld eine höhere Begehrtheit besitzt als alle übrigen Wirtschaftsgüter. In einer Geld- und Wachstumswirtschaft gibt es beide, den Mehrwert der Produktion und den Mehrwert des Geldes.

So ist denn auch die berühmte Marx’sche Formel G – W – G+, d. h. „Geld“ wird über „Ware“ zu „mehr Geld“, doppelt gültig: Das Mehr von „mehr Geld“ muss als Summe von Produktionsmehrwert nach Marx und Geldmehrwert nach Suhr verstanden werden. Der Mehrwert der Produktion beruht auf der Ausbeutung der Natur, der Mehrwert des Geldes auf der Ausbeutung des Menschen.

Fazit: Gesell und Marx ergänzen einander in der Zinsfrage. Beide Richtungen stehen in Bezug auf den Zins nicht mehr widersprüchlich gegeneinander, sondern erfahren ihre berechtigte Beachtung. Ein „Brückenschlag“ ist möglich ohne Preisgabe von freiwirtschaftlichen Grundsätzen und Vorschlägen und zugleich ohne Anerkennung der Marx’schen Rezepte.

Die hier gefundene Teil-Ehrenrettung von Karl Marx war keineswegs die Absicht dieser Arbeit, sondern ergab sich mir plötzlich und unwillkürlich daraus. Es liegt mir fern, den Marx’schen Weg zur Überwindung des Kapitalismus, nämlich die Verstaatlichung der Produktionsmittel zu befürworten. Auch nach der Entdeckung der fünfgliedrigen Zinsformel können wir voll zum freiwirtschaftlichen Gedankengut stehen, ja, mehr noch: Sie erlaubt uns, dieses noch überzeugter zu vertreten.

Eberhard Knöller, Bern


Erläuterungen zu den Diagrammen

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden. – Aus der Zeit vor 1979 stand kein ausreichendes Zahlenmaterial zur Verfügung.

„Zinsdifferenz Langfristzins – Kurzfristzins“ ist die Differenz von Hypothekenpfandbriefrendite minus Zinssatz von Dreimonats-Festgeldern von über 1 Million DM bzw. 500'000 €.

„Produktivitätszuwachs“ ist das reale Bruttoinlandprodukt geteilt durch die Zahl der erwerbstätigen Inländer.