Startseite geldreform.de


Bern, den 14. November 1996

Energie, die Grundlage des Wachstums

Energiefrage wichtiger als Zinsfrage

Aus Artikeln zur Freiwirtschaftslehre kann oft der Eindruck entstehen, die Weiterentwicklung des Geldsystems und des Bodenrechts sei die Voraussetzung dafür, die wichtigsten Missstände unserer Gesellschaft zu überwinden. Jedoch – die freiwirtschaftliche Reform genügt nicht. Die Weiterentwicklung der beiden Bereiche ist ohne Zweifel für ein sinnvolles materielles Weiterleben auf unserem Planeten unverzichtbar, doch übersieht diese Auffassung leider eine äußerst wichtige Tatsache: Es ist der Einsatz technischer Energie, der das jetzt über Jahrtausende gehende Wirtschaftswachstum ermöglicht hat. Zwar ist es unbestritten, dass der Gebrauch des Geldes als Universaltauschmittel diesen Fortschritt mit-ermöglicht hat, denn ohne dieses Mittel wären alle Errungenschaften mehr oder weniger nur in der betroffenen Region verfügbar geblieben, doch die Wirkung des Zinses auf das Wirtschaftswachstum ist dem Einfluss der Energie untergeordnet. Mit dem vorliegenden Aufsatz möchte ich auf die hohe Bedeutung der Energie vor derjenigen des Zinses aufmerksam machen.

 


Ohne technische Energie kein Fortschritt

Beim technischen Fortschritt ist das Wesentliche der Einsatz und der Verbrauch technischer Energie. Ohne Wasserkraft, Kohle und Erdöl und ohne die Erfindungen zu ihrer Nutzung wäre es unmöglich gewesen, die menschliche Arbeitsproduktivität so sehr zu vervielfachen, wie es heute bekannt ist. Jeder Mensch hätte nach wie vor nur seine Muskelkraft für die Arbeit zur Verfügung, und allenfalls tierische Arbeitskraft könnte eingesetzt werden, um die Notwendigkeit des „Brotessens im Schweiße des Angesichts“ ein bisschen von uns wegzuschieben.

Stellen wir uns eine Welt ohne Nutzung technischer Energie vor. Wir würden alles von Hand erzeugen; Maschinen gäbe es nicht. Die allermeisten Reisen müssten wir zu Fuß machen. Für wenige nur stünden Ross und Wagen zur Verfügung. Wir würden uns von den Erzeugnissen unserer Äcker im nahen Umkreis ernähren und nicht im Frühling Trauben aus Südafrika essen, die mit dem Flugzeug eingeflogen werden. Ja, wir hätten gar keine Flugzeuge, keine Eisenbahnen, keine Autos, keine Computer, kein elektrisches Licht, keine Großwettervorhersage, keine Hochhäuser, keine Apparatemedizin, aber auch keine Umweltverschmutzung und keine Klimaprobleme. Wahrscheinlich gäbe es auch nicht die riesige und rasant zunehmende Weltbevölkerung.

Aus Bauern werden Ingenieure

Im Mittelalter arbeitete etwa 95 % der Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft; der kleine Rest waren Handwerker, Beamte, Fürsten, Geistliche, Klosterleute und Soldaten. Heute ist das Verhältnis in unseren hochindustrialisierten Ländern gerade umgekehrt: 5 % oder noch weniger arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft, und 95 % verteilen sich auf die riesige Vielfalt anderer Tätigkeiten. Die meisten Bauern und Waldarbeiter von damals sind aufgrund des Einsatzes von Maschinen und Chemie überflüssig geworden. Aber sie sind nicht untätig geblieben. Die uns zur Verfügung stehende menschliche Energie will, einer natürlichen Veranlagung zufolge, eingesetzt werden. So sind aus diesen Menschen, sofern sie Männer waren, Wissenschaftler, Erfinder, Ingenieure und Konstrukteure geworden, die ihrerseits Maschinen und Verfahren entwickelt haben, durch welche wiederum Menschen aus ihrer traditionellen Arbeit überflüssig geworden sind. Das nennen wir „Fortschritt“.

Der Zuwachs an Kraftgefühl, den der Gebrauch technischer Energie uns Menschen erleben lässt, hat es unserem männlichen Geist erlaubt zu meinen, alles sei machbar, wenn wir nur genügend Intelligenz einsetzten. Ein Allmachtsgefühl ist während Generationen entstanden, und wir glauben uns fast an der Stelle des Schöpfers.

Kein Wachstum ohne zunehmenden Energieverbrauch

Nun aber verbrauchen die Maschinen technische Energie. Der Verbrauch an technischer Energie nimmt sehr genau in gleichem Maße zu, wie das Bruttosozialprodukt wächst. Zwischen 1950 und 1977 sind beide in Westeuropa ganz parallel zueinander auf das 3,1-fache gewachsen (Technische Rundschau Bern, 27/1979). Aber nicht weil das Bruttosozialprodukt wächst, nimmt der Energieverbrauch zu, sondern umgekehrt: Nur weil wir mithilfe technischer Energie unsere Arbeitsproduktivität erhöhen können, steigt das Bruttosozialprodukt und kann es überhaupt erst steigen.

Der Einsatz technischer Energie setzt zwar Maschinen voraus, aber

n   er erlaubt billigeres Produzieren und dadurch die bei uns allen sehr willkommene Hebung des materiellen Lebensstandards, doch verbunden mit dem Vernichten handwerklicher Produktion und auf Kosten der Natur – billig ist Trumpf;

n   er verbilligt die Transporte und macht dadurch Welthandel erschwinglich – man kann ihn sich leisten;

n   er leistet schließlich dem Entstehen immer größerer Produktionsanlagen Vorschub und führt, noch vor dem Zins, zu weltweiten Monopolen – Monopole arbeiten billiger!

Ich verkenne nicht, dass bei dieser Entwicklung die zinsbedingte Konzentration von Eigentum eine wirksame Unterstützung leistet, doch könnte diese Konzentration ohne laufende Produktionsverbilligung aufgrund des wachsenden Energieeinsatzes nicht zur Auflösung kleinmaschiger, nachbarschaftlicher Produktions- und Lebensstrukturen führen.

Das ständige Wirtschaftswachstum wird so lange andauern, wie der Einsatz technischer Energie billiger ist als der Einsatz menschlicher Arbeitskraft. Bisher hat es sich noch immer gelohnt, menschliche Arbeitskraft in die Gewinnung von technischer Energie und deren Nutzung durch Maschinen zu stecken, anstatt die letztlich eigentlich notwendige Arbeit von Hand zu leisten: Nahrung, Kleidung und Unterkunft herzustellen.

Zins macht kein Wachstum!

So ist also das Geld weder Ursache noch Voraussetzung für Wirtschafts­wachstum und Fortschritt. Auch ein noch so raffiniertes Geldwesen hätte die technischen Errungenschaften unserer Zivilisation nicht zustandegebracht. Ursache und Voraussetzung dafür ist vielmehr einzig und allein das Wissen darum, wie der Einsatz technischer Energie uns die Arbeit, das Leben erleichtern kann. Hingegen ermöglicht es das Geld, Sklaverei auf raffiniertere Art zu betreiben als in Urzeiten, wo Menschen von Besitzenden und Raffinierten ausgenützt wurden. Die magische Kraft, welche die Begehrtheit des Geldes auf uns aus­übt, ist nicht auf das Wirtschaftswachstum gerichtet, sondern auf die versteckte und versteckbare Ausbeutung von Menschen durch Menschen über den Zins. Aber der Zins macht nicht das Wachstum! Unabhängig vom Geld ist es die magische Kraft technischer Energie und des Wissens um ihre Nutzung, die das Wirtschaftswachstum erlaubt und ermöglicht.

Der Gedanke, der Zins sei schuld am Wirtschaftswachstum, ist wie eine fixe Idee in den meisten Köpfen von uns Freiwirtschaftlern festgefahren. Weil uns die fast wunderbare Erkenntnis der Mängel des Geld- und Bodenrechts nicht mehr loslässt, entgeht uns leicht das Übrige. Und dies ist hier die ganz realwirtschaftliche und technische Frage des Verhältnisses zwischen menschlicher Arbeitskraft und technischer Energie.

Nur indirekt wirkt das Geldwesen auf das Wirtschaftswachstum. Die Zinslast hat zur Folge, dass die Möglichkeiten zum Wirtschaftswachstum bis zur Erschöpfung ausgereizt werden. Und je stärker die Zinslast zunimmt, umso extremer wird dieser Druck. Ohne die Zinslast würde die Wirtschaft um vieles langsamer wachsen, aber wachsen würde sie trotzdem, eben weil der Einsatz technischer Energie deutlich billiger ist als menschliche Arbeitskraft.

Ungestilltes Verlangen nach Wachstum

Eine Änderung des Geldsystems in freiwirtschaftlichem Sinn kann also „nur“ die Ausbeutung von Menschen abbauen und damit eine Linderung sozialer Probleme bewirken. Sie könnte unsere Welt gerechter machen. Die technische Misere aber, die sich in Umwelt und Gesundheit äußert, ist damit nicht zu beseitigen. Dazu ist eine Umstellung notwendig in einem Ausmaß, das ich mir selber nur mit Beklemmung vorzustellen wage.

Diese Beklemmung beruht auf der erforderlichen Umpolung unseres Denkens. Wie soll die Menschheit von der Wucht ihres Verlangens abkommen, westlichen Lebensstandard nicht nur einzuführen, sondern auch zu erleben? Ich halte es für möglich, dass hierbei ein unbewusstes Erfordernis im Spiel ist, nämlich eine Erfahrung zu machen, die gemacht werden muss, wenn sie überlebt werden will. Und wie können wir im Westen von unserem liebgewordenen Lebensstandard ablassen? Beides braucht Generationen.

Neue Arbeitsstruktur ist gefragt

Das in der Wirtschaftspraxis auf uns zukommende Problem scheint mir der Umbau der Arbeitsstruktur zu sein. Wie lässt es sich bewältigen, dass es auch ohne Wirtschaftswachstum keine Arbeitslosen gibt? Im Ernst sehe ich langfristig nur die Einschränkung maschineller Arbeit und die Rückkehr zu menschlicher Arbeit. Dies würde im wesentlichen das Beenden der üblichen Entwicklung ständig neuer Produkte voraussetzen. Aber was wird aus all den Ingenieuren, Konstrukteuren und Managern, wenn sie nicht mehr auf ihrem Beruf tätig sein können? Gerade dies ergäbe noch mehr Arbeitslose. Auch ich selbst als Ingenieur und technischer Redakteur lebe vom Wirtschaftswachstum! Ohne jegliches Wirtschaftswachstum hätten wir nach meiner Schätzung etwa 20 % Arbeitslose. Das hält kein Land aus – so viele untätige Menschen. Die müssen Arbeit haben, nicht nur wegen ihres Lebensunterhalts, sondern genauso vordringlich, um sowohl schwere seelische Probleme bei den Betroffenen und ihren Angehörigen wie auch politische Unruhen zu vermeiden. Es ist bekannt, dass das Riesenheer von Arbeitslosen in Deutschland Hitler zur Macht verholfen hat, weil er ihnen Arbeit und Brot versprach.

Wer weiß eine Lösung? Langfristige Visionen, Szenarien und Realisierungskonzepte sind gefragt, eine Aufgabe beispielsweise für den „Club of Rome“, jene Wissenschaftlergruppe, die schon vor 20 Jahren über das „Ende des Wachstums“ schockierende Erkenntnisse veröffentlicht hat.

Wie eine Gesellschaft ohne Maschinentechnik, Energieverbrauch und Umweltverschmutzung aussieht, wird im Buch „Traumfänger“ von Marlo Morgan deutlich. Sie hat darin ihre umwerfenden Erlebnisse mit australischen Ureinwohnern beschrieben. Diese unterhalten sich zum Beispiel stimmlos durch Gedankensenden und ‑lesen; sie brauchen kein Telefon.

Rückkehr zur Handarbeit

Soll das krebsartige Wirtschaftswachstum gestoppt werden, weil unser und der Natur Überleben davon abhängen, so muss der Energieverbrauch massiv eingeschränkt werden. Er ist zu diesem Zweck künstlich zu verteuern und kräftig zu besteuern. Eine Energieverbrauchssteuer könnte weitgehend an die Stelle anderer Steuern treten, so dass die Gesamtsteuerlast nicht höher sein muss als bisher, jedoch so ausgestaltet, dass menschliche Arbeit sich neben Maschinenarbeit wieder behaupten kann. Damit kann auch das Arbeitslosenproblem langfristig gelöst werden, ohne dass immer neue Wachstumsschübe erforderlich sind.

Wenn der Einsatz technischer Energie dereinst automatisch wieder teurer wird als Handarbeit, weil Kohle, Erdöl und Erdgas ausgehen und die Anwendung von Atomenergie zu gefährlich ist, dann ist auch von außen her der Zwang zum Arbeiten von Hand wieder gekommen. Wird das schon im nächsten Jahrhundert sein? Oder sieht die Zukunft ganz anders aus? Wird die Erde Katastrophe um Katastrophe produzieren, so dass schon allein das menschliche Leben in weiten Teilen der Erde ausgelöscht werden wird? Oder wird ein Teil der Menschheit an AIDS oder Pest aussterben oder sonst so sehr dahinsiechen, dass das Aufrechterhalten unserer technischen Zivilisation einfach nicht mehr möglich ist, weil die extremen Spezialkenntnisse verlorengehen?

Evolution des Bewusstseins

Unser Geldsystem ist Ausdruck unseres Denkens. Es kann vermutlich erst dann grundlegend und dauerhaft geändert werden, wenn das allgemeine Bewusstsein vom Konkurrenz- und Ausbeutungsdenken wegkommt. Ohne Umdenken und neue Erfahrungen würde sich ein erneuertes Geldwesen nicht allzulange halten können, weil die Gegenkräfte stärker wären oder weil das Verständnis seiner Notwendigkeit nicht bei den Stärksten vorhanden wäre, die es verteidigen könnten.

Es hat schon immer Idealisten gegeben, die eine bessere Welt erdachten. Zum Beispiel hat der griechische Philosoph Plato einen Weisen auf dem Königsthron als Ideal gesehen. Doch die Unerzogenen und Rücksichtslosen unter uns Menschen haben ihre Ellbogengewalt und ihren Kopf immer wieder dazu benutzt, andere zu unterdrücken oder den Intelligenteren ihre Errungenschaften zu rauben, zu „privatisieren“. Die Rücksichtslosen finden die Schlupflöcher in unseren Gesetzen schneller, als die gutwilligen und an das Gute glaubenden Idealisten sie wieder schließen können. Und Rücksichtslose wachsen anscheinend immer wieder nach. Auch hat der Psychologe Alexander Maslow eine Bedürfnisrangfolge beschrieben, wonach die körperlichen Überlebensbedürfnisse wichtiger sind als die ideellen. Bei extremer materieller Not gehen demnach die Ideale mit der Zeit „baden“. Wenn dies nicht eintreten soll, dann muss eine menschliche Gesellschaft immer dafür sorgen, dass niemand in solch extreme Not gerät. Welch hohe Anforderung!

Neuorientierung des Lebenszwecks

Voraussetzung zu beidem, sowohl der Verbesserung des Geldwesens wie auch der Änderung unserer technischen Zivilisation, liegt meines Erachtens in einer grundlegenden Neuorientierung unseres Lebenszwecks. Der Lebenszweck darf nicht mehr im Anhäufen von materiellen Gütern bestehen, sondern muss sich der Ausweitung unseres Bewusstseins in Richtung Ganzheit zuwenden. Dabei müssen menschliche Qualitäten wie Fürsorge, Mitgefühl, Nächstenliebe und Verzeihen in den Vordergrund rücken und nicht mehr Kampf, Gewalt, Konkurrenz und tödlicher Wettstreit als Leitmotive kultiviert werden. Es ist die Hinwendung zum qualitativ Weiblichen und zu dem, was religiös als Vertrauen in Gott bezeichnet wird. Das Erfahren und Ernstnehmen unserer Gefühlsbedürfnisse, das Erkennen der Ganzheitlichkeit allen Lebens und das Bewusstwerden menschlicher Gleichheit auf einer tieferen Ebene müssen zum Inhalt unserer Ausbildung werden.

In diese Entwicklung sind wir in den letzten Jahrzehnten bereits eingetreten. Beweis dafür ist ein wachsendes Interesse an spiritueller Schulung und Praxis und am Kennenlernen bisher fremder Religionen, ungeachtet aller Misstöne, die es in diesem Bereich ebenfalls gibt. Die Misstöne sind Ausdruck unserer allgemeinen, menschlichen Unvollkommenheit, die ja gerade seit Menschengedenken Thema religiöser Unterweisung ist. Tiefenpsychologie auf der einen Seite und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse auf der anderen (z. B. die Entdeckung eines kosmischen Universalgedächtnisses durch den Physiker Rupert Shel­drake) tragen zu dieser Bewegung bei. So bin ich also letzten Endes doch zuversichtlich.

Eberhard Knöller, Bern