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Attac: Zur Theorie Silvio Gesells

 


 

 

Michael Hönnig im Juni 2006:

Stellungnahme zu   Zur Theorie Silvio Gesells
(von Jörg Herrmann und Benedikt Rubbel)

Ich möchte in dieser Stellungnahme zunächst auf Punkte eingehen, die dem Eindruck erwecken, Gesell sei Anhänger von rechtsextremem Gedankengut gewesen, habe dieses direkt oder indirekt unterstützt oder heutige Vertreter freiwirtschaftlicher Geld- und Bodenreform-Ansätze unterstützten dies. Darüber hinaus sind auch etliche volkswirtschaftliche Kritikpunkte an Gesells Lehre im Originaltext enthalten, die aus den unten genannten Gründen nicht haltbar sind.

1. Abschaffung des Zinses - falsch

Gleich im zweiten Absatz behaupten die Autoren Jörg Herrmann und Benedikt Rubbel, es drehe sich bei der Lehre von Silvio Gesell um „die Abschaffung des Zinses“. Diese Aussage ist falsch.

Tatsächlich sieht Gesell den Zins sehr differenziert bestehend aus Risikoprämie, Vermittlungs- und Verwaltungsgebühr, Inflationsausgleich und Realzins. Nach Gesell ergibt sich der Realzins entsprechend Angebot und Nachfrage, er fällt aber auch trotz Kapital-Überangebot nie unter den so genannten Urzins. Dieser Bestandteil, der ungeachtet der Marktlage, insbesondere ungeachtet fallender Realkapitalrenditen, immer positiv ist, wird von Gesell kritisiert.

Da das gesellsche Freigeld kaufkraftstabil gehalten werden kann, ohne die Wirtschaft zu gefährden, wie es beim heutigen Geld der Fall ist, entfällt allerdings auch der Inflationsausgleich. Und da die Wirtschaft stabilisiert wird, sinken auch die Risikoprämien. Der Zins wird in der Freiwirtschaft also noch mehr als um den o.g. Urzins fallen. Von Abschaffung des Zinses kann aber keine Rede sein.

2. strukturell antisemitisch - falsch

Die Autoren verknüpfen die o.g. unzutreffende Behauptung über Gesell mit Propaganda der Nazis: Eine solche Wirtschaftstheorie ist strukturell antisemitisch, denn es ist nur noch ein kleiner Schritt von der Konstatierung der Macht des Geldes bis hin zur Identifizierung und Diffarmierung einer „jüdischen Clique von internationalen Bankiers“.

Ein solcher Schluss wäre in der Tat antisemitisch. Silvio Gesell macht diesen Schritt jedoch nicht! Im Gegenteil, er identifiziert das (Geld- und Boden-) System als Ursache dafür, das Wirtschaftskrisen sich immer wieder selbst verstärken und damit zur Suche nach „Schuldigen“ führen, die in der Geschichte dann oft die Juden waren. Gesell weist sogar in seinem Werken auf diesen Umstand hin: „himmelschreiende Ungerechtigkeit gegen das jüdische Volk“.

3. keine Streiks und Gewerkschaften – falsch

Die Autoren behaupten: Weitere Sicherheitsmaßnahmen für ArbeitnehmerInnen wie Streiks und Gewerkschaften sind bei Gesell nicht vorgesehen.

Gesell zeigt vielmehr auf, dass Streiks das Problem gar nicht an der Wurzel packen. Er ist in seiner Grundeinstellung libertär und macht gar keine Aussage darüber, ob Streiks sinnvoll sind, nachdem es an der Wurzel gepackt wurde, stellt sich also gar nicht gegen Streiks und Gewerkschaften an sich. Das Wort „Gewerkschaften“ kommt in seinem Hauptwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung“ nicht einmal vor.

4. Wirtschaftskrisen könnten nicht verhindert werden – falsch

Herrmann und Rubbel behaupten, Wirtschaftskrisen könnten nicht verhindert werden, da sie nicht am Fehlen von Zahlungsmitteln sondern in der regelmäßigen Überproduktion von Gütern lägen. Geldmangel und Überproduktion sind aber zwei Seiten derselben Medaille - wenn Geld fehlt, erscheint dies als Überproduktion, was sehr wohl ungestillter Bedarf ist!

Kann aber ein Zu-Viel an produzierten Gütern – mal abgesehen von Umweltschutzfragen - schädlich für die Menschen sein? Wieso verhungerten unter solchen Umständen um 1930 zehntausende von Menschen, wo doch sogar zu viel Güter vorhanden waren? Der wirkliche Grund für die Krise ist nicht die Überproduktion selbst, sondern die zu geringe Sachkapitalrendite. Sie reicht nicht mehr aus, um die Geldzinsforderungen zu begleichen, deshalb gingen massenhaft Firmen pleite. Geld war selbstverständlich genügend da, aber systembedingt konzentriert in den Händen weniger.

Das heutige Geldsystem verstärkt also Schwankungen in der Wirtschaft, statt diesen ausgleichend entgegen zu wirken, wie es in dem von Silvio Gesell entworfene System der Fall wäre.

5. Arbeitslosigkeit könne nicht verhindert werden – falsch

Die Autoren behaupten, Arbeitslosigkeit könne nicht verhindert werden, da die technische Entwicklung immer mehr menschliche Arbeit ersetzt. Das ist richtig und im Marxismus wie in der Freiwirtschaft erwünscht. Die Autoren erkennen auch völlig richtig, dass eine Freiwirtschaft diesen Prozess sogar beschleunigen würde.

Leider sehen die Autoren hier nicht den Unterschied zwischen "Arbeitslosigkeit" und "Erwerbslosigkeit".Gesell bietet mit seinem Vorschlag zur Abschöpfung und Verteilung der Bodenrente eine Vorgehensweise, die klar Erwerbslosigkeit bremst und Freiräume von Arbeit eröffnet.

6. Eine ökologische Krise könne nicht verhindert werden – falsch

Desweiteren behaupten die Autoren, dass auch bei Abschaffung des Zinses immer noch andere Anlagefelder als ausgerechnete ökologische für das Kapital attraktiv sein könnten.

Bereits mit dem Vorschlag der Bodenpacht hat Gesell ein Instrument gezeigt, das nachhaltiges Wirtschaften begünstigt. Moderne Weiterentwicklungen seiner Ideen sind Steuern auf Ressourcennutzung,. Solche Steuern entfalten Lenkungswirkung hin zu Ressoucen-schonendem Verbrauch. Die Rückverteilung pro Kopf garantiert soziale Gerechtigkeit.

Im Kapitalismus würde dies allerdings nicht funktionieren, da spätestens beim Fallen der Sachkapitalrenditen unter den Urzins (ca. 1% bis 2%) der Druck an die Politik überhand nimmt, umweltschonende Gesetzgebung zugunsten von Wirtschaftswachstum zu opfern.

7. Gesell verkenne die Funktion von Kredit – falsch

In der zweiten Hälfte von Punkt 4 behaupten die Autoren, Silvio Gesell würde die Funktionen von Kredit verkennen. Hierfür geben die Autoren allerdings keinerlei Quelle an, so dass ich nur mutmaßen kann, wie sie darauf kommen.

Ein sonst häufig in diesem Kontext genanntes Argument ist, in der Freiwirtschaft gäbe es kein ausreichendes Kapital mehr, um große Investitionen zu finanzieren. Dem ist entgegen zu halten, dass für jegliche Produktion immer nur Boden (Natur) und menschliche Arbeitskraft benötigt wird. Ich jedenfalls habe Geld noch nie arbeiten sehen; immer arbeiten Menschen dafür oder es wird Boden dafür gekauft – oder etwas das aus Boden(-schätzen) und menschlicher Arbeit produziert wurde. Auch gibt es heute nicht netto mehr Geldvermögen als es in einer Freiwirtschaft gibt, da heute jedem Geldvermögen auch Schulden in gleicher Höhe gegenüberstehen. Und eine Maschine produziert genauso gut, egal ob sie (als Sachkapital) einem Unternehmer gehört und die 150 Arbeiter ohne Vermögen sind, oder ob diese allen 150 Arbeitern und einem Manager gemeinsam gehört.

Nicht Gesell also verkennt die Funktion von Kredit, sondern die Autoren sind sich offenbar gar nicht darüber im Klaren, was Geld und sonstige Geldvermögen eigentlich sind.

8. Freiwirtschaft sei Kapitalismus – falsch

Ebenfalls in Punkt 4 behaupten die Autoren implizit, bei der Freiwirtschaft handele es sich immer noch um Kapitalismus. Wie kann man ernsthaft eine Wirtschaftsform, in der weder Sach- noch Geldkapital dauerhaft Rendite trägt, als Kapitalismus bezeichnen? Machen wir uns doch klar, was Kapital überhaupt bedeutet: „Rendite-tragendes Eigenum“. Zwar wird das Privateigentum an den Produktionsmitteln (außer am Boden) in der Freiwirtschaft nicht abgeschafft, zwar handelt es sich von der Grundform um eine Marktwirtschaft, aber Eigentum trägt keine dauerhafte Rendite mehr! D.h. es gibt in der Freiwirtschaft gar kein Kapital im herkömmlichen Sinne mehr.

Marktwirtschaft und Kapitalismus oder gar freie Markwirtschaft und Kapitalismus sind eben nicht identisch. Es bestehen sogar ernsthafte Zweifel, ob Kapitalismus überhaupt noch eine freie Marktwirtschaft ist, da die Freiheit angesichts der Kapitalmacht doch recht stark leidet.

9. Freigeld treffe vor allem Geringverdiener – falsch

Im letzten Absatz von Punkt 4 wird behauptet, dass die jährliche Entwertung des Geldes Geringverdiener besonders treffe, weil sie einen größeren Teil ihres Einkommens für die Lebenshaltung ausgeben müssen. Sie wirke somit wie eine progressive Steuer. Personen mit hohem Verdienst dahin gegen könnten einen großen Teil ihres Geldes in Sachwerten oder langfristigen Sparformen anlegen, die nicht vom Geldschwund betroffen seien.

Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht falsch:

Wer sein ganzes Einkommen verkonsumiert, der wird von der Gebühr auf Geld gar nicht betroffen sein, wo nichts ist, ist nichts zu versteuern. Im Gegenteil, wer große Teile seines Einkommens weder verkonsumiert noch anlegt, wird die meisten Gebühren zahlen.

In modernen Gesellschaften wie heute wird auch kaum jemand in Bargeld sparen, sondern in Sparverträgen, die als langfristige Anlagen gar nicht von der Gebühr betroffen wären.

Warum beklagen sich die Autoren, dass in der Freiwirtschaft 25 Euro/Jahr an Gebühren auf die ca. 500 Euro liquidien Mittel eines Normalbürgers zu zahlen wären, ignorieren aber die ca. 2200 Euro Zinsen, die heute in den Konsumpreisen enthalten sind? Beschweren sich die Autoren wirklich, dass Normalbürger und Gerinverdiener um über 2000 Euro/Jahr ENTlastet werden? Davon abgesehen, die 25 Euro gehen zu 100% an die Gemeinschaft, die 2200 Euro Zinsen zum Großteil an Menschen, die eh schon mehr Geld haben als sie jemals verkonsumieren werden.

10. Silvio Gesell ist Sozialdarwinist – irrelevant

Silvio Gesell hat in der Tat sozialdarwinistische Äußerungen gemacht. Diese müssen aber auch im Kontext und der Sprache seiner Zeit gesehen werden, was andererseits keine Entschuldigung sein soll. Irrelevant sind diese Aussagen im Bezug auf seine Wirtschaftstheorie allerdings schon, da die Freiwirtschaft diese seine Ziele nicht unterstützen würde.

Gerade in einer technisch hoch entwickelten Freiwirtschaft würde nämlich die verteilte Bodenrente jedem Menschen ein bequemes Leben in Freiheit und damit auch die Möglichkeit der Reproduktion bieten.

Wenn man es als sozialdarwinistisch ansieht, wenn schaffenskräftige Menschen aus mittellosen Familien in der Freiwirtschaft eine gute Chance auf Karriere haben, während sie im Kapitalismus aber kaum eine solche haben, dann liegt hier vielleicht eine kleine Ausnahme vom vorhergesagten. Aber wer wollte gleiche Chancen, unabhängig von der Herkunft, ernsthaft schlecht finden?

Somit entbehrt auch die von den Autoren zitierte Befürchtung von Robert Kurz, die eugenischen Tendenzen in der gesellschen Theorie könnten zu einem Revival des Sozialdarwinismus führen, welche die Autoren in der Mitte von Punkt 5 erwähnen, jeglicher Grundlage. Selbst wenn Gesell sich solche Gedanken gemacht haben sollte, sind sie von seiner Theorie gar nicht unterstützt. Die Gefahr, dass Hochzucht heute von Freiwirten mit Gentechnologie gemacht würde, ist auch ein Gespenst, da die meisten mir bekannten Freiwirte – und ich kenne viele – Gegner von Gentechnik sind. Mit der freiwirtschaftlichen Theorie hat aber auch dies wenig zu tun.

11. In Gesells Theorie wären keine sozialsicherungs Systeme vorgesehen – falsch

Am Ende von Punkt 5 behaupten die Autoren, in Gesells Theorie seien keine Systeme der sozialen Sicherung vorgesehen. Tatsächlich war Gesell mit seiner Mutterrente ein Vordenker sozialer Sicherungssysteme, denn im Gegensatz zu vielen anderen dachte er auch über die Finanzierung eine solchen Systems nach.

Moderne Freiwirte sehen die Verwendung der Bodenrenten allerdings nicht mehr auf Mütter beschränkt, sondern als unbedingtes Grundeinkommen für die gesamte Bevölkerung. Auch weitere soziale Sicherungssysteme stehen in keinerlei Konflikt zur Freiwirtschaft. Gesell behandelt auch nicht das Tanzen in der Freiwirtschaft, und doch wird niemand behaupten, dass es in der Freiwirtschaft deshalb keinen Tanz mehr gäbe.

12. Tauschringe seien Freiwirtschaft – falsch und irrelevant

In Punkt 6 behaupten die Autoren implizit, dass Tauschringe nur Mangelverwaltung wären und es ein Fehler wäre, solche Strukturen zu idealisieren. Dem mag man zustimmen oder nicht, denn Tauschringe sind auch Sozialbeziehungen und keinesfalls nur wirtschaftlicher Austausch im Mangel. Viel wichtiger ist aber, dass Tauschringe so gut wie nichts mit Freiwirtschaft, schon gar nicht der Gesellschen Ausprägung zu tun haben.

Zwar mögen viele Tauschringe eine Gebühr auf Liquidität erheben, wie die Freiwirtschaft. Aber wird Marxismus nur dadurch zur Freiwirtschaft, oder andersherum, weil beide die Vergemeinschaftung des Bodens fordern?

13. Alternativen – längst aufgegriffen

In Punkt 7 stellen die Autoren Forderungen auf, die ihrer Meinung nach wirkliche Alternativen zum derzeitigen Wirtschaftssystem wären.

Z:B. die Abschaffung des Wettbewerbs wird gefordert. Bezüglich des Wettbewerbs zwischen Unternehmen ignorieren die Autoren dabei dessen Überlegenheit über die Planwirtschaft. Und bezüglich des Wettbewerbs zwischen Arbeitnehmern ignorieren sie, dass es diesen in einer Freiwirtschaft praktisch nicht mehr geben wird, da mit der an die Bevölkerung ausgeschütteten Bodenrente in einer hochtechnisierten Gesellschaft die Unternehmen schon um die Arbeitnehmer werben werden müssen.

Z.B. das von den Autoren geforderte bedingungslose Grundeinkommen war in seinen Ansätzen schon bei Silvio Gesell vor fast 100 Jahren vorhanden, wenn auch damals nur für Mütter. Heutige Freiwirte sehen die Verwendung der Bodenrenten in genau dem geforderten bedingungslosen Grundeinkommen für die gesamte Bevölkerung.

Auch eine Kulturflatrate, wie von den Autoren vorgeschlagen, steht in keinerlei Konflikt zu Silvio Gesells Ideen. Im Gegenteil, sie kommt den Ideen moderner Freiwirte zum Thema „geistiges Eigentum“ sogar recht nahe.

Am Ende von Punkt 7 zeigen die Autoren das Problem auf, dass ein Problem bei den o.g. Konzepten noch nicht gelöst wäre, nämlich wie eine stärkere gesellschaftliche Beteiligung am Wirtschaftssystem zu erreichen wäre, ohne eine hierarchische Kommandowirtschaft einzuführen. Wo jetzt einige Missverständnisse aufgeklärt sind, ist vielleicht ist an diesen Stellen eine Annäherung an die modernen Versionen der Freiwirtschaft, die sich Fairconomy und Humanwirtschaft nennen, möglich!

Schlussbetrachtung

Alles in allem e nthält der Text etliche Falschaussagen über Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre. Dabei wurden in dieser Stellungnahme noch nicht einmal alle dieser Fehler aufgezählt - dafür waren es einfach zu viele. Einige Fehler mögen ihre Ursache in gefährlichem Halbwissen über die Freiwirtschaftslehre haben, andere darin, dass für aktuelle Entwicklungen, die zu Zeiten von Silvio Gesell noch nicht absehbar waren, davon ausgegangen wurde, dass die Freiwirtschaft sich hier nicht weiter entwickelt hätte.

Das größte Missverständnis aber scheint mir daher zu rühren, dass die Autoren vielleicht den Eindruck haben, die Freiwirte glaubten daran, ein Allheilmittel zu haben, mit dem jegliche weitere politische Entscheidung obsolet würde. Silvio Gesell mag im Angesicht seiner bahnbrechenden Entdeckung solche Gedanken gehabt haben, modernen Freiwirte aber ist durchaus klar, dass die Freiwirtschaft kein Allheilmittel ist, sondern in erster Linie eine gute Basis, der Politik (i.w.S.) überhaupt den nötigen Handlungsspielraum zu geben.