Die "Natürliche Wirtschafts-Ordnung" ist das Standardwerk
der Freiwirtschafts-
lehre. Mit diesem Werk hat ein neuer Trieb am Baum der wirtschaftswissenschaftlichen
Forschung ausgeschlagen; ein eigenartiger Trieb, der sich aus
den bis jetzt bestehen-
den Lehrmeinungen sowohl Bestätigungen wie auch den Widerspruch
holt und somit
weder mit den Lehren des klassischen Wirtschaftsliberalismus eines
Adam Smith,
noch mit den dagegenstehenden Theorien des "Wissenschaftlichen
Sozialismus" eines
Karl Marx zusammenwachsen kann.
Es gibt für die Freiwirtschaftslehre, die als Wissenschaft
in der Tat zwischen diesen
beiden Zweigen wirtschaftstheoretischer Vorstellungen angesetzt
hat, nur eine Möglich-
keit: kompromißlos und dem Widerspruch von beiden Seiten
trotzend das zu ent-
falten, was in ihr steckt. Es ist unerhört bedeutungsvoll,
was hierbei zutage treten
kann, denn die Fragen, um die es geht, haben zwar einige Generationen
hindurch
die Gelehrten beschäftigt - heute aber stehen sie im Vordergrund
unseres Lebens
und an ihrer Lösung hängt mehr, als sich in Worte fassen
läßt. -
Es mag nicht in allen Fällen angebracht sein, das, was bewiesen
und aufgezeigt werden
soll, schon gleich vorauszuschicken. Aber hier ist es eine Notwendigkeit,
oder min-
destens dem Verständnis der Sache dienlich, diesem vielleicht
gewichtigsten Werk
unseres Jahrhunderts die richtige Einstellung des Lesers zu erwirken.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, darf wohl vorher darauf aufmerksam
gemacht
werden, was er erwarten kann; aber er muß auch wissen, was
er nicht erwarten darf.
Er darf erwarten, daß er in bezug auf die Erkenntnis und
Darlegung ökonomischer
Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten eine Lehre
von vollendeter Schlüssigkeit und
ungeheuerlicher praktischer Bedeutung für das soziale Leben
kennenlernen wird. Doch
er darf nicht erwarten, daß ihm die Wahrheit, die wissenschaftliche
wirtschaftstheo-
retische Erkenntnis zu jeder Sonderfrage und jedem Unterthema
schon in diesem Buch
in ausgeschliffener wissenschaftlicher Form unterbreitet wird.
Der Verfasser dieses Werkes war kein Fachgelehrter, sondern er
war einer jener be-
gnadeten Menschen, die es in der Geschichte des menschlichen Fortschritts,
der Erfin-
dungen und Entdeckungen schon häufig gegeben hat, die, auf
einem anderen Standort
stehend als die Zünftigen, von ihrem Blickfeld aus plötzlich
überraschende Einsichten
in ein Problem und in die Möglichkeiten seiner Lösung
bekommen. Dies ist es, was dem
Begründer der Freiwirtschaftslehre widerfahren ist, ohne
daß er mit der Absicht auf
derartige Entdeckungen ausgezogen war. Aber in solcher Lage ohne
jede fachliche Vor-
bildung die Bedeutung der Sache zu erkennen, zu sehen, worauf
es ankommt, aufzu-
spüren, wie die untergründige Gesetzmäßigkeit
verläuft, und zu entdecken, wo die
Ansätze zu ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten liegen,
das ist noch immer und alle-
zeit das Kennzeichen wahrhafter Genialität gewesen. Und das
bleibt es auch dann,
wenn die Wiedergabe der neuen Erkenntnisse formlos und unbändig
wie ein wilder
Sturzbach, aber mit der ganzen Gewalt eines großen Anspruchs
in die geheiligten
Gefilde der wissenschaftlichen Forschung einbricht und einige
säuberlich aufgestellte
Regeln und Figuren umwirft. - Mit dem Genie über Formen zu
rechten, das ist naiv
und anmaßend zugleich.
Dennoch wollen wir keinesfalls verkennen, daß auch die
Darstellung der Freiwirt-
schaftslehre in methodisch-wissenschaftlicher Aufgliederung eine
Notwendigkeit ist.
Viele Einzelfragen, die zunächst einmal nur in den Grundzügen
beantwortet sind, er-
fordern eine sorgfältige spezielle Behandlung. Ferner ist
es sehr wesentlich, die Ver-
bindungslinien von der neuen Lehre in allen ihren Einzelfragen
zu den früheren An-
sätzen gleichartiger Erkenntnisse zu ziehen. Erst diese methodische
Kleinarbeit, die
noch nicht getan ist, wird einmal aufzeigen können, wie sehr
die Freiwirtschaftslehre
nach unzähligen Ansätzen zum Richtigen den endlich gelungenen
Durchbruch zur voll-
endeten Klarheit bedeutet.
Silvio Gesell wußte, daß die Arbeit der Wissenschaft
für seine Lehre wichtig ist.
Schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen sprach er
die Hoffnung aus, daß sich
jemand finden möge, der seine Lehre in die Formen wissenschaftlicher
Darstellung
übertragen kann (siehe "Nervus Rerum", Buenos Aires
1891, S. 84). Bis heute liegt aber
noch keine diesen Anforderungen genügende umfassende Gesamtdarstellung
vor, trotz
des bereits beachtlichen Umfangs der eigenen Literatur der Freiwirtschaftsbewegung.
Mit der Entwicklung der Verhältnisse, die in zunehmendem
Maße die Bedeutung
seiner Lehre bestätigten, hat Gesell selbst wiederholt eine
vollkommene Neubearbeitung
seines Hauptwerkes erwogen; zur Ausführung seines Vorhabens
kam er jedoch nicht
mehr. Im März 1930 nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand.
-
Nach Gesells Tod kam im Stirn-Verlag, Leipzig, die 7. Auflage
der "Natürlichen
Wirtschafts-Ordnung" heraus; diese Auflage war redigiert
von Dr. Landmann und
nach dessen frühem Tod von Hans Timm. Die 8. Auflage war
im nationalsozialistischen
Deutschland nicht mehr möglich. Sie ist in der Schweiz, im
Verlag Genossenschaft
Freiwirtschaftlicher Schriften, Bern, erschienen. Für die
vorliegende 9. Auflage, die
wieder in Deutschland erscheinen kann, ist die ehrenvolle Aufgabe
der Herausgeberschaft
von seiten des Verlages mir übertragen worden.
Ich glaube, es dürfte dem Leser für die richtige Beurteilung
dieses Werkes dienlich
sein, wenn ich kurz angebe, wie ich diese Aufgabe verstehe und
anzufassen gedenke.
Obwohl eine völlige Neubearbeitung des Werkes in der Absicht
Gesells lag, und obwohl
es klar ist, daß manche Teile in der Zwischenzeit eine Weiterentwicklung
erfahren haben, ist
es selbstverständlich nicht angängig, fremde Gedanken
und Überlegungen in die Ori-
ginalfassung des Gesellschen Werkes hineinzuarbeiten. Dieses Werk
soll für die wissen-
schaftliche Forschung das Quellenwerk, den reinen Urtext der Gesellschen
Fassung
darstellen, unbeschadet dessen, daß hier vieles erst in
den Grundgedanken zu erkennen
ist, was in der Zwischenzeit praktisch weiterentwickelt wurde.
Diese Weiterentwicklung
bezieht sich dabei nicht nur auf die speziellsten Vorschläge
Gesells, etwa auf die Technik
der Freigeld-Reform, sondern sie bezieht sich auch auf sehr wesentliche
seiner For-
derungen, die in der Zwischenzeit unabhängig von ihm von
den bedeutendsten Ver-
tretern der Nationalökonomie mit allen zu Gebote stehenden
Mitteln und Methoden
ihrer Fachwissenschaft aufgestellt und bestens fundiert wurden.
Es ist wichtig, das zu
erwähnen, denn wenn Gesell in diesem Werk z. B. etwas fordert,
das man heute mit
"Stabilität der Kaufkraft des Geldes" bezeichnet,
und wenn er die Grundsätze anrührt,
nach denen der "Preis des Geldes" ermittelt werden kann,
dann könnte ein National-
ökonom vom Fach angesichts der Arbeiten von Knut Wicksell,
von Hawtrey, von J. M.
Keynes, Irving Fisher, Cassel, Bellerbey, Albert Hahn, Grote-Mismahl
und vielen
anderen zur Frage der Indexwährung meinen, Gesell renne offene
Türen ein. - Diese
Meinung wäre aber total abwegig, denn was in diesem Buch
steht, das hat Gesell vor
einem halben Jahrhundert vertreten - als an den Universitäten
die orthodoxe Theorie
vom "inneren Wert des Goldes" herrschend war! - Hier
handelt es sich um den Urtext
seiner ersten Darlegungen in geschlossener Form, und es ist nicht
unsere Aufgabe, diesen
Urtext durch eine andere, mit wissenschaftlich-statistischen Beweisen
vollkommener
fundierte Fassung zu ersetzen. Das sind Aufgaben, die in anderen
Veröffentlichungen zur
Freiwirtschaftslehre berücksichtigt werden müssen.
Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für die Herausgabe
der neuen Auflage
dieses Werkes muß ich nun den Kenner der 7. und 8. Auflage
davon unterrichten, daß
und warum die von mir redigierte Auflage an die 6. Auflage anschließt.
Die 7. Auflage ist als erste Auflage nach dem Tode Gesells erschienen.
Wie der Heraus-
geber Dr. Landmann in seinem Vorwort (s. S. 30) erwähnt,
hat er sich auf Grund hinter-
lassener Aufzeichnungen Gesells veranlaßt gesehen, im III.
Teil mit "Kapitel 14" eine
Ergänzung zum Thema des "Bargeldlosen Verkehrs"
einzurücken. Diese - im übrigen
auch nur ein Fragment darstellende Ergänzung - ist inhaltlich
anfechtbar, sie trifft
nicht die Problematik der Sache und führt zu Widersprüchen.
Zweifellos hat der Herausgeber den Text zu dieser Ergänzung
irgendwo in Gesells
Hinterlassenschaft gefunden; es scheint ihm jedoch entgangen zu
sein, daß aus Gesells
Feder noch andere und gründlicher durchgearbeitete Darlegungen
zu diesem Thema
existieren, so daß der Autor wohl kaum die fragliche Fassung
für die Neubearbeitung
seines Hauptwerkes ausgewählt hätte. Dr. Landmann ist
im übrigen aber selbst mitten
aus seiner Arbeit heraus vom Tod überrascht worden, und so
erfolgte die Herausgabe
so, wie er sie vorbereitet hatte, jetzt auch unter der Redaktion
von Hans Timm offen-
sichtlich ohne nochmalige kritische Prüfung.
Beide Herausgeber haben übersehen, daß sich das "Kapitel
14" überhaupt nicht in
die Freiwirtschaftslehre einfügen läßt und daß
Gesell selbst schon im Jahre 1920 im
Anschluß an die im Oktoberheft der Zeitschrift "Technik
und Wissenschaft" veröffent-
lichte Kritik des Freigeldes durch Dr. Heyn eine Abhandlung geschrieben
hat, die
wissenschaftlich einwandfrei war und den ganzen Komplex des "bargeldlosen
Verkehrs"
vollkommen schlüssig in seine Lehre einordnete.
Auf diese letztgenannte Tatsache gestützt, halte ich es
für gerechtfertigt, den Fehler
der 7. und 8. Auflage zu korrigieren und dieses Kapitel, das nachweisbar
von Gesell
schon 10 Jahre zuvor überholt war, wieder aus dem Haupttext
seines Werkes zu ent-
fernen.
Für diejenigen Leser, die ein wissenschaftliches Interesse
an der Gegenüberstellung
haben, ist das erwähnte Kapitel zusammen mit den Abhandlungen
Gesells aus den
Jahren 1921 und 1923, die diesem gleichen Thema galten, im Anhang
(S. 363) der vor-
liegenden Ausgabe zu finden.
Weiterhin habe ich keinerlei textliche Veränderungen vorgenommen.
Anmerkungen
und Hinweise auf den derzeitigen Stand der Entwicklung sind ebenfalls
im Anhang zu
finden. Die Illustrationen - insbesondere des Freigeldes - sind
an Hand der bekann-
testen Vorlagen aus der Freiwirtschaftsbewegung gegenüber
den früheren Ausgaben
graphisch verbessert. Ich hoffe, damit allen Anforderungen Genüge
getan zu haben
und wünsche diesem Werk die Verbreitung, die ihm gebührt.
Berlin, im März 1949.
Karl Walker.