Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht



5.8. Der reine Kapitalzins, eine eherne Größe

Wir haben soeben gezeigt, daß, solange eine allgemeine Preissteigerung in Aussicht
steht (bei geschäftlicher Hochflut, sogenannter Hochkonjunktur), der Zinsfuß zum Kapi-
talzins und der Risikoprämie (Gefahrbeitrag) noch einen dritten Bestandteil, die Hausse-
prämie (Anteil des Geldgebers an erwarteter Preissteigerung) aufnimmt. Es ergibt sich
daraus, daß, wenn wir die Schwankungen des Kapitalzinses feststellen wollen, die Zins-
fußsätze der verschiedenen Zeiträume nicht so ohne weiteres miteinander verglichen
werden können. Das würde zu ebenso falschen Schlüssen führen, wie wenn man die
Sätze des Geldlohns verschiedener Zeiten oder Länder ohne Rücksicht auf die Waren-
preise miteinander vergleichen wollte.

Da aber, wie bemerkt, die Hausseprämie nur zusammen mit einer allgemeinen Auf-
wärtsbewegung der Warenpreise auftritt und zugleich mit dieser wieder verschwindet,
so können wir als sicher voraussetzen, daß der Zinsfuß während der Niedergangszeiten,
der sogenannten Baisseperioden, deren die Geschichte mehrere aufweist, nur aus Kapital-
zins und etwaiger Risikoprämie besteht. Der Zinsfuß aus solchen Zeiträumen eignet
sich also vortrefflich zur Ermittlung der Bewegungen des Kapitalzinses.

Eine solche Periode allgemeinen und unaufhaltsamen Preisrückganges war bekanntlich
die Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis etwa zum Jahre 1400. (1) Während dieser langen
Periode war der Geldumlauf ausschließlich auf Gold und Silber beschränkt (Papiergeld
und Schinderlinge gab es noch nicht); dabei waren die Fundgruben dieser Metalle,
namentlich die spanischen Silberminen, erschöpft; das aus dem Altertum stammende
Gold war durch Zinsverbote (wenn auch oft unwirksame) am Umlauf behindert und ging
nach und nach verloren. Der allgemeine Preisrückgang ist also durch allgemein aner-
kannte Tatsachen reichlich begründet und wird auch von keiner Seite bestritten.

In dem Werke Gustav Billeters: "Die Geschichte des Zinsfußes im griechisch-römischen
Altertum bis auf Justinian" findet man nun folgende Angaben:

S.163: "In Rom finden wir für den Zinsfuß seit Sulla (82 bis 79 v. Chr.) schon die
wesentlichen Typen fixiert: 4-6%.

S. 164: "Cicero schreibt gegen Ende des Jahres 62: "Solide, zahlungsfähige Leute
bekommen zu 6% Geld in Hülle und Fülle." Billeter fügt hier hinzu: "Man sieht, daß
darin schon eine Tendenz zum Sinken angedeutet liegt; in der Tat werden wir bald
darauf schon einen niedrigeren Satz finden."

S.167: "Der Zinsfuß war in den Kriegszeiten (um das Jahr 29) 12%, d. h., selbst
solide Leute mußten soviel bezahlen. Von 4 - 6% war man also zu 12% gelangt. Nun
wurde rasch wieder der ehemalige Stand von 4% erreicht."

Bemerkung: Der vorübergehende Zinsfuß von 12 % in Kriegszeiten ist vielleicht durch
eine besonders große Risikoprämie genügend erklärt. Auch muß mit der Möglichkeit
gerechnet werden, daß auch hier und da und dort trotz des allgemeinen Geldmangels, aus
vorübergehenden oder örtlichen Gründen die Preise wieder einmal anzogen und der Zins-
fuß eine Hausseeprämie aufnahm. Eine Änderung in der Schnelligkeit des Geldumlaufes,
vielleicht hervorgerufen durch eine neue gesetzliche Handhabung dese Zinsverbotes usw.
würde ja zur Erklärung solcher Vorgänge genügen.

S.180: Römische Kaiserzeit vor Justinian: "Für sichere Anlagen finden wir 3-15%,
und zwar ist 3% recht vereinzelt; der Satz erscheint deutlich als der niedrigste, auch
bei rentenartigen Anlagen. 15% ist ganz vereinzelt, 12% nicht eben selten, aber doch
nicht typisch,10% vereinzelt. Der eigentliche Typus liegt zwischen 4-6%, wobei inner-
halb dieser Sätze sich weder eine zeitliche noch eine örtliche Differenzierung nach-
weisen läßt, sondern durchweg nur eine solche nach der Art der Anlage, indem 4%
einen niedrigeren Typus, 6% den ganz nörmalen, 5% den dazwischen liegenden Satz
für sehr gute Anlagen bzw. auch einen normalen Satz für Anlagen gewöhnlicher Sicher-
heit darstellt. Als ausgesprochen mittlere Zinsrate finden wir ebenfalls 4-6% (nie 12);
als Kapitalisierungsrate 4% und 3,5 %."

S. 314: Die Zeit des Justinian (527-565 n. Chr.): "Ziehen wir die Schlußresultate.
Wir sehen, daß unter besonderen Umständen die Kapitalisierungsrate bis gegen 8%
ansteigen oder bis auf 2% oder gegen 3% sinken kann. Was die mittleren, durchschnitt-
lichen Sätze anbetrifft, so fanden wir 5% als wahrscheinlich normal, durchschnittlich
vielleicht ein wenig zu hoch; 6-7% ebenfalls als mittlere Rate, aber jedenfalls etwas
hoch gegriffen, so daß dieser Satz nicht mehr als ganz gewöhnliches Mittel gelten kann.
Wir werden also wohl am richtigsten von etwas unter 5 bis gegen 6% die eigentliche
Mittellage ansetzen."

Die Untersuchungen Billeters schließen hier mit der Zeit Justinians ab. Fassen wir
kurz die gemachten Angaben zusammen:
Zur Zeit Sullas (82-79 v. Chr.) bezahlte man 4-6%. Zur Zeit Ciceros (62 v. Chr.)
war zu 6% Geld in Hülle und Fülle zu haben. Nach einer durch Krieg verursachten
kurzen Unterbrechung (29 v. Chr.) behauptete sich wieder der ehemalige Zinsfuß von 4%.
Während der Römischen Kaiserzeit vor Justinian berechnete man gewöhnlich 4-6%.
Während der Regierung Justinians (527-565) betrug der mittlere Zinsfuß 5-6%.

Was bedeuten nun diese Zahlen? Nun, daß während eines Zeitraumes von 600 Jahren
der Zinsfuß fast genau den gleichen Stand einnahm wie heute, 1,5 Jahrtausend später.
Der Zinsfuß stand vielleicht mit 4-6,5 % eine Kleinigkeit höher als heute, aber diesen
Unterschied kann man wohl auf Rechnung der Risikoprämie setzen, die im Altertum
und Mittelalter höher angesetzt werden mußte, als heute, wo Kirche, Sitte und Gesetz
den Zins in Schutz genommen haben.

Diese Zahlen beweisen, daß der Zins unabhängig ist von wirtschaftlichen, politischen
und sozialen Verhältnissen; sie schlagen den verschiedenen Zinstheorien und namentlich
den Produktivitätstheorien (den einzigen, die wenigstens noch den Schein für sich haben)
geradezu ins Gesicht. Wenn man für neuzeitliche Arbeitsmittel, z B. Dampfdresch-
maschinen, Selbstbinder, Mehrladegewehre, Sprengstoff usw. denselben Zins zahlt,
wie vor 2000 Jahren für Sichel, Dreschflegel, Armbrust oder Keil, so beweist dies doch
klar genug, daß der Zins nicht von der Nützlichkeit oder Leistungsfähigkeit der Arbeits-
mittel (Produktionsmittel) bestimmt wird.

Diese Zahlen bedeuten, daß der Zins Umständen sein Dasein verdankt, die schon
vor 2000 Jahren und während eines 600jährigen Zeitraumes in fast genau der gleichen
Stärke wie heute ihren Einfluß ausübten. Welche Umstände, Kräfte, Dinge sind das?
Keine einzige der bisherigen Zinstheorien gibt uns auch nur eine Andeutung für die
Beantwortung dieser Frage.

Billeters Untersuchungen schließen leider mit Justinian ab, und soweit ich unterrichtet
bin, fehlen zuverlässige Untersuchungen über den folgenden Zeitraum bis Kolumbus.
Es wäre übrigens wohl auch schwer, für diesen Zeitabschnitt zuverlässige Nachweise
zusammenzutragen, wenigstens aus den christlichen Ländern, weil das Zinsverbot immer
strenger gehandhabt wurde, weil mit dem fortschreitenden Mangel an Geldmetallen der
Geldverkehr und der Handel immer mehr zusammenschrumpften. Von 1400 ab nahmen
die Herabsetzungen des Münzfußes größeren Umfang an und lassen den reinen Kapital-
zins im Zinsfuß nicht mehr erkennen. Hier hätte dann Billeter seine Untersuchungen
mit preisstatistischen Arbeiten verbinden müssen, um die etwaige Hausseprämie vom
Zinsfuß zu trennen.

Wenn Papst Clemens V. auf dem Konzil zu Vienne (1311) weltliche Obrigkeiten, welche
zinefreundliche Gesetze erließen, mit dem Kirchenbann bedrohen konnte, so zeigt das,
wie schwach der Handel damals war, wie vereinzelt Darlehnsgeschäfte vorkamen. Ein-
zelnen Sündern gegenüber konnte der Papst mit Strenge auftreten; wäre der Handel
damals lebhafter und die Übertretung des Zinsverbotes eine alltägliche Erscheinung ge-
wesen, so hätte sich der Papst keine solche Drohung erlauben dürfen. Beweis dafür ist
die Tatsache, daß mit der Belebung des Verkehrs auch die kirchengesetzliche Gegner-
schaft des Zinses sofort abflaute.

Als Beleg für obige Behauptung, daß der reine Zins eine so gut wie unveränderliche,
fast eherne Größe ist, mögen die beiden folgenden Zeichnungen dienen, aus denen
hervorgeht, dsß die Schwankungen des Zinsfußes auf die Schwankungen der Waren-
preise (Hausseprämie) zurückzuführen sind. Hätten wir eine unveränderliche Währung
gehabt, so wäre der Zinsfuß seit 2000 Jahren unverändert auf 3-4% stehengeblieben.

Mit der Erfindung des Schinderlings im 15. Jahrhundert, der für die Preise von gleicher
Bedeutung ist wie die Erfindung des Papiergeldes, und mit dem Erschließen der Silber-
bergwerke im Harz, in Österreich und Ungarn wird die Geldwirtschaft vielerorts möglich.
Und mit der Entdeckung Amerikas begann die große Preisumwälzung des 16. und
17. Jahrhunderts. Die Preise stiegen unaufhaltsam, und der Zinsfuß wurde mit einer
schweren Hausseprämie belastet. So darf man sich nicht wundern, wenn der Zinsfuß
während dieser ganzen Zeit sehr hoch stand.

Der Schrift Adam Smiths "Untersuchung über das Wesen des Reichtums" (Inquiry
into the nature of wealth) entlehne ich folgende Zahlen: 1546 wurden 10% als die ge-
setzlich zulässige Grenze des Zinsfußes erklärt, 1566 wurde dies Gesetz durch Elisabeth
erneuert, und 10% blieb gesetzlich zulässig bis 1624.

Um diese Zeit war die Preisumwälzung im wesentlichen beendet und die allgemeine
Preissteigerung in ein ruhiges Fahrwasser gelangt. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung
geht dann auch der Zinsfuß zurück: 1624 wurde der Zins auf 8%, dann, kurz nach der
Wiedereinsetzung der Stuarts (1660), auf 6% herabgesetzt, und 1715 auf 5%.

"Diese verschiedenen gesetzlichen Regelungen scheinen sämtlich dem Zinsfuß im freien
Marktverkehr erst gefolgt, nicht aber ihm voraufgegangen zu sein." So Adam Smith.

Seit Königin Anna (1703/14) scheint 5% eher aber als unter der "market rate" (Markt-
satz) gewesen zu sein. Natürlich, denn zu dieser Zeit war die Preisumwälzung beendet,
und der Zinsfuß bestand jetzt nur noch aus Kapitalzins und Risikoprämie, also aus reinem
Geldzins und Gefahrbeitrag.

"Vor dem letzten Krieg (sagt Smith) borgte die Regierung zu 3% und vertrauens-
werte Privatleute in der Hauptstadt, sowie in vielen anderen Landesteilen zu 3 1/2 %, 4 und
4 1/2 %."

Also genau dieselben Verhältnisse, die wir jetzt haben.

Soll ich noch mehr Nachweise zusammentragen zum Beweis, daß der reine Kapital-
zins eine eherne Größe ist, daß der reine Kapitalzins nicht unter 3 % fällt, nicht über
4-5% steigt, daß alle Schwankungen des Zinsfußes nicht auf Schwankungen des Ur-
zinses zurückzuführen sind? Wann ist in der Neuzeit der Zinsfuß gestiegen? Immer
nur zusammen mit den Warenpreisen. Nach den kalifornischen Goldfunden stieg der
Zinsfuß so hoch, daß die verschuldeten Großgrundbesitzer trotz der erhöhten Getreide-
preise über Notstand klagten. Die erhöhten Getreidepreise wurden durch erhöhte Lohn-
forderungen ausgeglichen. Mit der Erschöpfung der Goldminen fielen die Preise, zu-
gleich mit dem Zinsfuß. Dann kamen die Milliarden, hohe Preise, hoher Zinsfuß. Mit dem
großen Krach fielen die Preise, fiel auch der Zinsfuß. Während der letzten geschäftlichen
Hochflutzeiten (Hochkonjunkturen 1897 bis 1900 und 1904 bis 1907) war auch der
Zinsfuß gestiegen; dann sind die Preise wieder gefallen, und der Zinsfuß war auch wieder
niedrig. Jetzt steigen die Preise wieder langsam und auch der Zinsfuß. Kurz, rechnet
man überall vom Zinsfuß die auf Rechnung der allgemeinen Preissteigerung zu setzende
Hausseprämie ab, so bleibt als Zins eine eherne Größe zurück.

Warum fällt der Zins niemals unter 3, warum geht der Zins nicht auf Null zurück,
nnd wenn es auch nur vorübergehend wäre, einen Tag im Jahre, ein Jahr im Jahrhundert,
ein Jahrhundert in zwei Jahrtausenden?


(1) Die Städte Frankreichs, Italiens und Spaniens, wo der Münzfuß herabgesetzt, so-
genannte Münzfälschung betrieben wurde, bilden hier eine Ausnahme.

Dieser Text wurde ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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