Da v. Boehm-Bawerk sich nicht darauf beschränkte, diese verschiedenen
Theorien
zu beurteilen, sondern auch selbst eine eigene Zinstheorie aufstellte,
so war es fast un-
ausbleiblich, daß er bei der Beurteilung der fremden Zinstheorien
unter dem Einfluß
der eigenen Zinstheorie stehen mußte, und daß infolgedessen
gerade solche Aussagen,
die gegen oder für seine eigene Theorie sprachen, seine Aufmerksamkeit
ganz besonders in
Anspruch nahmen, vielleicht auf Kosten anderer Aussagen, die,
von einem anderen
Standpunkt aus betrachtet, stark an Bedeutung gewinnen und vielleicht
eine gründ-
lichere Behandlung verdienten, als v. Boehm-Bawerk ihnen zukommen
ließ. So finde
ich z. B. S. 47 folgende Ausführungen:
"Sonnenfels (2), von Forbonnais beeinflußt (3), sieht
den Ursprung des Zinses in einer
Hemmung des Geldumlaufes durch die geldanhäufenden Kapitalisten,
aus deren Händen
sich das Geld nur durch einen im Zinse dargebotenen Tribut wieder
hervorlocken läßt.
Er sagt dem Zinse allerlei schädliche Folgen nach; daß
er die Ware verteuere, den Gewinn
der Emsigkeit (also wohl den Arbeitsertrag) vermindere und den
Besitzer von Geld an
demselben Teil nehmen lasse. Ja, er bezeichnet die Kapitalisten
als die Klasse derjenigen,
die nicht arbeiten und sich von dem Schweiße der arbeitenden
Klassen nähren."
Für uns wäre nun ein Mann, der solche Ansichten verficht,
eine anziehende Persön-
lichkeit, aber v. Boehm-Bawerk würdigt diese Theorie keiner
eingehenden Beurteilung
und fertigt den Urheber kurz ab, indem er von "widerspruchsvoller
Beredsamkeit"
spricht. Und so mag es sein, daß, wer die Schriften über
den Zins vom Standpunkt
des Urzinses aus betrachtet, manche bemerkenswerte Aussage für
den Beweis finden
würde, daß die selbständige, zinszeugende Kraft
des herkömmlichen Geldes nicht erst
jetzt entdeckt und nachgewiesen worden ist.
Wir wollen nun hier in gedrängter Kürze den Inhalt
der oben bezeichneten sechs
Theorien wiedergeben und verweisen im übrigen alle, die die
Geschichte der Kapital-
zinstheorien näher kennenlernen möchten, auf das oben
genannte, vorzügliche Werk
von v. Boehm-Bawerk.
Eine gründliche Beurteilung dieser Theorien erübrigt
sich, da mit Hilfe der Urzins-
theorie jeder jetzt in der Lage ist, den Punkt anzugeben, wo die
Forscher durch Erl-
königs Töchter vom geraden Wege abgelenkt wurden und
sich in Wertsümpfe verirrten.
1. Die Fruktifikationstheorie erklärt den Zins mit einem
Riesen-Gedankensprung aus
der Grundrente. Weil man mit Geld einen Acker kaufen kann, der
Zins abwirft, darum
muß auch das Geld und alles, was mit Geld gekauft werden
kann, Zins abwerfen. Ganz
recht, aber diese Theorie sagt überhaupt nichts, da die Erklärung
dafür fehlt, warum
man mit Geld, das man doch für unfruchtbar erklärt,
einen Acker kaufen kann, der
Zins abwirft. Unter den Männem, die diese "Theorie"
verbreiteten, finden wir Turgot
und Henry George. Wie diese Braven in diese leichtsinnige Gesellschaft
geraten sind,
ist unerklärlich. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihnen
um nichts mehr als ein-
fache Meinungen oder Ansichten, die sie zum besten gaben, um den
Widerspruch zu
reizen und andere auf das Zinsproblem aufmerksam-zu machen.
2. Die Produktivitätstheorie erklärt den Zins damit,
daß das Arbeitsmittel (Kapital)
die Produktion (Arbeit) unterstützt. Und das ist wahr, denn
was vermöchte ein Prole-
tarier ohne Arbeitsmittel? Aber nun heißt es, daß
das Mehr an Erzeugnissen auch dem
Besitzer der Arbeitsmittel selbstverständlich und naturgemäß
zufließen muß. Und das
ist nicht wahr und durchaus nicht selbstverständlich, wie
schon daraus ersehen werden
kann, daß Arbeit und Arbeitsmittel nicht getrennt werden
können, daß man überhaupt nicht
angeben kann, welcher Teil des Erzeugnisses auf die Arbeit, welcher
auf das Arbeitsmittel
entfällt. Wäre der Zins darauf zurückzuführen,
daß der Proletarier mit Arbeitsmitteln mehr
schaffen kann als mit bloßen Händen, so würde
in den meisten Fällen für den Arbeiter
überhaupt nichts übrigbleiben. Denn was kann ein Landarbeiter
ohne Pflug und Acker,
was kann ein Lokomotivführer ohne Eisenbahnen anfangen? Arbeit
und Arbeitsmittel
sind überhaupt nicht zu trennen, und die Teilung des Erzeugnisses
zwischen dem Be-
sitzer der Arbeitsmittel und dem Arbeiter muß von anderen
Umständen bestimmt werden
als von dem Grad der Unterstützung, die die Warenerzeugung
durch die Arbeitsmittel
erfährt. Wo sind diese Umstände?
Wir sagen: Nachfrage und Angebot von Arbeitsmitteln bestimmen
das Verhältnis,
in dem sich die Arbeiter mit den Besitzern der Arbeitsmittel in
die Erzeugnisse teilen,
und zwar ganz unabhängig von der Leistungsfähigkeit
der Arbeitsmittel. Das Arbeits-
mittel unterstützt die Arbeit, - daher die Nachfrage von
seiten des Proletariers; aber
diese Nachfrage kann nicht einseitig den Zins bestimmen, sondern
auch das Angebot
hat ein Wort mitzureden. Es kommt bei der Verteilung des Erzeugnisses
zwischen Prole-
tariern und Kapitalisten auf das Verhältnis an, in dem die
Nachfrage zum Angebot steht.
Einen Zins wird der Kapitalist von seinem Arbeitsmittel nur erwarten
können, solange
die Nachfrage das Angebot übersteigt. Und je besser, je leistungsfähiger
das Arbeits-
mittel ist, das der Kapitalist dem Arbeiter zur Verfügung
stellt, - desto mehr schwillt
mit dem Erzeugnis das Angebot von Arbeitsmitteln an, desto niedriger
wird der Zins. Nach
dieser Produktivitätstheorie müßte es sich aber
umgekehrt verhalten: je leistungsfähiger
das Produktionsmittel, desto höher der Zins. Wenn man die
Leistungsfähigkeit der
Produktionsmittel (Arbeitsmittel) allgemein verzehnfachte, so
würde daraus (nach der
Produktivitätstheorie) dem Kapitalisten ein gewaltiger Gewinn
erwachsen, während doch
offenbar durch ein solches Ereignis das Angebot die Nachfrage
nach Produktionsmitteln
bald überholen und der Zins unter dem Drucke des Angebots
ganz verschwinden würde.
(Vorausgesetzt, daß das Geld solche Entwicklung nicht verhindern
könnte.)
Die Produktivitätstheorie kann den Zins nicht erklären,
weil sie das Kapital nicht
dynamisch (als Kraft, sondern statisch (als Stoff) betrachtet.
(4) Sie sieht nur die Nachfrage,
die die Brauchbarkeit des Arbeitsmittels erzeugt, und läßt
das Angebot unbeachtet. Ihr
ist das Kapital einfach Stoff, sie sieht die Kräfte nicht,
die nötig sind, um den Stoff zu
Kapital zu machen.
3. "Die Nutzungstheorien sind ein Abstämmling der Produktivitätstheorien",
sagt
v. Boehm-Bawerk. Den einfachen Gedanken, der den Produktivitätstheorien
zugrunde
liegt, verwirrt aber v. Boehm-Bawerk ganz außerordentlich,
indem er die Frage in eine
Wertfrage verwandelt, ohne dabei die Werttheorie zu nennen, auf
die man seine Er-
klärungen zurückführen muß. Wenn er vom Wert
des Produktes spricht, so könnte
man an das Tauschverhältnis denken, in dem die Waren gegeneinander
ausgetauscht
werden. Aber was kann man sich unter dem Ausdruck "Wert der
Produktionsmittel"
vorstellen? Die Arbeitsmittel werden ja nur ausnahmsweise getauscht;
bei ihnen spricht
man vom Zinsertrag, nicht mehr vom Preis, und wenn der Ausnahmefall
eintritt, daß
ein Unternehmer seine Fabrik verkauft, dann richtet sich der Preis
nach dem Zinsertrag
wie man das täglich an den Kursschwankungen der Industriepapiere
ersehen kann, und
daran daß der Verkaufspreis eines Ackers dem Betrage entspricht,
dessen Zinsen der
Grundrente gleich sind. Und welche Werttheorie wird man auf einen
Acker anwenden?
Zerlegt man aber die zum Verkauf gestellte Fabrik in ihre Bestandteile,
d. h. in Waren,
um ihren "Wert" festzustellen, dann handelt es sich
um Waren und Preise und nicht
mehr um Arbeitsmittel und Zins. Die Ware wird zum Verkauf hergestellt,
das Arbeits-
mittel zum eigenen Gebrauch oder als Kapital, um es zu verleihen.
Gibt es denn nun
eine Werttheorie, die gleichzeitig auf Ware und Arbeitsmittel,
auf den Preis und den
Zins anwendbar ist? Undurchdringlicher Nebel lagert über
dieser Landschaft.
So sagt der Verfasser S. 131:
"Es sollte sich z. B. von selbst verstehen, daß, wenn
man eine Fähigkeit des Kapitals,
zur Gütererzeugung überhaupt, oder zur Erzeugung von
mehr Gütern zu dienen, be-
wiesen hat, man deshalb noch nicht berechtigt ist, eine Kraft
des Kapitals zur Erzeugung
von mehr Wert, als man sonst hätte erzeugen können (5),
oder wohl gar von mehr Wert,
als es selbst hat (6), für bewiesen zu halten. Die letzteren
Begriffe (!) im Beweisgang den
ersteren unterzuschieben, hätte offenbar den Charakter der
Erschleichung eines nicht
erbrachten Beweises."
Mag sein, daß sich das hier Gesagte bei all denen von selbst
versteht, die vom soge-
nannten Wert, vom Wertstoff, von der Wertproduktion, von den Wertmaschinen,
den
Wertkonserven, den Wertspeichern und Wertpetrefakten denselben
Begriff haben, wie
v. Boehm-Bawerk. Aber wie kann er voraussetzen, daß alle
Leser in dieser Frage die
gleichen Ansichten haben? Besteht denn die Wertfrage nicht mehr?
Für sehr viele ist
es "selbstverständlich", daß, wo der "Wertbegriff"
sich verdichten muß, ganz einfach
die Ware bestimmter Güte und Menge gemeint ist, die man eintauschen
kann. Wer
aber den "Wert" so begreift, der findet es durchaus
selbstverständlich, daß die Fähigkeit
des Kapitals zur Erzeugung von mehr Gütern auch zugleich
die Fähigkeit des Kapitals
zur Erzeugung von mehr Wert einschließt. Verdoppelt z. B.
der allgemeine Gebrauch
der Dampfmaschine allgemein das Arbeitserzeugnis, so wird auch
jeder für sein ver-
doppeltes Erzeugnis doppelt soviel Ware eintauschen. Nennt er
nun "Wert" seiner Er-
zeugnisse das, was er gegen die eigenen Erzeugnisse eintauscht,so
tauscht er gegen sein
durch die Dampfmaschine verdoppeltes Erzeugnis auch genau den
doppelten Wett ein.
4. Die Abstinenz- oder Enthaltsamkeitstheorie von Senior schlägt
zwar den richtigen
Weg ein zur Erklärung des Zinses aus dem bestehenden Mißverhältnis
zwischen Nach-
frage und Angebot von Arbeitsmitteln, bleibt aber auf halbem Wege
stehen. Senior hält
die Menschen durchweg für Verschwender, die lieber einige
Tage in Saus und Braus
und dann den Rest des Jahres auf Borg leben und Zins zahlen, als
daß sie auf unmittel-
baren Genuß verzichten. Daher der Mangel an Arbeitsmitteln,
daher das Mißverhältnis
zwischen Angebot und Nachfrage, daher der Zins. Die wenigen Personen,
die die
Enthaltsamkeit üben, werden für diese seltene Tugend
durch den Zins belohnt. Und
auch diese wenigen sind nicht deshalb enthaltsam, weil sie den
künftigen Genuß der
gegenwärtigen Verschwendung vorziehen, nicht, weil sie als
Jünglinge für die Hochzeit,
als Männer für das Greisenalter, als Väter für
die Kinder sparen wollen, sondern nur,
weil sie wissen, daß das Gesparte ihnen Zins abwirft. Ohne
diesen Tugendpreis würden
auch sie von der Hand in den Mund leben, würden auch sie
keine Saatkartoffeln auf-
bewahren, sondern die ganze Kartoffelernte in einem gewaltigen
Schmaus vertilgen.
Ohne Zins hätte doch niemand einen Beweggrund zur Bildung
und Aufbewahrung des
Kapitals, und dem künftigen Genuß ist doch der gegenwärtige
immer und selbstver-
ständlich vorzuziehen! Weiß doch niemand, ob er überhaupt
künftig noch leben und
das aufgestapelte Gut verzehren wird!
Bei solcher allgemeinen Wesensart des Menschen (wie enthaltsam
erscheinen da der
Hamster und die Biene!) fragt man sich, wie das Menschengeschlecht
überhaupt noch
besteht, und wie man überhaupt noch jemand Geld leihen kann.
Wer so schlecht mit
eigenem Gut wirtschaftet, wird doch erst recht auch fremdem Gut
gegenüber der Ver-
suchung nicht widerstehen, dem süßen gegenwärtigen
Genuß den künftigen zu opfern;
wie will er dann den Zins zahlen und das Kapital zurückerstatten?
Und wenn unsere
Ureltern die Wintervorräte schon immer im Sommer vertilgt
hätten, ob wir uns da wohl
jetzt unseres Daseins erfreuen würden? Oder verzichteten
unsere Väter auf den un-
mittelbaren Genuß, weil die Vorräte im Keller Zins
abwarfen, d. h. immer wertvoller,
besser und größer wurden?
Aber es ist doch etwas Wahres an dieser Seniorschen Theorie.
Zweifellos verdankt
der Zins dem Mangel an Kapital sein Dasein, und dieser Mangel
kann nur von der Ver-
schwendung herrühren. Aber merkwürdigerweise sind nicht
die, die den Zins bezahlen, die
Verschwender, sondern die, die den Zins erheben. Allerdings ist
wieder das, was die Kapi-
talisten verschwenden, nicht ihr eigenes, sondern fremdes Eigentum,
denn die Arbeits-
losigkeit, die sie behufs Erpressrung des Urzinses durch Unterbrechung
des Geldumlaufes
hervorrufen, geht auf Kosten anderer. Die Kapitalisten verschwenden
fremdes Eigentum,
sie verschwenden die Arbeitskraft des fleißigen, sparsamen
Volkes, sie lassen auf fremde
Kosten die Waren in den Krisen zu Milliarden als Zuvielerzeugung
zugrunde gehen,
damit es nicht zu einer Zuvielerzeugung an Kapital komme und der
Zinsfuß falle. Daher
der Mangel an Kapital, daher der Zins. Nicht den Arbeitern, sondern
den Kapitalisten
müßte man also die Enthaltsamkeit in der Verschwendung
der Arbeit predigen. Die
Arbeiter haben gezeigt, daß sie Enthaltsamkeit bis zum Hungertode
üben können, wenn
es heißt, dem Kapital einen geringfügigen Teil der
Beute zu entreißen. Sie haben solche
heldenhafte Enthaltsamkeit in tausend Streiks gezeigt und man
kann annehmen, daß,
wenn es gelänge, den Arbeitern glaubhaft zu machen, daß
es zur Beseitigung des Zinses
genügt, zu sparen, keinen Tabak zu kauen keinen Schnaps zu
kaufen, sie solches tun
würden. Aber was wäre heute die Folge? Kaum würde
der Zins der Realkapitalien unter
den Urzins fallen, so bräche auch schon die Krise aus, der
wirtschaftliche Krach, der
den Arbeiter dieser Früchte seiner Enthaltsamkeit berauben
würde.
Auf alle Fälle führt die Enthaltsamkeitstheorie stracks
auf folgenden Widerspruch:
Arbeiter, rackert euch ab, schwitzet, um viele Waren erzeugen
und verkaufen zu können,
kauft aber selber nur möglichst wenig. Hungert, friert, enthaltet
euch, kauft nichts von
alledem, was ihr erzeugt (d. h. selbst für den Verkauf bestimmt
habt), um so einen
möglichst großen Geldüberschuß für
neue Realkapitalien zu gewinnen!
Auf diesen vollkommenen Widerspruch würden die Urheber der
Enthaltsamkeits-
theorie gestoßen sein, wenn sie den von ihnen betretenen
Weg weitergegangen wären,
und dann würden sie auf die Mängel des Geldwesens aufmerksam
geworden sein, wie
wahrscheinlich auch Proudhon auf diesem Wege zur Erkenntnis gelangte,
daß das Gold
den Waren den Weg zu den Realkapitalien verlegt, daß das
Gold die Überleitung der
Warenüberproduktion (die auf die Preise drückt und zur
Krise führt) in eine Kapital-
überproduktion verhindert (die auf den Zins drückt und
den Verkehr belebt).
5. Die Arbeitstheorien erklären den Zins schlankweg als Arbeitsprodukt
des Kapi-
talisten. Den Zinsbezug nennt Rodbertus ein Amt, das Kouponabschneiden
erscheint
Schäffle als ein volkswirtschsftlicher Beruf, dem er nur
nachsagt, daß seine "Dienst-
leistungen" kostspielig seien, und Wagner nennt die Rentner
"Funktionäre der Gesamt-
heit für die Bildung und Beschäftigung des nationalen
Produktionsmittelfonds". Und
v. Boehm-Bawerk erweist diesen Gelehrten die Ehre, sie zu den
Zinstheoretikern zu
zählen!
6. Die Ausbeutungstheorien erklären den Zins einfach als
einen gewaltsamen Abzug
vom Arbeitserzeugnis, den sich die Besitzer der Produktionsmittel
erlauben und darum
erlauben können, weil die Arbeiter ohne Produktionsmittel
nicht arbeiten können, den-
noch aber von ihrer Arbeit leben müssen.
Ob nun gerade diese Theorie den Namen "Ausbeutungstheorie"
verdient? Beutet
etwa der Abstinent (Enthaltsamkeitstheorie) nicht auch die Marktlage
aus, wenn er die
karge Vertretung des Kapitals auf dem Markte für die Erwirkung
eines Zinses benutzt?
Den Abzug vom Arbeitserzeugnis bemißt nach dieser Theorie
(deren Hauptvertreter
Marx und die Sozialdemokraten sind) der Besitzer der Produktionsmittel
nicht nach
kaufmännischen Handels- und Börsengrundsätzen,
sondern merkwürdigerweise nach
historischen und moralischen Gesichtspunkten.
Marx sagt: "Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält
also die Wertbestimmung
der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element."
(Kapital, Bd. 1, S. 124,
6. Aufl.)
Was hat aber die Erhaltung der Arbeitskraft mit der Geschichte
und der Sittlichkeit
zu tun, was mit bestimmten Ländern und bestimmten Zeiten?
Der Durchschnitts-
umkreis der notwendigen Lebensmittel ist doch von der Erhaltung
der Arbeitskraft
selber gegeben! Dieser mag sich mit der Schwere der Arbeit, mit
der Rasse, mit der
Stärkung oder Schwächung der Verdauungswerkzeuge ändern,
aber niemals aus ge-
schichtlichen und sittlichen Gründen. Läßt man
in diesem, für die ganze Marxsche
Lehre entscheidenden Punkte die Sittengesetze mitbestimmen, dann
handelt es sich
bei der "Arbeitskraft" überhaupt nicht mehr um
Ware. Mit solch schwammigen Aus-
drücken läßt sich alles beweisen.
Der Kapitalist erkundigt sich genau danach, wie sich die Mutter,
Großmutter und
Urgroßmutter des Arbeiters ernährt haben, was diese
Nahrungsstoffe kosten, und wieviel
ein Arbeiter für die Aufzucht seiner Kinder an diesen Stoffen
verbraucht (denn der
Kapitalist zeigt sich sehr darum besorgt, daß nicht nur
"seine" Arbeiter, sondern daß
die Arbeiter überhäupt recht kräftig und gesund
bleiben); und diese Notdurft läßt der
Unternehmer dem Arbeiter. Den Rest nimmt er unbesehen für
sich in Anspruch.
Diese Verteilung der Arbeitserzeugnisse zwischen Unternehmern
und Arbeitern,
durch die Marx sich das Zinsproblem überhaupt und auf bequeme
Weise vom Hals
schaffte, insofern als die Lohntheorie auf diese Weise auch die
Zins- und Grundrenten-
theorie (Mehrwert) einschließt, ist der wunde Punkt der
Ausbeutungstheorie. Faul ist
nicht nur die Voraussetzung dieser Theorie, wonach der Lohn sich
nach den Kosten
der Aufzucht, Ausbildung und des Unterhalts der Arbeiter und ihrer
Nachkommen-
schaft richtet, sondern auch die Ausrede, daß, so oft der
Lohn über oder unter dieser
Grenze bleibt, die landläufigen Begriffe über das, was
zum Leben des Arbeiters gehört,
über die Höhe des Lohnes bestimmen!
"Auf den ostdeutschen Gütern sind in den letzten 5
Jahren die Löhne so stark ge-
stiegen, daß sie sich kaum noch von den westdeutschen Lohnsätzen
unterscheiden, und
daß die Sachsengängerei stark in der Abnahme begriffen
ist." So las man 1907 in den
Zeitungen. Wie schnell sich doch die landläufigen Ansichten
über das, was der Arbeiter
zum Leben braucht, ändern! An der Börse ändern
sich die Preise zwar noch etwas
schneller, immerhin kann man den Zeitraum von 5 Jahren doch nicht
eine "geschicht-
liche Entwicklung" nennen.
In Japan sind die Löhne in ganz kurzer Zeit um 300% gestiegen,
sicherlich doch
nicht, weil die landläufigen Ansichten über hungrig
und satt sich so schnell geändert
haben. Diese Erklärung der Widersprüche, auf die die
Ausbeutungstheorie auf Schritt
und Tritt stößt, trägt ganz das Merkmal einer
Verlegenheitserklärung. Solche Aus-
flüchte findet jemand, der in die Enge getrieben ist.
So könnte man mit gleichem Recht der Ausbeutungstheorie
auch folgende Fassung
geben: Alles, was der Kapitalist braucht, um nach geschichtlichen
und landläufigen Be-
griffen standesgemäß zu leben und um seinen Kindern
das nötige Erbe zu hinterlassen, das
nimmt er einfach vom Produkt der Arbeiter. Den Rest wirft er ungemessen
und ungezählt
den Arbeitern hin. Diese Fassung hätte vor der Marxschen
manches voraus. Sie klingt
auf alle Fälle besser; - denn daß der Kapitalist zuerst
an sich selber denken wird, ehe
er sich erkundigt, ob der Arbeiter auch mit dem Rest auskommt,
das hält man doch
für selbstverständlich. Durch die Kornzölle wurde
übrigens auch der Beweis dieser
Selbstverständlichkeit vor der breiten Öffentlichkeit
erbracht.
Auch die Herkunft des für den Zins notwendigen Proletariats
wird nach dieser Theorie
etwas sehr gewaltsam erklärt. Daß der Großbetrieb
öfters dem Kleinbetrieb gegenüber
im Vorteil ist, begründet nicht, daß dieser Vorteil
auch selbstverständlich den Besitzern
des Großbetriebes zukommen muß. Dies müßte
erst auf Grund einer stichhaltigen
Lohntheorie nachgewiesen werden. Heute wirft das Kapitäl
durchschnittlich 4 bis 5%
ab, einerlei, ob es sich um eine Maschine von 10 oder von 10 000
Pferdekräften handelt.
Und wenn auch der Großbetrieb durchweg dem Kleinbetrieb
gegenüber Vorteile hätte,
so würde damit noch gar nicht bewiesen, daß die Besitzer
der Kleinbetriebe nun zum
Proletariat geworfen werden. So schwerfällig brauchen die
Handwerker und Bauern
doch nicht immer zu bleiben, und sie sind auch tatsächlich
nicht so schwerfällig ge-
blieben, daß sie sich mit verschränkten Armen den Großbetrieb
über den Kopf wachsen
lassen. Sie wehren sich, legen ihre Kleinbetriebe zu einem Großbetrieb
zusammen und
verbinden so oft die Vorteile des Großbetriebes (Genossenschaftsmolkerei,
genossen-
schaftliche Dampfdrescherei, Dorfbullen usw.) mit den tausend
kleinen Vorzügen des
Kleinbetriebes. Es liegt auch durchaus nicht in den Vorteilen
des Großbetriebes be-
gründet, daß die Aktien in den Händen der Rentner
und nicht im Besitze der Arbeiter
sein müssen.
Kurz, so einfach ist die Herkunft des Proletariats nicht zu erklären.
Leichter schon
geht es, wenn man die Gesetze der Grundrente mit zu Rate zieht
und die gewaltsame
Enteignung mit dem Schwerte. Aber wie entsteht dann das Proletariat
in den Kolo-
nien? Kein Schwert wird dort geführt, und das Freiland liegt
dort oft vor den Toren
der Städte.
In den deutschen Kolonien in Brasilien (Blumenau, Brusque) sind
vieliach Industrien
entstanden, namentlich Webereien, und in dieaen Fabriken arbeiten
die Töchter der
deutschen Kolonisten unter elenden Bedingungen bei schlechtem
Lohne. Dabei ateht den
Vätern, Brüdern und Männern dieser Proletarierfrauen
wunderbarer Boden in unbegrenzter
Menge zur Verfügung. Hunderte von Töchtern deutscher
Kolonisten sind in Sao Paulo
als Dienstboten angestellt.
Es ist nicht so leicht, heute, bei bestehender Freizügigkeit,
bei der Leichtigkeit, womit
der Proletarier unbewohnte Länder aufsuchen und Land erwerben
kann (7), bei der Ein-
fachheit, womit auf genossenschaftlichem Wege jeder die Vorteile
des Großbetriebes
genießen kann, nicht nur den Fortbestand, sondern auch noch
die Vermehrung des
Proletariats zu erklären, zumal die heutige bürgerliche
Gesetzgebung den Proletarier
vor Raubrittern zu schützen sich bestrebt zeigt.
Aber es gibt neben dem Schwert, neben den Vorteilen des Großbetriebes
und neben
den Gesetzen der Grundrente noch eine Einrichtung, die das Dasein
der Proletarier-
massen erklären kann; die aber von den Zinstheoretikem bisher
übersehen wurde. Unser
herkömmliches Geld vermag für sich allein die Rolle
der Proletarisierung der Volksmassen
durchzuführen, es benötigt dazu keinerlei Bundesgenossen.
Das Proletariat ist eine notwendige,
gesetzmäßig sich einstellende Begleiterscheinung des
herkömmlichen Geldes. Ohne Ausflüchte,
ohne Gewalt, ohne Wenn und Aber ist das Proletariat von unserem
herkömmlichen Gelde
unmittelbar abzuleiten. Allgemeine Bettelei muß unser Geld
gesetzmäßig begleiten. Das
Schwert hat sich in früheren Zeiten vortrefflich bewährt
bei der Trennung des Volkes
von seinen Arbeitsmitteln, aber das Schwert vermag die Beute nicht
festzuhalten. Vom
Geld aber ist die Beute unzertrennlich. Fester als Blut- und Grundrente
am Schwert,
haftet der Zins am Geld.
Kurz, es mögen viele an der Beraubung des Volkes sich beteiligen
und sich dabei
der verschiedensten Waffen bedienen, aber alle diese Waffen verrosten,
- nur das Gold
rostet nicht, nur das Gold darf sich rühmen, daß ihm
der Zins durch keine Erbteilungen,
durch kein Gesetz, durch keine genossenschaftliche oder kommunistische
Ordnung
entrissen werden kann. Selbst gegen die Gesetze, ja, sogar gegen
die Bannflüche des
Heiligen Vaters war und ist der Zins des Geldes gefeit. Unter
Beibehaltung des Privat-
grundbesitzes kann man durch Gesetze (Grundsteuer) die Grundrenten
den Staatskassen
zuführen, und man hat damit hier und dort schon begonnen,
- aber durch kein Gesetz
ist unserem herkömmlichen Geld auch nur ein Bruchteil des
Zinses zu entwinden.
Unser herkömmliches Geld hat also die für die Ausbeutungstheorie
unentbehrlichen
Proletariermassen geschaffen und diese gegen alle natürlichen
Auflösungsmächte wirksam
verteidigt. Um vollständig zu sein, muß darum die Ausbeutungstheorie
noch einen
Schritt weiter zurückgreifen und den Zins nicht in der Fabrik,
im Privatbesitz der Pro-
duktionsmittel, sondern weiter zurück, beim Tausch der Arbeitserzeugnisse
gegen Geld
suchen. Die Trennung des Volkes von seinen Arbeitsmitteln ist
nur eine Folge, nicht die
Ursache des Zinses.
(2) Sonnenfels, Handlungswissenschaft, 2. Aufl., Wien 1758.
(3) Wie und wo, wird nicht erwähnt.
(4) Siehe Dr. Th. Christen, Absolute Währung. Verlag "Schweizer
Freiland-Freigeld-
bund", Bern.
(5) Wieder die Wertmaschine !
(6) Wieder der Wertstoff !
(7) Der Nordd. Lloyd nahm im April 1912 für die Überfahrt
von Europa nach Argen-
tinien 100 Mark, das ist nur ungefähr ein Wochenlohn bei
den Erntearbeiten.